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*

Zwölf Stunden. Nun – man hat genug zu essen, – den Schlafsack rollt man aus und kriecht in sein warmes Innere. Von Zeit zu Zeit nur steckt einer von den Fängern den Kopf in die Luft und sieht nach dem Wetter. Storm liegt neben dem toten Bären, unter dessen teilweise abgestreifter Decke er einen behaglichen Lagerplatz für sich ausgemacht hat. Fleischduft weht ihm unablässig um die Nase; er brauchte sich nur ein klein wenig zur Seite zu drehen, so hätte er wieder einen ganzen Happen davon im Maul. Wie im Paradies ist es.

Die Anstrengung der Jagd lullt auch die Jäger am Ende in einen hellhörigen Schlaf hinüber. Eintönig knirkt und knarrt es im Eis. Was soll man tun?

Mit einemmal spitzen sie jedoch die Ohren. Ein hohles Brausen liegt im Wind, das sich verstärkt, – –

» sjöen!«

– »Die See!«

Es müssen schon große Flächen Wassers frei von Eis sein, wenn man dieses Brausen so deutlich hört. Wie lange liegen sie schon, – – –

»Sechzehn Stunden!«

Der Alte hört deutlich, wie Ragnar heftiger atmet, – die paar Worte kamen ihm stoßweise aus der Kehle.

»Tja!«

Mehr sagt er nicht. Was ist da auch zu sagen? Wenn der Schnee sich lichtet, kann man vielleicht mehr sagen. Weiß man, ob das Eis, auf dem die Kameraden zurückgeblieben sind, ebenso schnell treibt wie die Eisbank, auf der er sich mit Ragnar befindet? Weiß man, ob es in derselben Richtung treibt? Man kennt ja kaum die Strömung in diesem Gebiet. Das sind die Großeis-Berge, die wie Pflüge durch das Meereis furchen, weil sie wegen ihrer großen Überwasserflächen wie Segelschiffe vor dem Wind treiben, während das Eis mehr der Strömung folgt.

»Tja!«

Ragnar macht sich aus seinem Sack frei und läuft in der Umgebung umher. Vollkommen sinnlos. – Aber es ist schwer, stillzuliegen, während Wind und Schnee vielleicht die letzten Brücken abbrechen, die es zu den zurückgelassenen Kameraden noch gibt.

Nur einen Augenblick hat er sich vergessen, der Junge. Da befindet er sich allein im Eis. Rings um ihn steht der Schnee wie eine Wand.

Vielleicht ist er schon auf einer Nebenscholle, die abreißt, weitertreibt. Nichts mehr von Jon, kein Bär, nicht der Hund.

Da, – jetzt taucht ein schwarzer Körper neben ihm auf. Storm! Ist es nicht, als ob er ihn zurückholen will zum Lagerplatz. Storm macht auf den Hinterbeinen kehrt und ist wieder weg. Ragnar folgt in seinen Spuren!

»Wir dürfen uns keinen Augenblick aus den Augen verlieren! – Leicht bedeutet es eine Trennung für immer, Ragnar!«

Der Junge nickt.

Seit Jahren fährt er im großen Eis – trug die Verantwortung für die andern, auf schwerer Wacht. Aber er nickt! Jon hat recht, daß er ihn wie ein Greenhorn belehrt.

Plötzlich fällt ihm ein, was der Alte eigentlich gemeint hat mit seinen Worten.

»Du denkst, daß wir die Kameraden nicht wiederfinden?«

»Wenn wir Glück haben.«

Und: »Möglich!«

Jon ist grau geworden im Eis. Hat keinen Zweck, Gutes in einer solchen Lage zu erwarten.

Was gibt es schon zu sprechen in den nächsten zwei Tagen. Ist immer dasselbe Einerlei. Die paar Handgriffe. Essen. – Richtig, die Gewehre müssen gesäubert werden. Ein paar Worte mit Storm, der eigentlich den ganzen Tag verschläft, – sich nur erhebt, um wieder einen Happen zu fressen. Manchmal knurrt er und beißt um sich, als ob er sich in einer Horde ausgehungerter Wölfe befände. Das nennt er spielen, – die Jagd auf die leise fallenden Flocken. Im Eifer springt er schon auf und schnappt nach den weißen Federn, als hätte er Fliegen vor der Nase.

Die Augen der Jäger folgen seinen Sprüngen, die oft kunstvoll sind wie die eines ausgelernten Akrobaten.

Die Zeit vergeht schier schneller dabei.

