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Künstlers Erdenwallen.

I In dem Umkreise der Gemüsestadt Erfurt befand sich unter den Anlagen der zahlreichen Handelsgärtner eine, die durch ihre besondere Nettigkeit und Reichhaltigkeit an Pflanzen auffiel. Sie gehörte Brahms, einem Manne, welcher wegen seiner Tüchtigkeit und einer Art hervorragenden Talentes für seinen Beruf weit und breit bekannt war.

Er zog die seltensten Exemplare von Gemüsen und Blumen und verstand es wunderbar, einfache Arten auf das künstlichste zu veredeln. Es ging ihm nicht schlecht, denn er besaß viele Kunden, aber er konnte die Einnahmen auch recht gut brauchen, denn er hatte ja eine Frau und zwei Kinder zu ernähren. Sie bewohnten ein nettes Häuschen mit rotem Ziegeldach. Drin waren zwei freundliche Kammern zum Wohnen, eine schmucke Küche und ein Rumpelkämmerchen voll altem Eisenzeug, Blumentöpfen und Draht zum Kranz- und Straußbinden.

Die Mutter und die dreizehnjährige Veronika versorgten den Haushalt aufs beste, während Vater Brahms unter seinen lieben Pflanzen draußen umherwirtschaftete, umsichtig, genau, mit jedem Handgriff etwas Nützliches leistend. Paul, ein großer, hübscher Knabe von fünfzehn Jahren, stand dem Vater vom Morgen bis zum Abend zur Seite, denn er sollte einmal ein eben so geschickter Gärtner werden, wie sein Vater war, das stand bei letzterem fest. Leider hatte aber Paul nicht die Hand zum Führen des Spatens und der Gießkanne.

»Leider nein,« seufzte Vater Brahms oft, mit seiner Frau sprechend, wenn das Tagewerk vollendet war und er neben ihr auf dem Bänkchen vor dem Hause saß.

»Hättest du ihn heut' nur wieder gesehen: Da macht er einen Stich in die Erde – so – – jetzt wird der Arm aufgestützt und hinaus schaut der Bursch in den blauen Himmel und in die grünen Bäume und spintisiert und fabuliert. Paul, donnere ich da auf ihn, wird's heute noch? Ja, da fährt er auf wie aus einem Traum und – ich sag's ja, man kann dem Buben nicht lange bös sein, – jetzt wird gearbeitet und gestochen, daß ihm die hellen Tropfen auf der Stirn stehen. Aber am Nachmittag schon, morgen und übermorgen ist's wieder dasselbe.«

»Nun, weißt du, Klemens, bist auch bißchen zu streng; unser Paul hat ja doch den redlichsten Willen. Schau', du bist ein ganz besonderer Mann in deinem Fach, das kann man nicht gleich von solch einem Bürschlein verlangen, die Unermüdlichkeit, die Ausdauer –«

»So,« fiel Vater Brahms ein, »du sprichst gerade, als wenn er die Eigenschaften nicht auch zeigte, aber eben nicht bei der rechtschaffenen Gärtnerei, nein, bei seinem Gekritzel und seiner Farbensudelei, die ich hasse, wie nichts in der Welt, weil's ihm den Kopf verdreht und alle vernünftigen Gedanken wegstiehlt. Und das habt ihr Frauenzimmer leider, du und die Veronika, solch ein Gethue mit seinen »Bildern«; wir dürften einen zweiten Raphael – ich glaube, so heißt ja der große italienische Maler – im Hause haben. Und wenn er's wäre, woher nähme denn ich, der Gärtner Brahms, das Geld zum Studium!«

Nach einer Weile fuhr er fort: »Heute sitzt mir schon der Ärger im Nacken; 's ist besser, ich mach' noch einen Ausgang. Ich gehe nur zum Nachbar Willer hinüber, mir den neuen Blumenkatalog ansehen von der letzten Ausstellung in Wien. Da giebt's Raritäten drin! Behüt' Gott!«

Und fort schritt Vater Brahms, eine wahre Hünengestalt mit seiner geraden Haltung, dem offenen Blick seiner blauen, strengen Augen und dem dichten, rotblonden Vollbart.

Die Mutter aber ging in das Haus hinein.

»Natürlich, in der Kammer drin werden sie sein, wie immer.« »Aber, Paul,« rief sie bei ihrem Eintreten, »schon wieder überm Pinsel, und völlig dunkel wird's gleich sein! Du, wenn dich der Vater sähe, gleich würde er sagen, und ich sag's auch: Die Gottesgab', das Augenlicht, verdirbst du dir mutwillig, und dann freilich wird keine Raupe vom grünen Blatt unterschieden und so anderes mehr. Du, Veronika, steckst auch dabei, die Hände müßig im Schoß – eine nette Gesellschaft das! – Nein, Paul, ich muß dir's ernstlich sagen, der Vater ist sehr ungehalten über dich. Halb bei der einen Sache sein und halb bei der anderen, das taugt nichts.«

»Ja, Mutter, du hast recht, das taugt nichts,« erwiderte sich erhebend, Pinsel, Farben und Papiere zusammenlegend, mit traurigem Ton der Knabe. »Ich weiß, daß ihr mich für einen faulen, eigensinnigen, nichtsnutzigen Buben haltet, und ich nehm' mir's immer vor: Jetzt wirst du keinen Pinsel mehr anrühren und wirst dich unverdrossen an die Gärtnerei machen und an nichts anderes denken – und dann Mutter gerade, wenn ich dabei bin und sehe die schönen, vielfarbigen Blumen vor mir – o, ich kann's nicht so sagen, wie mir da ist, da fühl' ich, wie etwas Eigenes von ihrer Gestalt, ihren Farben auf mich übergeht, da zuckt's mir wunderlich in der Hand nach dem Pinsel und erst, wenn ich's gemalt habe, dann wird's wieder ruhiger in mir und ich kann ordentlich thun, was ihr von mir haben wollt.«

»Und doch mußt du dir das Ding aus dem Kopf schlagen, Paul. Da hilft alles nichts. Maler ist man noch nicht, und wenn man gleich über den Farben ist wie du, da heißt's studieren und lernen, und dazu hat der Vater kein Geld. Und dann, wer weiß, ob du wirklich Talent dazu hast, ob du's je zu etwas Ordentlichem bringst, und du weißt, der Vater ist ehrgeizig. Er leistet Tüchtiges in seinem Beruf und sein Sohn soll's einmal auch.«

Da richtete sich Paul hoch auf und trat vor die Mutter; wenn's nicht so dämmerig gewesen wäre, hätte sie gestaunt über das mutige Blitzen in des Knaben dunklen Augen:

»Das versprech' ich dir, etwas Ordentliches werd' ich, muß ich werden als Gärtner oder Künstler!« – –

In der Nacht darauf bemühte sich der Engel des Schlummers vergeblich, den Bewohnern des stillen Gartenhäuschens die Augen in wohlthätigem Schlummer zu schließen. Vater Brahms lag schlaflos; Ärger und Sorge über die Untauglichkeit seines Sohnes zur Gärtnerei hielten ihn wach.

Die Mutter litt mehr in ihrem Herzen, in ihrer liebevollen, treuen Mutterseele, die an die Begabung ihres Sohnes für den Malerberuf entschieden glaubte und ihm doch nicht zur Befriedigung seines edlen Dranges verhelfen konnte, denn des Vaters Wille regiert über die Familie wie Gottes Wille über die Welt, das hatte sie selbst ihre Kinder gelehrt, und dann das Geld – –

»O Gott, zeig' uns einen Ausweg!« betete sie in der Stille der Nacht, »segne meine Kinder und mache sie glücklich.«

Veronika weinte leise in ihre Kissen hinein. Der Vater hatte so streng mit Paul gesprochen, als er am Abend nach Hause gekommen war, und Pinsel und Farben durften nun nach seinem Gebote nicht mehr berührt werden. Paul war so fügsam, so still, so geduldig geblieben bei des Vaters Vorwürfen, aber auch blaß und immer blässer war er geworden und seine Stimme so matt, so traurig. Veronika fühlte es ihm nach, wie er sich kränkte.

Paul, das Sorgenkind, war gar nicht zu Bett gegangen. Drinnen in der Kammer saß er auf einem alten Schemelchen beim Fenster, durch welches das Mondlicht hell hereinflutete; auf seinen Knieen lagen Papierblätter mit Zeichnungen und Malereien bedeckt, und er sah träumend auf diese Gebilde seiner Phantasie herab, die er mit soviel Liebe und Lust gestaltet hatte und die, mit Ausnahme seiner Schwester Veronika, von allen verkannt und verachtet wurden. O, wie schmerzte es ihn, sich von seinen Eltern, die er so innig liebte, unverstanden zu wissen! Wie glücklich sind andere Kinder, die Gutes thun wollen und ihren Vater, ihre Mutter dadurch erfreuen!

»Ich will nur Gutes und Edles durch die Malerei erreichen und kränke meine Eltern damit.«

Und er senkte das Haupt in seine Hände hinab und schluchzte bitterlich in sich hinein. – – – – – – – –

Des Frühlings Frische verwandelte sich allmählich in Sommerglut. Tiefes Grün schmückte Baum und Strauch. Das reichliche Gießen gab Vater Brahms für einige Stunden des Abends Arbeit; ebenso wurde der ganze Tag zu eifriger Beschäftigung seines Sohnes im Garten benützt. Pinsel und Farben hielt der Vater in seiner Lade eingeschlossen. Seine Bilder und Skizzen hatte der Knabe still zwischen die im Schranke aufgehobenen Lehrbücher geschoben und mit rastlosem Eifer war er bemüht, sich dem Vater nützlich zu machen und sein ganzes Interesse der Pflege der Pflanzen zuzuwenden. Der Vater sparte nicht mit seinem Lobe; denn es gingen mit dieser Umwandlung seines Sohnes neue Hoffnungen in ihm auf.

»Brav ist unser Paul, Mutter, ja;« sprach er eines Abends, als er nach redlicher Arbeit mit dem Knaben ins Haus kam. »Ich habe schon eine Prämie da hängen von der Ausstellung, und so Gott will, wird der Paul mir noch etliche andere eintragen, wenn ich als ein weißhaariger Alter einst im Lehnstuhl sitze. Gott gebe die Zeiten!«

Ein Lächeln überflog des Knaben Züge, die blaß und ernst waren seit den letzten Wochen. Liebkosend strich die Mutter über seine dunklen Locken und schob ihm den Teller mit den dampfenden Klößen näher. Paul nahm einige Bissen, dann legte er die Gabel nieder.

»Das macht die Hitze gewiß,« sprach die Mutter mit einem besorgten Blick auf ihren Ältesten, »es ist auch drückend, noch jetzt abends 23 Grad Wärme.«

»Laß ihn nur, er wird schon wieder essen. Die Hauptsache ist, daß er jetzt wieder mein braver Bub' heißt.«

Als Bruder und Schwester dann in den Garten hinaustraten und im Mondschein durch die Büsche wanderten, wobei Ambo, der große, gelbe Haushund ihnen gravitätisch folgte, zog Veronika einen silberglänzenden Gegenstand aus der Tasche.

»Lieber Paul,« sprach sie leise, verschämt, »ich bitte dich, nimm. Weil du jetzt immer so wenig issest, habe ich gedacht, etwas Süßes wird dir besser schmecken. Ich habe es von der Anna Großer, meiner Schulkameradin, bekommen; ihr Vater ist Zuckerbäcker, und ich habe es für dich aufgehoben.«

»Du gute Veronika,« sprach gerührt der Bruder, »ich nehme ein Stück von der Chokolade, das andere mußt du behalten. So!«

Als beide das süße Labsal verspeist hatten, begann Veronika wieder:

»Bruder Paul, wir wollen uns eins singen. Ei, du warst früher so fröhlich und sangst so gern. Geh', sing' mit:

»Büblein lag im Wagen,
Mutter mußt es tragen;
Büblein schrie und war so klein,
Büblein wird bald größer sein.

Und das Büblein wuchs heran,
Büblein nun schon laufen kann;
Geht zur Schule, kommt nach Haus
Bringt der Mutter einen Strauß.

Büblein ist ein junger Mann,
Der sich tüchtig regen kann;
Ziehet in die Welt hinaus,
Mutter bleibt allein zu Haus.

Kränke dich, du Gute nicht,
Sieh', dein Sohn kennt sein Pflicht:
Kommt als reicher Mann zurück,
Lebt mit dir in Lust und Glück.«

»Lust und Glück.« Mit zitterndem Klang verhalten diese Worte auf den Lippen Pauls; er blieb stehen, ließ den Kopf plötzlich auf die zarte Schulter seines kleineren Schwesterchens sinken und brach in Schluchzen aus.

»Paul, o Paul, bist du so traurig? Was fehlt dir?«

Da hob der Knabe den Kopf, schluckte mannhaft die Thränen hinunter und sprach:

»Es ist mir noch schwer das neue Leben, du weißt schon – – o, wenn der Vater nur einmal wirklich mit mir zufrieden sein könnte.« – – – – – – – – – – –

Der Herbst malte mit geschickter und behender Hand die Früchte am Spalier gelb und rot. Violette Herbstblumen schmückten das erblassende Gras, und durch die sonnige Luft voll weißer, glänzender Fäden schwirrten scheidende Schwalben.

Veronika ging wieder zur Schule, aber es gab jetzt im Garten soviel zu thun mit Wintervorbereitungen, daß auch sie oft thätig mit eingriff in ihren schulfreien Stunden.

Eines Morgens nun erhob sich Veronika wie gewöhnlich um ½4 Uhr morgens von ihrem Lager; sie war stets so zeitlich auf, denn sie wollte immer ein gut Stück Hausarbeit verrichten, bevor sie zur Schule ging. Es war Mittwoch, also Markttag, und da hieß es vor allem, Paul wecken, der nun regelmäßig die Fahrten zur Stadt allein besorgte, und. dann ihm helfen den Wagen vollzuladen mit den Grünwaren, die der Vater immer am Abend vorher für den Verkauf bestimmte. Veronika also machte sich rasch fertig und eilte dann an die Thür des Schlafkämmerleins von Paul.

»Halb 5 Uhr, aufstehen!« rief sie sehr energisch hinein – keine Antwort.

»Nun, der schläft aber heut'. Paul! Paul!« Tiefe Stille. Jetzt öffnete sie die Thür.

»Paul aufstehen. – Ja, wo in aller Welt ist der Bub', ist der gar heut' schon fort und alles hier fix und fertig, das Bett gemacht, na, das nenn' ich fleißig. Guten Morgen, Mutter,« rief sie der Mutter zu, die draußen in die Küche trat, um Holz kleinzumachen fürs Frühstück. »Denk' dir, Paul ist heute schon fort ohne Frühstück; ich weiß nicht, was er so früh auf dem Markte will?«

»Was sagst du, Veronika,« fiel hastig die Mutter ein, »Paul ist nicht in der Kammer?«

Sie trat dabei in den genannten Raum, und bei dem ersten Blick auf das unberührte Lager ward sie totenblaß. Sie wandte sich aber rasch um, damit sie Veronika nicht erschrecke. »Sei nur nicht so laut, Veronika, der Vater liegt heute noch. Ihm ist nicht ganz gut. Mach' du schnell Feuer an und stelle die Milch auf, damit der Vater das Frühstück bald bekommt. Ich gehe, draußen nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.«

Ja, es war alles in schönster Ordnung. Das Thor verschlossen, das Wägelchen im Hofe, das Bräunle im Stalle, die Körbe voll Obst und Gemüse, die Blumenstöckchen, die schönsten Astern, Levkojen und Herbstrosen aus dem Garten in Reih und Glied in der Scheuer aufgestellt. – Doch gerade diese Ordnung war nicht in Ordnung. Und Paul, das Sorgenkind, das Sonnenkind, wo war ihr Paul?

Die Mutter beantwortete sich diese bange Frage in ihrem Herzen mit der traurigen Gewißheit. »Er hat uns mit Willen verlassen. O Kind, Kind, wie konntest du uns das thun?«

Langsamen, zögernden Schrittes ging sie dem Hause zu. Wie wird Veronika jammern, und wenn ihr Klemens erwacht, muß sie's ihm ja auch gleich sagen.

»Wie lustig mein Feuer brennt, schau', Mutter, gleich wird die Milch sieden.«

»Ist der Vater schon wach? Ja, er wird's schon sein.«

Wie verändert, wie hohl doch der Mutter Stimme klang. Das Mädchen sah auf.

»Mutter, bist auch du krank, Mutter!«

Die kräftige Frau schwankte, sie hielt sich an den Thürpfosten an, und als die Tochter sie angstvoll umschlang, preßte sie diese heiß und fest an sich und sagte mit unbeschreiblich schmerzlichem Ton: »Veronika, er ist fort, Paul ist fort, heimlich, weiß Gott, ob wir ihn wiederfinden.«

»Paul!« schrie das Mädchen auf, »Mutter!«

»Ja, mein Kind, der Wagen, das Pferd, die Ware, alles ist da, nur unser Paul nicht.«

Zischend ging die Milch auf dem Herde über. Veronika lehnte, unfähig sich zu bewegen, auf der Truhe. Die Mutter goß des Vaters Schale voll mit zitternder Hand und nötigte dann, sich rasch fassend, dem Mädchen einige Löffel der warmen Flüssigkeit auf.

»Sei meine tapfere Veronika, Verzweiflung macht's nicht besser. Und dann dürfen wir dem Vater nicht mit bestürzten Gesichtern kommen. Ich trage ihm jetzt das Frühstück hinein, erst soll er ruhig trinken, dann freilich muß ich ihm's sagen.«

Sie ging in die Kammer, wo Vater Brahms lag.

»Muß mich arg verkühlt haben. Gestern war's aber auch rechtschaffen frostig. Wenn mir's schon einmal in allen Gliedern liegt, das will etwas heißen. 's ist ein Kreuz, wenn man aufstehen möchte und arbeiten und kann nicht.«

Nun schlürfte er mit Behagen das erwärmende Getränk.

»Ich bitt' dich, reiche mir auch mein Gebetbuch vom Spind herab. Paul ist doch schon zur Stadt fort?«

Die Frau willfahrte ihres Gatten Wunsche; als sie ihm das Buch des Trostes reichte, da hielt sie seine Hand fest und sah ihm tief ins Auge.

»Klemens, und wenn du jetzt betest, bete für unseren Paul, er – wir – – ja, er ist fort, aber wohin, das weiß ich nicht. Das Bräunle ist im Stalle. Von Paul keine Spur im ganzen Hause, sein Bett unberührt. O, Gott, Gott, daß er uns das gethan hat.«

Vater Brahms richtete sich plötzlich hoch auf in seinen Kissen:

»Wie hat das geheißen, Paul! Daß doch der Schlingel –!« Drohend schwoll die Zornesader auf seiner Stirne. Wie fortgeblasen waren Kopfschmerz und Mattigkeit seiner Glieder.

»Nein, das war zuviel verlangt, er hat's nicht aushalten können bei seiner Besserung. Über die Hausmauer klettert er davon bei Nacht und Nebel. Die Heuchelei, diese Hinterlist, diese Schwachheit; ich schäme mich, einen solchen Sohn gehabt zu haben.«

Er sprang auf, kleidete sich an und eilte fort. Es war beängstigend zu sehen, wie sein sonst so ruhiges Auge glühte, wie der große, starke Mann zitterte vor Aufregung.

Die Mutter und Veronika gingen still und bleich an ihre Arbeiten. Kaum wollten die Glieder für die gewohnten, alltäglichen Verrichtungen taugen. Gegen Mittag kam der Vater zurück.

»So nun hab' ich alles gethan, was zu thun war. Wo ich nur konnte, habe ich nach ihm gefragt, und telegraphiert habe ich an den Herrn Weilguni, den Maler in Düsseldorf, der meinem Buben den Kopf verdreht hat, ob er vielleicht bei ihm ist. Weißt ja, Frau, der blasse, schwarze, der vor zwei Jahren die große Blumensendung bei uns bestellt hat für seinen Wintergarten – und da entdeckt er den Knaben über seinen Sudeleien und da heißt's dann: »Talent, o entschieden; widmen Sie sich der Kunst, junger Mann.«

Der Kummer der Eltern über Pauls Flucht.

Und was der Vater dazu sagt, danach wird nicht gefragt von diesen Herren im braunen Sammetrock – widmen Sie sich nun dem Suchen nach meinem Buben, gefälligst, Herr Weilguni.«

Vater Brahms schritt dröhnend in der Stube auf und nieder; vergessen war sein Garten und die dringenden Beschäftigungen dort; wortkarg, mit der Röte der höchsten Erregung über den sonst so gleichmütigen Zügen saß er bald an dem Fenster, den Telegraphenboten erwartend, bald setzte er sein Auf- und Niedergehen im Zimmer fort.

Da kam das Telegramm aus Düsseldorf.

»Ihr Sohn nicht bei mir; weiß nichts von ihm. Weilguni.«

Laut schluchzte Veronika bei dieser niederschmetternden Kunde auf. Das arme, treue Schwesterchen litt unsäglich. Sie, die stets so zärtlich auf den Bruder bedacht gewesen, ihm die besten Stücke zugesteckt, die ihn im Winter sorglich eingehüllt, im Sommer aber für seine Erfrischung und Abkühlung gesorgt hatte durch erquickenden Trunk, den sie dem Arbeitenden hinausbrachte; sie, die sonst noch keinen Tag von dem teuren, geliebten Knaben getrennt gewesen, mußte nun die Qual der Ungewißheit über seinen Aufenthaltsort, über sein Ergehen erdulden. O, wie sie betete, die treue Schwester aus dem Grunde ihres reinen, liebevollen Herzens:

»Gott, beschütze ihn draußen in der Irre vor Hunger, Bangigkeit, Gefahr, und führe ihn glücklich wieder her zu uns.«

* * *

Derselbe Tag, der strahlende Herbstpracht über Erfurt ausbreitete, brauste trüb und stürmisch über München dahin. Eben fuhr der aus dem Norden kommende Nachtzug in die Bahnhofshalle ein, ein Ruck, er hielt, und eine hastende Menge entstieg den Waggons. Mit Taschen und Schachteln beladen, zerstreuten sie sich draußen in den verschiedensten Richtungen; ein Knabe aber, der auch mit den übrigen ausgestiegen war, blieb unschlüssig in der Bahnhofshalle stehen. Er sah sehr blaß aus, und die Hand, in der er Stock und Bündel hielt, zitterte merklich.

»Wohin nun?« seufzte er bei sich. »Es ist schrecklich, wie mutlos einen so eine Nacht in dem Rüttelwagen macht. Und ich habe rechtschaffen Hunger. Ach, was, gleich in die erst beste Straße hinein, da will ich mir vor allem eine knusperige Semmel kaufen.«

»Nein,« rief die Stimme des Gewissens, »vor allem wirst du beten, das hast du heute noch nicht gethan.«

Das Blut stieg dem Burschen in die Wangen. Sein Morgengebet, das er sonst immer mit – mit Veronika gesprochen, zum erstenmal hatte er es heute vergessen.

»Gott der Liebe, Herr der Macht habe Dank für diese Nacht,« sprach Paul leise und blickte flehend in dieser fremden Stadt zum trüben, umzogenen Himmel hinauf. Er ging in einer schönen, breiten Straße dahin. Dort drüben war ein Bäcker. Er zog sein Beutelchen und wog es bedächtig in der Hand.

»Wie gut, daß mir der Vater mit Pinsel und Farben nicht auch die Bilder eingesperrt hat. Ich hätte nicht geglaubt, daß ich sie so schnell in Erfurt anbringen würde. Und so gut bezahlt. Der Buchhändler hat sie für seine Auslage gekauft. Nein, nein, von den Meinigen kommt selten jemand in die Straße, die Veronika würde sie gleich erkennen. Die Reise hat wohl viel gekostet, aber es wird schon reichen.

