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Tannengrün und Silberflechte.

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H Hoch oben im Gebirge stand ein freundliches Häuschen auf duftender Matte. Diese liebliche Einsiedelei war durch einen dunklen Tannenforst von dem Dörfchen getrennt, das sich unten an den Fuß der Erhebung schmiegte mit hellen Häusern und netten Gärtchen, friedlich von dem blitzenden Kreuze eines schlanken Kirchturms beherrscht.

Das einsame Häuschen oben stand auf einem Gebirgsvorsprunge. Ging man die zehn Schritte bis an den Abfall desselben, so hatte man einen kleinen, tiefblauen Gebirgssee vor sich, der gleich einer klaren Perle aus der Umfassung der ihn umkränzenden Wiesen schimmerte. Einen eigentümlichen Gegensatz zu der üppigen Frische des Naturlebens ringsum bildete die Tanne, die einsam ganz nahe dem Hüttchen stand. Ihr Stamm war verwittert. Von ihren untersten Zweigen bis gegen den Gipfel hinauf war eine dichte Silberflechte mit dem langsamen aber beharrlichen Schritt der Zeit emporgeklettert. Jedoch die oberste Spitze des Baumes prangte noch in jener schönen Farbe, von der es im alten Volksliede heißt: »O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter!«

Und dieser Baum war ein Sinnbild der Bewohner des Hüttchens, vor dem er aufgepflanzt stand wie ein treuer Wächter. Ein Greis war es mit einem schneeweißen Lockenhaupte, das auf hohem, hagerem Körper saß, und ein Enkelkind, ein frisches, braunzöpfiges Mägdlein, das trotz seiner Jugend dem alten Großvater die ganze Wirtschaft allein führte.

Vor zwei Jahren noch, da hatte freilich hier die Mutter Annamirls, so hieß das Dirnlein, geschaltet, die schmucke Frau Franzels, des Jägers. Ja, auf solch einen Sohn hatte der Alte wohl stolz sein können. Er war der tüchtigste, stattlichste Jäger weitum in der Runde, hochgewachsen wie die schönste Tanne im Forste draußen, mit einem Paar gütiger Augen, die tiefblauer waren als der Bergsee. Bewundernd hatte Annamirl immer auf den Vater geschaut, wenn er mit Waldmann und Dachsl auf den Anstand ging, die graue Joppe mit den grünen Schnüren über der Schulter, einen schmucken Gemsbart und die lange Birkhahnfeder auf dem Hute.

Der Sommer im Wald und auf der Matte, der Winter drin in der getäfelten Stube mit dem großen, grünen Kachelofen gingen so schnell und schön dahin. Was Leid und Trauer heißt, hatte die kleine Annamirl nicht gekannt, bis sie einmal den Vater auf einer Tragbahre heimbrachten, totenblaß, regungslos, aus einer Kopfwunde blutend. Er war ein Opfer seiner Pflichttreue geworden, indem er einen Wilddieb, der sich trotz dreimaligen Anrufens nicht ergab, im Walde verfolgte und von diesem durch einen Schuß in die Schläfen getötet wurde. Laut schrie die Mutter auf, als man ihr den geliebten Mann leblos ins Haus brachte, und der Vater, der greise Vater fiel wie gebrochen nieder. Drunten im stillen Dorfkirchhof lag er begraben, und seine junge, blühende Frau war seit dem schrecklichen Abend verwandelt in eine blasse, stille Dulderin. Sie welkte rasch dahin. Ein halbes Jahr ging herum und der greise Vater Kilian wanderte mit seinem Enkelkinde wieder hinter einem Sarge her hinab ins Dorf.

Still und einsam, aber nicht zu traurig war es seit jener Zeit in der Hochsiedelei am Bergsee. Wohl dachte Annamirl mit inniger Liebe und kindlich tiefer Trauer an die toten Eltern, aber die Thränen in den Augen mußten doch bald dem Lächeln der Freude weichen, die das Antlitz des empfänglichen Kindes überstrahlten, wenn es draußen in der herrlichen Umgebung der Hütte spielte und umhersprang nach Herzenslust. Und für den schwer getroffenen Greis, der so früh den Stolz und die Freude seines Lebens in den beiden jungen Leuten hatte begraben müssen, war es eine unaussprechliche Wohlthat, das frische, fröhliche, gutgeartete Kind um sich zu haben.

Annamirls Vater – ein Opfer seiner Pflichttreue.

Annamirl war von ihrer lieben Mutter früh dazu angehalten worden, im Haushalt mitzuhelfen, für den Großvater und den Vater, soviel in ihren Kräften stand, zu sorgen, und so hatte das geschickte, aufgeweckte Kind eine für ihr Alter staunenswerte Umsicht und Selbständigkeit in allen häuslichen Obliegenheiten erlangt. Nun war sie beinahe vierzehn Jahre alt und seit letztem Frühling aus der Schule. Aber die Weiße der Dielen, die sie scheuerte, das Blitzen und Blanken in der Stube, in der Küche, ja selbst im Stalle, die Ordnung und Üppigkeit des Hausgärtleins, die Schmackhaftigkeit der Gerichte, die Großvater pünktlich am Tische fand, all das zeugte eher von der Arbeit eines Erwachsenen, als von jener einer Kinderhand. Innerhalb des Hüttenbereiches war Annamirl das vernünftige, gesetzte Hausmütterchen; umfing sie aber die Wiese, der geliebte Wald mit seinen dunklen, rauschenden Bäumen, so war sie das jubelnde, sorglose Kind, das an nichts dachte, nach nichts fragte, als mit der Bergamsel zu singen, mit den Schmetterlingen um die Wette von Blume zu Blume zu gaukeln oder im Reviere der Gemsen leichtfüßig am murmelnden Bächlein über lockeres, edelweißumblühtes Gestein zu springen. Blumen, Beeren, Moos, Käfer und Steine, nichts war sicher vor ihrem Sammeleifer, und ihr Strohhut, das Schürzchen, das Röckchen, alles mußte herhalten zur Aufnahme der gesammelten Schätze, und daheim wurden sie dann mit größtem Stolz vor dem Großvater ausgebreitet. O, und der hatte eine Freude daran! Von seinen jungen Jahren her lagen noch ganze Bücher voll gepreßter Blumen, Stein-, Schmetterlings-, Käfersammlungen und allerlei Waldraritäten in der Rumpelkammer der Hütte. Auch er war einmal Jäger gewesen und die Freude an dem Leben, dem Forschen und Sammeln in der freien Natur draußen war ihm eigen wie sein Atem, und nun, da er alt und hinfällig geworden, besonders nach jenen zwei schweren Gängen hinab in den Dorfkirchhof, nun, da er nicht mehr umherstreifen konnte, brachte ihm sein Enkelkind die Natur herein, sie erzählte ihm von den Vögeln, die sie draußen belauscht hatte, ließ ihn die saftigen Beeren kosten, die sie gepflückt, und sich über die Namen der Blumen, die sie gefunden, unterrichten. O, es war ein friedlich schönes Leben oben in der Waldhütte! Was that's, wenn auch Annamirl des Winters oft knietief im Schnee versank bei der Wanderung in das Dorf. Sie war ja gesund, kräftig und alle diese Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen konnten, waren nur ein Anlass zu Jubel und Vergnügen. So leicht wie den Schnee schüttelte sie Ermüdung und Beschwerde ab, und wenn dann der trauliche, lange Winterabend anbrach, wenn der Sturm draußen heulte und das Feuer so behaglich im Kachelofen prasselte, las sie dem Großvater aus der Bibel oder aus dem alten Hauskalender vor; oft ließ sie sich auch auf einen Schemel zu Füßen des Greises nieder, und er mußte Geschichte um Geschichte erzählen. Manchmal brachte sie Nüsse und Äpfel herbei und es wurde ein Pfänderspiel zu zweien probiert, wobei der gute Alte natürlich immer sein liebes Enkelkind gewinnen ließ und sie noch obendrein hieß, sich vom Dörrobst am Schranke eine ordentliche Handvoll herunterzulangen.

Trotzdem das Alter ihm des Winters Kälte empfindlich fühlen ließ, hielt er sich Annamirl zuliebe stundenlang draußen im Freien auf, baute mit dem jubelnden Mädchen Schneemänner, und gab auch bei Schneeballenschlachten einen tüchtigen Angreifer ab. Oft zog er die Enkelin sogar im Schlitten auf und nieder. O Annamirl, Annamirl, du kannst nicht genug dankbar sein, nicht genug thun für den Greis, der sich dir zuliebe viele Bequemlichkeiten des Alters versagt, der nur an dich denkt, der seine Ersparnisse mit bestem Herzen daran wendet, dich im Sommer schmuck und des Winters warm zu kleiden. Und wenn Weihnachten kommt, kann keine Mutter zarter, liebe- und verständnisvoller im Auftrage des Christkindes die Bescherung aufbauen, als Vater Kilian es für sein Annamirl thut.