Einmal hat Storm die zweie wieder eine ganze Spanne lang unterhalten mit seinem Fliegenspiel. Als sie die Augen nachher wieder in die Ferne richten, sehen sie plötzlich die Umrisse eines Eisbergs durch den Schnee schimmern. Auch das Meereis ist auf bald hundert Meter zu übersehen.

»'s ist an der Zeit!« sagt da Jon. »Das Schneien hört auf.«

Er ist schon aufgestanden, während er das sagte. Es gab noch viel zu tun. Der Schlafsack mußte gezurrt werden, das Fleisch verpackt, ein Frühstück mußten die Aufbrechenden wohl auch zu sich nehmen, – – und bis nachher alles richtig im Rucksack so verstaut war, daß es nicht gegen den Rücken drückte oder durch falsches Packen beim Gehen das Gleichgewicht störte, – bis dahin verging immer noch eine gute Zeit. Die Büchsen mußten ebenfalls nochmals überholt und geölt werden, nachdem sie tagelang ungeschützt im Schneegestöber gestanden hatten. Es gab soviel zu tun. Ist vielleicht nicht unnütz, ein paar Zeilen von den letzten Tagen zu schreiben. Einen kleinen Bericht. Man weiß ja nie. Hier – im Packeis.

Die Bärendecke ist inzwischen steifgefroren wie ein Brett. Na, man läßt sie liegen. Gibt noch Bären genug an der Ostküste, wenn man seine Kleidung ergänzen muß.

Nun gilt es, die anderen zu finden, von denen man sich vor bald drei Tagen getrennt hat. Drüben der Berg, von seinem Rücken aus kann man weit übers Eis sehen, wenn es endlich ganz aufgehört hat zu schneien.

»Na, wie steht's mit dem Humor?«

»Ganz gut, Jon. Er könnte vielleicht besser sein.«

»Nun wird alles noch gut gehen.«

»Jahau!«

Zuversichtlich klingt das eben nicht. Aber vielleicht sieht man nachher vom Eisberg aus eine kleine Gruppe von Männern durch die Gegend ziehen. Das wird ihn merklich verbessern, den Humor. Obwohl damit noch nichts erreicht ist, natürlich. Der Teufel kann dann immer noch seine Hand wieder ins Spiel mischen.

Schweigend hocken die Männer um den Primus herum, bis das Fleisch endlich sich bequemt, weich zu werden. Von da ab, vom Auftauen, dauert es noch eine gute Stunde, bis man seinen knurrenden Magen füllen kann.

»Wo hast du eigentlich deine Pelzmütze gekauft, Ragnar?«

»Andersen in Tromsö?«

»So. – – – War sie teuer?«

»Ja, sie kostete noch ihre neun Kronen, glaub' ich.«

»Nicht mehr? – Das war gut! Für die meine hab' ich vierzehn Kronen bezahlen müssen in Harstadt.«

»Ja so?« – – – – – –

»Sie ist aber auch aus Hundsfell, meine Mütze – aus gutem Fell, – – nun, inzwischen ist sie schäbig geworden an den Kanten. Aber Wind kommt da keiner durch!«

»Jahau!«

Ragnar hebt ungeduldig den Kopf, späht über das Eis hin, – vielleicht sind die Kameraden näher, als man denkt, – vielleicht hat das Eis sie zusammengetrieben, anstatt sie zu trennen.

»Eine Stunde wird noch vergehen, Ragnar, –«

»Ja, eine Stunde vielleicht!«

»Ich glaub', ich hab' sie mal gesehen, die Ingeborg, – – sie ist ein braves Mädel, – sieht so aus!«

Ragnar fährt zusammen.

»Hast du ein Bild von ihr.«

»Ja, ich hab' eins.«

»Das ist gut!« – – – – – –

»Nun, glaub' ich, ist das Fleisch soweit!«

»Glaub's auch.« »Ja, dann fangen wir mal an! Wer weiß, wann wir heut noch zu einer schicklichen Mahlzeit kommen.«

Jon stochert mit seinem Messer in dem kleinen Topf, bis er ein passendes Stück erwischt hat. »Ja, denn guten Appetit.«

»Die andern haben nun wohl kein Fleisch mehr.«

»Hm, – werden sie wohl nicht!

»Jaha, – wir haben einen ganzen Bären hier!«

»Ist so!«

– – – – – –

»So, – das lassen wir liegen bis nachher – die hundert Meter bis zum Berg – –«

»Alles nehmen wir mit! Ich glaube, der Wind dreht wieder auf Südost. Kann leicht sein, daß das Eis wieder zusammentreibt. – – So, Storm!«

Wie sie droben stehen, liegt die weite Eisfläche bald völlig frei vor ihren Augen.