Ich weiß nicht, daheim ist mir das alles so leicht vorgekommen: in München, der Künstlerstadt, würde ich gleich einen Maler finden, der sich meiner annimmt und mir hilft, etwas zu werden, was dem Vater Freude macht, etwas Tüchtiges. Und nun! Wie soll ich's nur anstellen! Wenn doch etwas recht Abenteuerliches geschähe! Ich habe mir einmal vorgenommen, mein Glück zu versuchen. Frisch voran, Paul!«

Je mehr er sich aber innerlich ermutigte, desto peinlicher ward ihm der Gedanke an die Eltern; ein Weh brannte ihm in der Tiefe des Herzens, das er aber gewaltsam niederdrückte. Er kaufte sich ein Brot und ging weiter. Reges Treiben begann die Straßen zu beleben. Doch all die Menschen ringsum waren ihm gleichgültig; er sah nur nach etwas aus, was mit der Malerkunst, um deren willen er das Vaterhaus verlassen hatte, in Verbindung stand. Aber dort drüben, das war etwas! Ein Laufbursche mit zwei rechteckigen, gut verhüllten Gegenständen unter den Armen: »Bilder! Der kommt von einem Maler oder geht zu einem, den muß ich ansprechen!«

Und drüben war Paul.

»Können Sie mir sagen, bitte, wo hier in München die größte Kunsthandlung ist?«

»Nein, das weiß ich nicht,« sprach der Gefragte mit einem Blick auf des Burschen einfaches Röcklein und sein Bündel. Kaufen konnte der wohl in der erfragten Kunsthandlung nichts wollen.

»Danke, Sie tragen auch Bilder.«

»Ja,« war die lakonische Antwort. Warum war der Mensch nur so schweigsam? dachte Paul, indem er sich den Kopf nach einer recht zweckmäßigen Frage zerbrach.

»Ihr Herr ist wohl auch ein Maler?«

»Ei der Tausend, Bursche, ja; wenn ich selber der Maler wäre, würde ich die Bilder nicht über die Straße tragen.«

»So geht's den Malern hier so gut, sind sie so vornehme Herren?«

»Versteht sich, wir sind ja in München,« gab mit nicht geringem Nationalstolz der andere zurück. Nun machte er plötzlich eine Schwenkung nach links einem Hausthore zu. Er war offenbar an seinem Bestimmungsorte angelangt. Paul ergriff das Bewußtsein des unwiderbringlichen Wertes dieser letzten Minute des Zusammenseins mit dem Faktotum eines Malers, und er fragte:

»Wohnt Ihr Herr Maler hier?«

»Ja, oben im dritten Stock. Mein Herr wird eine Freude haben über die zwei seinigen. Der Rahmenmacher hat sie erst schön gemacht.«

Und damit war er hinein und verschwunden. Paul stand draußen. O, wie gern wäre er dem Manne hinaufgefolgt in das Künstlerheim, hätte sich dem edlen Meister vor die Füße geworfen und diesem sein ganzes, übervolles, banges Herz ausgeschüttet. Er ging auf die andere Seite der Straße und sah sich das Gebäude an; es war ein altertümlicher Bau mit seltsamen Schnörkeleien über den Fensterbögen. Paul kehrte wieder in die Einfahrt zurück, ging dann in dem Hofe auf und ab, in dem ein paar alte Kastanien standen mit gelben Blättern und glänzend braunen Früchten zwischen den gesprungenen, hellgrünen Hüllen. Hierauf stieg er einige Stufen der Stiege hinan. Plötzlich blieb er stehen, besann sich, eilte auf die Gasse hinaus und schritt weiter, nachdem er sich den Namen der Straße gemerkt hatte.

Nein, heute war's unmöglich; heute fiel ihm nichts ein, was er mit einiger Berechtigung oben hätte sagen können.

»Ein armer Waisenknabe bittet um Ihre Unterstützung, guter Meister. O, lehren Sie mich malen. Meine Lust, meine Liebe dazu, meine grenzenlose Dankbarkeit würde Sie für alle Mühe entschädigen.«

Paul, Paul, wie konnte solch ein frevelhafter Gedanke in dir aufkommen? Waisenknabe? Und die bangenden Eltern, die liebende Schwester daheim! Heiß, trotz des kühlen Herbstwindes, der durch die Straßen fegte, glühend war des Knaben Antlitz.

»Nein, lügen, lügen will ich nicht!« rief das Gewissen.

»Und wenn du die Wahrheit sagst, bringt man dich höchstens auf die Polizei und du wirst nach Hause abgeschoben. Überdies nimm's nicht gar so genau; die erste große Lüge ist ja schon geschehen, das war die Flucht!« höhnte eine andere boshafte Stimme. Paul merkte nicht, wie sehr er während dieses inneren Kampfes seine Schritte beschleunigte. Er war in eine Vorstadt hinausgekommen. Sein Weg führte ihn eine Allee entlang an freundlichen Häusern mit Gärten vorbei. »Handelsgärtner« stand da über dem einen Thore. Fast wie des Vaters Eigentum sah das Häuschen aus mit den Glashäusern daneben. Heißes Weh brannte in des Knaben Seele, und er eilte fort, fort, bis er endlich das freie Feld erreichte. Dort jenseits des Straßengrabens war ein schützendes Gebüsch. Er eilte hin, warf Stecken und Bündel nieder und streckte sich daneben aus, den Hut tief in die Augen gedrückt, Sturm und Kühle nicht achtend. So lag er in halbe Betäubung gewiegt vor Müdigkeit, Hunger und Sorge; wie lange? Er wußte es nicht.

Endlich setzte er sich auf.

»Nach Hause zurück? Nein, ich kann nicht! Tage-, wochenlang hab' ich's versucht, von Pinsel und Farben zu lassen. Ich kann des Vaters Strenge nicht ertragen. Wenn je etwas aus mir werden soll, so muß ich jetzt endlich beginnen, etwas zu lernen. Ich bin fünfzehn Jahre alt.«

Ach, so hungrig war dieser fünfzehnjährige Held! Er stand auf, ging in die Stadt zurück und kaufte sich dort ein Brot wie am Morgen. Die Dämmerung brach herein. Die Laternen wurden angezündet, und in Pauls Herzen erlosch alle Hoffnung für diesen Tag.

Jetzt war nichts mehr zu beginnen. Doch wo sollte er über Nacht bleiben? An manchen Fenstern fielen ihm Zettel auf mit der Ankündigung »Kabinett zu vermieten«. Auf der Gasse konnte er nicht schlafen. Da würde der Polizeimann kommen und ihn nach der Wachstube oder in das Asyl der Obdachlosen führen, das wußte Paul zu gut. Er faßte sich also ein Herz und zog nähere Erkundigungen ein in einem niedrigen Hause, in welchem laut Fensterzettel im Erdgeschoß ebenfalls ein »Kamiehnet« zu vermieten war. Elend genug sah dieses sogenannte Kabinett aus: ein Kellerraum in der Wohnung eines Weibes, das der schwindsüchtigen Agnes Bauer, der Fuhrmannswitwe daheim in Erfurt, sehr ähnlich sah. Vier kleine, zerlumpte Kinder standen weinend um sie herum, als sie mit ihrem Mieter sprach.

»Der junge Herr könnt' gleich einziehen, wie ich sagte; zwei Mark für die Woche ist der Preis.«

Das war annehmbar für die Vermögensverhältnisse des jugendlichen Unternehmers; er machte die Sache ab und bezog seine neue Wohnung sogleich. Das Bett darin war eine roh gestrichene Lade mit groben Kissen und einer fadenscheinigen Decke. Ein alter Tisch, zwei wackelige Stühle, ein paar Haken an der Wand vervollständigten die Einrichtung.

Paul war todmüde. Um Hunger und Bangigkeit zu vergessen, warf er sich sogleich auf das Lager und schlief, nachdem er gebetet und sein Geldbeutelchen an der Brust geborgen, nach wenigen Minuten fest ein, obgleich es im Nebenzimmer noch recht laut herging. Die weinenden Kinder und die zankende Mutter überboten sich in schrillen Tönen.

Gegen Mitternacht wurde Paul jäh aus seinem Schlummer gerissen durch lautes Poltern und Schelten im Nebenraum. Er setzte sich erschreckt auf. Der Gatte von Pauls Mietfrau, der wahrscheinlich zu tief ins Glas geguckt hatte, war heimgekommen und erging sich in lauten Schmähungen über die Ungeschicklichkeit der Einrichtungsstücke, die sich ihm in den Weg stellten, so daß er darüber stolpern mußte. Die Kinder waren auch erwacht und schrieen:

»Wir sind hungrig, Vater, gieb uns Brot, sonst können wir nicht schlafen!«

»Werdet ihr ruhig sein, alle miteinander! Wir haben einen Mieter, Mann, schweig', wir haben einen Mieter, sag' ich dir, der zahlt zwei Mark die Woche.«

Endlich legte sich der Tumult. Seufzend dachte Paul an sein friedliches, behagliches Heim, wo Vater und Mutter im schönsten Einvernehmen lebten, wo Not und Roheit fern waren.

Er betete für die Seinen; aber dies Gebet machte sein Herz seltsam bange. So ist uns immer beim Beten, wenn wir Gott noch im Herzen haben, wie Paul, wenn aber Gott in unserem Herzen trauert über die Verwirrung unserer Handlungen. –

Am nächsten Morgen erwachte Paul, als die Sonne schon hoch am Himmel stand.

Er füllte sich neugestärkt und sandte ein inniges Dankgebet zum Himmel empor. Dann kleidete er sich rasch an:

»Heute wird's gewagt. Ich spreche bei dem Meister vor. Am liebsten möcht' ich wohl Vater, Mutter und Veronika schreiben und sie um Verzeihung bitten; aber ich habe darüber geschlafen und es erscheint mir noch immer als das Ende meiner Unternehmung, denn der Vater käme gewiß sofort, um mich zu holen.«

Er bürstete Hut und Gewand sorgfältig aus; hierauf machte er sich mit klopfendem Herzen auf den Weg. Nach vielen Fragen und zahlreichen Kreuz- und Querzügen kam er endlich in die Straße, wo sich das Haus befand, in dem derjenige wohnte, auf den er seine ganze Hoffnung setzte. Da stand er wieder auf den Stufen, die er gestern in so stürmischer Hast verlassen hatte. Auch heute zögerte sein Fuß. Jetzt war er oben im dritten Stocke. Spähend eilten seine Blicke über die verschiedenen Thüren, um die daraufstehenden Namen im Halbdunkel zu entziffern. »Herbert Willmers, Maler,« stand da auf einem blitzblanken Messingtäfelchen. Das war der Gesuchte. Wie strömte Pauls Blut zu seinem Herzen, als er die Klingel zog! Alsbald wurde geöffnet, und eine alte Frau mit einer reinlichen Haube steckte ihr runzliges Gesicht heraus.

»Einen schönen guten Morgen, ich bitte, ist Herr Herbert Willmers zu sprechen?«

»Ja, das hängt davon ab, für jeden nicht. Der Herr Professor ist wie immer bei der Arbeit. Sag' er mir eins, Junge, wahr und wahrhaftig und bind er mir nichts auf, wie manche andere, kommt er in Kunstangelegenheiten, ich meine die Malerei und so weiter, und so weiter?«

»Ja, nur wegen der Malerei,« konnte Paul treuherzig, nach bestem Gewissen versichern.

»Paul Brahms, mein Name.«

»Also gut, er wird gemeldet,« und sie wendete endlich zurücktretend die mißtrauischen Augen von dem Fremdling.

»Paul Brahms kann eintreten,« verkündigte sie, nachdem Paul fünf Minuten in banger Erwartung in dem teppichbelegten Vorzimmer des Künstlerheims gewartet hatte. Bescheiden trat er durch die geöffnete Thür in ein mittelgroßes Gemach. In stummer Bewunderung wäre er beinahe an der Schwelle stehen geblieben – rings an den Wänden hingen Bilder und Skizzen, so schön, so farbenprächtig, so abwechslungsreich, wie er sich's nie hätte träumen lassen. Dazwischen waren große Sträuße von getrockneten, exotischen Pflanzen und Pfauenfedern als Wandschmuck aufgesteckt. Des Knaben Fuß versank in einem weichen Teppich. Ein paar schöngeschnitzte Stühle und ein großer, dunkler Schrank mit bunten Glasscheiben befanden sich außerdem in dem Gemache, das Licht von drei Fenstern erhielt. In der Nähe des einen derselben stand eine Staffelei, auf der ein halbvollendetes Bild, ein Blumenstück, zarte Formen sehen ließ, und davor in schwarzer Sammetbluse der Künstler, der seinen Kopf mit den reichen, halbergrauten Locken dem Eintretenden zuwandte. Der schüchterne Knabe wurde sofort gewonnen durch die milde, strahlende Güte, die aus dem Augenpaare dieses ruhigen blassen Gesichtes sprach.

»Nur näher, junger Freund, was führt dich zu mir her?«

»Verzeihung,« stammelte Paul und seine Wangen färbten sich höher, »daß ich es wage, daß ich mir die Freiheit nehme, zu bitten, Herr Professor möchten gütigst entscheiden, ob ich Talent zum Malen besitze.« .

O,. wie ungeschickt war diese Einleitung ausgefallen! Er hatte ja nichts in Händen, was er dem Professor zur Prüfung vorlegen könnte.

»Recht gern, lieber, junger Freund; du hast doch etwas mitgebracht, was ich mir ansehen kann, um mir ein Urteil über dein Können zu. bilden.«

Armer Paul, wie hilflos stand er da, er fand keine Worte der Entgegnung. Endlich sagte er:

»Herr Professor, bitte, entschuldigen Sie vielmals; ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Ich bin nicht von hier. Gestern kam ich erst in München an, und um die Reise bestreiten zu können, mußte ich alle meine kleinen Arbeiten verkaufen.«

»Hast du keine Eltern?« frug teilnehmend, der Professor.

O, die gefürchtete Frage! Nein, jetzt nicht lügen, um keinen Preis, und wenn alles dadurch verloren ginge.

»Ja, ich hab' Vater und Mutter, aber sie ...«

»Schon gut, mein Junge,« fiel der Künstler ein, der des Knaben Zögern für Verlegenheit über der Eltern Armut hielt, »die Eltern werden wohl, wie wir alle, das Geld nicht so im Überflüsse liegen haben.«

Paul nickte, denn dies war entschieden auch Wahrheit. »Und so möchte ich Sie, Herr Professor vielmals bitten, ob Sie nicht die große Güte hätten, mich hier etwas probeweise malen zu lassen.«

»Ah, du hast Courage, Bursche, das gefällt mir!«

»Bitte, dürfte ich jene Blumen dort im Glase versuchen.«

»Die Rosen, gut; wir werden ja sehen.« Höchst belustigt und voll Interesse für diesen eigentümlichen scheu herzhaften Jungen, ging der Professor in die Ecke, holte eine zweite, kleinere Staffelei, stellte sie auf, legte dem jungen Streber die gespannte Leinwand zurecht und schob ihm Pinsel, Palette und das Blumenglas näher. Dann aber ging Meister Herbert zu seiner eigenen Arbeit zurück und malte ruhig und schweigsam weiter, als wenn er sich ganz allein im Zimmer befände und nicht im geringsten unterbrochen worden wäre.

Paul hatte ganz vergessen, wo er sich befand, wer und was um ihn war. Mit blitzenden Augen und hochroten Wangen entwarf er die zarten Formen der dunklen und hellen Rose im Glase mit den zierlich gezackten Blättern. Die ganze lang zurückgehaltene Begeisterung für die Kunst lebte und sprühte in ihm und führte seine Hand mit Behendigkeit und Geschick. – So verging eine Stunde. Da ließ der junge Künstler seine Hand sinken – es fehlte nichts mehr.

»Herr Professor, ich bitte, ich bin fertig.«

Der Meister schritt herzu. Überrascht blieb er vor. dem Blumenstücke stehen. Doch ruhig prüfend begann er sogleich, die gemalten Rosen mit den lebenden zu vergleichen.

»Ein Auge für die Farben hat er,« dachte er bei sich, »so etwas eigenes Leuchtendes hat er da hineingelegt. Das sieht jeder an der Rose, aber nachmachen kann's nicht jeder, und der Tautropfen am linken Blatt – fast fehlerlos.« Laut sagte er: »Nun, Bursch, wo hast du malen gelernt?«

»Ich, Herr Professor, ich hab's immer nur daheim allein versucht.«

»Also vom lieben Gott, Junge, das ist wohl der beste Lehrmeister für uns Künstler, wenn er uns nicht das Können in Herz und Hand legt, versuchen es die besten Lehrer und gelehrtesten Professoren vergeblich, es uns zu geben. Also mein Urteil lautet: Dir hat Gott ein offenes Auge für die Natur gegeben, recht viel Geschick und, sagen wir nur, Talent, ihre Schönheiten mit dem Pinsel wiederzugeben; wenn du fleißig lernen willst –«

»O, wie gern!« fiel Paul strahlenden Auges ein.

»Kann einmal etwas Ordentliches aus dir werden.«

»O, wie soll ich Ihnen danken, Herr Professor, Sie wissen nicht – mich hätte nichts glücklicher machen können, als dieser Ausspruch.«

»Nun, das freut mich, lieber Paul, mir gewährt es das größte Vergnügen, jemand glücklich zu machen. Und für dich habe ich bereits eine Vorliebe gefaßt, denn ein redliches Streben –«

Flammendrot wurde Paul bei diesen Worten – die Eltern daheim nannten sein Streben gewiß nicht redlich.

»Den ernsten Drang zu Fleiß und Ausdauer, den du zu haben scheinst, fördere und begünstige ich, wo ich nur kann. Aber jetzt sag' mir einmal, hast du Bekannte hier in München oder willst du dich ganz alleinstehend deiner Ausbildung widmen?«

Da wurde die Thür geöffnet. »Herr Professor!« rief die alte Haushälterin, trat rasch näher und flüsterte: »Der Herr Graf N., darf ich ihn hereinführen?«

Paul hatte die Anmeldung kaum vernommen, als er seinem Wohlthäter mit Inbrunst die Hand küßte und, ehe sich's dieser versah, hinauseilte.

»Auf morgen, Paul, hörst du?«

Nun stand er unten auf der Straße, der Hochbeglückte und doch so bang. Wie verschieden waren seine Gefühle von denen, die er in trostloser Mutlosigkeit gestern hier empfunden. Er hatte Talent – ein Meister der edlen Kunst hatte es ihm gesagt. O, das war ein Hochgefühl, das einem in seligem Jauchzen die Brust fast sprengte – noch nie war ihm der Himmel so blau erschienen und die Sonne so golden wie jetzt, da er strahlenden Auges um sich blickte; doch da legte sich ein wehmütiger Schleier über alles – es war Wonne, aber viel Bitterkeit war ihr beigemischt: er hatte dies Glück durch Lüge und Heimlichkeit erkauft. O Paul, Paul, mahnte das Gewissen, du schwelgst in glänzenden Zukunftsplänen und jubelst in deiner Seele – Vater, Mutter und die Schwester daheim werden deinetwegen schmerz- und sorgenvoll die Stunde bejammern, die dich glücklich macht. »O, wie wird's noch werden! Wäre der Graf nicht gekommen, hätte ich ja doch dem Meister auf seine gerade Frage keine ungerade Antwort geben können und dann –«

O Paul, das ist das Ärgste nicht, daß du dann nach Hause gebracht würdest; daß deine Eltern zürnen, daß dieser edle Mensch, der so herzlich von Gott und allem Guten spricht, dich verachten müßte wegen deiner Heimlichkeit, das thut weh.

»Und doch habe ich mir nicht anders helfen können,« seufzte Paul, »o Gott, barmherziger Vater, stehe mir bei!«

Und sein jauchzendes Glück ward bitteres Leid; es ist kein Glück so groß, daß es reines Glück bliebe, sobald es durch eine That erkauft wurde, der Reue folgen muß. Einen traurigen Scheideblick sandte Paul nach dem Hause zurück, in dem er einen Freund gefunden, dem er sich doch nicht anvertrauen konnte. Paul ging durch die Straßen hin und her. Der Gaumen war ihm trocken und der Magen leer, und die Aufregung raubte ihm alle Lust zum Essen und Trinken. So wurde es Nachmittag. Er kam an einer Kirche vorbei; eben läuteten die Glocken zum Segen, Andächtige strömten durch die Pforte in das Gotteshaus, Paul folgte ihnen; geblendet vom Schimmer unzähliger Kerzen, erschüttert von Glück und Weh sank der Knabe auf die Steinfliesen nieder, und als die Orgel ihre leisen, wundersamen Klänge durch den weihrauchduftenden Raum sandte, begann er so herzzerbrechend zu schluchzen, daß eine Frau, die neben ihm kniete, mitleidig dachte: »Ob der Arme wohl seine Mutter verloren hat?«

Die nächsten Tage verbrachte Paul in großer Einsamkeit auf seinem Stübchen. Um keinen Preis würde er sich noch einmal in die Wohnung des Künstlers gewagt haben. Gerade seine Flucht vom Elternhause, durch die er seine Pläne zu verwirklichen hoffte, seine Heimlichkeit war es nun, die das Gegenteil bezweckte, die ihm den Weg zu allem Streben verstellte, wenn er die Lüge nicht ganz gewissenlos weiterführen wollte. Da saß er nun in seiner stillen Klause, einsam, verlassen, und die Pfennige in seinem Beutel wurden immer weniger. Einem unwiderstehlichen Drange folgend, hatte er sich Pinsel, einige Farben und Leinwand gekauft und suchte Trost in der geliebten Kunst. Er wußte es selbst nicht, warum er eigentlich noch in München verweilte, worauf er wartete und hoffte. Die größte Bangigkeit, das glühendste Heimweh bemächtigten sich seines Herzens. Er wußte weder ein noch aus in diesem Labyrinthe, das er sich selbst geschaffen, und seine Augen wurden rot und brennend von den bitteren Thränen, die er weinte zu manchen Stunden des Tages und der Nacht. Er hatte mit ausdauerndster Beharrlichkeit kleinere Arbeiten vollendet, aber an so vielen Stellen er sie auch anbot, so viel er auch umherlief, um Käufer zu finden, von einem Ende der Stadt zum anderen, es fanden sich keine. Er aber war auf seine Selbsterhaltung angewiesen. Aus eigenem Willen hatte er sich von der treuen Fürsorge liebevoller Eltern losgesagt – nun prüfte ihn der himmlische Vater, um ihn zu läutern und das Edle vom Herben, Trotzigen zu scheiden.

Pauls Geldmittel reichten nun kaum mehr dazu, um ihn des Tages einmal satt zu machen. Oftmals schon war er vor des Künstlers Fenster geeilt, hatte sehnsüchtig hinaufgeblickt – und war doch immer wieder heimgekehrt, um weiter zu bangen, weiter zu hungern.

Doch es kam ein Tag, der zehnte, den Paul in München verbrachte, da ihn die Kraft auch dazu verließ. Er hatte sich wieder wegen Verkauf seiner Bilde müde gelaufen. Mutlos und verzagt über seinen Mißerfolg, körperlich erschöpft bis aufs äußerste, denn er hatte seit Mittag des vorhergehenden Tages keinen Bissen zu sich genommen, so schwankte er den stillen Anlagen eines öffentlichen Gartens zu.