Da brachte das Mädchen eines Tages – es war im Sommer – dem Großvater einen Brief mit, der ihr unten im Dorfe gegeben worden war, als sie bei dem Posthause vorübereilte. Das war entschieden ein Ereignis, denn bis dahin hatte der Großvater – soviel Annamirl wußte – noch niemals einen Brief erhalten und dieser war, wie ihr der Postmeister zugerufen, sogar aus der Stadt. Von letzterer hatte Annamirl zwar eine sehr unklare Vorstellung, doch in dem Worte »Stadt« lag für sie, sie wußte selbst nicht warum, etwas sehr Anziehendes.

»Großvater, aus der Stadt!« rief sie, den Brief schwenkend beim Laufe über den Rasenplan bis zur altersschwachen Tanne, wo der Großvater auf einem ehemals selbst gezimmerten Bänkchen saß. Dieser sah lange auf die Schriftzüge der Adresse, dann wischte er sich über die Stirn, als wollte er die Schleier, die dort über seiner Erinnerung lagen, wegstreichen. Endlich sagte er:

»Jetzt erkenn' ich's. Deine Muhme und Patin Karolin, deiner Mutter Schwesterkind, schreibt.«

Mit zitternden Fingern erbrach er das Schreiben, lesen aber mußte Annamirl.

 

»Lieber Vater Kilian!

Es ist nun schon sehr lange her, daß wir uns nicht gesehen und nicht geschrieben haben, wie es schon so kommt, wenn die Menschen so weit auseinanderwohnen, wie wir.

Vergessen hab' ich Euch aber deswegen noch nicht. Ich denk' oft, wie's Dir geht und was die Annemaria, mein Patenkind, macht. Die muß jetzt schon ein großes Mädchen sein, und es ist wohl nicht gut für sie, wenn sie ihre ganze Zeit zwischen Berg und See verbringt.

Ich will gleich gradaus auf mein Ziel zusteuern ohne viele Worte – denn das ist so meine Art. Also ich möchte die Annamaria gern für ein Jahr bei mir haben. Sie soll sich ein bißchen bei uns in der Stadt umsehen, einen ordentlichen Haushalt führen lernen, denn das verstehe ich natürlich als Beschließerin hier in einem fürstlichen Hause sehr wohl, und noch manches andere, was man bei Euch droben gar nicht kennt. Denn ich halte es für meine Patenpflicht, auch einmal etwas für das Kind zu thun. Auch fühle ich meine Kräfte schon etwas abnehmen, und da die durchlauchtigsten Herrschaften nächsten Winter glänzende Festlichkeiten zu geben gedenken, wäre mir eine junge, willige Gehilfin sehr angenehm. Freilich mit der Annamaria werde ich viel einzustudieren haben, denn sie ist ja noch so jung und unerfahren; aber ich hab' sie lieb, und willig wird sie ja auch sein.

Wegen Dir, mein lieber Kilian, sehe ich wohl, daß Du nicht allein oben in Deiner Einschicht bleiben kannst, besonders zur harten Winterszeit, aber dafür wüßt' ich auch einen Rat.

Also hör': Das Schloß Fischbachhorn, das dort jenseits des Sees liegt, gehört eben dem Fürsten, in dessen Hause ich bin hier in der Stadt. Seine Durchlaucht will es nun äußerlich und innerlich herrichten lassen für sich und seine junge Gemahlin, und hat meinen Sohn, der, wie Du weißt, Baumeister ist, zur Leitung der baulichen Neuerungen auszuwählen geruht. Du kannst dir denken, welche Ehre für uns!

Nun muß sich mein Herbert zu diesem Zwecke mindestens ein Jahr in Fischbach aufhalten. Da träfe es sich sehr gut, wenn Du mir die Annamaria herschicktest, damit ich alte Frau nicht ganz allein bin hier in der großen Stadt. Hättest Du etwas dagegen, wenn mein Herbert und seine junge Frau inzwischen bei Dir Quartier nehmen würden?

Überleg' Dir's wohl, Kilian, die Annamaria möchte etwas Ordentliches bei mir lernen, und Du brauchtest Dich um keine Wirtschaft zu kümmern. Die Thekla, meines Sohnes Frau, besorgt alles, und zahlen wird der Herbert.

Eine gute Überlegung wünscht Dir mit vielen Grüßen

Deine
Karoline.«

 

Diesem Schreiben lag ein zweites bei, das für Annamirl selber bestimmt war. Es lautete:

 

»Mein liebes Kind!

Du kennst mich gar nicht von Angesicht zu Angesicht, denn wie ich Dich drunten zu Fischbach in der Kirche vor dem Altar auf den Armen gehalten, da warst Du noch ein winziges Menschenkind und wußtest von gar nichts. Seither hab' ich Dich nicht mehr gesehen. Der Großvater wird Dir schon mitteilen, was ich in dem Brief an ihn geschrieben habe, und nun stelle ich noch an Dich selbst die Anfrage, ob Du wohl auf eine Zeit zu mir in die Stadt kommen möchtest. Du warst noch nie in einer Stadt. Beschreiben kann ich alte Frau so etwas Schönes schwer, aber kurzum, es sind prächtige, große Häuser da und die Annamaria, die bewundernd zu ihnen aufschauen möchte, stolzierte in schönen Kleidern umher, wie sie die Stadtdamen und -Fräulein alle tragen. Und dann giebt's hier so viel Lustiges zu sehen, ein Theater, dagegen ist der Hanswurst am Jahrmarkt im Dorfe unten eine armselige Geschichte, und Musik und Unterhaltung ist überall, und etwas Gescheites soll die Annamaria, die ja wohl ein braves, fleißiges Mädel ist, hier bei mir schon lernen.

Also, bitt' den Großvater schön, daß er's erlaubt. Gelt, Du fürchtest Dich nicht, allein herzureisen, o, das wird lustig sein! Sobald Du im Namen des Großvaters schreibst: Patin, ich komme, schickt sie Dir 's Reisegeld.

Behüt' Dich Gott, mein liebes Kind; es meint's gut mit Dir

Deine alte Pate
Karoline.«

 

Das war zu viel Neues auf einmal. Annamirl ließ den Brief in ihren Schoß sinken und sah mit großen träumenden Augen ringsumher. Fort von hier, fort vom Großvater, den sie noch nie einen Tag lang verlassen, fort von dem Grabe der Eltern, fort von Waldmann, Dachsl und Nandl, der Geiß, weg aus den Bergen, vom See, von der alten Tanne, war's möglich?

Und dann stieg das Bild der unbekannten Stadt verlockend vor ihr auf. Wie nur gar so hohe Häuser aussehen mochten, und dort war kein Wald, wahrscheinlich. Aber die schönen Kleider, o, schöne Kleider hatte sie sich schon so sehr gewünscht, und dann das Theater, es mußte herrlich sein! Wenn's der Großvater nur erlaubte!

»Nun, Annamirl?« fragte Vater Kilian und hob das hocherglühte Antlitz seines Enkeltöchterchens zärtlichtraurig mit seiner runzligen Hand in die Höhe, dabei sah er ihr tief in die träumenden Augen.

»Ach, Großvater, Großvater, es wäre zu schön!« jubilierte sie plötzlich auf, dann ward sie ernst. »Ja, aber wird die Reise für dich nicht zu weit sein?«

»Ich,« lächelte wehmütig der Greis, »ich müßte hier bleiben. Du hörst ja, daß Ohm und Muhme kommen wollen.«

»Da bist du doch ohne mich!« rief Annamirl, »nein, dann trag' ich keine schönen Kleider, und das Theater muß spielen, ohne daß ich's seh'.« Und sie sah kreuzunglücklich das Luftschloß vor sich in Nebel zerrinnen.

»Mirl,« sprach weich der Alte, »brauchst dich nicht grämen, ich seh' es schon, dein Sinn steht doch nach der Stadt, und ich wünsch' ja von Herzen, daß du 'mal hinauskommst aus der Einöd', weg von deinem alten, grämlichen Großvater, der zu nichts mehr tauglich ist und wo du wenig lernen kannst.«

Der Großvater hätte gern noch mehr gesagt, er hätte gern davon gesprochen, wie sehr er sich als alter, an seinen Gewohnheiten hängender Mann nach Ruhe und Stille sehne, wie schwer es ihm fiele, sich in die Hausordnung, das regere Treiben einzugewöhnen, das mit dem Einzuge der Verwandten in seiner stillen, engen Hütte beginnen würde. Aber er schwieg davon, mit jener Selbstlosigkeit der Liebe, die nur an den Wunsch, an die Freude des anderen denkt, ohne seine eigene Bequemlichkeit, ja nicht einmal seine Rechte geltend zu machen. Sein Machtwort hätte ja genügt, Annamirl, die ihm mit kindlichem Gehorsam ergeben war, an seiner Seite festzuhalten. Aber er sprach dieses Wort nicht.