»Vielleicht sind sie gerade von einem Großeis verdeckt!«

»Schon möglich! Warten wir ab!« Der alte Jon starrt mit unbeweglichen Augen übers Feld, – tief liegen die Falten um seinen Mund.

Er hat sofort erkannt, daß im Osten ganz neue Eisbanken angetrieben sind. Grobes, ungeschlachtes Eis zumeist, das vom Westen her gekommen sein muß. Die Bank, mit der sie treiben, ist die einzige, die hauptsächlich aus niederen Flacken besteht. Wie ein Keil hat sich das Schwereis dazwischen gezogen.

Erst weit draußen am Horizont liegt noch ähnliches Eis, wie das, auf dem sie die Kameraden zurückgelassen haben. Weiß glinst es im Gegensatz zum Schweren, das in mattem Grün schimmert.

»Wir müssen nach ihnen suchen, Alter!«

Schweigen.

»Das Eis setzt vielleicht wieder nach Westen, – sagtest du nicht, daß der Wind auf Ost wechseln kann – oder hat er bereits von dort eingesetzt? – – Wirklich, – der Wind kommt von der Ostecke!«

Jon schweigt noch immer.

Ja, der Wind wird das Eis wieder nach Westen treiben, – der Grönlandküste zu. Aber weiß man, wo er die Bank mit den vermißten Kameraden hintragen wird.

»Da ist ja auch noch die Strömung!« sagt er schließlich, mehr zu sich selbst als zu dem andern.

»Ja, da ist die Strömung – –«, wiederholt der Junge mechanisch.

»Das heißt«, fährt er fort, – »das heißt – –«

»Wir müssen unsern eigenen Weg machen«, beendet Jon seine Worte. Dabei schaut er den Jüngeren von der Seite an. »Vielleicht erreicht der Schiffer mit seinen Leuten eher Land als wir.«

»Jörgen, Malte, Jens, Olav, der Maschinist – der Schiffer!« sagt Ragnar langsam ins Eis hinaus, als wollte er jeden einzelnen von ihnen zu sich heranziehen.

»Ihre Aussichten sind nicht schlechter als die unsern –«

»Sie werden uns verloren geben!«

»Sie werden heute den Marsch zur Küste fortsetzen. Es hilft kein Suchen, – hier im Treibeis.«

Storm hockt zu Ragnars Füßen und schaut scharf in die Ferne. Einen beobachtenden Blick sendet ihm der Alte hie und da hinüber, – aber in dem schwarzen Hundegesicht ist kein Zeichen von Erregung zu sehen. Nichts, das darauf schließen ließe, daß der Hund etwas Auffälliges bemerkt hat, – die Kameraden müssen weit weg sein. –

»Drei Tage Drift im Eis! – Viele Meilen zieht das Eis in drei Tagen auseinander.« Er bekommt keine Antwort, der Alte. Ragnar ist weg mit seinen Gedanken. Bei den Kameraden. Bei dem Schiffer.

»Flammensignale! Vielleicht könnten sie den Rauch bemerken?«

»Zwei Liter Petroleum haben wir noch im Kanister! Wir können nichts davon opfern. Und woher nähmen wir Stoff oder Werg zum Brennen?«

Wieder starrt Ragnar in die Ferne, dreht nach einer Weile sich nach Jon hin: »Schüsse! Signalschüsse – wieviel Patronen hast du noch, Jon?«

»Schätze, es sind vielleicht achtunddreißig Schuß, mit dem, was ich noch im Sack verstaut habe.«

»Zwölf Schuß habe ich«, macht Ragnar kleinlaut.

»Wer weiß, wann wir wieder auf Menschen treffen, selbst wenn wir Land erreichen sollten. Und es hat keinen Zweck. Der Wind steht von dort, wo sie sich wahrscheinlich befinden. Sie werden nicht den kleinsten Laut vernehmen können. Schon bei Großfangtagen ist es selten, daß man die Schüsse der anderen Jagdgruppe hört und dabei ist doch die Entfernung selten mehr als einige zehn Kilometer. Kann sich um das fünf- und sechsfache handeln, hier.«

»Wir müssen aufbrechen, Ragnar, – nach West!« fügt der Alte hinzu. »Können hier nichts weiter tun.«

Und nach einer Weile:

»Tausende hat das Packeis vor uns gefordert, – Menschen – wie du und ich. Hat kein Erbarmen, das Eis. – – Wir müssen heute den Marsch fortsetzen.«

Ragnar denkt an die blonde Ingeborg, drunten in Norwegen. Was soll er ihr sagen von dieser Stunde, wenn sie fragt, wo ihr Vater geblieben sei.