Auf eine der Bänke, die im Halbkreise unter entlaubten Bäumen standen, ließ er sich nieder und sah trüb mit thränenfeuchten Augen auf den Tanz der welken Blätter, denen der Wind den Takt blies. So versunken war er in seine schmerzlichen Empfindungen, daß er nicht bemerkte, wie eine hohe Männergestalt sich von der anderen Seite näherte und auf einer der nächsten Bänke Platz nahm:

Der Fremde zog ein Büchlein aus der Tasche und begann mit flüchtigen Strichen die gegenüberliegende Baumgruppe aufzunehmen. Dabei fiel sein Blick auf den Knaben nebenan – wie gebannt blieben des Fremden Augen auf dem blassen Antlitz mit den deutlichen Thränenspuren um die Lider haften. Jetzt erhob sich der Knabe, fröstelnd zog er den Rock zu und wollte forteilen, da ward er noch um einen Schatten blässer, er streckte die Hände wie suchend aus, begann zu schwanken und sank plötzlich um. Der Fremde sprang auf.

»Er ist's, Paul, gewiß, ich habe ihn gleich erkannt. Armer Bursch, was ihm nur fehlen mag!«

Und der Menschenfreund kniete schon an seiner Seite und beugte sich über den Jungen, der unvermutet rasch die großen Augen aufschlug und ängstlich um sich sah.

»Paul Brahms, Junge, nur ruhig und habe keine Angst; ich bin bei dir, Meister Herbert, der thut dir kein Leid.«

Ein Blitz des Erkennens zuckte hinter des Knaben Wimpern hervor, und glühende Röte überzog flammend sein eben noch so bleiches Gesicht, und stürzende Thränen drängten sich aus seinen Augen. Er machte die vergebliche Anstrengung, sich zu erheben; fort, fort strebten alle seine Bewegungen.

»Nur ruhig, Junge, wenn du meiner Einladung auch nicht folgtest und mich nicht besuchtest, so sind wir doch noch nicht erklärte Gegner.«

Paul fällt vor Entbehrung in Ohnmacht.

Und er hob den Knaben mit seinen stahlfesten Armen auf, brachte ihn auf die Bank und setzte ihn dort so nieder, daß seine warme, breite Brust Pauls müdem Kopf ein angenehmes Ruheplätzchen bot. Nachdem der Knabe sich etwas erholt hatte, ging er mit dem in Fieberschauern Zitternden zu dem nahen Wagenstand, und ein rasches Gefährte brachte den Professor und seinen Schützling nach Hause. Dort angelangt, bettete der gute Meister Paul in seinem eigenen Schlafzimmer auf ein weiches Sofa, wozu die alte Susanna eine sehr erstaunte Miene machte. Wie sorglich und zart der ernste Mann mit dem Erschöpften umzugehen verstand! Der etwas neugierigen und schwatzlustigen Susanne wurden Thee und warme Tücher schon an der Thüre abgenommen, und die wohlthuendste Stille umgab den Ruhenden. Er machte oft hastige Versuche, aufzustehen, zu reden, sein Pfleger aber gebot energisch Schweigen und Ruhe, und nachdem der Junge heißen Thee getrunken, Schinken, Eier und Brot mit Heißhunger verzehrt hatte, senkte sich eine wohlthätige Betäubung auf seine müden Augen hinab. Er schlief ein. Der gute Meister Herbert blieb an seinem Lager sitzen und betrachtete des Knaben Züge, die so kummervoll und leidend aussahen.

»Wie froh war er das letzte Mal gewesen! Ich weiß nicht, aber ich vermute so etwas, nach dem Heutigen, als wenn er ohne Zustimmung seiner Eltern sich auf des Künstlers Pilgerfahrt begeben und jetzt in rechter Not steckte. Nun wir werden ja sehen.« –

Die Nacht war hereingebrochen, eine Ampel erhellte mit gedämpftem roten Lichte das Gemach, in dem der Professor noch immer wachend saß. Da regte sich's neben ihm, Paul schlug die Augen auf und hob den Kopf: »Ah! Wo? Meister Herbert!« Er richtete sich empor und stand zu des Professors großem Erstaunen plötzlich ganz kräftig da. »Also du bist nicht krank, mein Junge. Desto besser.«

»Es – es war nur große Erschöpfung.« Paul stockte und holte tief Atem. »Und nun muß ich sprechen; ich wollt' nicht, nein, ich wollt' nicht, darum bin ich kein zweites Mal zu Ihnen gekommen. Aber es war schlecht von mir – o, alles von Anfang an, wenn Sie's erfahren, Meister Herbert, dann – dann,« Thränen drängten sich von neuem in des Knaben Augen, »Sie werden mir die Thür weisen.«

»Wenn du etwas Unrechtes angestellt hast, werde ich dich gründlich ausschelten. Das steht meinem großväterlichen Alter wohl zu. Also frisch, Bursche, vertrau' mir nur alles.«

Zögernd, stockend begann der Knabe, aber immer lebhafter, immer vorwurfsvoller wurden die Worte, mit denen er sein eigenes Handeln verurteilte. »Nun wissen Sie alles,« schloß er endlich, »und es ist gut so, wenn nun auch alles enden muß, was ich erhoffte und erstrebte.«

»Paul, das ist eine seltsame Geschichte,« begann der Professor sehr ernst und schüttelte mit dem Kopfe. »Das hättest du nicht thun sollen, Junge, aus dem Elternhause fortzulaufen. Warten hättest du sollen auf das, was die Zeit bringt und die Sache dem lieben Gott anheimstellen. Mit dem Kopf durch die Wand kann man nicht, und wenn man's in der stürmischen Jugend noch so oft und noch so gern möchte. Dabei schlägt man sich die Stirn wund, gelt Paul? Wenn ich mir so denke, was aus dir geworden wäre, wenn ich dich nicht durch Gottes Fügung im Parke treffe. Und den Deinigen daheim blutet das Herz; Traurigeres, Schmerzlicheres, als du wirklich durchgemacht, malt sich ihre sorgende, bange Liebe aus – Junge, du hast viel, viel zu thun, um das wieder gutzumachen.«

Paul schluchzte laut auf. Er war vor seinem Wohlthäter niedergesunken und bedeckte dessen Hände mit Küssen und Thränen. »Also Sie schicken mich nicht fort, Sie sprechen so gütig zu mir – das verdien' ich nicht. O, wenn mir Gott vergeben wollte!«

»Das wird der Ewige,« sprach mit andachtsvoller Milde der Meister – »und dein Vater –«

»Ich reise morgen heim,« fiel stürmisch der Knabe ein; doch im Augenblicke darauf sank sein Kopf mutlos herab. »Ach, nein, nein, es geht nicht, nein, ich – –«

»Das laß meine Sorge sein,« half ihm der Professor, der sogleich erriet, daß ihn der leere Säckel drückte. »Morgen setz' ich dich auf die Bahn, so gern ich dich hier behielte, und fort geht's ins Vaterhaus. Und mit deiner Mietfrau werde ich auch alles begleichen. So, nun ist dein Herz leichter. Vertraue nur auf Gott. Er sieht deine Reue und mit seiner Hilfe wird noch alles gut werden. Jetzt laß uns plaudern. Es ist so recht die Stunde, um dir etwas aus meinem Leben zu erzählen.

Ich war älter, als du heute bist, ein recht unsteter, flatterhafter Bursch, der seinen Eltern viel Kummer machte. Mein Vater nahm eine bedeutende Stellung im Staate ein und wollte mich zu seinem Nachfolger im Amte heranbilden. Ich aber stellte mich diesem Plane sehr widerspenstig entgegen, indem ich bei keinem Lehrer etwas taugte und die Launenhaftigkeit selber war. Was mir noch am besten geriet, das waren Gebilde mit Bleistift und Pinsel, aber auch darin brachte ich's wegen meiner Trägheit zu nichts. Da war ich einmal bei einem Schulfreunde geladen, dessen Vater, Maler von Beruf, ein Gesellschaftsspiel arrangierte, wobei der richtige und rasche Entwurf irgend eines nächstliegenden Gegenstandes auf dem Papiere die Hauptrolle spielte. Meine Zeichnungen überraschten alle, und der Vater Emils, meines Kollegen, lobte sie sehr. Meine Eitelkeit war geschmeichelt; ich widmete mich von diesem Tage an mit mehr Eifer der Malerei und trat endlich mit dem entschiedenen Wunsch an meinen Vater heran, er möge mich zum Künstler ausbilden lassen.

Mein Vater lachte hell auf: Du und Künstler! Das klingt gut. Jeder Künstler muß streben und voll Eifer aushalten auf der eingeschlagenen Bahn. Das bringst du nimmer zuwege. Also daraus wird nichts, sag' ich.

Ich ging von dannen und grollte mit mir und mit der ganzen Welt. Mein Unmut stieg mit jedem Tag, und plötzlich zuckte mir der abenteuerliche Einfall durch den Kopf, zu fliehen. Nun gut, aber woher kommt das Geld dazu? Es war gerade am letzten des Monats Februar. Mein Vater hatte sich seit dem Morgen etwas angegriffen gefühlt und am Nachmittage ließ er mich auf sein Arbeitszimmer rufen.

Du siehst mich mit Verrechnungen beschäftigt, Herbert, sagte er, mir ward eben so schwindlich und unwohl, daß ich die Arbeit, die ohne Verzug beendet werden muß, unmöglich fortsetzen kann. Die Hauptsache ist bereits gethan. Der Rest hier ist noch zu ordnen. Setze dich dazu und sei genau, Junge. Es ist wichtig und keine Spielerei. Ich gehe mich niederzulegen.

Nachdem er mir noch genauere Weisungen gegeben hatte, verließ er das Zimmer. Da saß ich nun und hatte die Brieftasche voll Banknoten vor mir, die offene Geldlade – meine Hände zitterten, als ich das Geld berührte. Beängstigende Gedanken der Versuchung stiegen in mir auf: Um einen Hunderter weniger, der Vater wird nicht nachzählen; ob er's überhaupt je merkt? Und wenn ich etwas erworben habe, will ich's zurückerstatten.

Mir brannte der Boden unter den Füßen – Schwindel ergriff mich, und ich hatte Mühe, die Verrechnung zu Ende zu bringen. Eben hatte ich alles geordnet und war im Begriffe, das Arbeitszimmer zu verlassen, als mir die Mutter entgegenkam. Um Himmels willen, Herbert! Ist dir nicht wohl? Wie siehst du aus!

Nichts, Mutter, nichts, beruhigte ich sie, ich rechnete drin für den Vater und es muß hier im Zimmer zu heiß geworden sein.

Dein Vater liegt im heftigen Fieber, Herbert. Eben war Dr. Neudecker hier und hat gemeint, er hoffe, es werde nichts Ärgeres daraus.

Ich ging zum Vater hinein; seine Augen waren gläsern, starr, schwer atmete seine Brust. Gegen Abend verlor er die Besinnung. Ich verbrachte eine schlaflose Nacht. Auf meinen Knieen lag ich vor dem gekreuzigten Heiland in meinem Schlafzimmer und flehte um das Leben meines Vaters, eines Vaters, der immer gütig und sorgend für mich gewesen, und den ich hatte bestehlen wollen, weil er meine Neigung für die Künstlerlaufbahn nicht unterstützte.

Jeder Mensch hat Augenblicke, Stunden oder Tage, die für sein ganzes Leben entscheidend sind. Für mich war's jene Nacht.

Mein guter Vater schwebte in den nächsten Wochen zwischen Tod und Leben. Eine heftige Lungenentzündung hatte sich entwickelt, und der Arzt hatte ihn fast schon aufgegeben. Ich ward von einem grenzenlosen Schmerz ergriffen. Ach, wenn mein Vater starb, so nahm er ja das bittere Bewußtsein hinüber, einen undankbaren und durchaus untauglichen Sohn besessen zu haben. Gottlob, es kam nicht so schlimm. Die Krisis ging vorüber und schwache Zeichen der Besserung machten sich bemerkbar, bis nach und nach völlige Genesung eintrat. Als unser Leben wieder in das gewohnte Geleise gekommen war, fiel es auf, daß ich ein ganz anderer geworden war. Mit festem Vorsatz harrte ich aus bei fleißigem Studium und meinem Vater gestand ich offen und reumütig die Gedankensünde, die ich an seiner väterlichen Liebe begangen. Er verzieh mir und sprach seine große Freude über meine Veränderung aus. Nach einiger Zeit fragte er mich, ob ich noch immer den Wunsch hätte, Maler zu werden. Ich bejahte mit großer Entschiedenheit und als ich dann in einem halben Jahre die vorgeschriebene Klasse gut absolviert hatte, ich war siebzehn Jahre alt, überraschte mich der Gute mit der Erlaubnis, unter die Künstler zu gehen, mit der Bedingung aber, daß ich nach Tüchtigkeit strebe. Siehst du, mein junger Freund, so bin ich Künstler geworden. Erzwingen wollt' ich anfangs, aber wie schwer hätten die Folgen der Übereilung auf mir gelastet, wenn mein Vater damals gestorben wäre und ich mich nicht mehr hätte reumütig zu seinen Füßen niederwerfen können. Kommt Zeit, kommt Rat! Damit beruhige die allzu stürmische Jugend ihr Ungestüm und vor allem, wenn es gilt, in jugendlichem Alter etwas Besonderes durchzusetzen, so zeige man sich in jeder anderen Hinsicht verläßlich, vernünftig und tüchtig.«

»Ja,« seufzte Paul kleinlaut, »nach meiner Aufmerksamkeit für die Gärtnerei konnte mein Vater kein Vertrauen in mich setzen. Aber jetzt, jetzt soll es anders werden, Meister Herbert, ich weiß es, wenn der Vater auch verlangt, ich soll Gärtner werden, jetzt kann ich's, ich weiß, Gott wird mir dazu helfen.«

* * *

Über den Straßen Erfurts lagerte dichter Novembernebel. In den Handelsgärten draußen in den Vororten sah es recht öde aus, alles welk und leer. Auch bei Vater Brahms war es nicht anders. Die frostscheuen Pflanzen standen im Treibhause drinnen in Reih und Glied.

Brahms war eben damit beschäftigt, die Strohhüllen an einige Rosenstöcke im Garten zu binden, da bemerkte er die Gestalt eines Burschen, der draußen am Stakete vorbeieilte.

»Herrgott, der war wie mein Paul!« dachte er bei sich, dann seufzte er: »Weiß Gott, wo er ist.«

Da knarrte die Gartenthür. Dort stand er wieder – – leibhaftig – Brahms rieb und wischte sich die Augen – – das war Paul, wie er leibte und lebte mit seinem runden Hut, dazu Bündel und Stock.

»Vater!« rief der Junge, dann flog er vorwärts, und als er vor dem hochaufgerichteten, geliebten Vater stand, der so vergrämt aussah, da stürzten Thränen aus seinen Augen, er streckte beide Arme aus und schluchzte: »Vater!«

Der hob seines Sohnes Antlitz zu sich in die Höhe: »Hast also doch wieder den Weg zurückgefunden zu uns. Paul, Paul, jetzt frag' ich nichts, jetzt sag' ich nichts, komm', komm' nur herein!«

O, wie ergriffen eilte der Wiedergekehrte durch den wohlbekannten, trauten Garten, dessen Gesträuche ihm ihre kahlen Äste wie zur Umarmung entgegendrängten, und er sah um sich wie in einem Traum. Dort, dort am Bänkchen saß Veronika, sie hatte ihr schwarzes Kätzchen neben sich und hielt ihm ein Schälchen Milch vor. Jetzt wandte sie sich um: »Paul! Vater!« rief sie, jauchzte sie und – klirr! in tausend Scherben zersplitterte das Schälchen am Boden. »Mutter, Mutter!« jubelte sie in die Küche hinein, dann ging's dem Bruder entgegen wie auf Flügeln, und als sie ihn umfaßte fest, fest mit ihren lieben, runden Ärmchen, da lachte und weinte sie in einem. Auf den Jubelruf erschien die Mutter in der Küchenthüre. Sie hatte das halbfertige Kranzgewinde in den Händen, an dem sie eben gearbeitet. Das flog hinaus über die Schwelle, und mit weitgeöffneten Armen zog sie den Verlorengeglaubten an ihr treues, hochklopfendes Mutterherz.

Dann ward er in die Stube geführt und wie ein Gast auf den Ehrenplatz des verblaßten Sofas gesetzt. Er blieb aber nicht sitzen. Zum Vater eilte er, zur Mutter, mit seinen Händen je eine der Eltern umfassend, stammelte er unter Thränen: »Verzeiht, o verzeiht, Gott weiß, wie ich's bereue!« Schluchzen erstickte seine Stimme. Unaufhörlich strich ihm die Mutter beruhigend über die Locken, und dem Vater selbst, dem strengen, ernsten Vater zuckte es um die Lippen, wie im Thränenkampf. Als der Knabe allmählich ruhiger wurde, begann er leise, hastig alle seine Pläne und seine Erlebnisse seit der Entfernung aus dem Elternhause zu berichten. Es war eine offene, rückhaltslose Beichte, während welcher Veronika, innig an den geliebten Bruder geschmiegt, an seiner Seite saß und seine kalten Finger in ihren Händchen wärmte.

»Und nun,« schloß der Knabe, »will ich nichts, nichts mehr, als nach euerem Willen handeln, Vater, Mutter, wenn ihr's wollt, will ich Gärtner werden; es ist besser als Künstler ohne eueren Willen. Könnt ihr mir nun verzeihen?«

»Paul, Paul, Kind,« schluchzte die Mutter und küßte den Sohn mit heißer Liebe, »o welche Angst, welches Leid haben wir um dich ausgestanden. Die arme Veronika hatte sich die Augen nach dir rot geweint.«

»Und deine Mutter hat keine Nacht geschlafen wegen dir,« fiel ernst der Vater ein, »tot war's in unserem Haus und unserem Herzen ohne dich. Wie viel ich gefragt, wie viel ich geforscht habe nach dir! Hätte dich nicht Einsicht und Reue wieder heimgebracht, könnt' ich dir nie und nimmermehr verzeihen. So, jetzt komm' her, jetzt weiß ich alles, weiß und glaube, daß du dich draußen anständig und ehrlich benommen hast. Ich straf' dich nicht, denn das hat schon der liebe Gott gethan durch das Leid, das er dir schickte. Jetzt küß' ich dich wieder als meinen Sohn. Weißt du, was mein Vater, dein Großvater, Gott hab' ihn selig, zu sagen pflegte, wenn er seine Kinder küßte: Des Vaters Kuß ist wie ein heiliges Siegel auf dem lichten Kinderherzen. Weh, wenn das Kind es selbst zerbricht, indem es dies Herz durch etwas beglücken will, wozu die Einsicht der Elternliebe nicht Amen sagt.« – – –

– – – »Und wie heißt denn dein Professor in München genau,« fragte der Vater am nächsten Morgen Paul. »Herbert Willmers, Dachauerstraße Nr. 3, ja, ja, so war's.«

Alle kannten schon des Vaters eigene, oft verschlossen seltsame Art, und keinem fiel es ein, der Frage weitere Beachtung zu schenken.

Der Vater war nun viel in den Glashäusern beschäftigt, und Paul half ihm eifrig, d. h. wenn die Mutter und Veronika es zuließen, denn auch sie wollten ihren lieben bösen Jungen nicht entbehren. Besonders die Schwester wurde nicht fertig mit Fragen über München und die dortigen Erlebnisse. Sie war stolz darauf, einen so weitgereisten, selbständigen Bruder zu haben. Ach und jubelvoll war ihr ums Herz über die verzeihende Güte der Eltern, denn sie hätte es nicht ertragen, den geliebten Bruder von ihnen hart behandelt zu sehen.

»Du, du, Veronika,« drohte ihr Paul oft scherzhaft, »wenn man dich so reden hört, meint man, ich hätte die edelste Heldenthat vollführt durch diese Flucht; so stolz sprichst du davon. Nein, ich weiß, wie schlecht ich handelte. Gott behüt' mich nur in Zukunft vor solch einem Irrtume.«

Eines Tages, es war Ende November, riß der Briefbote an der Hausklingel, und Paul, der hinauseilte, ihm zu öffnen, erhielt einen großen Brief, der energische Schriftzüge und den Poststempel München zeigte. Pauls Herz fing bei dieser Entdeckung plötzlich in heißen Schlägen zu klopfen an. Er wußte selbst nicht warum; »es wird ein Geschäftsbrief an den Vater aus München sein, so wie er gar viele aus allen Richtungen empfängt.« Er ging hinein und reichte das Schreiben dem Vater, der über der Zeitung an dem Tische saß. Er öffnete ihn sofort, und als er eine Weile hineingeblickt hatte, rief er: »Mutter, Paul, Veronika!« Wie feierlich das klang. Die drei Gerufenen eilten herbei und waren überrascht, des Vaters Antlitz so eigentümlich bewegt zu sehen.

»Hat's besondere Nachrichten gegeben?« frug gleich die Mutter.

»Ja, besondere,« erwiderte der Vater mit Nachdruck, »besonders für dich Paul.«

Neue Spannung, neues Rätsel.

»Kurz, mit einem Worte – leset den Brief selber, Paul, lies du.«

Der Knabe nahm das Blatt, und obgleich die Buchstaben vor seinen Augen zu flimmern begannen, denn eine seltsame Ahnung ergriff ihn, daß er die Schriftzüge seines väterlichen Freundes in München erblicke, so las er doch mit lauter und fester Stimme:

 

»Guter Freund!

In Euerem freundlichen Schreiben vom 28. d. M. ersuchet Ihr mich um mein aufrichtiges, strenges Fachurteil über das Talent Eueres Sohnes.

Ich willfahre diesem Wunsche um so freudiger, als ich nach meiner ernsten Einsicht nur das Beste mitteilen kann. Die Probe, die Euer Paul unter meinen Augen in meinem Atelier mit spielender Leichtigkeit über seine Begabung abgelegt, war so befriedigend, daß ich, auch wenn ich den strengsten Maßstab daran lege, Euch nur raten kann, den Jüngling die heißersehnte Künstlerlaufbahn betreten zu lassen.

Ich habe schon viele junge Leute unter mir gehabt; ich weiß wohl ein Strohfeuer von echter, dauernder Begeisterung für unsere edle Kunst zu unterscheiden. Und eine solche, Ihr könnt Euch auf meine Menschenkenntnis verlassen, beseelt Euer gutes Kind. Gut, ja das ist Paul, wenn er sich auch durch jugendliche Übereilung zu der sehr unüberlegten Flucht aus dem Elternhause verleiten ließ. Ihr hättet ihn hören sollen, wie innig, wie dankbar, wie sehnsuchtsvoll er von seinem Vater, von seiner Mutter und seinem Schwesterlein zu mir sprach, wie er seine That bereute, wie krank und elend ihn der innere Kampf machte!

Und nun hört meinen Vorschlag: Es wäre mir ein Vergnügen, wenn ich Eueren lieben Jungen als Schüler und sozusagen als Pflegesohn in mein Heim aufnehmen könnte. Ich habe meine Familie durch den Tod verloren, einen munteren Buben hatt' ich auch, er war dem Eueren so ähnlich an Gestalt und Herz; ich hab' den Eurigen liebgewonnen, glaubt mir's, und da mir der liebe Gott so viel gegeben, daß ich mir eine Freude daraus mache, mir einen lieben, jungen Gesellschafter und Kunstjünger ins Haus zu nehmen, um ihn in jeder Weise zu fördern und dabei die glücklichen Tage meiner eigenen Jugend wieder erleben zu können, so gewährt mir doch die Bitte und schickt das Bürschlein zu mir. Die besorgte Mutter möge ganz ruhig sein, er wird nicht schmalbäckig bei mir. Von irgend einer Verpflichtung mir gegenüber ist nicht die Rede, denn ich allein bin der Dankschuldige, wenn Ihr mir Eueren Sohn anvertraut.