»Wir werden der Muhme schreiben, daß du kommst, Mirl,« sprach Vater Kilian endlich. Annamirl sagte nichts, sie umschlang den Greis aber so stürmisch, küßte ihn so zärtlich auf Stirn, Mund und Wangen, daß er gewiß wußte, das Opfer, das er sich selbst auferlegte, machte sein Enkelkind von Herzen glücklich.

Dann deutete er hinauf auf die alte Tanne und begann sehr ernst:

»Annamirl, schau' her auf diesen Baum. Der schwankende Stamm und die dürren, grauen Äste, das bin ich, der Strauß grüner, frischer Zweiglein oben, das bist du. Wenn das Grün einmal auch verblassen wird, dann neigt sich der Baum und stürzt zu Boden, denn er hat keine Kraft und Lust mehr zum Leben, und wenn du deinen Großvater verlässest, ihn vergissest in der lauten, bewegten Welt draußen, nicht mehr zurückkehren wolltest zu ihm, denn du würdest schöne Kleider und lustige Menschen mehr lieben, als eine treue Seele, die ihr letztes für dich hergäbe, das, Annamirl, würde deinem alten Großvater das Herz brechen.«

Das Mädchen hatte sich an seinen Hals geklammert und schluchzte laut: »O, Großvater, Großvater, ich werde dich immer lieb haben!«

»Da schau' hinauf, Annamirl,« fuhr der Greis fort, »hinauf zum lichten, klaren Himmel und versprich mir, daß du mir dein kindlich inniges Herz, deine Liebe zu Gott und der Natur, deine Bescheidenheit, deinen zufriedenen Sinn, deine Festigkeit im Guten wieder mitbringen wirst aus der fremden, großen Stadt – dann magst du dich auf die Reise vorbereiten.«

Annamirl sah mit großen, ernsten Augen hinauf zum Himmel, hinter dessen klarer Bläue ihr gläubiger Blick das Bild Gottes, des allmächtigen Vaters, auf seinem Strahlenthrone zu sehen vermeinte. »Ich verspreche es,« klang es laut und feierlich von ihren Lippen.

Am nächsten Tage trug Annamirl einen Brief thalwärts zur Post, in dem sie im Namen ihres Großvaters der Muhme die Zusicherung ihres Kommens mit dem besten Danke für das freundliche Anerbieten ausdrückte.

Bald darauf traf ein Antwortschreiben aus der Stadt ein, in welchem die Muhme die gute Entschließung Vater Kilians nicht genug anerkennen konnte. Außerdem schrieb sie, daß ihr Sohn Herbert mit seiner jungen Frau gegen Ende des nächsten Monats in Fischbach eintreffen werde, und dann könnte Annamirl gleich ihre Reise nach der Stadt antreten.

Jetzt hatte Annamirl alle Hände voll zu thun, denn es hieß ja eine Stube herrichten für die Ankömmlinge, zwei Betten aufstellen, den Herd, auf dem nun viel mehr gekocht werden würde, als bisher, so gut als möglich instand setzen und dergleichen mehr.

Es war gut, daß die Frist bis zu Annamirls Abreise keine lange war, sonst hätte sich ihre Spannung, die fröhliche Erwartung und das Ausmalen des neuen Lebens vielleicht bald in einen alles andere besiegenden Schmerz über den Abschied von dem geliebten Großvater verwandelt, so aber war sie von Geschäftigkeit einerseits, von Plänen und Hoffnungen andererseits so in Anspruch genommen, daß wehmütige Empfindungen gar keinen Platz in ihrem Herzen fanden, um so mehr, als sie den Großvater ja nicht allein, sondern mit Verwandten wußte, die für ihn sorgen und ihn zerstreuen würden.

Eines hellen Septembertages wanderte Annamirl den Weg vom Dorfe heimwärts nicht allein, wie gewöhnlich, Onkel Herbert und Tante Thekla schritten an ihrer Seite dahin, und Mirl hatte nicht Augen genug, die Absonderlichkeit ihres Anzuges zu bewundern. Sie sahen so ganz anders aus, als Großvater und die Leute im Dorfe, Tante Thekla trug sogar »Handschuhe« aus braunem Leder und statt eines Mieders mit Bauschärmeln und silbernen Knöpfen ein langes, dunkles, enges Gewand mit weinrotem Samtaufputz, das dem Dirnlein einen gewaltig vornehmen Eindruck machte. Nachdem sie die ersten fremdartigen Eindrücke in sich verarbeitet hatte, war sie schnell gut Freund mit Muhme und Ohm geworden. Sie plauderte und lachte in ihrer gewöhnlichen Weise.

»Und läßt dich denn der Großvater gern fort?« fragte Tante Thekla.

»O, ich glaub' schon,« war Annamirls unbefangene Antwort, »aber um eins bitte ich dich, liebe Tante, gelt, das versprichst du mir, du schaust sehr gut auf den Großvater? Zu Hause will ich dir dann zeigen, wo alle seine Sachen liegen, damit du immer gleich alles findest, wenn er etwas verlangt, und, nicht wahr, du kochst ihm immer etwas, was er gern ißt?«

»Schau', schau', du kleine Befehlshaberin, was denn nicht noch alles? Wenn man einmal so alt ist wie dein Großvater, da kann man nicht verlangen, daß sich die ganze jüngere Welt nach einem richtet. Herbert, du wirst dich gleich morgen nach einer Magd für uns umschauen?«

Annamirl sah plötzlich mit großen, mißtrauischen Augen auf die Sprecherin.

»Was, hast du vielleicht meinen Großvater nicht lieb? Ihm muß man alles thun, was er haben will, er ist so gut und darf's nie schlechter haben als bisher. Sag', Muhme, hast du den Großvater lieb?«

»Versteht sich, versteht sich,« antwortete schnell an ihrer Stelle Onkel Herbert und warf seiner Frau einen beschwichtigenden Blick zu, »es wird ihm sehr gut gehen, verlaß dich drauf; eine erwachsene Frau versteht doch das Haushalten besser als du, Kleine, meinst du nicht?« Und er sah sehr freundlich drein bei diesen Worten. Das beruhigte Annamirl wieder vollständig, denn einen Augenblick lang hatte ihr es geschienen, als sei ihre Muhme Thekla eine etwas eigenwillige, harte Frau und eine geheime, unbestimmte Sorge um den Großvater war plötzlich in ihrem Herzen erwacht. Aber das war nun, so schnell es gekommen, auch wieder verflogen, und sie ward nicht müde, Ohm und Muhme über die Herrlichkeiten der Stadt zu befragen. Vater Kilian, der freundliche Greis, kam, wenn auch zitternd und schwer auf seinen Krückenstock gestützt, den Erwarteten entgegen und begrüßte sie mit einem herzlichen Kuß und »Willkommen«. Dann wurde auf dem Tische vor dem Hüttchen eine einfache Mahlzeit eingenommen. Annamirl aber nippte kaum davon; sie durfte ja die Schachtel der Muhme auspacken und ihren Reiseanzug herausnehmen. Es war ein feines, braunes Wollkleid, dazu ein Hütchen und – o Wunder! lederne Handschuhe und Knöpfelstiefelchen. Mirl stand da wie verzaubert, dann breitete sie alles auf dem Rasen vor sich aus und ging unzähligemal im Kreise daran herum, streichelte bald dies bald jenes Kleidungsstück, und fiel allen dreien stürmisch um den Hals. – – –

»Großvater, leb' wohl, leb' wohl, leb' wohl,« rief Annamirl vier Tage nachher, in ihrem neuen Anzug so verändert ausschauend und so groß, daß der Greis hinter seinen thränenverschleierten Augen hervor sein Herzblatt fast gar nicht erkannte. Zum letztenmal drehte sie sich um, dann lief sie mit Jörg, dem Halterbuben, der ihr Köfferchen trug, den steilen Abhang hinab, und wie sie unten war auf der Wiese und der Großvater sich von oben herabbeugte und mit seinem Käppchen nach ihr schwenkte, da faßte sie ein namenloser Schmerz und sie lief den Weg zurück, bis sie atemlos oben ankam, um ihm nochmals in die Arme zu fallen.

»Gott mit dir, Gott segne dich, mein Herzenskind. Jetzt aber geh'. Es wird spät, du hast noch weit.«

»O, so weit, so weit, Großvater, ich kann nicht, laß mich bei dir.«

Da faßte sie Onkel Herbert mit sanfter Gewalt an der Hand und führte sie fort. Er ging mit ihr bis hinab ins Dorf und fuhr auch bis zur Station, wo Annamirl in die Eisenbahn steigen sollte.