»Der Schiffer blieb mit den Kameraden zurück, während Jon und ich uns auf Fleischjagd entfernten. Es kam Schnee, – die Sicht war auf wenige Meter beschränkt – – wir sahen uns nicht wieder nachdem – – dein Vater, – Ingeborg, – dein Vater kommt nicht wieder zurück aus dem Wester-Eis. Björnsson ist gegangen mit dem ›William Butt‹, – der alte Olsen vom ›Polaris‹ ist so gegangen, – Schiffer Jenssen, – Hendriksen, – alle sind sie im Eis gegangen – – ja, nun ging auch dein Vater! – Schiffer Isachsen ist auch gegangen – – –«

Ist es sicher, daß man überhaupt jemals in die Lage kommt, Ingeborg diese Erklärung geben zu müssen? Da ist der Marsch nach Grönland! Oh, – es ist bei weitem nicht sicher, daß man Ingeborg das alles auseinandersetzen muß.

»Ragnar und der alte Jon sind auch gegangen.« Wohl wird es so heißen, im Herbst, drunten an der Küste.

Sie verlassen den Berg. Voran der Alte, hinter ihm Ragnar, – zuletzt folgt Storm. Bald sind sie eingetaucht in das Gewirr des niedrigeren Meer-Eises, – hinter Blöcken treten ihre dunklen Gestalten ab und zu hervor, kleine Kämme, höher liegende Schollen sieht man sie entlanggehen, – dann sieht man wieder nur die Köpfe der Marschierenden, oder den Hund, der mitunter von den zweien wegrennt, kreuz und quer über die Schollen jagt, die Nase am Boden. In langen Zeitabständen erklettern Ragnar und Jon wieder ein hochragendes Eisstück, lassen ihre Blicke von Nordost nach Süd wandern, immer die Linie des Horizonts entlang, – müde klettern sie doch nach jedem solchen Halt wieder aufs flachere Eis. – – –

Zwei Mann und ein Hund.

Und Eis, soweit das Auge reicht.

Der alte Jon stapft ruhig seinen Weg, hält manchmal, wenn strichweise das Eis zerklüftet und grob, schier unüberwindlich sich vor ihm aufbaut, die Schritte an und sucht die Umgebung nach einem besseren Weg ab.

Weit hinten liegt ein Stück Großeis, – muß ein riesiger Berg sein, – der alles überragt.

Das Ziel für heute!

Weiter darf man nicht denken, – die Wunden müssen erst heilen, müssen erst viele Tage vergangen sein.

Morgen wird Jon am Horizont wieder nach einem Stück Eis suchen, das sich durch seine Gestalt von den andern Schollen unterscheidet, – das Ziel für morgen – – für übermorgen. Um dieses Ziel läßt sich den ganzen Tag denken, kalkulieren.

Noch fünfunddreißig Kilometer – – zwanzig Kilometer – acht sind es vielleicht noch!

Oder: »gleich sind wir da!«

Läuft einem schon das Wasser im Munde zusammen, wenn man daran denkt, wie bald der Primus brennen wird, – wie Fleischduft an einem vorbeistreichen wird – – oder Kaffeegeruch –

»Nun sind wir bald soweit, Ragnar!«

Aber Ragnar geht schweigend weiter.

Wer weiß auch wie Jon, was man denken darf und was man von sich fernhalten muß.

Jons Blut ist kühler geworden mit den Jahren. – –

Das Eis liegt in schimmernden, langen Zügen, die beinahe unmerklich in einer spielenden Dünung sich gegeneinander verschieben. In den letzten Tagen strichen unerwartet Eishühner in leichtem, graziösem Flug am Lager vorüber, fielen in kurzer Entfernung davon ein und liefen mit hochgereckten Köpfen aufgeregt auf den Schollen umher.

Heute begannen auch Alken aus den Wasserrinnen hochzutauchen, trieben plusternd ihr Spiel auf den glatten Wellen, bis Storm sie mit einem wütenden Gebell verscheuchte.

»Nun ist es ruhig im Eis!« sagt Jon am Abend, als sie Lager machen. Ich habe selten solches Eis gesehen, – man würde nicht glauben, daß man im Wester-Eis sei, wenn da nicht der ›Polarulv‹ zwischen mahlenden Schollen verschwunden wäre. Und wenn nicht die andern fehlten.«

»Zeichen von Land, die Vögel, die wir während der letzten Tage sahen. Sind nicht mehr so weit ab«, sagt Ragnar statt einer Antwort.

Im Westen liegt ein fahlblauer Dunst, der teils noch von den Strahlen der Sonne, die nun weit im Norden steht, durchsponnen ist.