Also überlegt, guter Freund, mit Euerem Weibe und grüßt mir den Paul und die Veronika herzlichst.

Euer aufrichtiger
Herbert Willmers.

München, 30. Nov. 18...

 

Paul hatte geendet. Bevor der Mutter und Veronikas Überraschung Worte fand, begann der Vater: »Da ich mir die Sache nicht überlegt habe und mit der Mutter nichts darüber gesprochen, sondern gleich dich selbst den Brief lesen ließ, was schließest du daraus?«

»Ich, ich, Vater!« stammelte der Junge und erglühte purpurn.

»Ich hab' wahr und wahrhaftig keine Ahnung von der ganzen Korrespondenz gehabt!« rief die Mutter und ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Niemand weiß etwas und sagt etwas Ordentliches,« hob der Vater wieder an, scheinbar ungeduldig und doch so verschmitzt lächelnd, »da werd' ich eben reden müssen; es bleibt nichts anderes übrig. Also zuhorchen, besonders du, Paul.

Wie der Paul einen Tag wieder bei uns gewesen, und ich die ganze Sache so bei mir überlegt hab', die Gefühle, die ihn zu dieser Privatreise nach der Künstlerstadt getrieben haben, die Angst, die er dort in der Fremde ausgestanden; das blasse Gesicht, das er wieder heimgebracht, hab' ich mir angesehen, die strahlenden Augen beim Eintritte hier, hauptsächlich aber das freiwillige, reuige Wiederkommen – da hab' ich so bei mir gedacht: muß doch kein ganz gewöhnlich Ding sein diese Kunst und, im Grund genommen hab' ich auch nichts gegen sie, mich hat nur das immer so gestoßen, ob's nicht schließlich eine Dummheit wird, so ein Hirngespinst, denn woher soll denn ich wissen, ob in dem Pinselfreunde, meinem Herrn Sohn, wirklich etwas steckt, was nach Künstler aussieht, und ob's nicht sein ganzes Leben verderben wird und seine ganze Zeit kosten, die er schon längst als thätiger Gärtner benützen könnt'. Nachdem

ich aber, so glaub' ich wenigstens, kein Rabenvater bin, und mein Kind, gegen das ich aus Lieb', ja glaub's nur Paul, aus Lieb' und Sorge für sein Glück so streng gewesen, nicht unglücklich machen will, so dacht' ich mir, vielleicht ist doch etwas dran, fragen wir an bei dem Meister. Und das hab' ich Gott gelobt, Paul,« fuhr er ernst und gerührt fort, »wenn von dort zufriedenstellende Nachricht kommt, dann ist's mir ein Fingerzeig Gottes und ich wend' alles Geld daran, das ich erwerben kann, damit du nach deines Herzens Drang etwas Tüchtiges wirst.«

Pauls Wiedersehen mit seinem Vater.

»Vater, Vater!« jubelte Paul und fiel stürmisch an des Geliebten Brust – seine Bewegung war so mächtig, sein Dank so überströmend, daß er das Schluchzen nicht beherrschen konnte, mit dem das Glück ihn durchbebte.

Das ward ein wonniger Abend. Man saß beim Nachtessen und besprach die Zukunft.

»Aber annehmen kann ich die völlige Freihaltung meines Sohnes nicht bei ihm; wenn der Meister ihn schon unterrichten will, gut, für seine Verpflegung werden wir zahlen,« sprach der redliche Mann, der um keinen Preis jemand zur Last fallen wollte.

»Weihnachten natürlich verbringst du bei uns, Paul, und dann nach Neujahr bring' ich dich selbst nach München, 's geht zwar gerade jetzt etwas knapp, aber es wird schon gehen, freilich. Gleich morgen werd' ich dem guten Meister schreiben,« sprach der Vater und dachte dabei im stillen: »Ich hätte einen neuen Rock aufs Frühjahr sehr nötig, ach was, der alte thut's auch noch. Jetzt ist Paul der erste, versteht sich.«

»Ja, und ich will gleich morgen dein Gewand mustern,« fiel die Mutter ein, »wird was angeschafft werden müssen.«

»Ich stricke noch schnell einige Paar Strümpfe,« meinte hastig Veronika und dann mit einem zärtlich bedauernden Blick auf Paul: »O, weißt du, es ist zu herrlich, daß alles so gekommen ist, ach, wenn nur eins, wenn nur das nicht wäre, daß du fort mußt von uns.« Und so ging's weiter mit Erwägen und Trachten, Sorgen und Hoffen, bis die Schlafensstunde schlug und bis der Schlummer nach einem dankbeflügelten Nachtgebet die Augen der Bewohner im Gärtnerhäuschen schloß. – – –

– – – Die schönen, weihevollen Winterfeste waren gekommen und gegangen, Pauls Bündel war geschnürt und er stand an Vaters Seite vor der Mutter und dem Schwesterlein.

»Gott segne dich, mein Kind, er behüte dich; lebe wohl, bleib' gesund, mein Paul, lebe wohl.«

»Paul, Paul und schreib' mir gleich, wie du in München ankommst, vergiß nicht.« –

Vater und Sohn fuhren in die stille, klare Winternacht hinaus, und als die helle Tagessonne den hartgefrorenen Schnee über der schlummernden Erde in wunderbarem Glanz erstrahlen ließ, da zog Paul zum zweitenmal in München ein, diesmal am Arme seines Vaters mit frohem Herzen und leuchtendem Auge. O, wie schnell hatte doch der liebe Gott alles zum besten gewendet! Kurz war sein Leid und sein Kampf gewesen, und nun erfüllte ihn Jubel, unendlicher Dank gegen Gott und die gütigen Eltern. Sie frühstückten in einer Milchwirtschaft und dann geleitete Paul, der ganz stolz den Führer machte, seinen lieben Vater nach des Malers Heim. O, wie klopfte des Knaben Herz, als er dem Ziele nah und näher rückte! Jetzt waren sie oben, jetzt vernahm er wieder des Meisters tiefe, angenehme Stimme, jetzt fühlte er das väterlich warme Auge auf sich ruhen.

»Willkommen, willkommen, also da seid ihr endlich! Und du, Paul, Gott grüß' dich. Wir wollen gut Freund miteinander werden.«

»Herr, lieber Herr, wie soll ich Ihnen danken! Sie nehmen mir eine große Last vom Herzen durch Ihre Güte, 's ist nun einmal Gottes Wille, daß der Bub' Künstler wird, das seh' ich zu deutlich, welche Beruhigung ist es mir da, ihn bei Ihnen zu wissen. Mein Weib hat's auch gesagt, wir können es Ihnen nicht vergelten, aber zum lieben Gott beten, damit er es thue, das können und wollen wir.«

»Guter Freund, sprecht nicht von Dank, ich muß Euch danken, Euer liebes Kind wird mir ja, solange es hier bleiben darf, mein eigenes, früh heimgegangenes ersetzen. Noch eines, Freund, ich will für seine Erhaltung sorgen, ohne Euere Vaterrechte sonst nur im geringsten anzutasten. Ihr versteht mich, Freund.«

Brahms wurden die Augen feucht. »Paul,« sprach er, »du mußt dein Bestes thun, um so viel Güte zu verdienen.«

»Vater, das will ich,« erwiderte leuchtenden Auges der Knabe und küßte dankbar seines Wohlthäters Hand.

Den Rest des Tages verlebten Vater und Sohn als Gäste Meister Herberts, der sie in München umherführte. Am Abend nahm man herzlich Abschied und Brahms ließ seinen Sohn beruhigten Herzens in der Künstlerstadt zurück. – – –

– – – Am nächsten Morgen erwachte Paul mit dem Gefühle, im Märchenlande zu sein. Die gepreßten Tapeten an der Mauer, die zarte Malerei der Decke, die schwebende Engelchen zwischen Blumengewinden zeigte, die dunklen Vorhänge, die Fenster, in deren Rahmen er fremde Hausgruppen sah, das alles mutete ihn seltsam an. Ein wunderbares Christusbild hing zu Häupten des Lagers; vor diesem verrichtete Paul, dessen Herz von Dank überfloß, sein inniges Morgengebet.

Inzwischen trippelte Susanne kopfschüttelnd drüben im Frühstückszimmer umher und sprach, indem sie zwei Schalen auf den reinlich gedeckten Tisch stellte: »Wer hätte das gedacht auf seine alten Tage! Wird der Bub', den ich erst nicht hab' hereinlassen wollen, gar unser Hausgenoß! Nun, man wird ja sehen, wie er sich macht. Das sag' ich gleich, wenn er mir einmal den Herrn Professor ärgert, dann soll er aufmerken, dann heißt's, packe dich! Wir wollen doch sehen, ob denn die alte Susanne da nicht auch ein Wörtlein mitzusprechen hat.« Förmlich in Aufregung geriet die Alte, ihre Haubenbänder schwankten ungestüm und ihr runzliges Gesicht war ganz rot: »Schön guten Morgen, Herr Professor!«

»Morgen, Susanne, Paul schon auf? Ruf' ihn gleich herüber und bring' den Kaffee.«

»Zu dienen, Herr Professor.« Und draußen sprach sie: »Wie soll ich ihn denn eigentlich anreden, Paul, junger Herr? Ja, ich weiß nicht. Gehört hab' ich gestern so durch die Thür, daß sein Vater ein Gärtner ist. Ja, ihm zuliebe sagte ich sicher nicht »Junger Herr«, aber dem Herrn Professor zur Ehre, damit all die Herren, die herkommen, nicht wissen, daß er einen Gärtnersohn bei sich hat. Also wie? Ach was, ich geh' hinein, ich frage den Herrn Professor geradeaus, wie er's haben will. Nachher heißt's dann schließlich: So und so hätt' die alte Susanne sagen sollen. Herr Professor, mit Verlaub, wie soll ich drin – ich meine, wie ich ihn anreden soll? Ich hab' zwar gar kein Recht, was dreinzusprechen. Aber ich mein' halt, so eines Gärtners hergelaufener Sohn – Gott behüte, ich wollt' nichts sagen, aber schauen Sie, was werden sich all die Herren denken?«

»Susanne, spukt's in deinem alten Kopfe?« rief der Professor höchst erstaunt, »von solch einem Hochmut in dir wußt' ich gar nichts. Und wenn du mir mit dem kommst, was die anderen denken oder sagen werden – du weißt, ich hör' nur auf das, was mein eigenes Herz mir sagt, und das spricht, Gott sei Dank, nichts von falschem Stolz.«

»Aber, Herr Professor, ich mein's nur gut mit Ihnen, weiß Gott, was Sie sich da auf den Hals geladen haben!«

»Susanne,« rief der sonst so geduldige Mann auffahrend, »ich habe gesagt, hol' mir den Paul!«

Draußen vor der Thüre stand er, der so hieß, und hatte Mühe, die Thränen niederzukämpfen, die ihm heiß in die Augen stiegen, als er unfreiwilliger Zuhörer des drinnen geführten Wortwechsels wurde. Das ehrliche Gewerbe seines Vaters wie eine Schande, eine Entehrung, er selbst wie eine Last im Hause seines Wohlthäters angesehen, freilich nicht von diesem selbst, des Meisters edles Herz schlug ihm vorurteilsfrei und väterlich entgegen – aber ein bitteres Vorgefühl der Kränkungen, die ihn, den Armen, Mittellosen, den Gärtnersohn unter den Künstlern erwartete, umkrampfte sein Herz, und im ersten Augenblicke der größte Unmut gegen Susanne. Welch ein Wermutstropfen in seinen Freudenbecher. Aber er bezwang sich tapfer: »Gerade gegen Susanne darfst du nichts Bitteres fühlen!« ermahnte er sich selbst und mit dem Gedanken: »Mut, Mut!« öffnete er nach schüchternem Klopfen die Thür und sprach: »Guten Morgen, Meister, darf ich schon herüberkommen?«

»Grüß Gott, Paul! Komm', mein Junge, da an meine Seite. Susanne, den Kaffee!«

»Guten Morgen,« knurrte Susanne. »Ich wäre schon gekommen, Sie zu holen, junger Herr.«

»O, Susanne, nennt mich Paul,« rief schlicht der Knabe, »ich will um keinen Preis hier mehr gelten, als ich bin: ein armer Bub', den des Meisters Güte erst zu etwas macht.«

»Nun, wenigstens sieht er's ein,« dachte Susanne bei sich. »Jetzt weiß ich auch gleich, wie ich ihn nennen soll.«

Beim Frühstück in dem großen, behaglichen Zimmer, in dessen rundem, grünem Kachelofen ein lustig Feuerlein brannte und hellrote Lichter auf die braune Holztäfelung der Wand warf, war Meister Herbert sehr gesprächig. »Jetzt werd' ich dich dann gleich mit hinübernehmen in meine Malschule, da werden bald meine Schüler, einer nach dem anderen, ankommen. Du bist schon fertig, komm', gehen wir.«

Paul machte große Augen, als er in die weiten, kahlen Räume trat, die an die Wohnzimmer Meister Herberts stießen. Darin waren gar keine Möbel, nur Staffeleien in allen Größen und auf denselben Bilder und Skizzen in den verschiedensten Entwicklungsstufen, welche Paul mit dem größten Interesse betrachtete.

»Wenn's dir Freude macht, Paul, richte ich gleich die Arbeitsgeräte und eine Staffelei für dich her.«

»O, ja, bitte!« sprach Paul mit glänzenden Augen. »Ich glaube, mir wird gar nicht bang sein, hier zu malen.«

»Guten Morgen, Herr Professor!« Der erste Schüler rückte schon an, ein aufgeschossener junger Mann im braunen Sammetrock. Seine rabenschwarzen Locken flogen regellos um sein blasses Gesicht und die großen, dunklen Augen sahen fragend auf das Bürschlein neben dem Professor. »Ein neuer Kolleg', was?« »Ja, mein Schützling, Erlenbruck.«

»Ah, noch sehr jung!«

Paul grüßte bescheiden und hielt treuherzig dem prüfenden, überlegenen Blicke des Neuangekommenen stand. Der junge Herr von Erlenbruck zog den Professor gleich mit sich an seine Staffelei und begann, sich mit weithin tönender Stimme mit ihm zu unterhalten. Da ging die Thür wieder auf, ein Schwarm junger Leute drängte sich herein, blonde, braune, schwarze, laute, stille, und alle sahen auf den jungen Neuling: »Was will denn der da? Der gehört ja noch auf die Schulbank!«

»Still, des Professors neuer Schützling,« ermahnte flüsternd Erlenbruck, der zur Thür getreten war, die Kollegen.

»Sieht sehr nach nichts aus!« höhnte der andere.

»Geht, er ist ein hübscher Bursch; er gäbe sogar einen prächtigen Johannes.«

Das Erscheinen des Professors machte dem Gespräche, dessen ersten Teil Paul mitangehört hatte, ein Ende. Jeder der jungen Maler ging an seine Arbeit.

»Auf die Schulbank gehör' ich und nach gar nichts seh' ich aus! Ja, ja der junge Mann hat recht, aber mutlos soll mich das nicht machen, nein, doppelt fleißig will ich sein, um den anderen nachzukommen, die schon etwas sind.«

Und freudig machte er sich daran, den Teller voll Früchte, welche der Professor auch zu dieser Jahreszeit in schönen Stücken im Hause hatte, auf die Leinwand zu übertragen. Der glückliche Knabe vergaß alles um sich, als er sich in die Arbeit vertiefte. Der Professor ging prüfend, erklärend, ausbessernd von einem zum anderen; auch zu Paul kam er und strich ihm lobend und ermunternd über die erglühten Wangen. Dann verließ er den Saal, in welchem seine Schüler allein fortarbeiteten, denn er hatte sich noch vor Mittag in die Akademie zu begeben. Jetzt entwickelte sich eine ziemlich laute Unterhaltung. Die leichtsinnigeren Schüler verließen ihre Staffeleien und kamen zu Paul hin, der emsig malte. Erlenbruck war auch darunter. »So mußt du das nicht machen,« rief er gleich, »der Farbenton ist ganz gefehlt, es gehört viel mehr Gelb hinein.« Er nahm Paul den Pinsel aus der Hand und fuhr damit willkürlich auf der zartbemalten Fläche hin und her. Paul stiegen die Thränen des Zornes und des Unmutes in die Augen. Sein Meister hatte den Farbenton gesehen und nichts daran getadelt, nichts daran verbessert, und Erlenbruck, selbst noch ein Schüler, that es so rücksichtslos. Nun war sein Bild ganz verändert, und alle Freude daran war ihm verdorben. Seine erste Eingebung bestimmte ihn, Erlenbruck zurechtzuweisen und seiner Empörung in erregten Worten Luft zu machen – aber er schwieg, nicht aus Feigheit, nicht aus Schüchternheit, nur darum, weil ihm sein edles Herz sofort einsprach, die Ungerechtigkeit geduldig hinzunehmen und alle Feindseligkeit gegen den Urheber derselben zu unterdrücken.

Nun läutete es draußen Mittag. Die jungen Maler packten ihre Gerätschaften zusammen und verabschiedeten sich voneinander, ohne Paul weiter zu beachten. Dieser ging in sein Zimmer zurück und wartete auf den Ruf Susannens zum Mittagessen. Dieser ertönte bald, und drüben in dem gemütlichen Speisezimmer an der Seite seines gütigen Wohlthäters, der so heiter und freundlich mit ihm sprach, verwischten sich bald die unangenehmen Eindrücke dieses ersten Vormittags unter den Kollegen. Am Nachmittag durfte Paul in des Professors eigenem Arbeitszimmer malen; zögernd brachte er sein Bild herbei.

»Was der Tausend, wer hat denn da hineingekleckst? Sag', Paul, hast du den gelben Ton gepinselt?«

Paul errötete. Es war ihm so peinlich, Erlenbruck anzuklagen. Aber wenn der Meister so geradeaus fragte, konnte er nicht lügen: »Herr Erlenbruck hat meine Farbenmischung verbessert.«

»Verschlechtert!« korrigierte der Meister, »daß der Erlenbruck die Bevormundung nicht lassen kann! Laß dir nichts gefallen in Zukunft,« fuhr er streng fort, »überdies dafür werd' ich sorgen, lassen wir das;« seine Stirn erhellte sich wieder. »Da, nimm die Blumen, fang' frisch an, Paul, und laß dich's nicht verdrießen. An den gelbsüchtigen Äpfeln mag sich Erlenbruck gütlich thun.« – –

Paul gewöhnte sich rasch in die neue Lebensweise ein. Er war heiter, thätig, willig, zuvorkommend gegen jedermann. Seine Kollegen, besonders Erlenbruck, dem der Professor eine scharfe Suppe eingebrockt hatte, waren gar nicht liebenswürdig gegen ihn, sie kränkten ihn aber nicht mehr mit spöttelnden Bemerkungen. Auch Susanne war einigermaßen mit der Anwesenheit Pauls versöhnt, denn er war sehr freundlich und gefällig gegen die alte, grillenhafte Dienerin. Meister Herbert that sein Bestes, um Paul niemals Einsamkeit oder Langweile empfinden zu lassen. Wenn er auch tagsüber vielfach in Anspruch genommen war, den Abend und die Sonntage widmete er ganz seinem lieben Schützling. Da wurden schöne, lehrreiche Bücher gelesen, Domino und manchmal sogar Schach gespielt, welches Spiel Paul mit großem Eifer zu erlernen strebte. Er schrieb glückliche Briefe nach Hause. Täglich dankte er dem lieben Gott auf das innigste für die günstige Wendung seines Schicksals.

* * *

In dem kleinen Gärtnerhäuschen draußen bei Erfurt war es viel stiller, seitdem Paul es verlassen hatte. Veronika sehnte sich gar sehr nach dem geliebten Bruder und doch hatte sie einen freudigen Trost in dem Bewußtsein, daß er in München bei seiner Lieblingsbeschäftigung glücklich sei. Mit welchem Jubel wurden doch seine Briefe stets begrüßt und gelesen, wie ausführlich, wie zärtlich beantwortete das gute Mädchen dieselben!

Fast den ganzen Tag wurde von Paul gesprochen, in der Küche, im Zimmer, im Garten, ob sie dem Vater oder der Mutter half, meistens war es Paul, über den sie dabei sprach.

So gingen die Tage dahin, der liebe Lenz schritt durch den Garten des Vaters Brahms und unter seinem Sonnenblick erwachte Baum und Blüte zu neuem Leben.

Veronika stand eines Tages bei ihren lieben Veilchen am Zaun, da fuhr eine Equipage vor und hielt vor dem Gartenthor. Ein bleicher Herr in tadellosen, schwarzen Gewändern schritt langsam, wie von einer schweren, unsichtbaren Hand gebeugt, über den Kiesweg. Veronika trat vor, machte einen tiefen Knix und fragte: »Gnädiger Herr wünschen?«

»Bist du die Tochter des Gärtners Brahms, mein Kind?« fragte mit mattem Ton der Fremde.

Sie bejahte höflich.

»Man hat mir die Blumen deines Vaters sehr gerühmt; ich muß blühende maréchal Niel-Rosen haben, und da dacht' ich, hier werden sie zu finden sein.«

»O ja, ich weiß, der Vater hat welche im Treibhaus. Da kommt er selbst – Vater, Vater!«

Als der Gerufene herankam, zog sie sich bescheiden zurück. »Ach Gott,« dachte sie bei sich, »der arme Herr sieht so traurig aus, und seine schwarzen Kleider; gewiß braucht er die Blumen auf ein Grab.«

Beim Mittagessen sagte der Vater: »Der Herr Graf Coronini hatte heute vormittags zwei Rosenstöcke maréchal Niel bestellt. Du trägst sie dann gleich hinüber, Veronika – es ist die schöne, große Villa inmitten des Parkes.«

»Ich weiß, Vater, bei dem Grafen Coronini komm' ich täglich vorbei.«

Veronika setzte ihr Strohhütchen auf und machte sich sogleich mit den beiden Stöcken auf den Weg. Es war vollkommen windstill und warm, und so brachte sie ihre duftende Last schadlos vor das herrschaftliche Gartenthor. Still lag das schöne Haus mit den großen Spiegelscheiben hinter den im zarten Grün prangenden Büschen und Bäumen da. Das Mädchen zog die Klingel. Zwei große Neufundländer stürzten lautbellend herbei und stellten sich mit funkelnden Augen aufrecht gegen das Gitter »Black! Dartagnan!« kommandierte eine laute Stimme, und ein Mann in der Livree eines Portiers öffnete der Kleinen die Thür. Schweigsam – hinter diesen schwarzen Gittern schien alles zu schweigen und zu ruhen außer den Neufundländern – führte er das Gärtnerstöchterlein in die Vorhalle und dann die teppichbelegte Treppe hinauf in ein großes, helles Gemach, das mit Blattpflanzen aller Art angefüllt war. In einem lauschigen Winkel befand sich eine Moosbank und neben derselben plätscherte ein kleiner Springbrunnen mit hellem Strahl. Auf der anderen Seite war eine Volière aufgestellt, von überhängendem Grün umgeben, und darin hüpften und zwitscherten buntfarbige Vöglein. Veronika erhielt die Weisung, die Blumenstöcke zu beiden Seiten der Bank aufzustellen. Dann drückte ihr der Bedienstete ein Geldstück in die Hand und führte sie hinaus. Als sie wieder im Garten war, trat plötzlich hinter einem Gebüsche eine zarte Mädchengestalt hervor, von den zwei großen, schwarzen Neufundländern begleitet. Sie war in tiefes Schwarz gekleidet, ihr blondes Haar umrahmte ein geisterhaft bleiches Antlitz, dessen große, blaue Augen todestraurig vor sich hinsahen. Jetzt erblickte sie Veronika. Die Hunde machten Miene, sich auf die Wehrlose zu stürzen. Das Mädchen in Schwarz streckte gebieterisch ihre zarten Hände nach beiden Seiten aus. Black und Dartagnan legten sich fast flach auf den Boden.