Kaum hatte sie Zeit, ordentlich um sich zu sehen, da schnaubte mit Brausen und Sausen einen dichten, weißen Dampf vor sich herblasend, ein langes, dunkles Etwas daher. Ein schriller Pfiff, Annamirl schrie auf, aber Onkel Herbert beruhigte sie. »Tapfer, klein's Einöddirndl, von jetzt ab werden deine Ohren schon mehr aushalten müssen, als oben in der stillen Hütte oder am See. Das ist die Bahn, da steigst du ein, alles andere hab' ich dir wohl schon oft genug gesagt, das weißt du, behüt' Gott!«

Lautes Glockenbimmeln, die Thüren der gelben, grünen und braunen Kasten flogen zu, wieder ein schriller Pfiff und Annamirl fühlte sich von einer unsichtbaren Gewalt mit einer rasenden Schnelligkeit an Häusern, Wiesen, Bäumen und Bergen vorbeigetragen. Großvater, Ohm und Muhme hatten sie zwar schon genugsam vorbereitet auf diese Fahrt, aber nun sah Annamirl ein, daß sie von der Beschreibung so gut wie nichts verstanden hatte, denn die Wirklichkeit machte einen ganz fremden, beängstigenden Eindruck auf sie. Doch war sie ein mutiges, frohherziges Mädchen und dachte bald mit einem musternden Blick auf ihre Nachbarschaft im Waggon:

»All' die anderen machen ganz gleichgültige Gesichter, so wird's wohl nicht so schrecklich sein, wie's mir scheint.« Und sie blickte neugierig um sich. »Was für ein kurioses Zimmer,« dachte sie, »alles recht schön aus gelbem, glänzendem Holz und all die unbekannten Menschen. Von keinem weiß ich den Namen.« Das geschah ihr nämlich zum erstenmal im Leben, denn im Dorfe kannte sie ja groß und klein. Ganz anheimelnd war es für sie, daß da gerade ihr gegenüber eine Bäuerin saß mit einem breiten Steifrock und einem Kopftuch, dann waren allerlei Männer da, welche rauchten und laut miteinander sprachen. Auch ein kleines Kind hörte man schreien, und endlich sah Annamirl einen Mann, der eine Flasche an den Mund setzte. Das brachte sie auf den Einfall, daß sie sich ja auch gleich etwas aus ihrem Vorratskorb zum Essen herausholen könnte. Schwer fiel ihr nun die Wahl unter all den guten Dingen, die ihr da aus den Papierhüllen entgegendufteten, endlich entschied sie sich für Butterbrot und Apfel, das war so etwas recht Heimatliches und that sehr wohl in der Fremde.

Wie sie nun behaglich mit ihren weißen Zähnchen arbeitete, schien es ihr, als seien die Augen der gegenübersitzenden Bäuerin wie verlangend auf ihre appetitlichen Leckerbissen gerichtet. Die Frau that ihr so leid und sie reichte ihr sofort den offenen Korb hin und bot ihr treuherzig dessen Inhalt an.

»Behüte, das gehört dir,« war die Antwort der Bäuerin.

»Aber mir schmeckt's gar nicht, wenn Ihr so daneben sitzet und nichts zu essen habt, nehmt doch, nehmt.« Und die gute Frau nahm, um das Kind nicht zu kränken, einen Apfel.

Nun sah Annamirl auf ihren Nachbar, der aussah wie ein dürres Schneiderlein; der mochte auch hungrig sein.

»Ich bitt' Euch, nehmt!« Dieser griff schon derber zu, und nun der nächste und jener drüben. Annamirl kam es auf einmal vor, sie könne nichts anderes, als jedem der Anwesenden von ihrem Vorrate anbieten.

»Dieser Wagen ist jetzt ebensogut mein Zimmer, wie die Wohnstube daheim dem Großvater gehört, und wenn jemand hineinkam und wenn's acht oder noch mehr Jäger waren, so hieß er mich jedem etwas vorsetzen.«

Dieser Überlegung gemäß ging sie halb schüchtern, halb herzhaft offen von Bank zu Bank und nötigte die Reisenden, zuzulangen. Glücklicherweise traf sich's, daß der Korb so ausgiebig gefüllt war, daß keiner von allen zu kurz kam, die zu Mirls größter Freude wohl meist sehr erstaunt lächelnd, aber doch sichtlich zufrieden mit dieser unverhofften Speisung in den Korb griffen, den das Mädchen bald fast leer auf ihren Sitzplatz zurückbrachte.

Nun begann es zu dunkeln. Ein kleines Lämpchen in gläserner Gefangenschaft in der Decke des Waggons schwebend, verbreitete ein mattes Licht über den Anwesenden, die sich, so gut es ging, auf ihren Sitzen zum Nachtschlummer zurechtrückten. Auch Mirl war müde und schläfrig und sank trotz Rütteln und Rasseln, trotz harter Holzlehne hinter dem Köpfchen in einen tiefen Schlaf.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel und beleuchtete mit hellem Herbstlicht die Gegend draußen, als Annamirl durch einen plötzlichen Ruck geweckt wurde und die Lider aufschlug. Staunend weiteten sich ihre braunen Rehäuglein. Wohin waren denn die Berge verschwunden, flach und weit dehnte sich das Land vor ihr aus. Wie weggeblasen war alles, was ihr von der Heimat aus so traut erschien. Man flog an großen Häusergruppen vorbei, und gegen die Kirchtürme, die da und dort auftauchten, war des Dörfleins Kirchturm verschwindend klein.

Sie verspürte Hunger, aber mehr als ein Äpflein fand sich im Korbe nicht. Sie verzehrte jedoch mit zufriedenem Lächeln das ungewohnte Frühstück und dachte nicht bedauernd an ihr irdenes Milchschüsselchen daheim, sondern daran, daß sie den Reisenden leider nicht auch zum Frühstück etwas anbieten konnte. Zu ihrer Beruhigung hatten diese selber etwas mitgenommen oder versahen sich an den Haltestellen mit Eßwaren.

Man war eine geraume Weile gefahren, da fragte Mirl schüchtern den Mann im blauen Rocke mit den goldblitzenden Knöpfen, der oft durch den Waggon ging, mit gebührender Ehrfurcht: »Euer Gnaden, bitte, sind wir bald in B.?«

Euer Gnaden, der Herr Kondukteur, lächelte mitleidig auf die kleine, unerfahrene Reisende und ihren gewaltigen Respekt vor ihm herab, antwortete ihr dann aber sehr huldvoll, daß die nächste Station schon B. sei.

In größter Hast langte Annamirl ihr Köfferchen vom Netze herunter und war dann sehr erstaunt, noch eine lange Weile in Erwartung der Ankunft verharren zu müssen.

Jetzt war die Gegend draußen ganz flach und das Grün der Wiesen erschien viel matter, als Mirl es gewohnt war zu sehen, und dort, was war da? Eine weite dunkle Masse, der die Sonnenstrahlen hier und dort und jenseits wieder blitzende Strahlen entlockten. Wie man näher kam, unterschied Annamirls staunendes Auge Häuser mit sonnenbeglänzten Fenstern, Türme, lange, lange Straßen und darin wimmelte es von Menschen und Wagen, o, das war zu prächtig!

»Die Stadt! die Stadt!« jubelte das Bergdirndl auf und klatschte in die Hände, so daß mancher Mitreisende lächelnd auf die Kleine blickte. Nun hielt der Zug. Alles stieg aus, o, welch eine Menschenmenge! Annamirl kam sich wie verloren drin vor und wußte nicht aus noch ein. Da trat plötzlich eine Frau aus dem Menschengewirr auf sie zu: »Bist du vielleicht mein Patenkind Annamaria?«

»Ja, ja, die bin ich,« rief das Mädchen auf das höchste beglückt, »und du, nicht wahr, du bist meine Muhme Karolin?«

»Versteht, sich, versteht sich,« erwiderte die Gefragte und richtete sich mit Selbstgefühl auf. Jetzt erst sah Mirl, daß die Muhme noch prächtiger gekleidet war als Tante Thekla. Sie trug einen Bindehut mit Schleier und Federn und ihr Kleid war von purer, schwarzer, glänzender Seide. Annamirl wurde ganz scheu und ehrfürchtig zu Mute bei dem Anblick solcher Vornehmheit. Doch entging es ihr nicht, daß die Muhme ein sehr blasses Antlitz hatte.