Man ißt und kriecht in den Schlafsack nach dieser großen Unterhaltung. Morgen ist wieder ein Tag.

Ein Tag, an dem zwei Leute und ein Hund nach Westen streben.

Ragnar bleibt während des Marsches plötzlich stehen und wartet, bis der Alte seinen Abstand aufgeholt hat.

»Wolken«, sagt er, deutet nach vorn.

»Landwolken – das da vorn!«

Jon stützt sich mit einer müden Bewegung auf seine Rifle, während er das sagt, beugt sich vornüber und blinzelt zum Horizont hin. – – –

 

Einmal mußte ja der Tag kommen, an dem es sich im Westen bewölkte. Aber diesmal künden sie nicht Sturm oder stärkeren Wind, die Dunstballen am Horizont.

»Landwolken!«

»Wir haben Land vor uns, Jon!«

»Land, ja – – Land!«

»Wir haben es geschafft, Alter – –«

»Haben wir!«

Dann bleiben die Lippen geschlossen. Darf man sich freuen, wenn hinter einem vielleicht ein Zug von sechs Männern, stummen Männern, geht, – mit hohlwangigen Gesichtern. Ein Trupp von Toten, die alle Land erreichen wollten, als noch warmes Blut in ihnen war, – wo sind sie?

Leicht, daß sie heute, gerade heute, ihren letzten Kampf kämpfen gegen das Eis. Oder daß sie mit hoffnungslosen Augen diesem Kampf entgegensehen müssen.

Leicht, daß der Schiffer in diesem Augenblick zu den andern sagt, daß der Kampf endgültig verloren sei. Daß jeder sterben sollte als echter Eismeerfänger, – als echter Norweger.

Jons Maske ist versteinert.

Und der Junge geht mit zusammengekniffenen Lippen, mit Fäusten, die sich mit krampfhaftem Griff um den Gewehrschaft schließen, daß die Knochen weißlichblau aus dem braunen Handrücken herausdrücken, voran.

Das große Schweigen liegt über ihnen, geht in ihren Spuren.

 

Drei Tage noch hält sie das Eis. Am letzten rollt in der Ferne der Donner eines kalbenden Gletschers. Langanhaltend! In den Gebirgswänden eines Fjords verfangen.

Riesige Wacken lassen ihren Wasserspiegel auf Kilometer hinaus erglänzen. Zu wilden abenteuerlichen Bergen türmt sich das Eis, das in den Stürmen der letzten Wochen an der steilen Küste sich vorbeigepreßt hat, wieder sich löste, – trieb, auseinanderriß. Es braucht viele Stunden, bis solch eine Wacke umgangen ist, und manchmal führt der eingeschlagene Weg noch ins Nichts, – die Schritte führen weg vom Land, – – streben wieder darauf zu, – hin und her. Aber dahinter stehen schroffe Berge aus schwarzem Gestein, mit Schrunden und Rissen, – breite Geröllhalden fallen zur See nieder.

Dahinter ist das Land!

Zwischen Schneefeldern sprießt schon junges, frisches Grün.

Geschrei von Eissturmvögeln fliegt von steilen Felsgesimsen herab, unablässiges Reden und Zanken einer Kolonie von Tausenden und aber Tausenden der braun und grau gefiederten Flieger.

Das ist Land, ja.

Das Land trägt Leben in seinen Fugen. Leben noch in den nackten Felsspitzen, die in tiefhängende Wolken eintauchen.

Spuren von Füchsen ziehen sich vom Strand aufs Eis hinaus, Hasenpfoten laufen in koketten Kreuz- und Quersprüngen zwischen Steinblöcken und dem vereisten Strand, – – und hier ist eine Herde Moschusrinder langgezogen. Breite, halbmondförmige Schalen haben sich tief in den Schnee eingedrückt.

Der alte Jon beugt sich lange über die Spuren, – eifriger noch der Hund, der mit todernstem Gesicht die Nase in diese Stapfen steckt und plötzlich sich anschickt, nach Süden abzustreichen, hinter den Tieren.

»He, Storm! Bist wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf. Hierher, Storm!«

Ein Wunder fast, daß Storm dem Anruf folgt.

Mit einem unwilligen Jaulen mault er die Jäger bei seiner Rückkunft an. »Warum habt ihr mich nicht gehen lassen? Junges Moschusfleisch schmeckt besser als ein lederner alter Bär, von dem wir nun seit bald zwei Wochen leben.«

»Storm – – bleib hier! Hock dich hin.«

Diese unverständigen Zweibeiner!