»Hast du vielleicht Mama gesehen?« kam's plötzlich mit hohlem Klang aus des Mädchens Mund, so flehend, so sehnsüchtig, so verzweiflungsvoll, daß Veronika sich bis ins tiefste Herz ergriffen fühlte.

»Komtesse, ich bitte Sie,« klang's im nächsten Augenblick hinter ihr. Eine Dame, ebenfalls in Trauergewändern, trat hervor und winkte, hinter dem Rücken der Komtesse, Veronika möge gehen. Diese schritt nach dem Gartenthor und, ohne sich umzublicken, mit den seltsamsten Gefühlen im Herzen, heimwärts.

Komtesse Isa aber drehte sich langsam nach ihrer Begleiterin um. »Warum ließen Sie das Mädchen nicht sprechen? Sie sah so freundlich aus – – dort hinaus ging sie; vielleicht kommt sie mit Mama zurück.«

»Komtesse, Sie sind schon müde, die Frühlingsluft greift Sie an; es ist besser, ich führe Sie in Ihr Zimmer hinauf.«

»Nein, in Mamas Zimmer,« entgegnete mit krankhaftem Eigensinn Isa. »Vielleicht hat der Papa schon maréchal Niel-Rosen bringen lassen, morgen, bis morgen muß ich sie haben. O teure Mama, an deinem Geburtstage stellte ich dir noch jedes Jahr blühende Rosen zu deiner Bank. Mama, o Mama, Mama!« rief schluchzend mit herzzerreißenden Tönen das unglückliche Kind und streckte mit sehnsüchtiger Gebärde beide Hände aus, als habe sie die geliebte Mutter vorüberschweben gesehen. Auf diesen Schrei eilte Graf Coronini aus seinem Zimmer und stürzte atemlos in den Garten hinab.

»Fräulein von Hartenau, um Gottes willen, mein Kind!« Die Komtesse war niedergesunken, und der Vater hob sein armes Kind mit zitternden Händen empor und trug es die Treppe hinauf. Bestürzte Lakaien eilten herbei und wollten dem Gebieter die Last abnehmen, dieser aber winkte sie zur Seite und ging weiter. Als er an dem Blumengemache vorüberkam, dessen Thür einen kleinen Spalt weit geöffnet war, schlug die Komtesse die Augen auf, richtete sich empor und rief: »Papa, dahin! Es sind Rosen drinnen, o, wie sie duften!«

Und der zärtlich besorgte Vater erfüllte sogleich den Wunsch seiner Tochter und legte sie sanft auf die Moosbank nieder. Ein Schimmer seliger Verklärung breitete sich über des armen Mädchens blasses Antlitz, als sie den zarten Farbenschmelz der lichtgelben Blüten mit dem rosa Saum erblickte. Sie lehnte müd' den blonden, feinen Kopf zurück, drückte ihre Hände ans Herz und ließ den Thränen, die in heißen, großen Perlen über ihre Wangen tropften, freien Lauf. So weinte sie, bis ihr Haupt auf die Bank niederglitt und der Schlummer der Erschöpfung ihre brennenden Augenlider schloß. Der Vater ließ die weiche, warme, himmelblaue Decke aus ihrem Schlafzimmer herüberbringen und bedeckte die Schlummernde damit. Dann setzte er sich geräuschlos neben sie und beobachtete die Ruhe seines Herzenskindes. O, welch trübe, schmerzliche Gedanken zogen durch seinen Sinn! Die letzten Monate hatten schweres Unglück über diese Heimstätte des Reichtums und des innigsten Familienglückes gebracht. Gräfin Charlotte, die engelsgleiche Mutter Isas, hatte lebensfroh und strahlend vor Gesundheit diesem Hause vorgestanden. Jedermann liebte und verehrte sie. Gegen ihresgleichen von der größten Liebenswürdigkeit, war sie gegen Untergebene, gegen alle Armen, Leidenden von der rührendsten Güte und Selbstlosigkeit gewesen. So hatte sie auch ihre Wäscherin, die seit mehreren Wochen krank gelegen war, persönlich besucht, um ihr Stärkungsmittel zu bringen, um sie aufzurichten und zu trösten. Einmal, es war an einem Regentage im Februar gewesen, begab sie sich wieder die steile Holztreppe zur Wohnung der Wäscherin hinauf. Plötzlich glitt sie aus mit den feuchten Schuhen. Sie stürzte rücklings und zwar so unglücklich gegen eine Mauerecke, daß sie besinnungslos, mit stark verletztem Kopfe von der Stelle getragen werden mußte. Die Bestürzung ihres Gatten und ihrer Tochter war unbeschreiblich. Doch Isa tröstete sich schnell voll kindlicher Hoffnungsfreudigkeit mit dem Gedanken an baldige Genesung der Geliebten. Nicht so der Graf, den die Aussprüche der Ärzte in die größte Besorgnis versetzt hatten. Eine heftige Gehirnerschütterung brachte das Leben der Gräfin in die drohendste Gefahr; sie war meist besinnungslos, hatte sie aber einige lichte Augenblicke, so ließ sie Isa zu sich bringen. Diese äußerte sich bei solchen Besuchen der Mutter gegenüber voll Ungeduld über die lange Krankheit, klagte über Langweile und kränkte die Leidende durch Trotz und Ungehorsam noch am Vorabende ihres Todes. Der Vater führte das Kind unmutig von dem Lager der angegriffenen Gattin hinweg, und – am nächsten Morgen hatte Isa keine Mutter mehr. Das letzte Wort auf eine sanfte Ermahnung ihrer Mama war ein trotziges: Aber nein, ich mag nicht! gewesen. Unbeschreiblich waren der Schmerz, die Reue, der Schrecken, die Angst, die Sehnsucht, die sie ergriffen, als der Graf in ihr Zimmer getreten war, bleich, an allen Gliedern zitternd, mit den Worten: »Isa, bete für deine Mama, sie ist erlöst.«

Als man die Tote feierlich drin aufgebahrt hatte, mildstrahlende Kerzen zu beiden Seiten, Blumen ringsum und dunkelverhängte Wände, da stürzte Isa herein und warf sich über die Bahre. Zu spät, zu spät! O, welch entsetzliches Wort, welch ein Laut der Qual, des unverbesserlichen Unglückes! Zu spät! Mit einer Kränkung über die Tochter im Herzen hatte die Teure diese Erde verlassen, die Augen geschlossen und den Mund für immer. Da ergriff Verzweiflung das bedauernswerte Kind. Den gebrochenen, zitternden Körper mußte man hinwegtragen aus dem Trauergemache und ein schweres Fieber umnachtete ihre Sinne.

Draußen über der gräflichen Gruft wiegte die Trauerweide ihre lenzgrünen Zweige. Komtesse Isa konnte ihr Lager wieder verlassen. Ihr Körper hatte einige Kräfte wiedererlangt, über ihrem Geiste aber lagerte eine seltsame, schwere Starrheit – ruhelos suchte und forschte sie nach ihrer Mutter in allen Räumen des Schlosses und fragte jeden, der ihr in den Weg trat, nach der Mutter. Sie sprach nichts, was nicht mit ihrer Mama in Zusammenhang stand; alles andere ließ sie teilnahmslos; Fräulein von Hartenau mußte sogar den Unterricht aussetzen, und so hatte der Graf nun ein doppeltes Leid zu tragen: den Schmerz um die verlorene Gattin und den Jammer über sein Kind. Er seufzte tief, als er die Schlummernde mit diesen traurigen Gedanken betrachtete. Jetzt regte sie sich leis, sie schlug die Augen auf: »Papa, das Mädchen, das Mädchen!« mehr brachte sie nicht heraus. Flehend hob sie dabei die Hände und in ihre Augen traten Thränen, als der Vater sie ersichtlich nicht verstand. Er wußte sich nicht zu helfen: »Mein Kind, mein teures Kind, beruhige dich.«

»Papa, ich bitte dich, rufe das Mädchen zurück!« Sie wurde immer unruhiger, sie erhob sich und blickte angstvoll hinab in den Park nach dem Thore. Der Graf ließ die Erzieherin kommen.

»Fräulein von Hartenau, wissen Sie, welches Mädchen Isa meint.«

Das Fräulein winkte den Grafen zur Seite: »Herr Graf, als ich mit Komtesse Isa vor einer Stunde im Parke war, trat uns ein kleines Mädchen entgegen, und Komtesse fragte: Hast du vielleicht meine Mama gesehen? worauf der Schmerzensausbruch folgte, als ich dem Mädchen winkte, zu gehen. Ich fragte Johann, den Thürsteher, er sagte mir, es sei die Gärtnerstochter gewesen, welche die Rosenstöcke gebracht hat.«

»Des Gärtners Brahms Tochter, ah!« rief der Graf, »Fräulein, geben Sie sofort Befehl, die Gärtnerstochter zu holen – d.h. nein, nein, man muß die Leute in Kenntnis davon setzen, um was es sich handelt; auch er ist Vater und wird sein Kind vielleicht der Aufregung nicht preisgeben wollen. Fräulein von Hartenau wird bei dir bleiben, Isa,« fuhr er dann zu seiner Tochter gewendet fort, »wenn es möglich ist, werde ich dir das Mädchen, welches du zu sehen wünschest, hierher bringen.«

Der Graf gab draußen selbst Befehl, anzuspannen und fuhr hinaus zum Gärtner Brahms. Veronika ging eben strickend im Garten auf und nieder. Sie erschrak, als die gräfliche Equipage vor dem Thore hielt. »Die Rosen werden doch recht gewesen sein – oder ist's wegen dem jungen, schwarzen Fräulein?«

»Mein Kind,« rief der Graf, erregt und hastig aus dem Wagen springend, »führ' mich zu deinem Vater.«

»Er ist drinnen, Herr Graf, bitte.« Sie geleitete den vornehmen Herrn durch die saubere Küche in die Kammer, wo Vater und Mutter traulich beisammen saßen, und wollte sich dann bescheiden entfernen. »Bleib', mein Kind,« sprach der Graf. »Ich komme wegen dir.«

Der Inhalt der Worte beunruhigte, der gütige Ton derselben beruhigte Veronika. Der Graf begann nun die traurige Veranlassung seines Kommens und die Entstehungsursachen derselben zu erzählen. Die schlichte, friedlich glückliche Familie war erschüttert über das Schicksal dieses armen reichen Mannes. Veronika hatte ihnen schon von der Begegnung im Parke erzählt, und nun war das Rätselhafte derselben aufgeklärt. Dem guten Gärtnerstöchterlein standen die hellen Thränen in den Augen, als sie von den Leiden ihrer vornehmen Altersgenossin hörte. Vater und Mutter sagten natürlich sogleich ja zu der Bitte des Grafen, ihm ihr Töchterlein gleich mitzugeben, und Veronika versprach, sehr tapfer zu sein und ihre Rührung gewiß nicht merken zu lassen. Die Mutter strich ihr im Nebenraum rasch das Haar glatt, warf ihr das Sonntagskleid über. Dann hob sie der Lakai in den Wagen, und fort ging's in aller Eile. Da saß nun das Gärtnerstöchterlein auf den braunen Sammetpolstern und wagte kaum zu atmen. Der Graf sagte ihr, sie möge nur ruhig immer auf Isas Fragen mit der Wahrheit antworten. Nun war man angelangt. Black und Dartagnan wagten kaum zu knurren beim Anblick ihres Gebieters. Mit klopfendem Herzen schritt Veronika heute zum zweitenmal über die teppichbelegten Stufen – der Lakai öffnete die Thür des Blumenzimmers. Drinnen lag Isa, die Augen starr erwartungsvoll auf den Eingang geheftet.

»Isa, da ist dein Mädchen, sie heißt Veronika.«

Isa sprang auf: »Veronika, da bist du endlich! Fräulein von Hartenau hat mir erzählt, daß du die Rosen brachtest. Aber, aber,« die schmerzliche Frage kam wieder, »wo ist Mama?«

»Ihre liebe Mama, Komtesse,« sprach Veronika einfach und herzlich, »ist im Himmel. O, dort oben ist's so schön; alles, was uns hier auf Erden drückte und kränkte, ist dort oben verklärt und versöhnt. Alle sind so glücklich oben.«

»Was sagst du?« rief Isa lebhaft, eine helle Röte übergoß ihre Wangen und alle Starrheit wich von ihr. »Alles, alles, auch wenn eine Tochter ihre Mutter vor dem Tode gekränkt und nicht mehr um Verzeihung gebeten hat, sag', Veronika, das auch?«

»Auch das,« sprach zuversichtlich Veronika, »wenn die Tochter dafür den lieben Gott um Verzeihung bittet.«

»Ja, ja, das that ich, aber, wie wär's möglich?«

»Gewiß ist's so,« wiederholte Veronika, »im Himmel sein, bedeutet ja doch selig sein, und wenn Ihre gute Mama, die im Himmel ist, von der Erde noch einen Schmerz hinübergenommen hätte, dann wäre sie ja dort nicht vollkommen glücklich. Im Gegenteil, sie freut sich über Ihre Reue und die Liebe, mit der Sie an sie denken. Der Herr Katechet in der Schule hat uns manchmal ähnliches über die Seligen im Himmel gesagt.«

Komtesse Isa saß still, aus ihrem Antlitz war der fremde, starre Zug gewichen; sie wußte es jetzt ganz klar, daß ihre Mama nie wieder auf Erden zu ihr kommen konnte, und so traurig diese Gewißheit auch war, sie fühlte plötzlich eine tiefe Ruhe in ihr Herz ziehen. Ihr war's, als sei sie neugestärkt aus schwerem Traum erwacht.

»Sie dürfen nicht zu sehr nach Ihrer guten Mama trauern, Komtesse; das kränkt ja ihren lieben Papa. Seien Sie fröhlich, um ihn glücklich zu machen. Das wird die Freude Ihrer Mama im Himmel noch erhöhen.«

»Papa!« rief Isa aus, »ja, ach ja, daran habe ich nicht gedacht – – ja – das will ich thun,« und sie lehnte sich zurück, wie in tiefem Sinnen. »Das war das Lieblingszimmer meiner Mama,« fuhr sie dann fort, »o, sie liebte Blumen so sehr, besonders diese Gattung Rosen. Nun stehen sie bereit da für morgen, und sie wird nicht kommen. Aber ich will ja nicht traurig sein. Seit du da bist, kommen mir gute Gedanken. Ich habe ein Miniaturbild der Mama hier im Medaillon,« sie nahm ein goldenes Kettchen, das sie unter dem Kleid am Halse trug, ab und öffnete das daran befindliche Medaillon. »Das lege ich her auf die Moosbank, wo sonst Mamachen meine Gratulation entgegennahm, und hier verspreche ich ihr heilig, niemehr verzweifelt und mutlos zu sein. Veronika, sage es niemand. Ich habe zu dir solch ein Vertrauen, als ob ich jahrelang mit dir bekannt wäre. Geh', Veronika, erzähle mir von daheim.«

Der Graf und Fräulein von Hartenau, die lautlos hinter den duftenden Büschen verharrten, glaubten zu träumen, als sie unbemerkte Zeugen dieser wunderbaren Umwandlung Isas waren. Veronika hatte eben mit ein paar Worten in ihrem herzlich kindlichen Überzeugungston das vollbracht, was alle Überredungskunst und alle Einsprechungen Älterer und Gescheiterer nicht vermocht hätten. Jetzt saßen die zwei Mädchen in lebhaftem Gespräche nebeneinander. Die lange niedergehaltene Frische und Beredsamkeit Isas waren plötzlich wieder erwacht, und sie fragte mit dem sie kennzeichnenden, eindringlichen Wie, Wann und Wo? Es war schon ganz dämmerig in dem Gemache, da trat der Graf zu den Mädchen und sprach: »Komm' meine Isa, Veronika muß jetzt heim.«

»Schon, Papa, aber morgen kommt sie wieder, nicht wahr? Und dann erzählst du mir noch mehr von Paul, von deinem Garten und von allem anderen. Doch, Papa, Thee muß sie noch mit mir trinken.«

»Gut, Kinder,« sprach der überglückliche Vater, »ich bringe dich dann selbst mit dem Wagen nach Hause.«

Veronika wurde nun durch eine Reihe herrlicher Zimmer geführt; geblendet blieb das schlichte Gärtnerstöchterlein stehen, als Komtesse Isa sie in ihr eigenes Gemach eintreten hieß. Alles war da rosa, weiß und Gold, das Himmelbett, die Tapeten, die Vorhänge, die Möbel mit den zierlich geschweiften Füßen, sogar die Lampe mit der rosenfarbenen Glocke. O, welche Pracht! Und wie appetitlich der zierlich gedeckte Theetisch aussah! Sie durften ganz allein Thee trinken. Fräulein von Hartenau hatte sich ins Nebenzimmer zurückgezogen, und Komtesse Isa war überglücklich, die Wirtin machen zu können. Und der Veronika schmeckte es! Der Graf hielt sein Wort und holte Veronika nach einem kleinen Stündchen zur Heimfahrt ab. Es wurde ein herzlicher Abschied genommen mit der wiederholten Versicherung: Auf morgen!

Daheim wurde Veronika mit dem Erzählen nicht fertig. Wie schnell und wunderbar Menschen doch zusammengeführt werden! Gestern hatte sie Komtesse Isa noch nicht einmal gekannt und heute war sie schon Gast im Grafenhaus gewesen. Das Herrlichste bei allem aber war das Bewußtsein, den armen, traurigen Herrn Grafen durch die Aufheiterung seines Töchterchens so glücklich gemacht zu haben.

Am nächsten Morgen stand Veronika sehr früh auf und setzte sich gleich an ihr Tischchen, um das gestrige Erlebnis in einem langen, ausführlichen Briefe dem fernen Bruder zu berichten.

* * *

In dem Garten des Vaters Brahms blühten die Rosen in herrlicher Pracht. Es war eine schöne Zeit nicht bloß für die Natur draußen, auch für die Bewohner des Gartenhäuschens. Veronika war fast täglich Gast im Grafenschlosse drüben. Komtesse Isa nannte sie ihre liebe Freundin und der gute Graf hatte nichts dagegen, daß sich die beiden Mädchen mit dem vertraulichen Du ansprachen. Er war so glücklich über den wunderbar erheiternden Einfluß, den Veronika auf sein Töchterchen ausübte, daß er schon deswegen das Gärtnerskind gern in seinem Hause sah, andererseits aber erwarb sich Veronika durch ihr angenehmes, bescheidenes Benehmen, durch ihre große Gefälligkeit und durch ihre höflichen Umgangsformen die Herzen aller, die sie kannten. Veronikas Eltern waren sehr dankbar für des Grafen Güte, um so mehr, als auch ihrer Tochter die Zerstreuung, die Ablenkung von den sehnsuchtsvollen Gedanken an den fernen Bruder sehr wohl that. In demselben Maße, als das Blumenzimmer der verstorbenen Gräfin im Schlosse mit immer frischen, herrlichen Pflanzen aus dem Garten des Vaters Brahms versehen wurden, gingen die verschiedenartigsten zarten Gaben und Wohlthaten aus dem Schlosse in das Gärtnerhäuschen über.

Paul las mit Vergnügen die herzigen, lebhaften Berichte, die seine Schwester über das Leben daheim entwarf. Auch ihm ging es sehr gut. Die einzige Unzufriedenheit, die er empfand, war die mit sich selbst. Er fand immer, daß er nicht genug that sowohl in Bezug auf die Kunst, als auch hinsichtlich der Dankbarkeit gegen seinen Wohlthäter und der Gefälligkeit gegen seine Kollegen.

Nun stand ihm eine große Freude bevor. In München machte sich die stille Zeit der Sommerferien auch sehr bemerkbar. Meister Herbert hatte für seine Schüler Vakanz gemacht. Die Bemittelteren derselben hatten sich voll Reiselust in alle Winde zerstreut. Meister Herbert kündigte seinem Schützling eines Tages an, daß sie gleichfalls ihr Bündlein schnüren würden, um die Sommerlust hoch oben im Gebirge froh zu genießen. Die Malgerätschaften bildeten natürlich den Hauptinhalt dieser Reisebündlein. O, welche Freude für Paul, eine echte, rechte, künstlerische Studienreise unternehmen zu dürfen!

Es ging also nach dem Salzkammergute, jenem herrlichen Gebiete im Süden Oberösterreichs, das von Reisenden aller Nationalitäten besucht wird. Für Paul war alles neu und darum doppelt reizvoll und interessant. Wie glänzten des Jünglings Augen, als er den flachen Boden immer höher und höher ansteigen sah in seltsam geformten Gipfeln, bald grün und sanft gewölbt, bald starr, grau, zerrissen und zerklüftet. Auf der Fahrt nach Hallstadt am See, wo Halt gemacht werden sollte, sprach der Professor zu Paul: »Dort in dem Felsennestchen bin ich gut bekannt. Meine alte Walburga erwartet uns schon mit ihren netten Kämmerchen, denn ich komme seit Jahren so ziemlich um diese Zeit immer in Hallstadt an. Das Örtchen ist einerseits knapp am See, andererseits an die Felsenmassen des Ufers angeschmiegt. Eine wunderschöne Landschaft, du wirst gewiß nicht enttäuscht sein, Paul.«

Nein, das war Paul nicht, im Gegenteil, er fand alle seine Erwartungen bei weitem übertroffen. Ein herrlicher, tiefgrüner Wasserspiegel, von seltsam gestalteten Bergen umkränzt, spannte sich regungslos träumerisch unter dem blauen Himmel aus. In das Grün und Grau der Berge gleich lichten Schwalbennestchen eingefügt, stellten sich jenseits die Häuschen des Ortes dar. Die alte Walburga erwartete die beiden Reisenden in der Station, die sich Hallstadt gegenüber befindet und begrüßte mit fast jugendlicher Herzlichkeit ihren »lieben, guten Herrn Profescha«, und Paul machte sie gleich das aufrichtige Kompliment, daß er »soviel a liab's G'schau« habe und eine »Sanftigkeit in den Augen völli wie ein Engel«.

Unter vielem Bekomplimentieren und einem fortströmenden Wortschwall, der aber gar nicht lästig war, führte die gute Alte mit dem schwarzseidenen Sonntagskopftuch, sonst reinlich Blau in Blau gekleidet, ihre zwei »Loschiergäst'« nach dem schwerfälligen Fischerkahn, der sie, von einem jungen Alpler, »mei Schwesterkind«, wie Walburga sagte, gelenkt, nach Hallstadt hinüberbrachte. Nach der Landung führte Walburga die Ankömmlinge an der alten Kirche mit dem stillen Gottesacker vorbei. Nicht weit davon machte man Halt. Auf ausgetretenen Steintreppen aufwärts steigend, erreichte man ein kleines Häuschen, mit blitzblanken Fenstern gegen die Morgensonne. Die alte Walburga öffnete die Thür, indem sie versicherte, daß dies das gesündeste, sonnigste Haus in ganz Hallstadt sei, was auch der Wahrheit vollkommen entsprach, denn ein großer Nachteil Hallstadts ist sein Übermaß an Schatten, wodurch die meisten Häuser feucht und ungesund sind. Dieser Übelstand wird durch die Zucht der Brunnenkresse in den Häusern selbst verschlimmert, indem die Bewohner zu diesem Zwecke Wasserröhren in ihre Räume leiten.