»Aber, liebe Muhme, wenn du krank bist, hättest du mich nicht holen kommen sollen. Schau', ich hätte mich schon durchgefragt bis zu dir.«

»Ja, aber Kind, warum soll ich denn krank sein?«

»Weil du so blaß bist, arme Muhme.«

»Ja, so rote Wangen, wie du, hab' ich freilich nicht,« lachte die Muhme, und ihre grauen Augen, die etwas ernst und kalt auf das Kind geblickt hatten, wurden ganz lustig. »Bei uns in der Stadt ist das selten. Deshalb sind wir aber doch nicht krank. So – jetzt schnell herein in den Wagen.«

Über die Pracht dieses Wagens konnte sich Annamirl gar nicht fassen; er hatte feine dunkelblaue Tuchpolster, war mit zwei schöngeschirrten Braunen bespannt, und auf dem Bocke saß ein Kutscher, der einen noch viel prächtigeren Rock trug als Euer Gnaden, der Herr Kondukteur in der Bahn. Und die Muhme sprach ganz gnädig von oben herab mit ihm. Nun sah Mirl verwirrt auf das unbeschreibliche Gedränge und das unaufhörliche Lärmen der Straße, auf dessen hallendem Pflaster das Gefährte dahinrollte. Sie war ganz sprachlos und gab nur hie und da, wenn etwas gar zu schön oder merkwürdig erschien, ihrer Bewunderung durch laute Ausrufe Ausdruck.

»Kind, du mußt nicht so laut sprechen, das schickt sich bei uns nicht. Und dann noch eines: Muhme klingt so bauernmäßig, du wirst mich immer Tante nennen und ich dich Mariechen, verstanden?«

»O ja,« erwiderte Mirl, »mußt aber nicht böse sein, wenn ich's im Anfang noch oft verwechsle. – O, die Häuser, was sind die hoch und die vielen Läden, wenn ich nur überall hineinkönnte, es müßte zu schön sein!«

»Warte nur, Mariechen, mit mir sollst du schon überall herumkommen. Jetzt aber sind wir daheim.«

Der Wagen hielt vor einem vornehmen Hause mit einem großen, gußeisernen Thor, an dessen beiden Seiten sich Milchglaslaternen auf schlanken, schwarzen Säulen erhoben. – Ein hochgewachsener Herr im bunten Rock, einen Stab mit Quaste und Silberknauf in der Hand, spazierte vor dem Thore auf und ab. Dieser grüßte die Ankömmlinge ehrerbietigst.

»Hier, hier wohnst du, solch ein Haus gehört dir, Muh – Tante?«

»Ruhig, Kind,« wisperte diese, und jetzt waren ihre Wangen purpurrot. Mirl senkte betroffen das Köpfchen, sie sah ein, daß sie etwas gesagt haben müsse, was der Pate sehr unangenehm war vor den vielen Menschen, die da in der langen Thoreinfahrt, in den Stiegenhäusern und Gängen ganz lautlos umhereilten. Die eine Treppe rechts war mit Teppichen belegt, mit Blumen geschmückt und hatte schwere dunkelrotseidene Schnüre entlang des Geländers.

Die Tante führte Mariechen links auf einer breiten, aber einfacheren Steintreppe ein Stockwerk hoch. Voraus ging ein Mann im blauen Rock mit Silberknöpfen, den die Tante Johann nannte und von dem sie ehrerbietig Madame Karoline angesprochen wurde. Er trug Mariechens Köfferchen, öffnete eine weißgestrichene Thür und Mariechen befand sich in einem großen, tiefen Zimmer, in dem die verschiedenartigsten Einrichtungsstücke wie seltsame Fremdlinge auf das sprachlose Kind blickten. Die Tante nahm ihr Körbchen und Schachtel aus der Hand, .den Hut vom Kopfe und drückte sie in einen der rotseidenen Polsterstühle. Ganz erschreckt fuhr aber Mariechen gleich wieder auf, denn sie hatte – war es Zauberei? – sich selbst, wie sie leibte und lebte auf der gegenüberliegenden Wand erblickt.

»Tante, Tante sieh' hin.«

»Kleine Einfalt,« lächelte diese, »in meinem großen Ankleidespiegel hast du dich gesehen. So probier's noch einmal. Was, gefällst du dir?« frug sie, als sie sah, wie Mariechen höher und höher vor Vergnügen errötete bei Betrachtung ihrer eigenen Gestalt. »Warte nur, bis du erst deine neuen Kleider hast.«

Mariechen hatte sich erhoben und rückte langsam schüchtern erst bis zum Spiegel vor, dann machte sie die Runde im Gemache. Das Sofa, die Stühle, der Tisch mit prachtvoll gewirkter Decke und den schöngebundenen Büchern darauf, der vergoldete Blumentisch, die Schränke, die Bilder im Goldrahmen an der Wand, die wahr und wahrhaftig mit gepreßtem Sammetstoff überzogen war, die glänzende Lampe mit dem rosenfarbenen Schirm, der weiche Teppich, die hohen Fenster mit den schweren, seidenen Vorhängen daran, es war zu prächtig, Mariechen konnte es nicht genug bewundern, alles mußte mit der Spitze ihrer Fingerlein betastet werden. Die Tante lachte herzlich über das Entzücken ihres Patenkindes. Sie hatte ein schwarzes Spitzenhäubchen aufgesetzt und saß behaglich am Sofa. Da klopfte es an die Thür. Johann trat ein, eine große Platte voll des feinsten Porzellangeschirres in der erhobenen Rechten schwingend, als sei es eine Feder. Flink deckte er den Tisch, setzte geräuschlos alles auf und als er dabei ein bißchen an Mariechen stieß, sagte er: »Entschuldigen gnädiges Fräulein!« zu dem über solche Höflichkeit ganz erschrockenen Mädchen. Dann verschwand er hinter dem Vorhang der Thüre.

Die Pate schenkte dem starrdasitzenden Mariechen die Tasse voll von einer braunen, aber sehr appetitlichen Flüssigkeit, deren Name »Schokolade« ihr natürlich ganz fremd war. Dazu erhielt sie ein feines Brötchen und aß und trank bald mit ganz verzückten Blicken, denn etwas so Süßes, wie die Schokolade, und etwas so Feines, Knuspriges, wie die Bäckerei, hatte sie noch nie gekostet.

»Und nun, mein liebes Mariechen,« hub die Tante an, als Mariechen den Löffel niederlegte, »laß mich einmal gemütlich mit dir sprechen. Mußt die großen, erstaunten Augen wieder abthun. Das alles ringsum soll nun etwas Gewöhnliches, Alltägliches für dich werden, und ich will dir jetzt die Frage beantworten, die du beim Hereinkommen an mich gestellt hast. Das ganze Haus gehört nicht mir, das gehört seiner Durchlaucht, dem Fürsten Coronini, der aber jetzt mit seiner erlauchten Gemahlin verreist ist. Er ist auch der Besitzer von Fischbachhorn bei euch am See. Ich bin die Beschließerin im Hause der Durchlauchtigsten Herrschaft, d. h. als Aufsicht über die Dienerschaft gesetzt, die Verwahrerin aller Schlüssel, Machthaberin in Zimmern und Küche, kurz eigentlich mehr die Gebieterin im Hause als die Herrschaft selber.

Siehst du, wie weit man es bringen kann, wenn man den Fuß 'mal hinaussetzt aus seinem Schneckenhaus in die Welt, wenn man offen um sich blickt und alles mit einer geschickten, raschen Hand anfaßt. Das sollst du nun auch lernen, ich habe dich ja deswegen von deinem Großvater abverlangt, daß du auch einmal dein Glück machst in der Welt und nicht dastehst wie ein armes Mäusle, das nicht aus, noch ein weiß, nichts kennt als sein Löchelchen. Aber recht strebsam mußt du sein und rasch von Begriffen bei all dem Fremden, das sich jetzt vor dir aufthun wird. Lernen mußt du mir freilich auch noch, denn von Fischbach her wirst du wohl nicht viel mehr als Schreiben und Lesen können, 's wird sich schon alles finden. Beim Rechnen und Schreiben in meinen Haushaltungsbüchern wirst du bald daheim sein, und in der Garderobe ihrer Durchlaucht wirst du schon vor Freude an ihren prachtvollen Kleidern Lust zur Instandhaltung derselben bekommen.«

»O, gute Tante, ich will mein Bestes thun, bis ich nur erst ruhig schauen und denken kann. Es ist gar so schnell so ganz anders um mich geworden, als daheim.«

* * *

So viel Staunen und Verwirrung Mariechen an den ersten Tagen ihres Aufenthaltes in der Stadt an den Tag gelegt, so rasch und leicht hatte sie sich bald in die veränderten Verhältnisse hineingefunden und das neue Leben gefiel ihr ungemein. Die Tage flogen nur so hin in Geschäftigkeit und Vergnügen. Die Einteilung war eine ganz feste, aber dessenungeachtet sehr abwechslungsreich.