»Waren zwei Jungtiere und ein ausgewachsenes Kalb in dem Flock, der hier langgekommen ist. Ein schwerer Bulle in ihrer Begleitung. Doch mit dem ist keine Ehre einzulegen, – stinkt wie der Teufel, wenn er vom Blocksberg kommt, so nach einem tollen Hexensabbat, – jawohl! Aber die Jungtiere – Milch und Blut! – Leckerbissen. Wie Rennkälber einige Wochen nach ihrer Geburt! – – He, Storm, – hiergeblieben, du verdammtes Aas!«

Jon ist auf Draht, sieht es aus. Jon ist ganz wieder der Alte. Jon vergißt eine ganze Welt, wenn er auf Wildspuren stößt. Da beginnt sein Blut zu kochen. Die Augen leuchten auf. Heißa! Ist das nicht etwas anderes, als mit schwergebeugtem Rücken übers Eis zu taumeln – Tag für Tag. – »Wird dich das Eis behalten? Wird es dich freigeben?« Weiterschreiten! Nacht um Nacht!

»Heißt das leben?«

Jon sieht schwere schwarze Körper durch den Schnee furchen, zwei junge Tiere halten sich dicht an der Seite der Mütter. Zottige Mähnen flattern im Wind. Ein Schuß knallt durch die Berge. Noch einer. Bestürzt galoppiert die Herde weiter. Häuten – aufbrechen – schlingen, zartes junges Fleisch. Nun, Storm kann auch seinen Teil haben. Nun – ja – – zartes junges Fleisch – – –

Doch Ragnar starrt noch immer ins Eis zurück. Ragnar sieht nur den Strand, einen sandigen Streifen, den die ankommende Flut freigespült hat – die Grenze zwischen Land und Packeis, – ihm scheint, die Grenze zwischen Leben und Tod.

Ragnar hat das Land, auf dem er steht, noch kaum gesehen, – bis auf den kleinen Streifen Strand, den er vor wenigen Minuten überschritt.

Stunden kann es noch brauchen, bis der Junge seine Augen von dieser Linie losbringt.

»Sie blieben zurück!«

Ist es nicht, als flimmert ein hohles Gesicht durch den Strahlenkreis der Sonne. Vom Horizont ragt es bis beinahe hoch zum Zenit.

»Sie sind tot. Alle!«

»Hilft kein Philosophieren jetzt, Ragnar. Die Lebenden müssen die Toten vergessen – sie gehören nicht mehr zu uns. Sie gehören zu einer anderen Welt.« – –

»Drüben am Berge können wir Lager machen, für die Nacht. Morgen sehen wir uns die Gegend etwas genauer an. Nördlich von Angmagsalik sind wir, – ein gutes Stück nördlich, soviel ich weiß. Aber mehr kann ich nicht sagen. Von See aus sieht sich eine Küste anders an als an Land.«

Ragnar nimmt die Rückenlast vom Boden, ergreift die Rifle und steigt bergan, – hundert Meter höher, auf eine kleine Fläche, die so im Schutz der Berge liegt, daß ihre vordere Hälfte von den Frühjahrsstürmen freigefegt wurde, während sich nach hinten hoher Schnee in gewaltigen Wehen türmt, Schnee, in den mühelos eine Höhle für die Nacht gegraben werden kann.

Man wird heute nacht wieder ein Dach überm Kopf haben. Eine richtige Hütte, mit Kojen aus festgestampftem Schnee. Morgen wird man sich die Gegend etwas genauer ansehen, – Moschusochsen! – –

Jon liegt auf der Koje, eine oder zwei Stunden nachher. Was macht es, daß die Koje aus Schnee aufgebaut ist, – daß die Wände weiß glitzern. Es liegt sich weich auf dem Schlafsack. Und der Primus speit Wärme in die kleine Höhle, seitdem Jon das Einschlüpfloch mit einer dicken Platte Schnee vermauert hat. Fehlt nur der Priem, um das Leben hier oben gemütlich zu finden. Aber an seiner Stelle ist ja auch die Pfeife zu gebrauchen. Man muß sich in die Zeit des großen Tabakstreiks zurückdenken, der vor einigen Jahren über ganz Norwegen lag. Hockten da nicht die alten Seebären vor ihren Katen oder an Bord, auf der Ladeluke, und zerschnitten sich die Pfeifen, die sie im hintersten Spindwinkel noch vorfanden. Dichtgetränkt und vollgesogen mit Tabakssaft waren diese Pipen, wenn sie auch sauer schmeckten. Die klobigen Köpfe und die zerbissenen Stummel waren plötzlich wieder zu Ehren gekommen. Für eine alte Pfeife bezahlte man gut und gerne den Preis eines guten Pakets Tabak. Nicht etwa, um daraus zu rauchen, kaufte man sie. Zu feinem Pulver wurde sie verschrottet, mit Hammer und Messer, und dann schloß man die Augen im Genuß des Augenblicks, legte den Kopf auf die Seite und schickte Holzmehl und den darin eingetrockneten Saft in den Mund. Eine richtig braune Brühe gab das. Nicht anders als bei einem saftigen Priem. Der Tabakstreik hielt viele Monate hindurch an, und viele Pfeifen wurden in dieser Zeit zuguterletzt aufgefressen.