Die Stübchen waren klein, rein, hell, obgleich nieder und dürftig eingerichtet. Nach einem festlichen Mittagessen, das die Wirtin mit bescheidenem Stolze auftrug, erquickte man sich durch eine kurze Siesta. Dann ging's gleich hinaus in den Wald und an den See. Mit lebhaftem Interesse sah Paul Barken, Schifflein und den kleinen Dampfer, der stolz die glatte Fläche furchte, draußen ziehen. Es war ein herrliches Bild: der See und der Ort in violettem und tiefblauem Schatten, während die Bergeszinnen in wunderbarem Purpur erglühten, noch von den Strahlen der bereits versunkenen Sonne getroffen. Golden war der Himmel umsäumt und hoch oben zog der stolze Adler seinem Horste zu. Ruhe, Ruhe, Friede überall. In stummem Entzücken, von Andacht und Ehrfurcht gegen den Schöpfer solcher Pracht überwältigt, stand Paul am Ufer. Ihm war's, als umgäben ihn die Mauern eines Gotteshauses, und ein inniges Gedenken seiner Lieben im Gebete zog durch seine Seele.

Daheim angelangt, schrieb er sogleich an die guten Eltern und sein treues Schwesterlein und legte dem Briefe Alpenvergißmeinnicht bei, die er in dem Gärtchen Walburgas gepflückt hatte.

Die folgenden Tage waren von dem besten Wetter begünstigt und wurden von Professor Herbert und seinem Schützling nicht nur zu weiten Streifzügen, sondern auch zu fleißigen Naturaufnahmen benützt. Mit Feuereifer malte Paul Alpenblumen und begann nach des Meisters Vorbild und unter seiner Leitung auch Landschaften und Menschengestalten, deren es hier so eigenartige gab, mit seinem Pinsel wiederzugeben. Der Professor führte Paul auch in das große Sudwerk zu Hallstadt. Die Arbeiter in demselben kannten ihn alle von früher her, denn er wählte sich mit Vorliebe unter den rauchgeschwärzten Gesellen, die, von Feuerschein bestrahlt, oft ungemein malerisch aussahen, ein Modell. Oft waren die Künstler tagelang fort, denn es wurden natürlich auch all die zahlreichen Seen der Umgegend besucht. Von den beiden Gosauseen, die in ziemlicher Entfernung von Hallstadt wie zwei blaue Perlen in der Gletscherfassung liegen, war Paul ganz entzückt. Wortlos arbeitete er eines Tages an dem Bilde dieses herrlichen Naturwunders, bis die lebhaften Tinten des Nachmittags in die fahleren des Abends übergingen. Der Professor lobte seine Arbeit, und man machte sich endlich auf den Heimweg. Paul war sehr lebhaft; bald lief er rechts, bald links, um eine schöne Blume zu pflücken oder ein glänzendes Gestein zu bewundern. Plötzlich in der Nähe eines Hauses, das die Stämme fast versteckten, war er ganz verschwunden.

»Wo er nur steckt?« murmelte der Professor. »Jetzt heißt's schon tüchtig ausschreiten, sonst kommt uns die Nacht zuvor.«

Wie er an dem Hause vorbeiwollte, das am Waldesrande jenseits des Weges lag, sah er Paul wie festgewurzelt dort neben der Hausbank stehen, auf welcher eine schmächtige Gestalt kauerte.

»Was ist denn dort los?«

»Meister, ich bitt' Euch, kommt, kommt, ich muß Euch etwas zeigen.«

Der Maler schritt hinüber. Vor dem Häuschen mit dem steinbeschwerten Dache hockte ein seltsames Geschöpf, das der Professor als einen Knaben mit einem hübschen Kopfe, aber krankhaft blassem Gesicht erkannte. Das Traurigste an dieser Gestalt aber war der Mangel an Armen. Die Ärmel seiner Lodenjoppe hingen schlaff herab; sein rechter Fuß aber war unbekleidet, und zwischen den Zehen desselben hielt er einen Pinsel, mit welchem ihn der Professor zu seinem größten Erstaunen malen sah. Mit traurigem Lächeln nickte der Krüppel, als der Fremde hinzutrat, der ihn sogleich freundlich ansprach.

»Bitte, Meister, verzeiht, daß ich Euch warten ließ, aber ich habe alles andere über diese Bilder vergessen.« Er reichte dem Professor die Blätter, die auf der Bank neben dem armen, jungen Geschöpfe lagen. Es waren Züge eines großen, urwüchsigen Talentes, die den Kenner daraus ansprachen. Jetzt trat eine dralle Bäuerin, noch ganz glühend von der Herdhitze, mit einer rußigen Pfanne in den Thürrahmen, da sie fremde Stimmen vernommen hatte. Als sie die vornehmen Fremden erblickte, wischte sie sich etwas verlegen die Rechte an der Schürze ab und bot sie treuherzig den Besuchern an. Dann brachte sie geschäftig reingescheuerte Holzstühle heraus, damit die Fremden bequem [beim] malen zusehen könnten.

»Ich dank' Euch, liebe Frau, aber wir müssen gleich weiter, sonst wird's finster.« Nachdem sie erfahren, daß sie noch bis nach Hallstadt wollten, gab sie nicht zu, diesen Weg zu einer Zeit, da kein Mondlicht war, fortzusetzen. Treuherzig und bieder stellte sie ihr ganzes Haus mit dem Besten, was darin war, den Fremden zur Verfügung mit dem Bemerken, daß gerade jetzt, da ihr Mann, ein Holzknecht, auch nachts auswärts blieb, Platz genug darin sei. Paul hätte über alles gern in der Holzknechthütte übernachtet und war sehr glücklich, als der Professor auf den Vorschlag der Bäuerin einging. Die gute Frau machte sich vor allem daran, ihnen die Malgerätschaften abzunehmen, die sie aber für »solchene neuhartige Photokrapfereien« und ihre Träger für »Photokrapfen« hielt. Dann ließ sie ihre Gäste bei ihrem Sohne zurück, der mit seiner unveränderlichen Ruhe und Emsigkeit weitergearbeitet hatte.

»Nun sag' uns, wie du heißt, mein Freund,« sprach gütig der Professor, »und auf welche Weise du zum Malen gekommen bist.«

»Mein Nam' is Sepp, Herr, und wie ich zum Malen 'kommen bin, das is eine eigene G'schicht. Secht's, es hat lang braucht, bis ich mir'n Fuß dazu g'wöhnt hab'. Früher, o, da is 's leichter 'gangen, wie ich noch meine zwei Händ' g'habt hab'.« Teilnahmsvoll sahen die Zuhörer auf den Jüngling, der seufzend innehielt. »Wenn ihr's hören wollt,« fuhr er dann einfach fort, »ich erzähl's euch gleich. Vor vier Jahren, ich war g'rad dreizehn Jahre alt, da hab'n wir bei Ischl drüben eine schöne, saubere Hütt'n g'habt, nit Stein, alles in Holz. Wir waren sehr glücklich d'rin, da ist's Unglück 'kommen über Nacht – der Vater war weg, und es hat ein rechts Blitzen und Donnern 'geben. Da auf einmal schlagt's wie ein Feuerbrand vom Himmel und mitten in uns're Hütt'n hinein. Ein furchtbar's Krachen und Poltern gleich d'rauf – die Mutter mit der Resei, mein' klein Schwesterl, lauft hinaus, und wie wir draußen stehen und uns're liebe Hütt'n ganz in Flammen ist, da ruft die Mutter: Um Gott's willen, Sepp, unser Geld, das Geld! Ich will durch's Fenster hinein, die Mutter reißt mich zurück, aber ich dring' doch ein, alles voll Rauch und Flammen, ich reiß' die Truhen auf, die brennende, von überall hat's Feuer an meinen Händen g'leckt, aber ich muß's haben, es war dem Vater sein sauer Erspart's, und ich klaub' alles in einen Beutel zusammen, meine Finger wollten's schier nicht mehr thun vor Schmerz, und ich stürz' hinaus und fall' ohne Besinnung vor die Mutter nieder. Von da an hab' ich lange Wochen nichts von mir g'wußt. Wie ich wieder aufg'wacht bin, war ich im Spital in Ischl, und wie ich schau' und schau' – hab' ich keine Arm'!« Der Krüppel hielt inne und fuhr dann leise fort, damit man ihn drinnen nicht höre. »O, da hab' ich g'weint, bis ich nimmer hab' können, denn jetzt war's ja vorbei mit dem Zeichnen und Malen, was ich so gern g'habt hab' von kleinauf. Die Arme waren so voll Brandwunden gewesen, daß der Doktor g'meint hat, sie müssen abg'nommen werden, heilen kann's nicht mehr. Ich hab' noch viele Schmerzen g'habt, aber die Mutter durft' nichts merken, wie ich mich kränk', und wie sie mich besuchen kommen, der Vater auch und die Resei, da haben's mich alle abgeküßt und gethan, als hätt' ich was Engelhaftes für sie vollbracht, 's war doch meine Pflicht, auch für jeden Fremden hätt' ich's thun müssen, jetzt erst für die Eltern! Mit dem geretteten Geld hat sich mein Vater das steinerne Haus hier baut und hat langsam wieder was erwirtschaftet. Ich hab' mir's Malen aber nicht aus'm Kopf schlagen können. In Ischl drin hab' ich wieder alle Zug'hör gekauft und hab's probiert und immer wieder probiert mit dem rechten Fuß, bis ich's endlich zustand 'bracht hab'.« Bei den letzten Worten Sepps war die Bäuerin in die Thür getreten und rief bedauernd:

»Ja und so plagt er sich halt tagaus, tagein, wir sind arme Leut' und können ihn nix lernen lassen. Ich weiß, mei Seppl, du beklagst dich nimmer, aber nach der Stadt und den Malern steht dein Sinn.«

»So, so,« sprach der Professor freundlich lächelnd, »die Stadt ist freilich sehr weit, aber was die Maler betrifft, so stehen eben jetzt zwei vor dem Sepp –«

»Herr!« rief Sepp, und eine helle Röte übergoß sein Antlitz, »ich freue mich so, daß endlich mein Wunsch in Erfüllung 'gangen ist, und ich wirkliche Maler vor mir seh', solche wie Raphael, von dem in meinem Buch steht –«

»O Seppl,« fiel Paul ein, »der Meister schon, aber ich!«

»Doch ich schäm' mich,« fuhr er fort. »Ihr werdet's recht verstehen, wie armselig meine Pinseleien sind.«

»Maler sind die Herrn!« rief die Bäuerin. »Und ich hab' sie für Photokrapfen g'halten. Da schau', wie sich einer täuschen kann!«

»Mein lieber Sepp,« sprach der Professor, »du brauchst dich gar nicht zu schämen. Ein Bursch, der schon sein Leben für die Eltern gewagt und dann so mutig gearbeitet hat, den acht' ich.«

»Aber da kommt die Eierspeis, meine Herrn.«

Die Resei, ein niedliches, blondzöpfiges Dirnchen, erschien mit zwei Schüsseln in der Hand, die sie, verschämt grüßend, niederstellte. »Gesegn's Gott!« sprachen freundlich die guten Menschen, als die beiden Fremdlinge sich zum Essen setzten. Seppl durfte inzwischen die Mappe des Professors öffnen und bewunderte mit Entzücken dessen Inhalt, obschon es bereits dämmerig wurde.

Nach einem Stündchen fröhlichen Geplauders in der Abendkühle, nahmen die beiden Fremden teil an dem gemeinschaftlichen Abendgebete der Familie, worauf sie ihre Ruhestätten in der Holzknechthütte aufsuchten. Paul konnte trotz seiner Müdigkeit keinen Schlaf finden. Das Schicksal des armen Sepp bewegte ihn innig. Gleichzeitig schämte er sich vor sich selbst, wie er die selbstgeschaffenen Leiden seiner ersten Reise nach München mit den tapfer erduldeten, hoffnungslosen Mühseligkeiten Sepps verglich. »Was ich thue, und wäre ich noch so fleißig, ist nichts im Vergleiche mit diesem armen Krüppel, der so ausdauernd ist und doch so schwere Arbeit hat. O, wenn ihm nur geholfen werden könnte!«

Er grübelte hin und her; endlich legte er die Sache in einem herzlichen Gebete der Güte des allmächtigen Vaters im Himmel anheim und schlief ein. Am nächsten Morgen war Paul noch immer sehr nachdenklich, so daß der Professor fragte: »Nun, mein Junge, was ist's denn, das dich an diesem herrlichen Morgen so kopfhängerisch macht?«

»O Meister,« erwiderte Paul, »mir thut Sepp so leid.« Er hätte so gern hinzugefügt: »Nehmen wir ihn doch mit uns nach München, damit auch er sich ausbilden könne.« Aber er schwieg schüchtern. Man brauchte jedoch nur in seine Augen zu sehen, um seine Gedanken zu erraten; dies that der Professor auch und freute sich, denselben Gedanken, den er über Nacht in seinem Herzen zum Plane hatte ausreifen lassen, auch über Paul herrschen zu sehen. »Der Meister, denkst du,« begann er scherzend, »hat ein Herz von Stein, daß er nicht endlich ein Anzeichen des Wunsches kundgiebt, dem armen Sepp zu helfen. Siehst du, mein Junge, bei mir ist es so, bis es nicht fest beschlossen ist, rede ich gar nichts, dann aber sage ich das Ganze frei heraus: ›Ja, der Sepp kommt mit uns und wird Maler‹.«

»Du gütiger Himmel!« rief's da von der Thüre her; es war die Stimme der Bäuerin, die eben mit dem Frühstück eintrat und des Professors letzte Worte gehört hatte. Dann aber ward ihr Gesicht plötzlich wehmütig: »Scherzt nicht, Herr, ich bitt', der Sepp könnt's hören, und so was drückt ihm's Herz ab.«

»Wer sagt Euch, daß ich scherze, Mutter,« rief der Professor, »mein voller Ernst, so wahr ich vor Euch stehe. Jetzt brauche ich nur noch Euere Einwilligung. Ihr kennt mich nicht, das ist wahr; aber fragt nur bei der Walburga Untersberger in Hallstadt nach, die kennt mich lange Jahre. Vertraut mir nur, die Zukunft wird Euch lehren, daß ich's gut meine mit Euerem Sohn.«

»Herr, davon ist die Red' nit; ich Euch nicht vertrauen? In Euerem Aug' is kein bißerl Falsch. Aber die Freud', o, mein Gott, das Glück!« Sie stand noch immer mit den Kannen in der Hand da und schien gar nicht zu wissen vor seliger Verwirrung, was sie thun sollte. Paul nahm ihr die Kannen ab und setzte sie auf den Tisch und klatschte in die Hände: »Hurra, wie ich mich erst freue!«

»Schickt uns den Sepp herüber, er soll mit uns frühstücken.«

»Herr,« stammelte jetzt ganz verlegen die Bäuerin, »g'rad, weil Ihr das sagt – nein, 's wird nicht gehen, der Sepp bringt's nicht über sich, der wird sich zuviel schämen – Herr, denkt doch – ich bin die unglücklichste Mutter – er hat ja keine Händ', er kann nicht allein essen. Dort bei Euch hat er dann kein Mutterl, das ihn füttert, und dann das Aufsehen dort in der Stadt für euch, Herrensleut'. O Gott, Gott, so viel Glück und so viel Unglück bei einander!«

Die arme Frau drückte die nassen Augen in die Schürze. Paul war einen Augenblick starr vor Bestürzung, er sah zu seinem Meister auf. Gottlob, in dessen Augen blitzte es hoffnungsverheißend!

»Wenn weiter nichts ist, meine liebe Frau, da kennt Ihr meinen Paul schlecht, wenn Ihr glaubt, daß er und ich dem Sepp das Mutterl nicht ersetzen könnten, auch beim Essen.«

»O,« rief Paul, »ich will dem Sepp helfen, wo und wie ich nur kann.«

Unter Thränen lächelnd, keines Dankeswortes mehr fähig, ging die Bäuerin hinaus, um Sepp zu rufen. Es war der glücklichste Morgen seit vielen Jahren für den armen Krüppel. Er fühlte wohl jetzt im Angesichte der sich ihm eröffnenden Zukunft in der unbekannten Fremde doppelt bitter seine Hilflosigkeit, seine auffallende Mißgestalt; aber die Liebe zur Kunst, die Dankbarkeit gegen seinen selbstlosen Wohlthäter, sein Wunsch, seinen Eltern einmal eine Stütze durch sein Talent zu werden, siegten über die Empfindlichkeit, die sich auch in seinem weichen, bescheidenen Gemüte regte. Er dankte unter Thränen und tröstete die kleine Resei, die sich ganz erschreckt und nur halb verstehend, um was es sich handle, hinter dem Rocke der Mutter verbarg.

Dieses Wanderabenteuer blieb natürlich ein bedeutendes Ereignis für Paul, der es sofort nach der Ankunft in Hallstadt mit den lebhaftesten Farben der alten Walburga berichtete.

»Mei, seid's Enk a gute Seel', Herr Profescha – ja, ja i kenn's die Leut', sei'n immer eine rechtschaffene Familie g'wesen, nix zu sagen. Na, man wird ja sehen, wie sich der Seppl macht.«

»Der, ich sag' Euch's, Walburga, hat etwas in seinem rechten Fuß, was mancher andere nicht im kleinen Finger der rechten Hand hat.« Pauls Augen blitzten freudig auf bei diesem Urteile des Meisters.

»Und mein Junge,« dachte dieser voll Befriedigung in seinem Herzen, »hat eine Eigenschaft, die wenig Menschen haben, gar keinen Neid, keinen kleinlichen Ehrgeiz und nicht einen Funken Eifersucht, sonst würde ihm jetzt um seinen Ehrenplatz bei mir bang sein, und er würde dem armen Krüppel nicht solch ein herzlich teilnehmendes, wahrhaft wohlwollendes Herz entgegenbringen. Gott segne den bescheidenen, selbstlosen Jungen!« – –

Kurze Zeit nachher unternahm der Professor mit seinem Schützling die Besteigung eines Gletschers, ein Versprechen, das er Paul schon in München gegeben, erfüllend. Der Knabe brannte vor Erwartung, die Eisregion zu betreten. An einem schönen Nachmittage brach man von Hallstadt auf, mit nägelbeschlagenen Schuhen und Bergstöcken versehen, und machte nach zweistündigem Marsch ins Gebirge Rast in einer hochgelegenen Sennhütte.

Zwischen den Wanderblöcken auf der duftigen Matte sitzend, zog Paul den Brief, den er an demselben Tage von Veronika erhalten hatte, aus der Tasche, um ihn nochmals zu überlesen. »Ich bin jetzt recht einsam,« hieß es unter anderem darin, »meine liebe Isa ist ja seit drei Wochen verreist. Sie ist auch im Salzkammergute. Weißt du, Paul, ich will ihr nächstens schreiben, daß sie doch auch nach Hallstadt gingen, um dich aufzusuchen.«

»Das wäre recht,« dachte Paul, indem er den Brief zusammenfaltete, »da müßte sie mir viel von Veronika erzählen.«

»Paul,« rief der Professor von der Sennhütte herüber, wo die Bäuerin mit dem Abendmelken ihrer Ziegen beschäftigt war, »komm', wir wollen uns jetzt noch mit ein paar Schluck Milch und einigen Honigbroten stärken, dann gehen wir schlafen, denn um Mitternacht wird der Führer zum Aufbruch bereit sein.«

Sogleich gehorchte Paul, obwohl es ihm leid that, von dem herrlichen Abendfrieden der Natur Abschied zu nehmen. Um 7 Uhr lagen die zwei Bergsteiger schon auf dem Heuboden und schliefen trotz der ungewohnten Lagerstätte ruhig und fest. Um halb 12 Uhr pumperte die Amrei unten mit ihren Kübeln und Kesseln auf das beste, so daß die zwei Schläfer ganz erschreckt auffuhren. Bei der Dachluke floß das wunderbare Licht des Vollmondes herein.

Nach einer halben Stunde nahmen die beiden Touristen mit kräftigem Händeschütteln Abschied von der Marei und schritten mit ihrem Führer Loisl, einem hageren, großen Manne mit einer langen Spielhahnfeder auf dem grünen Hute, in die stille Nacht hinaus. Paul sah entzückt um sich. In tiefem Schweigen lagen die hellen Matten und die dunklen Höhen da. Der Himmel glänzte in wunderbarer Bläue, und wie eine Kugel aus reinstem Silber schwebte der Mond über den fleckenlos weißen Firnen, deren faltiger Eismantel in tausend Farben glitzerte. Kein Laut ringsum, als das Murmeln eines klaren Bächleins und hie und da ein leises Knacken in den Büschen. Herrlich klar war die Luft; es ging sich, als hätte man Flügel. Paul schritt schweigend vorwärts, er war zu bewegt, um sprechen zu können, und je höher man stieg, desto prachtvoller ward der Blick hinab in das mondbeglänzte, schlummernde Thal.

Plötzlich fiel ein Schuß durch die Stille. »Herrgott!« rief der Führer, »das war dort im Wald – ein Wilderer sicherlich. Mein Freund, Wandl, der Jäger von drüben, is einem auf der Spur die letzten Tag. 's ist eine Bande das!« Und nun war er im richtigen Fahrwasser, der sonst so schweigsame Älpler, und begann über das Wildererwesen, das Leben und Treiben der Bevölkerung hierzulande, und sogar die Berg- und Gletschermärchen seiner Heimat zu erzählen, was dem phantasievollen Paul ungemein gefiel.

Der Weg wurde nach und nach sehr beschwerlich; es ging ganz steil aufwärts; über Geröll und ausgetrocknete, furchige Wasserbetten, dann über Felsen, und endlich fühlte der Fuß Schnee unter der Sohle knirschen. Man mußte die Schneeschuhe anlegen und vorwärts schreiten dem sicheren Führer nach, bis endlich Stellen kamen, die nicht anders zu passieren waren, als daß Loisl Stufen in das Eis hackte. Die drei Bergsteiger waren jetzt mit Seilen aneinandergebunden, und oft galt es, tiefe Klüfte und Spalten zu überspringen. Es war empfindlich kalt, aber unbeschreiblich herrlich hoch oben in der glitzernden Einsamkeit. In den seltsamsten Formen türmten sich die Eisblöcke den Wanderern entgegen, und etwas wie Morgenwind zog aus Osten herüber, wo sich der Himmel lebhaft zu röten begann.