Wenn daheim in den Bergen die Sonne wohl schon allen Morgentau von Blatt und Blüte weggeküßt hatte, da stand man hier im Hause des Morgens erst auf. Mariechen schlief in einem reizenden Kabinette neben der Tante, die drei Zimmer bewohnte, und sie hätte ihr des Morgens so gern beim Ankleiden geholfen. Aber davon war keine Rede. Die Tante schellte, und eine knixende Zofe trat ein. Die flocht zuerst Mariechens lange, dicke Zöpfe, dann half sie der alten Dame. Hierauf ließ man sich im Speisezimmer an dem inzwischen von Johann zierlich gedeckten Tisch zum Frühstück nieder. Schokolade und Kuchen war nun schon etwas ganz Gewohntes, Selbstverständliches für unser Mariechen. Doch konnte sie sich nicht allzulange der angenehmen Unterhaltung des Frühstückens hingeben, denn bald meldete Johann den Hauslehrer, bei dem Mariechen täglich zwei Unterrichtsstunden nahm. Denn sie hatte gar viel nachzuholen, um den Stadtkindern ihres Alters an Kenntnissen ebenbürtig zu werden. War der Unterricht beendet, so mußte sie noch vor dem Essen nach dem Diktat der Tante Aufzeichnungen in die Wirtschaftsbücher machen, denn am Nachmittag wurden diese dem Verwalter übergeben, der sie nochmals durchsah.

War dies Geschäft beendet, stand schon die Suppe am zierlich gedeckten Tische, und das schmackhafteste Mittagsmahl wurde Mariechen von der Tante vorgelegt. Freilich hätte sie gern oft ein zweites Mal von dieser oder jener Speise gehabt, nur getraute sie sich nie darum zu bitten. Die Tante aber, so gut sie auch sonst war in allem, hatte doch nicht jene zärtlich fürsorgliche Art, mit der der Großvater besonders beim Essen für sein Enkeltöchterchen gesorgt hatte.

Nach dem Essen schlief die Tante ein Stündchen, und Mariechen machte in ihrem Kabinette die Aufgaben für den nächsten Tag. Dann lag es ihr ob, die Tante zu wecken, die nun ein schwarzes Seidenkleid anzog und draußen unter der Dienerschaft umherrauschte, Befehle erteilte und hie und da nachsah. Nach der Jausenschokolade wurde entweder ein Ausgang in die Stadt unternommen, ein Besuch empfangen oder aber die lange Zimmerflucht des rechten herrschaftlichen Flügels in Augenschein genommen. Hier herrschte überall mattes, durch die tiefherabgelassenen Jalousien gedämpftes Licht, und jedes Zimmer erschien dem staunenden Mädchen wie ein neues Märchen. Hier war ein großer Spiegelsaal mit weißgoldner Wandverkleidung und langen Reihen von Sesseln mit zierlich geschnörkelten Füßen. Daran stießen Salons voll der niedlichsten Nippsachen, mit prachtvoll weichen Teppichen und lauschigen Kaminecken. Trat man in den Speisesaal, so glaubte man sich in einem Forste zu befinden, so lebenswahr stellten die Wandmalereien hier Bilder aus dem Jagdleben dar. Die Bibliothek, die Schlafzimmer mit den reichgeschnitzten Betten, das war alles so herrlich, daß Mariechen nicht wußte, wohin die Augen wenden. Ihr erster Brief an den Großvater, in dem sie all dies beschrieb, war in seiner ganzen Länge ein Ausruf des Entzückens.

Oft begab sich die Tante mit Mariechen in die Garderobe der Fürstin, einem geräumigen Hofzimmer, wo in großen eichenen Schränken eine ganze Ausstellung prachtvoller Gewänder zum Vorschein kam, die einer gründlichen Musterung unterzogen wurden. In ihren kühnsten Träumen hätte sich's Mariechen nicht ausmalen können, daß für eine einzelne Person eine solche Pracht und Menge von Kleidungsstücken könnte vereinigt werden und an ihren Bemerkungen über dieselben sah die Tante, daß das Landkind einen angeborenen guten Geschmack besitze. Vorderhand konnte Mariechen noch nichts anderes thun, als bewundern oder allenfalls die Sachen wieder hübsch ordentlich in den Kasten hängen; aber als die Tante am nächsten Tage mit dem Patenkind in die Stadt ging, um allerlei Kleinigkeiten zu kaufen, die an die Auffrischung der Garderobe gewendet werden sollten, stellte es sich heraus, daß die Kleine alles Erforderliche von der gestrigen Besprechung her genau im Kopfe hatte, sogar die Farbenschattierungen staunend sicher auswählen half.

»Bist mein braves, nützliches Mariechen,« lobte am Heimweg die Tante, »wirst dich schnell hineinfinden und mir bald diese kleinen Einkäufe abnehmen können. Versteht sich, allein gehst du nie, Minette wird dich dann immer begleiten.«

»O nein, Tante, ich gehe allein, ich fürchte mich gar nicht.«

»Aber, Kind wo denkst du hin, das würde sich schlecht schicken für die Nichte einer fürstlichen Hausrepräsentantin.«

Mariechen schwieg kleinlaut aus Angst, gleich wieder einen Verstoß gegen die großstädtischen Sitten zu begehen.

Sie machte nun aber mit der Zeit in ihrer Erfahrung und Verläßlichkeit rasche Fortschritte. Bald fragten die Diener sie und kaum mehr die Tante nach diesem oder jenem Schlüssel, und Einkäufe besorgte sie in Minettens Begleitung auf das beste.

Der Großvater daheim erhielt die zärtlichsten, ausführlichsten Briefe, die voll Glück und lebhafter Beschreibungen waren. Der Großvater, zum Schreiben unfähig, diktierte seine Briefe der Frau Thekla oder Herbert und sie atmeten eine stille, gleichmäßige Heiterkeit und unveränderte Liebe. Hätte Mariechen die Briefe der Pate Karoline an Vater Kilian gelesen, sie wäre hocherfreut gewesen, denn diese überflossen von ihrem Lobe. Es sei staunenswert, schrieb die Muhme, wie schnell und leicht das Kind in den Lehrstunden auffasse, wie eifrig sie in Erwerbung aller ihr abgehenden Kenntnisse sei, wie fleißig und geschickt sie ihr in allen häuslichen Verrichtungen zur Hand gehe.

Mariechen hörte sich gern loben, ebensowohl wenn von ihrer Klugheit, als wenn von ihrem hübschen Äußeren günstig gesprochen wurde. Wie die Zeit so dahin ging, fing sie an, besonders auf dies letztere aufmerksam zu werden. Im Beginne hatte sie mit Feuereifer gelernt und gearbeitet um der Sache selbst und der Tante willen; nach und nach strebte sie durch stets regen Fleiß die ihr in Aussicht gestellten Belohnungen je früher zu erlangen.

Das schlich sich so ganz allmählich, von Mariechen selbst unbemerkt in ihr Herz, ohne daß sie auch nur ahnte, es sei unrecht. Als sich aber nach und nach das unangenehme Bewußtsein einstellte, sie sei in ihrer Herzensreinheit und Bescheidenheit schon um einen gewaltigen Schritt zurückgegangen während dieser zwei Monate, da wollte Mariechen nicht daran denken, und ließ die Sache ihre natürlichen Fortschritte machen. Fräulein Karoline beschäftigte sich wenig mit dem Innenleben des ihr anvertrauten Kindes, so sehr sie sich auch dessen äußere Ausbildung angelegen sein ließ. In Bezug auf diese steuerte sie nämlich sachte wohl, aber sehr entschieden auf ein festgesetztes Ziel los, und dies letztere war, sich in Mariechen eine Art Nachfolgerin im fürstlichen Hause heranzubilden. Bei diesem Plane wurde sie vor allem von dem Wunsch geleitet, der Waise eine sichere Zukunft zu schaffen und das war sehr löblich gedacht. Freilich war das Gelingen fraglich. Mariechen war ja von so einfacher Abkunft und im Alter von vierzehn Jahren noch von so großer Unerfahrenheit. Sie müßte sich nur durch außerordentliche Geschicklichkeit, große Vertrauenswürdigkeit und ein liebenswürdiges Benehmen auszeichnen und so das ihr sonst Fehlende ersetzen können, dann würde die erlauchte Herrschaft vielleicht geneigt sein, das Mädchen trotz ihrer Jugend zur ersten Kammerfrau zu ernennen, denn zur Beschließerin oder Hausrepräsentantin war sie – und wenn man das Kühnste für möglich hielt – auf Jahre und Jahre hinaus denn doch zu jung. Das gute Fräulein Karoline war nicht wenig unternehmend, das muß man sagen, aber sie hatte sich selbst als junge Waise rechtschaffen aus einem einfachen Elternhause heraus mit eigenem Mut und eigener Beharrlichkeit zu ihrer geachteten und verantwortlichen Stellung aufgeschwungen; sie hatte erfahren, daß edle Abkunft und Geld sehr viel gelten in der Welt, daß aber Fleiß und Thatkraft auch etwas erreichen können.