Ein Glück, daß Jon den Tabakstreik selbst erlebt hat. Sonst könnte er jetzt hier sitzen und Trübsal blasen. Denn der Tabak ist alle geworden.

Ragnar schaut mit schiefen Augen zu Jon hinüber, der mit dem Fangmesser kunstvoll seine Pfeife ausschlachtet und die kleinen, leicht zerbröckelnden Holzstück' chen zwischen den derben Pranken zerreibt. »So fängt das an, fängt meist im Kopf an«, denkt er. Oder hat er es gesagt?

»Hast du etwas gesagt?«

»Nein, Alter, – ich dachte man nur so!« beeilt sich Ragnar zu versichern, als er sieht, wie Jon sich die Backen vollstopft mit dem braunen Zeug.

»Priemen! Aha!«

Ja, das hatte seine Richtigkeit, was Jon tat. Vielleicht, daß man sich das überlegte. Nachahmte.

Als die beiden am nächsten Morgen ihre Höhle verlassen, – ist es Morgen oder Mittag? Die Sonne steht im Norden. »Mitternacht!« Mehr als einen Tag haben sie geschlafen wie die Ratten, – achtundzwanzig Stunden in einem Zug! Als sie so ganz beiläufig ins Freie treten, rennt Jon schleunigst in die Hütte zurück. Ragnar, der eben die Arme in die Luft reckt, gähnend ins Licht tritt, zwinkert heftig mit den Augen, wirft den blonden Haarschopf nach hinten.

»Walrosse!«

Auch er ist wie ein geölter Blitz wieder im Höhleneingang verschwunden, greift im Vorbeigehen Storm am zottigen Nackenfell, mit der andern Hand nach der Rifle, die an der Schneewand lehnt.

»Mensch, – Walrosse!« Mehr bringt keiner von ihnen über die Lippen, aber jeder ist im Handumdrehen mit der schußbereiten Büchse wieder draußen.

Direkt vor der Nase liegen sie, die riesigen, plumpen Tiere. Gelb stechen ihre langen Zähne vom Eis ab. Grobe Hautwülste ziehen sich am Hinterkopf und über die Gliedmaßen lang. Eines der Tiere liegt halb auf dem Rücken, schlägt träge mit der rechten Vorderflosse auf und nieder. Das einzige Tier der Herde, das wach zu sein scheint. Aber es scheint seine Wache nicht sonderlich ernst zu nehmen. Was gibt es hier schon viel zu wachen. Ein Bär vielleicht, der sich an eines der Jungtiere heranmachen möchte? Ist kein Bär zu sehen. Wenn man so jede Viertelstunde einmal den Kopf ins Wetter hebt und die Gegend absucht, – – das genügt. Auch ein Bär wird es sich lange überlegen, bevor er sich mitten in die Herde wagt, und das muß er im Falle eines Angriffs, denn die Jungtiere liegen zwischen den Alten.

»Aus Walroßhäuten kann man sich tüchtige Hütten bauen«, stellt Jon fest, während er neben Ragnar langsam hinter einem kleinen Hügel zu Tal pirscht. »Aber wir müßten mehrere der Tiere dazu haben. Unsere Munition dürfen wir nicht so leicht ausgeben, – Harpunen haben wir nicht. Müssen uns mit einem Fungen begnügen. Oder mit einem der mittleren Tiere. Fleisch. Die Haut kommt erst in zweiter Linie.«

Nach einer Weile sind sie am Strand angelangt, kriechen. Es ist ja nicht sehr schwer, Walrosse anzupirschen. Immerhin, – durch einen Zufall könnten die Tiere doch aufmerksam werden und abziehen, ehe ein tödlicher Schutz angebracht ist. Denn die Kugel muß haarscharf in dem kleinen Auge sitzen und ins Gehirn einfahren. Alles andere wäre nutzlose Arbeit und Materialvergeudung.