»Da sind wir!« sprach Loisl, als man auf einem Eisplateau stand, von welchem aus man plötzlich eine wunderbare Fernsicht über Thäler und Höhen des Umkreises hatte. Unweit von dem Gipfel des Gletschers war aus Backsteinen eine Schutzhütte errichtet. Die drei Wanderer jedoch suchten diese nicht auf, sondern warteten, fest in ihre Mäntel gewickelt, auf die ersten Sonnenstrahlen. Da zuckte und flammte es am östlichen Horizont – die Sterne waren verblichen, der Mond ward blaß, und plötzlich lag ein goldener Streifen über dem Thale. Da begann's zu glühen und zu leuchten im Umkreise, der Nebel zerriß, der sich in weißen Schleiern tief unten gesammelt hatte, und die Gletscherwelt ringsum flimmerte so überwältigend schön, in so reiner, erhabener Pracht, daß Paul sein Herz zittern und seine Augen überströmen fühlte. Noch niemals hatte er sein Morgengebet so andächtig verrichtet, als hier in diesem Dome von Eis. Der hier empfangene Eindruck blieb Paul unvergeßlich. Er hätte stundenlang an diesem Platze stehen mögen, um immer wieder die neuen Schönheiten zu bewundern, mit welchen die steigende Sonne die Landschaft schmückte. Meister Herbert aber sprach: »Mein lieber, junger Schwärmer, jetzt heißt es auch an den Magen denken; wir sind nüchtern seit Mitternacht und rechtschaffen müde. Komm' nur mit ins Schutzhaus.«

Dort aß und trank man, endlich legte man sich zur Rast auf die Mäntel nieder, und Paul verfiel trotz aller Begeisterung für die Natur in den festen, gesunden Schlaf der Jugend. Nach zwei Stunden etwa wurde er geweckt und Loisl kommandierte zum Rückzug. »Die hohe Sonne darf uns nicht auf den Firnen überraschen, da ging 's uns schlecht.«

Hei, wie lustig glitt sich's auf dem blanken Eisen der Schuhe abwärts! Einmal nur machte man Halt, denn Paul hatte eine herrliche weiße Blume mit einem roten Tropfen im Kelche erspäht; die mußte er haben. Eine Eisranunkel war's: »Die wird gepreßt und der Veronika geschickt,« dachte Paul natürlich sofort. Glücklich und ohne Unfall gelangte man über die Eisregion. Auf die Bergstöcke gestützt, von Felsblock zu Felsblock springend, erreichte man rasch eine Gebirgsherberge, wo sich's auf der schattigen Veranda herrlich saß nach dem tüchtigen Marsche. Von Fremden war niemand da, als ein Herr und ein junges Mädchen, die aber nicht touristenmäßig, sondern in elegante, ganz schwarze Gewänder gekleidet waren. Da sie an dem Nebentische saßen, entwickelte sich nach dem Gruße bald ein Gespräch über die Gegend und den schönen Tag: Paul fiel die Trauerkleidung und der Name Isa auf, mit dem der Herr das Mädchen ansprach. Plötzlich sagte dieses: »O Papa, wenn doch Veronika hier wäre, wie sehr würde ihr alles gefallen!«

Paul war starr vor Überraschung. »Veronika!« rief er, »so heißt ja meine Schwester in Erfurt!«

»Erfurt, Erfurt!« rief das Mädchen zurück, »da wohnen wir ja, und Veronika ist – sind Sie vielleicht Paul? Wirklich? Ja? O, das ist zu nett, das ist einzig! Papa, Veronikas Paul, denke dir. Wir wollten von hier aus nach Hallstadt und nun finden wir Paul hier. Nein, so plötzlich, das werd' ich nie fassen!«

»Ich habe die Ehre mit Herrn Grafen Coronini?«

»Herr Professor Herbert Willmers?«

Während die Herren sich nun in ein lebhaftes Gespräch miteinander einließen, war die Jugend auch rasch befreundet: »O, Komtesse,« rief Paul, »wieviel mir Veronika schon von Ihnen schrieb! Bitte, erzählen Sie mir von ihr. Was macht sie, wie sieht sie aus?«

»Sehr gut, immer munter, lieb, gut, herzig, süß,« erwiderte voll Zärtlichkeit Isa. »Und was ich ihr verdanke, Sie wissen ja –«

Paul nickte: »Alles, und Sie ist Ihnen wieder so dankbar; sie schreibt mir immer, wie gern sie im Schlosse ist.«

»Ach, meine, Ihre Veronika ist auch einzig!« begann Isa wieder. »Solch ein süßes Herzchen und dann die roten Bäckchen, die lieben Augen und die dunklen Zöpfe!« Isa hätte sie beinahe vom Scheitel bis zur Sohle beschrieben in der gehobenen Stimmung des Augenblicks, ganz vergessend, daß ja Paul seine Schwester am besten kannte.

»Ich beneide Sie, daß Sie Ihr Bruder sind. Nicht wahr, Freundin ist weniger? Oder glauben Sie, daß Veronika mich auch sehr lieb hat?«

»Sehr lieb,« erwiderte Paul mit vollster Überzeugung, »in ihren Briefen hat mir's Veronika vielmal geschrieben.«

So wurde geplaudert und dabei tapfer dem frischen Salat und dem duftenden Rostbraten zugesprochen. Da sowohl der Graf als auch Professor Willmers beschloß, hier zu übernachten, hatte man bis Abend Zeit zum Plaudern, welche Gelegenheit besonders von der Jugend weidlich ausgenützt wurde. »Nicht wahr, Papa, wir fahren morgen zusammen nach Hallstadt?« fragte Isa, um sich dieser großen Freude gleich zu versichern.

»Gewiß, mein Kind, wenn Professor Willmers damit einverstanden ist.«

»Mit Vergnügen, Herr Graf.«

»Also hören Sie, Paul, wir telegraphieren gleich von Hallstadt aus an Veronika, wo und wie wir bekannt wurden. O, Veronika wird überrascht sein!«

»Und wir bleiben dann zwei Wochen in Hallstadt,« sprach der Graf zu seinem Töchterchen, die vor lebhafter Freude in die Hände klatschte. –

Als man nach Hallstadt zurückgekehrt war, fand man Walburga von einem schweren Schlage gebeugt. Sie war in Thränen aufgelöst, und aus ihrem verworrenen, von Schluchzen unterbrochenen Berichte verstand man endlich so viel, daß ihr Schwesterkind, der junge Schiffer, beim Wildern ertappt und vom Jäger Wandl im Gebirge drüben niedergeschossen worden sei. Das war also jener Schuß in stiller Nacht gewesen! »O Gott, die Schand', ein Wilderer!« rief sie ein über das andere Mal aus. »Und ich hab' kein Sterbenswörtel davon g'wußt. Hätt' ich's geahnt, alles hätt' ich gethan, um ihm das Wildern aus dem Sinn zu schlagen. Nun ist's aus – alles aus – so blutjung und drin liegt er bei mir mit der Kugel im Herzen!«

Paul war erschüttert über den Jammer der armen Alten und er fühlte so recht, daß Freud' und Leid im Menschenleben so nahe stehen, wie Rose und Dorn am Strauch – der eine jauchzt auf, der andere schluchzt, und über allen herrscht ein ewiger Vater, mit der Bestimmung, daß nur die Leiden wahrhaft bitter seien, die einer bösen That entspringen.

* * *

Es war Herbst, und in der gemütlichen Stadt München wogte wieder reges Leben. Die Wohnung des Professors hatte Neuerungen erfahren, zu denen die alte Susanne sehr bedenklich das Haupt schüttelte – es war ein zweites Zimmer für einen Fremden eingerichtet worden und dieser, – nun mit einem Worte, Paul war gegen diesen ein wahrer Fürstensohn an Abkunft und Schönheit. Ein aufgelesener Bauer war's ja und – ohne Hände, und der sollte nun auch ihr Hausgenosse sein, es war einfach unbegreiflich. In ängstlicher Zurückhaltung ging sie dem kleinen, blassen, verkrüppelten Wesen aus dem Wege, und wenn's nicht »ihr Professor« sagte, daß in dem ein Maler stecke, das hätte sie nimmermehr geglaubt. Nun war's aber doch so und es blieb nichts anderes übrig, als sich an seine Gegenwart zu gewöhnen. Für Paul erschloß die Nähe dieses armen, hilflosen und doch in seiner Art so geschickten Genossen eine neue Welt. Grenzenloses Mitleid mit dem Krüppel erfüllte sein weiches Herz. Was er ihm an den Augen absehen konnte, das that er für ihn von seinem ersten Augenaufschlag des Morgens bis zu seinem letzten am Abend. Er war seine rechte Hand und that alles so gern, mit so aufrichtiger, stiller Hingabe, daß Meister Herberts Herz immer inniger diesem edlen Jüngling entgegenschlug. Seit seiner Rückkehr aus Hallstadt malte Paul nur hin und wieder drüben in dem allgemeinen Atelier. Fast immer leistete er Sepp, der stets in dem Zimmer des Professors arbeitete, Gesellschaft. O, er hätte so gern noch viel, viel mehr gethan, um doch einmal ein Lächeln auf dem blassen Gesichte Sepps zu sehen. Doch dies geschah nie. Unendliche Dankbarkeit sprach aus des Krüppels Augen; Zufriedenheit, Freude, wie Paul sie daheim in seinem Antlitze gelesen, nie. Wenn er nicht arbeitete, saß er wortlos da und blickte mit großen, sehnsuchtsvollen Augen träumend in die Ferne, und dann glänzte wohl auf seiner Wange manchmal eine Thräne. Paul glaubte ihre Veranlassung zu erraten, er hatte selbst einmal ähnliche Thränen geweint, die Thränen quälenden Heimwehs.

»Sepp, guter, lieber Sepp,« bat er innig eines Abends, als sie, auf die Rückkehr des Meisters wartend, allein im Speisezimmer saßen, und wieder tiefes Weh über seinen Genossen gekommen war, »sag' mir's einmal, was dich immer quält, vielleicht kann ich dir doch helfen oder der Meister.«

»Nein, nein, das könnt's nit; das versteht keiner, der nicht in den Bergen geboren ist. Wie viel besser hab' ich's jetzt als früher, kann malen, meine höchste Herzensfreud' und doch, o, wenn die Wolken so ziehen, da möcht' ich mit, fort, fort, bis sie über die grünen Matten streifen und mich dort niederlegen, wo die Herden läuten thun, und uns're Berg' so vertraulich schau'n, als wenn's sagen wollten: So bist endlich wieder da!«

»Fort möchtest du also, Sepp, und mich allein lassen – o, da weißt du nicht, wie lieb ich dich hab', du willst nicht mein Freund sein.«

»Ich, dein Freund?« rief ganz erschrocken der andere. »Ich trau' mich kaum's ›Du‹ sagen. Ich der Krüppel ohne Arm mit dem grauen Gesicht, so ein rechter ›Patsch‹, wie's bei uns für einen ungeschickten Menschen sagen – du groß, stark, mit roten Wangen und glänzenden Augen, weißt, dir sagen alle Leut' nach: ›Ist das ein schöner Bursch!‹ Mich freut's herzlich, und schön wär's, wunderschön, wenn's du mich ein bisserl lieb haben könnt'st; o, gut bist du sonst immer zu mir, so viel gut; aber ich bitt' dich, thu' nicht scherzen, Paul, du weißt nicht, wie weh das thut.«

»Scherzen!« rief Paul in edler Entrüstung. »Sepp! wie du bist, so hab' ich dich lieb. Das ist mir ein schöner Freund, dem's Äußere alles ist. Wenn du einmal weißt, daß ich dein Freund bin, vielleicht wird dann das Weh nach deinen Bergen besser.« – – –

– – – Weißer, kalter Winter war ins Land gezogen. Die Weihnachtswoche kam mit ihrer Weihe, ihrer seligen Unruhe und ihrer lustigen Geheimnisthuerei. Paul hatte, nachdem man schon am 21. Dezember in fröhlicher Gemeinschaft zu dreien Christbaum angezündet hatte in des Professors Heim, herzlichen Abschied genommen und befand sich auf der Reise nach Erfurt. Ein wahrer Jubelsturm erhob sich in seinem Herzen, als der Zug in die Bahnhofshalle einfuhr; dort am Perron – er traute seinen Augen kaum – stand neben Veronika Komtesse Isa. Das war ein Wiedersehen! Veronika weinte ganz ernstlich vor Freude, und Comtesse Isa mußte all ihre Spaßhaftigkeit aufbieten, um der allgemeinen Rührung Herr zu werden. Und der Vater und die Mutter, wie innig sie ihren lieben Paul, ihren großgewordenen, blühenden Sohn an das Herz schlossen! Ambo, der treue Haushund, sprang mit Freudengeheul an ihm empor.

Am 23. wurde eine schöne, trauliche Bescherung im Gärtnerhäuschen gefeiert und am 24. eine glänzende im Schlosse oben, wo für Paul und Veronika reiche Geschenke unter dem Christbaum lagen; denn Paul hatte die Sympathie, die Veronika in der gräflichen Familie schon besaß, schnell und sicher auch für sich erobert.

Acht Tage sollte nun Paul im Vaterhause verbringen. Man hatte sich so viel zu erzählen, Veronika hatte ihrem Bruder so unzählige Dinge zu zeigen, so viel zu fragen, daß die Stunden mit Windeseile verstrichen.

»Heute, Paul,« sprach sie eines Tages, »mußt du mich zu meinem armen, alten Sebastian begleiten. O, es ist zu traurig, du wirst sehen! Er ist über sechzig Jahre alt und, denke dir, so krank. Mager ist er, ich kann's nicht sagen wie, seine armen Augen sind ganz entzündet und, was das Schrecklichste ist, sein Gesicht und seine Hände sind ganz grüngelb und blau angelaufen.«

»O, der arme, arme Mann!« rief Paul.

»Seine Geschichte ist sehr traurig,« begann der Vater. »Ich lernte ihn erst vergangenen Herbst zufällig kennen, das heißt durch Gottes Fügung, als ich in dem großen Garten des Fabrikherrn Pottschacher, dessen Gärtner eben krank war, die Wintervorbereitungen leitete. Da kam ich in ein Hinterhaus neben der Fabrik. Plötzlich trat mir aus einem Thürrahmen die Gestalt, die Veronika eben beschrieb, entgegen. Ich erschrak über dieses Bild des Jammers. Mit hohler Stimme gab mir der bedauernswerte Mann die Auskunft um die ich fragte, und da ich auf den Fabrikherrn warten mußte, lud er mich freundlich ein, in seinem Zimmer Platz zu nehmen. Wie wir so ins Gespräch kamen, erzählte er mir, daß er als rüstiger Mann in die Dienste des früheren Fabrikherrn getreten und dreißig Jahre lang teils bei diesem, teils bei seinem Sohne, dem jetzigen Besitzer, gearbeitet habe. Eines Tages fand er beim Umgraben einen leblosen Frosch, halb in die Erde gestampft. Er hob ihn auf, um ihn über den Zaun zu werfen, und arbeitete weiter. Am Abend schwoll ein Finger der rechten Hand, mit welcher er den Frosch berührt hatte, hoch auf. Er achtete nicht darauf, aber bald wurde der Schmerz so fürchterlich, daß er sich legen mußte; der Arzt untersuchte den Finger genau und fand einen kleinen Riß, durch welchen Leichengift ins Blut gedrungen war. Der Finger wurde abgenommen, und die Gefahr schien beseitigt; aber Sebastian konnte sich seit jener Operation nicht mehr erholen. Er hatte alle Kraft verloren, und bald machten sich Anzeichen davon geltend, daß noch Gift in seinem Körper geblieben sei. Seine Hautfarbe wurde fahl, dann bläulich, zuletzt grün, und trotz alledem arbeitete der arme Mann unverdrossen und emsig weiter, um sein Weib und seine Kinder zu ernähren. Der Fabrikherr ist leider ein strenger, kalter Mann, er that als bemerkte er die Fortschritte der Krankheit nicht, denn er konnte nicht so leicht einen Ersatz für seinen Sebastian finden. Endlich drang der Arzt darauf, daß der Kranke seinen Beruf aufgebe und, wenn er sich erhalten wolle, seiner Erholung lebe. Mit großem Unwillen gab ihn der Fabrikherr frei, aber von diesem Tage an hörte alle Bezahlung auf, und er glaubte wohl noch ein besonderes gutes Werk zu thun, daß er seinen langjährigen, so schwer kranken Gärtner eine feuchte kleine Wohnung für 20 Mark monatliche Bezahlung überließ. Ein reicher Fabrikherr! Der arme Alternde, dessen Kinder mittlerweile gestorben waren, fühlte sich tief gekränkt über diese Herzlosigkeit seines Herrn. Nun sind sie seit langer Zeit auf den Erwerb angewiesen, den die Frau als Wäscherin hat. Die Krankheit verschlimmert sich zusehends in der feuchten Wohnung. Teuere Kuren wären notwendig gewesen, um den letzten Rest der Lebenskraft zu retten; nun siecht er hoffnungslos hin. Der Herr Graf Coronini hat ihm eine andere gesunde Wohnung gemietet, die er vom neuen Jahre an beziehen soll. Wir thun für ihn, was wir können. Veronika bringt ihm täglich frische Milch und andere Nahrungsmittel und zerstreut den armen Leidenden. Sie ist mein gutes Kind und hat mir auch versprochen, immer sehr vorsichtig zu sein mit der Berührung des Kranken. Sonst ist sein Leiden nicht ansteckend.«

Paul war sehr bewegt, als der Vater die traurige Erzählung beendet hatte. Veronika war bereit, und so begaben sich die Geschwister gleich zu Sebastian. Der Anblick des Kranken, der auf einem unbequemen Sessel saß mit müde gefalteten Händen, erschütterte Pauls Herz heftig.

»Mein Gott!« rief Sebastian mit seiner hohlen, matten Stimme, »heute bekomm' ich gar doppelten Besuch, dein Bruder, Veronika, dein lieber Bruder, von dem du mir so viel erzählt hast. Gott segne dich, Jung'! Bald werd' ich oben sein im Himmel und für euch beide, ihr guten, guten Kinder, beten.«

»Sprecht nicht vom Sterben, Vater Sebastian,« rief Paul, der kaum die Thränen bezwingen konnte, »gesund sollt Ihr werden und draußen spazieren gehen, wenn's Frühling wird.«

»Wenn's Frühling wird, ja vielleicht wird's dann nicht mehr so weh thun hier in der Brust, im Kopfe und in den Augen, im Rücken.«

»Ich bring' Euch Milch, Vater Sebastian,« rief Veronika, »und einen schönen Kuchen hat die Mutter für Euch gebacken. Wann kommt doch die Frau Josephine? Dies Stück Fleisch soll sie heute abend für Euch braten.«

»Du meine Güte!« rief der Kranke, »was sind die Menschen gut! Gott segn' es Euch!« »Gott vergelt's!« rief's im selben Augenblicke von der Thüre her, in welcher Frau Josephine erschien, eine blasse, runzelige Alte mit schneeweißem Haar und gekrümmtem Rücken, welche die Vorräte auf dem Tische sogleich bemerkte. »O, die beiden Kinderchen. Dein Bruder, nicht wahr, Veronika? Und was das fein aussieht da auf dem Tische!« Es war ein gemütliches Frauchen, trotz all des Kummers, den sie erlebt, noch so heiter und so rührig.

Als die Geschwister wieder Abschied nahmen und nach Hause zurückkehrten, meinte Paul: »Einen Lehnstuhl muß er haben. Ich will eigens ein Bild für ihn malen. Wenn ich mich sehr zusammennehme, wird's vielleicht so, daß es der Meister gut verkaufen kann.«

»Mein lieber Paul,« erwiderte die Schwester, »dies Geschenk hat Isa sich schon für ihn ausgedacht und auch gekauft. Jetzt am 30. Dezember, seinem Geburtstage, bekommt er's.«

»Nun, so denk' ich mir etwas anderes aus,« beharrte Paul und begann gleich zu grübeln, »so oft ich kann, will ich etwas für ihn thun.«

Ins Schloß hinauf mußte Paul auch fast jeden Tag. Isa hatte ihm zum Zeichen ihres großen Vertrauens das Miniaturbild ihrer unvergeßlichen Mama im Medaillon gezeigt und sogar geliehen, als er den Wunsch aussprach, eine Skizze davon für sich zu entwerfen.

So lief der achttägige Urlaub ab. Nach einem herzlichen Abschied von den lieben Seinen, von den gräflichen Freunden, von Sebastian und Frau Josephine, hatte er sich wieder nach München zurückbegeben, wo sein Meister und Sepp ihn mit Freuden empfingen.

* * *

Jahre waren vergangen. Paul war ein stattlicher, junger Mann geworden und ein Maler, dessen Bilder gefeiert waren bei Bekannten und Fremden. Er lebte jetzt teils bei seinem lieben Meister und Sepp in München, teils bei den Seinen daheim; doch brauchte er weder da noch dort erhalten zu werden. Er arbeitet für seinen eigenen Lebensunterhalt. Der Meister ist tief ergraut, und in seine Züge hat das zunehmende Alter merkliche Furchen gegraben. Sepp dagegen hat sich wenig verändert, klein, zart, blaß ist er geblieben; man sieht es ihm nicht an, daß er um ein Jahr älter ist, als der jugendkräftige Paul. Aber seiner Kleidung, seiner Sprache, seinem Benehmen nach ist er ein Städter geworden. Über die wunderbaren Gestalten seines Pinsels staunt die Welt, ohne den verborgenen, still zurückgezogenen Schöpfer all der Formen und Farbenpracht zu kennen.

Es war an einem schönen Frühlingstage, als der Meister und Joseph erwartungsvoll im Empfangszimmer saßen. Paul hatte sich brieflich von Erfurt aus angesagt und mußte jeden Moment eintreten. Da öffnete sich die Thür; die alte Susanne, die auch noch lebte und noch eben solch tadellos weiße Häubchen trug, wie ehemals, steckte den Kopf herein. »Herr Paul Brahms!«

»Herein! Herein! Paul, Junge! Grüß Gott!«

»Grüß Gott, Meister! Joseph, wie geht's? Lange haben wir uns nicht gesehen.«

»Ein halbes Jahr, ja,« sprach der Professor. »Nun kommt, wir setzen uns, du wirst ordentlich durchgerüttelt sein, Paul; du siehst eigentlich blaß aus, das hab' ich sonst nie an dir bemerkt, was giebt's, Junge?«

»Nun, Meister, ich weiß ja nicht – ich kam eben – – mit Einem Worte: mir lastet eine große Sorge auf dem Herzen.«

»Paul!« rief Sepp bestürzt.

»Erzähl' nur flink,« drängte der Professor.

»Ihr wißt, um diese Zeit vor einem Jahre, als ich noch bei Euch wohnte, Meister, erhielt ich Kunde von Veronika, daß der arme Sebastian gestorben sei. Ich konnte also das Geld, das ich für ihn zusammengespart hatte, nur mehr für einen Kranz einschicken. Er litt sehr viel in der letzten Zeit. Die Komtesse und Veronika durften nicht mehr zu ihm, denn sein ganzer Körper war mit Wunden bedeckt. Der Vater aber, mein guter, selbstloser Vater opferte sich der Pflege dieses armen, ehemaligen Berufsgenossen buchstäblich auf. Er wartete ihn bei Tage, wenn seine arme, bekümmerte Frau in die Häuser waschen ging; er wachte bei ihm Nächte lang, damit sein von der Tagesarbeit ermüdetes Weib schlafen könne. Wenn der Vater bei ihm war, dann wurde Sebastian ruhiger, dann verstummte das wimmernde Stöhnen, das ihm die folternden Schmerzen erpreßten, und er vermochte zu schlummern. Meine Mutter hätte den Vater so gern abgelöst, aber er ließ sie um keinen Preis zu dem Kranken, dessen Pflege wohl sehr gefährlich war, worüber sich der Vater nie aussprach, um uns nicht zu ängstigen. Endlich starb der arme, namenlos Leidende. Noch wenige Minuten vor seinem Tode hat er von mir gesprochen. Mutter Josephine überlebte ihn nicht lange; in zwei Monaten starb sie an Kränkung und Schwäche.

Nun wäre ja der Arme erlöst und gut aufgehoben. Aber denkt Euch, Meister, ich kann sie kaum aussprechen, die gräßliche Befürchtung. Ihr wißt,' ich bin seit Herbst daheim. Schon wie ich dort anlangte, fiel es mir auf, daß der Vater sehr verändert war, sehr blaß, ernst und, wie mir schien, müde. Erst glaubte ich, es sei die Nachwirkung der anstrengenden Pflege, aber es ward nicht besser. Der Mutter und Veronika fiel es weniger auf, denn sie sehen ja den Vater von jeher täglich. Ich aber beobachtete ihn aufmerksam, angstvoll und – o Meister! – ich glaube Spuren jener furchtbaren Krankheit an ihm zu entdecken, an welcher Sebastian gestorben ist.« Thränen erstickten die Stimme des jungen Mannes.