Vorläufig ließ das Fräulein Karoline gegen niemand auch nur das kleinste Wörtlein über ihren Plan fallen. Oft lächelte sie nur still zufrieden in sich hinein, wenn sie sah, wie das Kind durch seine Anlagen ihrem Vorhaben ganz unbewußt entgegenkam. Und nun beging sie einen großen Fehler. Um das Mädchen möglichst günstig für den Aufenthalt im Fürstenhause zu stimmen, all ihre Sehnsucht nach ihrer stillen, schönen Heimat in ihrem Herzen zu ersticken, suchte sie einerseits ihre Eitelkeit zu fördern durch reiche Kleidung und durch Lob ihrer Anmut, andererseits aber sprach sie mit einem leisen Spott von Mariechens bäuerischer Vergangenheit, von Vater Kilians altfränkischen Gewohnheiten und der Beschränktheit der Landleute überhaupt. Dies that dem Kinde im innersten Herzen weh, aber sie hatte doch so viel Ehrfurcht vor den Urteilen der Tante, daß sie den Mut nicht fand, die von ihr klar gefühlten Ungerechtigkeiten zu widerlegen.

Nun war der Winter eingezogen. Doch schien er dem Bergdirndl recht zahm zu sein hier in der Stadt, denn es hatten seine Schneestürme hier jene wilde Erscheinung nicht wie oben zwischen den Felsenriesen. Von Lawinen war schon vollends keine Spur vorhanden. Und die Behaglichkeit des offenen Kaminfeuers! Zudem war ihr des Winters Öde um so weniger fühlbar, als sie über Hals und Kopf in der angenehmsten Thätigkeit steckte. Das durchlauchtigste Fürstenpaar sollte in einer Woche aus einem südlichen Kurorte eintreffen, um die Weihnachtsfeiertage in der Stadt zu verbringen, und nun wurden alle Kräfte der Madame Karoline und durch sie Mariechen in lebhafteste Geschäftigkeit versetzt.

Alle Zimmer mußten instand gesetzt, sämtliche Wirtschaftsbücher in schönster Ordnung in dem Arbeitskabinette des Fürsten aufgelegt werden, denn dieser war trotz seines Reichtums und all seiner Vornehmheit ein genauer Mann, der sich von der Pünktlichkeit seiner Untergebenen gern selbst überzeugte. Mariechen mußte alle Tage lange Abhandlungen über das Benehmen anhören, dessen sie sich nun befleißen müsse.

Am Abend der festgesetzten Ankunft des Fürstenpaares, als Madame Karoline in ihrem schwersten, schwarzen Seidenkleide mit einer ganz gehörigen Schleppe würdevoll draußen umherrauschte, die letzten Befehle erteilend, da war Zofe Minette beschäftigt, das gnädige Fräulein Mariechen auf das festlichste mit einem weißen Kleide und einer breiten Seidenschärpe zu schmücken.

Sie sollte den erlauchten Herrschaften, die so gütig erlaubt hatten, daß Tante Karoline sie zu sich ins Haus nehme, einen Blumenstrauß überreichen. Da stand sie nun in der Vorhalle in Lackschühlein und langen, weißen Handschuhen, den mächtigen Strauß berauschend duftender Treibhauspflanzen in der zitternden Rechten, und dachte: »Wenn mich nur der Großvater so sehen könnte!«

Jetzt rollte ein Wagen heran, er hielt, der Lakai öffnete mit seinem tiefsten Bückling den Wagenschlag. Eine hohe, schlanke Gestalt in kostbarem Pelz sprang leichtfüßig vom Tritt in die Vorhalle. Madame Karoline zupfte Mariechen und flüsterte gebietend: »Jetzt!« Das Kind machte an der Seite der sich tief verneigenden Tante einen regelrechten Hofknix und überreichte über und über errötend, doch mit lieblichem Lächeln den Strauß.

»Ah, Madame Karoline, Sie haben fürwahr ein herziges Patenkind! Vielen Dank für die schönen Blumen,« klang es einfach und doch so herzlich von den Lippen der hohen Frau. O, wie gütig ihre schönen, blauen Augen dabei auf das glückstrahlende Mägdlein blickten! Ja, sie beugte sich nieder und berührte des Kindes Stirn mit ihren Lippen. Mariechens Herz schlug zum Zerspringen; ihr war's, als habe sich ihre teure Mutter auf sie herabgeneigt, und sie küßte die kleinen behandschuhten Hände der Fürstin heiß und lange. Nun kam der Fürst, ein ernstblickender Herr mit langem, dunklem Barte; er nickte freundlich nach allen Seiten und tauschte mit der Kleinen sogar einen kräftigen Handschlag aus.

Hierauf geleitete Madame Karoline das fürstliche Paar über die lichtflutende Treppe, der Schwarm von Lakaien verlor sich in den rechten Flügel und Mariechen ging still in der Tante Wohnung zurück. Dort dachte sie über die eben vergangenen Minuten nach und ein plötzliches Bangen erfaßte sie, als sie sich ihrer großen Schüchternheit und der langen Handküsse erinnerte, wegen welcher die Tante gewiß schelten würde. Doch nein, als sie wiederkam mit der gewöhnlichen Ruhe auf ihrem blassen, würdevollen Gesicht, küßte und umarmte sie die aufgeregte Kleine so zärtlich wie noch nie zuvor und sprach lobend: »Hast deine Sache gut gemacht, Mariechen; du gefällst Ihrer Durchlaucht der gnädigsten Fürstin sehr gut, denn sie ist selbst auf einem fürstlichen Landsitze in Natureinsamkeit aufgewachsen und liebt das Natürliche sehr. Noch eins, Mariechen,« setzte sie dann kälter werdend hinzu, »daß dein Großvater ein Bauer ist, braucht hier niemand zu wissen; du hast es hoffentlich noch vor keinem auf die große Glocke gehängt. Frag' mich nicht weiter, Kind, aber das paßt nun einmal nicht hierher. Verstanden?«

Erst war Mariechen bis ins innerste Herz erschrocken – den Großvater, den sie so liebte, so achtete, verleugnen? Doch dann fiel ihr plötzlich ein: »Es ist ja wahr, wozu brauchen die anderen zu wissen, was er ist, wenn sie nur eine recht schöne Vorstellung von ihm haben!«

Die nächste Zeit brachte nun für Mariechen viel Neues und Interessantes. Täglich fuhr die fürstliche Karosse vor mit den prachtvollen andalusischen Rappen und die Fürstin in den kostbarsten Gewändern stieg voll Anmut ein, oft sogar einen freundlichen Gruß hinaufwinkend gegen das Fenster, hinter dessen Scheiben ein lächelndes Mädchenantlitz erschien. Und Mariechen konnte dann, alles andere vergessend, stundenlang an dem Fenster stehen und auf die Rückkunft der Fürstin warten, um noch einmal das gütige Antlitz, die lieblichen Bewegungen, die prachtvolle Kleidung der hohen Dame bewundern zu können. Die Tante schalt nicht und wenn das Kind auch Zeit verlor durch das müßige Warten, die Bewunderung Mariechens für die Fürstin war ihr gerade recht.

Die hohe Frau hatte wohl keine Ahnung davon, wie sehr sie das Kind beglückte, wenn sie Madame Karoline bat, die Kleine doch in ihre Gemächer herüberzuführen. Dann sprach sie mit dem Mädchen gar freundlich, öffnete kostbare Bücher mit herrlichen Bildern und seidene Bonbonnieren vor ihr; oder sie setzte sich an den Flügel und entlockte demselben die schönsten Klänge, die je in des entzückten Kindes Ohr gelangt waren. Solange sie drüben war, strahlte die Kleine vor Glück und Wonne; besonders wenn sie die zum Ball geschmückte Fürstin über die Treppe geleiten und ihr Fächer und Blumen nachtragen durfte.

Kehrte sie aber dann wieder in die stilleren Zimmer der Tante zurück, da wurde sie nun oft plötzlich ganz ernst und still und unglücklich. Einmal setzte sie sich sogar auf ein Schemelchen in irgend einer Ecke und fing bitterlich an zu weinen. Da ward die Tante unwillig und rief streng: »Fort mit den Thränen; das Weinen verdirbt dir die ganze Gesichtsfarbe, und ich seh' auch gar nicht ein, warum du weinen solltest, lebst da wie eine Prinzessin und sollst es in Zukunft –« hier brach sie plötzlich ab, denn sie wollte nun einmal nicht verraten, was sie mit Mariechen vorhabe.

Diese schluckte und schluckte die Thränen mit aller Macht hinab und bat leise, auf ihr Zimmer gehen zu dürfen, denn sie müsse für morgen noch etwas lernen. Die Tante voll Stolz über ihre Erziehungskünste, die dem kleinen Bergdirndl schon so viel Selbstbeherrschung beigebracht hatten, ging gar nicht weiter auf die Ursache der Thränen ein.