»Nun, wir sind hier in einer verdammten Situation«, erhebt Ragnar Einspruch gegen Jons Anordnung. »Eines der Tiere müssen wir haben. Also nimmt jeder eines von ihnen aufs Korn. Einen Bullen und ein Jungtier. Storm ist auch noch da. Storm wird in ein paar Wochen mit einem Jungen glatt fertig. Jawohl. Ein älteres und ein Jungtier.«

Jon ist schon in Feuerstellung gegangen. Er wird den Jungen zur linken Seite des wachhabenden Bullen nehmen. »Schön, das Wachttier liegt nicht gut. Aber etwas weiter links davon – sieh mal hinüber!« – – Da liegt ein Bulle, der mit blinden Augen einem geradenwegs in den Büchsenlauf sieht. Ragnar kriecht eine kleine Spanne abseits, damit er die Kugel auch mitten ins Gehirn anbringen kann. Nun kriegt es der Wachthabende plötzlich mit Ahnungen zu tun. – –

»Es könnte doch etwas in der Nähe sein.«

Schwerfällig klatscht er auf die andere Seite, richtet ruckartig den Kopf hoch. Die Stoßzähne stehen schief aus dem bärtigen Maul. »Na, – – Feuer!« sagt Jon gemütlich, – »Zack, – Zack!« krachen die beiden Büchsen. – – »Ehe sie uns durch die Lappen gehen«, beendet der Alte den angefangenen Satz. »Siehst du, – die haben was kapiert, haha, – aber die beiden liegen fest, – der Kleine und der Große.«

In einigen langen Sätzen ist Jon bei dem gefällten Bullen, der im Feuer auf die Seite getorkelt ist und immer noch, begreiflicherweise etwas erregt, mit den schon kraftlosen Gliedmaßen versucht, in eine normale Lage zu kommen. Einmal, – zwei-, dreimal springt der Jäger an das todwunde Tier heran und senkt ihm das lange Messer in den dicken Hals, daß das Blut lochend in den Schnee sprudelt. Jedesmal ist er jedoch besorgt, nicht in die Nähe der Hauer zu geraten. Nach dem letzten Stich senkt der Bulle endlich den Kopf hintenüber, legt sich mit einem Grunzen, das aus der durchstoßenen Kehle sägt, seitwärts.

»Einer davon hätte genügt. Wäre allerdings eine schöne Schweinerei gewesen, wenn sie uns alle ausgekommen wären. Gute Arbeit, die wir noch zu erledigen haben. Schätze, brauchen zwei Tage, bis wir so einigermaßen mit dem Ertrag dieser Jagd aufgeräumt haben.«

Prustend tauchen in der kleinen Wacke Köpfe aus dem Wasser. Stoßzähne, plumpe Köpfe, tauchen ab, kommen wieder hoch. Die Wellen schwappen in der heftigen Bewegung der schweren Körper am Eis entlang. Eine Kleinigkeit wäre es, noch ein paar Zentner Fleisch auf Vorrat zu schießen. Aber die Munition. Zwei Schüsse weniger. Das ist schon eine fühlbare Abnahme. Keine der Kugeln, die die Jäger mit von Bord gerettet haben, darf mehr ein Ziel verfehlen. Nicht eine der runden Bleispitzen darf auf Eis oder auf Stein prallen.

»Nun – hau schon ab!« ruft Jon einem schnaubenden Bullen zu, der senkrecht im Wasser steht und zum Schlachtfeld hinüberstarrt, auf dem die Angehörigen seiner Sippe verbluten. »Gibt hier nichts mehr zu tun.« Langsam sinkt das Tier unter Wasser, um ein paar Augenblicke später an einer anderen Stelle, etwas entfernt, wieder aufzukommen. Erst als Storm mit einem Wutgeheul auf ihn zustürmt, in Sätzen über die dicht beieinander liegenden Schollen hinweg, zieht er sich zurück, verschwindet mit einer hastigen Bewegung unter Wasser.

Da war nun wieder frisches Fleisch, köstliches Fleisch! Das Bärenfleisch ist ja inzwischen schon etwas schmierig geworden auf der Oberfläche, die Fasern weich und geschwollen. Hundefraß!

Die Beute muß an Ort und Stelle zerlegt werden. Allein das Zungtier hat schon seine guten zwei Zentner. Ein Transport ist da ausgeschlossen. Sogar die Haut des Jungen würde einem kräftigen Mann zu schaffen machen. Nun, es strahlt die Sonne. Schön arbeiten, wenn die Sonne am Himmel steht.

Am Ende sind die beiden allerdings vollkommen erschöpft. Kaum, daß sie noch Zeit zum Essen finden. Und nachdem pennen sie, als ob sie in den Tod hinüberschlafen wollten. Aber da ist nun wieder Fleisch, – Fleisch ist Leben. Und der Boden der Höhle ist mit einer Walroßhaut gepflastert. Warm und behaglich.

*


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