Joseph war wortlos vor Bestürzung. Er schmiegte seinen Kopf an des Freundes Brust und sah ihn mit einem Auge an, in dem das zärtlichste Mitgefühl zu lesen war.

»Paul,« hub der Professor sehr ernst an und schnell gefaßt, »wenn du dich nicht täuschest, so wäre es sehr traurig, aber nicht hoffnungslos. Du selbst hast mir ja oft erzählt, daß auch Sebastian zu heilen gewesen wäre, wenn er rechtzeitig die richtige Pflege gehabt hätte.«

»Und die soll mein Vater haben,« rief Paul, »und wenn ich arbeiten muß, bis mir die Augen erblinden. Für meinen Vater will ich arbeiten, für den Armen, Teuren, der seinen Herzenswunsch geopfert hat, um mich Künstler werden zu lassen.«

»Aber, sag' Paul, ist es wirklich so ernst? Vielleicht ist er doch nur angegriffen von der anstrengenden Pflege des Verstorbenen?«

»Nein, Meister, nein, da wäre er so bläulich blaß nicht, so müde, so stumpf gegen die Arbeit, die er sonst immer mit Feuereifer betrieb. Und dann hat er im Nacken einen dunkel angelaufenen Fleck; niemand weiß es als ich, der ich's zufällig sah.«

»Weißt du, Paul,« riet der Professor, »es wird das beste sein, du berufst einen guten Erfurter Arzt ins Haus und lässest den Vater untersuchen; natürlich muß er und die Deinen glauben, es geschähe nur, um ein Mittel für seine vollständige Erholung von der gehabten Anstrengung zu ergreifen. Im übrigen tröste dich, Paul; Gott, der dir schon so oft geholfen hat, der allmächtige, gütige Gott wird wieder helfen.«

»Ja, seine Hilfe will ich erflehen, Meister, mit allen meinen Kräften. Am liebsten führe ich jetzt gleich wieder zurück, um morgen schon den Arzt berufen zu können, und Gewißheit, wenn auch die schrecklichste, zu haben.«

»Paul, eine Nacht mußt du dich bei mir ausruhen!« sprach der Professor, und Joseph stimmte bittend bei, bis Paul ja sagte. Der Professor hatte noch einen wichtigen Gang zu machen, und so blieben die beiden Jünglinge für ein Stündchen allein. Wie sie so nebeneinander saßen und über vergangene Zeiten sprachen, da ward Joseph, der immer Stille, Schweigsame, gesprächig.

»Seit Herbst, als du fort bist, hab' ich dir recht sichtlich nachgetrauert, und der gute Meister wollte, wahrscheinlich, um mich zu zerstreuen, daß ich mehr in die Öffentlichkeit hinaustrete. Man interessiere sich, so meinte er, in der Kunstwelt so sehr für mich – ich armseliger Mensch weiß wohl nicht, wie ich das verdiene. Bald darauf lud mich einer der Kollegen des Meisters auf sein Atelier nach Paris unter glänzenden Aussichten. Und weißt du, Paul, manchmal konnt' ich's nicht verhindern, mit in die Gesellschaft hineingezogen zu werden, wenn die Maler kamen, häufig von der Ferne, um meine Bilder und um mich malen zu sehen. Und dabei spotteten sie meiner nicht, wie ich als Knabe gefürchtet; o, ich bin ganz beschämt über die Hochachtung, mit der sie mich behandeln.«

»Beschämt!« rief Paul, »als wenn du das nicht verdientest! Weißt du, daß du einzig dastehst in Europa mit deiner Fähigkeit auf die Art, wie du sie ausübst?«

»Du willst sagen, Paul, ganz unbeschreiblich von Gott begnadet, ein Krüppel und doch fähig, zu arbeiten, Form zu geben dem, was in meinem Innern lebt; ja, da hast du recht, das ist eine unendliche Gnade.«

»Guter Joseph!« sprach Paul, »doch sag', was ist's mit Paris?«

»Nichts,« erwiderte einfach der Gefragte. »Es war sehr verlockend, ich habe Wanderlust in mir, seit ich kein Kind mehr bin, mein Sinn strebt hinaus nach Abwechselung, nach reichen Eindrücken, aber nein, es wäre selbstsüchtig. Paul, ich habe mit mir kämpfen müssen, aber jetzt ist's beschlossen: ich kehre heim zu den Meinen. Malen kann ich auch dort und ich will die alternden Eltern nicht verlassen, um mir eine Anregung zu schaffen.«

»Anregung, Joseph? Eine Zukunft voll Ruhm und Reichtümern verscherzest du!« Joseph lächelte.

»So hat meine Eigenliebe auch gesprochen. Aber ich bin zu besserer Einsicht gelangt. Erwerb' ich nicht jetzt schon mit meinen Bildern mehr als genug für mich und meine Eltern? Dieser Punkt ist also nicht in Betracht zu ziehen. Und Ruhm? Paul, ich bin ehrgeizig, sehr, aber genieße ich nicht jetzt schon Ruhm, unbegreiflich viel Ruhm für meine schwachen Leistungen? Die Unersättlichkeit hab' ich in mir bekämpft. Mit Gottes Hilfe werd' ich's hübsch voranbringen in meiner Kunst auch in schlichten Verhältnissen, und den Meinen will ich dabei leben; mein Ehrgeiz wird es fortan sein, ihnen Freude zu machen. Ich weiß, es wird mir schwer werden, mich wieder in die bäuerischen Verhältnisse einzugewöhnen. Aber wenn ich erst ein Weilchen daheim bin, laß es nur gut sein, Paul, da wird die alte Anziehungskraft meiner Bergheimat wieder mit ihrem vollen Zauber auf mein Herz einwirken, das einst krank war vor Sehnsucht nach ihr. Weißt du, was mich damals heilte? Deine Freundschaft. Erinnerst du dich noch, Paul, wie du während meiner ersten Zeit in München sagtest: Wenn du einmal weißt, daß ich dein Freund bin, vielleicht wird dann das Weh nach deinen Bergen besser. Ja, ich wußt' es bald, nach und nach mußt' ich daran glauben, so unbegreiflich es mir auch war, daß man einen Krüppel, der nichts geben kann, als beständige Aufforderung zum Mitleid, daß man sich diesen zum Freunde wählen kann. Du thatest es, Paul, und wie glücklich du mich dadurch machtest, ich kann es dir nicht sagen.«

»O, Joseph, Joseph, sprich nicht so. Ich war immer ein ›Kopf-durch-die-Wand‹. Daß ich ruhiger, vernünftiger geworden bin, verdanke ich zum größten Teile dem Einflusse deiner gleichmäßigen Besonnenheit, deiner Geduld. Und Geduld werde ich jetzt brauchen, Freund, ich bin noch immer nicht geduldig. Siehst du, jetzt ist's mir wieder, als müßt' ich mit einem Handgriff alles bei meinem lieben, armen Vater zurechtsetzen.« – – –

– – – Als Paul daheim angelangt war, fand er den Vater wieder bei sehr schlechtem Aussehen. Er folgte dem Rate des Professors und ließ den Arzt kommen. Dieser bestätigte leider Pauls Befürchtungen und ordnete an, daß der Leidende unbedingt Luftveränderung und Mineralbäder haben müsse, dann sei mit Hilfe der entsprechenden Arzneien den Fortschritten der Krankheit vielleicht noch Einhalt zu thun.

»Ich werde das Geld dazu schaffen,« sprach Paul zu sich selbst, und er verkaufte zwei Bilder, die er eben fertig gemalt hatte. In zarter, schonender Weise unterrichtete der gute Sohn seinen Vater von der Weisung des Arztes. Da schwoll die Zornesader ganz unerwartet auf Brahms Stirne: »Warum laßt ihr mich nicht in Frieden?« rief er. »Ich soll faullenzen, ich, ich, Brahms, der sonst nicht eine halbe Stunde bei Tageslicht müßig war! Sagt mir das nicht noch einmal. Und glaubst du, ich will mein bißchen Erspartes den Eisenbahnen unter die Räder legen – für ein reines Ungeheuer haltet ihr mich. Ich werde meine Familie vielleicht darben lassen, damit ich reisen kann wie ein Pascha.«

Paul hob die Augen ernst zum Vater auf: »Und ich, Vater,« rief er, »bin ich zu gar nichts auf der Welt? Hast du mich dazu Maler werden lassen, daß ich jetzt nicht einmal als Erwerbskraft mitgerechnet werde? Sag', Vater, willst du mir denn die Freude nicht machen, mich für uns alle, aber besonders für deine Erholung, deine Bequemlichkeit, arbeiten zu lassen?«

»Nun, da haben wir's wieder!« entgegnete viel ruhiger, nur mehr scheinbar grollend und mit Stolz über einen solchen Sohn auf den erblassenden Zügen, Brahms. »Der Paul hat gesprochen, und mein Zorn ist weg. Aber daß ihr's nur wißt: morgen wird die alte Ordnung eingeführt; arbeiten werd' ich vom Morgen bis zum Abend, und daß keines mir mehr den Kranken aufdichtet. Gesund bin ich und arbeiten werd' ich und damit basta!«

Am nächsten Morgen sah man Brahms zur gewohnten Stunde im Garten stehen, mit Schaufel und Rechen thätig. Aber er war erschreckend blaß, und seine sonst so lebhaften Augen waren matt und tief eingesunken, von dunklen Schatten umgeben. Mit Besorgnis sah Paul von dem Fenster, an dem er malte, auf den Vater hinaus. Ein Schatten war er von früher, aber mit eiserner Willensstärke zwang er sich, dasselbe zu leisten wie einst. Am Nachmittage stand er wieder draußen und arbeitete eifrig. Paul sah mit steigender Angst hinüber. Jetzt trat Veronika zum Vater und sprach mit ihm. Paul wendete sich wieder zur Arbeit. Da erscholl plötzlich von außen ein markerschütternder Schrei.

»Mutter, Mutter, Paul!« Hinaus stürzten beide. Veronika hielt den ohnmächtigen Vater halb in den Armen, halb war er an eine Bank gelehnt. Er war gelblich fahl, hielt die Augen geschlossen, und seine Gliedmaßen hingen schlaff herab.

»Wir hätten ihn nicht arbeiten lassen sollen,« jammerte die Mutter und befreite die zitternde Veronika von ihrer Last, indem sie den Körper des Ohnmächtigen mit Pauls Hilfe ins Haus trug.

Nach einer Stunde war Brahms wieder bei Bewußtsein. Er stand auf und ließ sich einen Sessel zum Fenster rücken: »Der Paul hat's durchgesetzt. Nun werd' ich nicht mehr arbeiten.«

»Für die nächste Zeit wenigstens nicht, Vater,« sagte ruhig Paul, »du hast selbst gesehen, daß du jetzt zu schwach dazu bist. Das wird rasch besser werden, wenn du Luftveränderung hast.«

»O ja, lieber Vater,« rief Veronika, »die Mutter und Paul haben heute davon gesprochen, ich darf mit dir reisen.«

»Ja, Vater,« sagte die Mutter, »weißt du, ich führ' das Haus und beaufsichtige deine Burschen im Garten. Da kannst du gewiß sein, daß alles in Ordnung ist, und der Paul malt fleißig.«

»Komm' her, Paul,« sprach plötzlich weich werdend der Kranke, »du bist mein guter Bub', ich war gestern rauh gegen dich, 's ist Gottes Wille, daß ich ein schwacher, kranker Mann geworden bin, aber ich wollt's erst nicht gelten lassen. Ich dank' euch, daß ihr euch alle für mich bemüht.«

Paul schrieb noch denselben Abend an seinen väterlichen Freund in München, dem er sein ganzes, bekümmertes Herz ausschüttete. »Meine Mutter, die immer eine heitere, hoffnungsvolle Frau war, ahnt nichts von der Gefährlichkeit, der wahren Art seiner Krankheit;« hieß es unter anderem in diesem Briefe. »Veronika natürlich auch nicht; sie freut sich so sehr auf die bevorstehende Reise. Gottlob, daß wenigstens meine Teuren von der furchtbaren Sorge verschont sind, welche mich die Ruhe meiner Nächte kostet. Gebe Gott einen glücklichen Ausgang!«

Der Professor sandte sofort eine größere Summe für die Reiseauslagen. Paul schrieb die wärmsten Dankesworte zurück und die Versicherung, er habe sich mit Feuereifer daran gemacht, für die Abzahlung dieser seiner Schuld zu arbeiten. »Der Vater glaubt, es sei mein selbsterworbenes Geld. Ich darf ihm den wahren Sachverhalt gar nicht mitteilen; sein gekränkter Stolz, sein strenges Rechtsgefühl würden ihn trotz aller Pflege nicht gesund werden lassen, wenn er wüßte, daß ein Wohlthäter ihm die Reise ermöglicht; nicht einmal von mir wollte er anfangs etwas annehmen.«

Wenige Tage nachher weilte Vater Brahms mit seiner liebevollen, fürsorglichen und für ihr Alter von siebzehn Jahren sehr verständigen Tochter in einem schönen Gebirgsbade.

Der junge Sohn daheim arbeitete, wie er nie gearbeitet hatte: »Meister, jetzt weiß ich, was arbeiten heißt,« schrieb er nach München, »früher hab' ich gespielt.«

Sobald das Morgengrauen dem Auge Licht gab, saß er an der Staffelei, und für das, was er bei Nacht machen konnte, wurde mit Freuden der Schlaf geopfert – es galt ja den Vater. Und dieser, so schrieb Veronika, fühle sich schon kräftiger; es sei wunderschön in W., und wenn die Mutter und Paul mit wären, so glaubte sie im Paradiese zu sein.

So wurde es Herbst. Der Arzt verordnete von Erfurt aus, daß Brahms nach Italien müsse.

Paul hatte eine größere Summe als Ertrag seines fieberhaften Fleißes in der Hand. Doch die Mutter war für die italienische Reise durchaus nicht zu gewinnen. »Nein, so weit und so lange fort laß ich den Vater mit Veronika allein nicht. Man muß doch denken, sie ist ein Kind, in das fremde Land, nein, nein, das geht nicht!«

»Liebe Mutter, aber der bevorstehenden Winterkälte dürfen wir den Vater nicht aussetzen. Weißt du, mir fällt etwas ein: du reisest ihnen nach und dann mit dem Vater und Veronika nach Italien.«

»Aber Paul, das Geld!«

»Das hab' ich!« rief er, bescheidenen Stolz in dem leuchtenden Auge.

»Erarbeitet, Paul? O, wenn der Vater jemals etwas dagegen hatte, daß du Maler wurdest, jetzt versöhnst du ihn ganz und gar.«

»Also, du fährst, Mutter, und ihr erholt euch alle.«

»Du meine Güte, in die fremde Welt hinaus, nie bin ich noch über Erfurt gekommen! Wenn's nicht für den Vater wäre – so aber muß es sein.«

Die gute, schlichte Frau reiste ab, nachdem sie versprochen hatte, ausführlichen Bericht über das Befinden des Vaters an den einsamen Sohn zu senden. – – –

– – – Komtesse Isa war nun ein erwachsenes Mädchen. Sie hatte schon lange die Trauerkleider abgelegt und sollte eben den Winter, den Pauls Vater im Süden zubrachte, in die Welt eingeführt werden. Aber sie bat: »Papa, laß mich noch ein Jahr warten; sieh', ich könnte keine Freude an all den Lustbarkeiten haben heuer, wo so schwere Sorgen auf der Familie meiner Freundin lasten. Der arme Paul, er arbeitet sich noch krank. Hättest du ihn nur gestern gesehen, wie schlecht er aussah, wie kummervoll. Ach, wenn er sich doch nicht so plagen wollte, er will ja nur, er müßte nicht. Du hast ihm eine Summe für den kranken Vater angeboten, aber er nimmt's nicht an, der böse, stolze Paul.«

»Nicht aus eigenem Stolze, Isa, nur weil er die Natur seines Vaters kennt, dem eine Unterstützung durch Fremde in seinen Mannesjahren peinlich wäre, darum müht er sich ab, der gute Sohn.«

»Zu gut ist er,« rief Isa, »Veronika wird erschrecken, wenn sie wiederkommt und ihn sieht. Er lebt gar nicht für sich, nur für die anderen, und andere glücklich zu machen, das ist sein Glück. Du weißt, Papa, ich hab' ihn nicht gebeten, daß er das Bild meiner teuren, seligen Mama male; er hat erst die Kopie meines Miniaturbildes gemacht und dann das Bild in Lebensgröße ganz im geheimen. O, seit dieses in meinem Zimmer hängt, ist es so traut darin. Mir ist, als wäre mir meine liebe, liebe Mama näher, wenn sie mich sprechend von der Leinwand herab ansieht mit ihren süßen Augen.«

* * *

Laue Lüfte wehten wieder, und als die Schwalben sich vereinzelt über Erfurt zeigten, da kam ein Brief aus Italien, in welchem der Vater anzeigte, daß er mit den Seinen heimkehren wolle; er sei nun kräftig und wohl und alle freuten sich unbeschreiblich auf die Heimat. Als Paul die Freudenbotschaft gelesen, ließ er den Pinsel, den er bis dahin mit rastlosem Eifer geführt, sinken – nach Rast und Ruhe seufzte sein Körper und seine Seele. Ach, wenn er den Vater gerettet hatte, wenn es sich nach seiner Heimkunft bewahrheiten sollte, daß die tückische Krankheit besiegt sei, dann war ja alles gut, dann würde ihm das Glück, die Freude alle Erschöpfung wie durch Zauber benehmen.

Heftig klopfte Pauls Herz, wie einst in seinen Knabenjahren, wenn er Außerordentliches erwartete, als er seine Lieben von der Bahn abholte. Nun brauste es aus der Ferne heran, nun fuhr der Zug ein, nun hielt er, und – dort ging der Vater mit seiner stolzen, aufrechten Gestalt alle anderen überragend. Gottlob, sein Antlitz war gebräunt und gerötet, wie ehemals, sein Auge lächelnd und klar.

»Vater, Vater, Grüß Gott!«

»Grüß dich Gott, mein Paul.«

»Paul, liebster Paul!« rief's tiefer unten; Veronika war es, eine kleine Italienerin fast mit ihrem gebräunten Gesichtchen und den dunkelstrahlenden Augen. Prächtig sah auch die Mutter aus, und alle konnten vor Glück und Bewegung kaum sprechen. Daheim fanden Vater und Mutter alles in schönster Ordnung vor. Im Garten blühte und duftete es so üppig, so sorgfältig gepflegt waren die Anlagen, als wären des Herrn Auge, des Herrn Hand niemals fern gewesen. Im Häuschen drin blitzte und blankte es, wie wenn es die musterhafteste Hausfrau zu einem festlichen Empfange geordnet hätte, und das alles hatte ein Maler, ein sogenannter unpraktischer und dazu noch überbürdeter Künstler durch ein halbes Jahr geleitet. Vor dem Hause unter dem alten Kastanienbaume mit den jungen Blättern war der Tisch gedeckt, und dort nahmen die glücklich Vereinigten Platz. Pauls bleiche Wangen färbte die Freude höher, und seine in der letzten Zeit so matten Augen strahlten vor innerer Befriedigung.

Unbeschreiblich war das Erstaunen aller, als die Gartenthür knarrte und – Professor Willmers mit Joseph über den Kiesweg geschritten kam: »Ja, wir mußten kommen, die Weitgereisten zu begrüßen, es litt uns nicht in München. Da muß man unsere Dreistigkeit schon entschuldigen.«

»Grüß Gott, Grüß Gott!«

»Nein, die Überraschung!« rief Veronika, »jetzt kenn' ich doch endlich den guten Meister und Pauls Sepp.«

Der Arme konnte nicht teilnehmen an dem allgemeinen Händeschütteln, aber er war doch herzensfroh in diesem gemütlichen Kreise. So klein die Gärtnerswohnung war, so mußten die beiden Gäste doch in derselben Nachtquartier nehmen. Als Vater, Mutter und Veronika schon längst ihr Lager aufgesucht hatten, um von der Reiseermüdung auszuruhen, ergingen sich Meister Herbert, Paul und Joseph noch draußen im mondhellen Garten, den eine wunderbare milde Aprilnacht einschläferte.

»Mit keinem Worte kann ich's aussprechen,« begann Paul, »was ich empfinde über des Vaters Genesung; morgen wird sie, Gott geb's, der Arzt bestätigen; aber, Meister, ich hätte länger nicht so arbeiten können; jedes Glied meines Körpers schmerzt, in meinem Kopfe hämmert es, die Augen brennen mir und umfloren sich – o wie oft hab' ich gefürchtet, das Augenlicht einzubüßen bei der Nachtarbeit.«

»Armer Paul,« sprach Sepp.

»Doch nun ist alles gut, mein Junge, und weißt du, im Sommer bitte ich dich bei deinen Eltern aus für mich, da reisen wir miteinander nach Hallstadt und besuchen Sepp daheim.«

»Was, Sepp? Wann verlässest du schon unseren Meister?«

»Von hier aus reise ich nach Hause,« war des anderen Antwort, »nicht wahr, Paul, du kommst bestimmt dahin und da mußt du den ganzen Tag in unserem Walde sitzen, um wieder rote Wangen und klare Augen zu kriegen.«

Am nächsten Tage kam der Arzt, scheinbar nur um sich nach dem Befinden des Zurückgekehrten zu erkundigen. Dabei wurde ganz unbefangen eine kurze, aber gründliche Untersuchung vorgenommen, und zu Pauls unaussprechlicher Freude versicherte ihm der Arzt unter vier Augen, daß sein Vater vollständig genesen sei. Seine kräftige Natur im Vereine mit dem rechtzeitigen ärztlichen Eingriff hatten den Sieg über das schleichende Übel davongetragen. Wie jubelte Komtesse Isa, als sie die Freudenbotschaft aus Pauls eigenem Munde vernahm!

Am Abende dieses Tages, als man den Professor und Joseph auf den Bahnhof geleitet und dort herzlichen Abschied genommen hatte, war Paul mit seinem Vater allein. Da nahm dieser des Sohnes Hände in die seinen, sah ihm tief in die Augen und drückte dann einen warmen, langen, segnenden Vaterkuß auf des jungen Mannes Stirne: »So und laß mich dir danken jetzt, mein Paul. Glaub' nicht, daß ich nur halb weiß, was du für mich gethan. Wenn du nicht für mich gesorgt, du nicht für mich gearbeitet hättest, ich wäre dahingesiecht und endlich gestorben wie Sebastian.«

»Vater,« rief Paul erschreckt, »du wußtest, wie krank du warst?«

»Ich wußte es seit jenem Tage, als mich im Garten die Besinnung verließ. Da ward ich der blauunterlaufenen Stellen an meinem Halse gewahr. Die kannte ich zu gut von Sebastians Leidensstätte her. Ich weiß, mein Paul, du hast nicht nur gearbeitet für mich, wie selten ein Sohn für seinen Vater, du hast die Kraft deines Herzens aufgerieben in liebender Angst und Sorge um mich. Die Mutter und Veronika wissen nicht, wie's um mich stand. Lassen wir sie in ihrer glücklichen Unbefangenheit; wozu sie nachher noch betrüben?

Weißt du, Paul, du hast mir einst, als du noch mein grüner Jung' warst, versprochen, einmal etwas Ordentliches zu werden. Du hast gelitten, gekämpft und gesorgt in frühen Jahren – du hast mehr erreicht, als ein tüchtiger Künstler zu werden: du bist uns ein treuer, wahrhaft guter Sohn gewesen, Paul. Gott segne dich dafür, Gott behüte dich allzeit!«


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