Da saß nun Mariechen vor einem aufgeschlagenen Buche sehr unglücklich über ihre erste Lüge, denn in Wahrheit hatte sie gar nichts für morgen zu lernen, sah scheinbar eifrig in die bedruckten Seiten, innerlich gab sie sich den bittersten Überlegungen hin. Heute war zum erstenmal eine quälende Unzufriedenheit in ihrem Herzen erwacht darüber, daß sie eines armen Mannes Kind und keine Fürstentochter war. Ja, so thöricht, so verblendet war Mariechen, daß sie mit Schrecken die Kürze der Frist bemaß, die ihrem Aufenthalte in diesem fürstlichen Paradies gesteckt war. Nicht mit Liebe und Sehnsucht, nein, mit Unmut dachte sie an die Rückkehr in ihres Großvaters Hüttchen, in ihre Heimat, die plötzlich allen Reiz für sie verloren, die ihr wie eine Wildnis voll toter Bäume und öder Felsen erschien. Sie war eitel, hoffärtig, gefall- und vergnügungssüchtig geworden; sie hatte die Einfalt, die Kindlichkeit eines guten, reinen Herzens verloren, das überall glücklich ist, besonders aber in der Umgebung der herrlichen Natur und guter Menschen, und seien diese noch so schlicht und bescheiden in ihrer Lebensstellung.

Am nächsten Morgen waren die Thränenspuren von Mariechens Antlitz vollständig verschwunden und in ihrem gewöhnlich heiteren, sorglosen Herzen war es wieder hell. Jeder Tag brachte so viel Neues und Schönes, daß ihre Gedanken immer die angenehmste Ablenkung fanden. Heute hatte sie wieder eine große Freude erlebt; sie durfte nämlich auf den Wunsch der Fürstin, die des Kindes große Vorliebe für Musik bemerkt hatte, ihren ersten Klavierunterricht bei einem bewährten Lehrer der Stadt auf dem schönen Flügel im Sitzzimmer der hohen Dame beginnen. Madame Karolin zitterte vor Glück über diese Huldbezeigung der gnädigen Fürstin. Mariechens zarte, nun weiße Fingerchen, die einst noch, als sie braun gewesen, gescheuert und gekocht hatten, glitten jetzt beweglich und tonfreudig über die Tasten, und auch in dieser Kunst machte das begabte Kind erstaunliche Fortschritte, was ihren Stolz natürlich nicht verminderte.

Dem armen, alten Vater Kilian mochte es wohl ganz schwindlig zu Mute werden, wenn ihm droben in der stillen, weltentlegenen Hütte die zartbunten, duftenden Briefchen seiner Enkeltochter vorgelesen wurden, die nun gar schon Klavierspielen lernte, ja einmal sogar in der Prachtkarosse mit der Fürstin ausgefahren und – ins Theater mitgenommen worden war. Immer seltener und oberflächlicher wurden dagegen die Fragen nach seinem Befinden, nach Waldmann, Dachsl und Nandl, kurz nach allem, was ihr einst in der Heimat traut und lieb gewesen. Und wenn Frau Thekla nicht genug staunen konnte über das Glück, welches das Kind in der Stadt gemacht hatte, und dem alten Vater Kilian immer wieder die Stellen vorlas, in welchen Annamirl beschrieb, wie schön sie in den neuen Kleidern aussehe, und daß alle sie lobten wegen ihrer Gescheitheit, da lächelte er wohl freundlich dazu; aber wenn dann der einsame, alte Mann schlaflos allein drin in der engen Kammer lag, welche ihm die etwas eigennützigen Verwandten in seinem eigenen Hause zugewiesen, wenn er daran dachte, wie traurig und öde es ihm zu Mute war, seit Annamirl in die Fremde gezogen, wie nun niemand mehr auf seine langjährigen Gewohnheiten, auf sein hohes Alter Rücksicht nahm, wie nun vielleicht auch das Kind, das so an Putz und Vergnügen hing, ihrer schlichten Heimat und seinem treuen Herzen entfremdet würde, da rannen Thränen aus seinen alten, müden Augen die runzligen Wangen hinab auf sein Kissen und er faltete die zitternden Hände zu dem innigen Gebete: »Gott schütze und behüte meinen Liebling draußen in der Welt, erhalte ihm ein reines Herz und einen treuen, schlichten Sinn.«

* * *

Die Weihnacht breitete ihre Engelsflügel über die weite, weiße Erde aus. In der Stadt ging's noch einmal so lebhaft und geschäftig wie gewöhnlich zu. Es war das größte Vergnügen für Mariechen, sich, über den knarrenden Schnee der Straße schreitend, in das Gedränge der hin und wieder eilenden Menschen zu mischen, die alle mit geheimnisvollen Päckchen beladen, bald aus einem Geschäfte traten, bald in ein solches verschwanden. Und die Laden selber, war das eine Pracht in den Schaufenstern! Bei den Zuckerbäckern standen flimmernde Christbäumchen in allen Größen, und auch über jedem anderen Geschäfte lag der weihnachtliche Zauber. Vom Weihnachtsmarkte vor dem altehrwürdigen Rathaus war Mariechen fast gar nicht fortzubringen. Doch als sie eines Tages wieder mitten in den künstlich aufgestellten Tannenwald eintrat, ward sie plötzlich blaß und blieb stehen.

»Ich habe ja auf den Großvater ganz vergessen!«

O, und daheim hatte sie sich noch so fest vorgenommen, sie wolle den ganzen Herbst über bis Weihnachten für den Großvater stricken und häkeln. Nun war es nur mehr acht Tage bis dahin und sie hatte noch an kein Geschenk für ihn gedacht. Sie ließ die verblüffte Minette, die mit ihr ging, stehen, wo sie war, und lief spornstreichs nach Hause – geradeaus in das Zimmer der Tante, die erschrocken aus ihrem Nachmittagsschlummer auffuhr, und rief:

»Tante, Tante, schnell Wolle und Nadeln, mir ist soeben am Wege eingefallen, daß ich ja dem Großvater Pulswärmer und Socken stricken muß zu Weihnachten.«

»Das ist wieder eine Idee!« war die Antwort der Tante und sie fuhr dann ruhiger fort, »ja, auf den Vater Kilian haben wir beide vergessen, aber erschrecken hättest du mich deswegen nicht brauchen. Natürlich läßt man die altmodische Strickerei sein und kauft warme Sachen; ich will gleich nachher mit dir gehen.«

Still ließ Mariechen ihr Köpfchen sinken. Die Tante verstand sie nicht. Kaufen, das war nicht das Richtige. Sie fühlte, es würde dem Großvater weh thun, wenn er lauter feine, gewirkte Sachen erblickte und nicht ein Stück, daran sie selber gearbeitet. Aber die Tante wollte es ja so haben und dann war die Zeit bis Weihnachten so kurz. Aber ein Paar Socken wenigstens mußte sie noch fertig bringen. Die Tante hatte ihr ja erst gestern wieder Geld für ihre eigenen kleinen Einkäufe auf dem Weihnachtsmarkt gegeben.

»Nein, diesmal werden keine Süßigkeiten gekauft!« befahl sich Mariechen selber mit sehr ernstem Gesicht. »Ich stricke dem Großvater ein Paar schöne Socken von Kaninchenwolle und wenn ich keine Nacht schlafe bis Weihnachten, ich kann sie ja ganz heimlich in die Kiste stecken, damit die Tante nicht schelte wegen des Ausbleibens.«

Und so geschah es. Erst legte sie sich zum Scheine in ihr Bettchen, und wenn dann die Tante eingeschlafen war, zündete sie sachte ein Licht an und strickte im Bette sitzend, tapfer gegen Schlaf und Müdigkeit kämpfend, eifrigst drauf los. Die Kerzen, die sie dabei verbrannte, waren auch von ihrem eigenen, durch unterlassene Vergnügungskäufe erübrigten Gelde. Die Heimlichkeit bei der ganzen Sache war nicht recht und Mariechen hätte sich dieselbe ersparen können. Wenn sie bisher immer eine große Liebe und Anhänglichkeit für den Großvater an den Tag gelegt hätte, würde die Tante, wenn sie auch eine mehr kalte Frau war, dies kindlich schöne Gefühl gewiß mehr geehrt und gegen die ihm entspringenden Wünsche und Handlungen nichts Ernstliches eingewendet haben.

Doch, wie dem auch sei, die Selbstüberwindung des Sparens und Wachens war noch ein Stück altes, gutherziges, treues Waldannamirl, und der Großvater mochte etwas Ähnliches fühlen; denn als er das von Annamirl selbst gestrickte Sockenpaar in die Hand nahm mit dem Zettelchen darauf: »Von deiner Mirl ganz allein,« da weinte er heimlich Freudenthränen darauf, während er beim Anblick der anderen, feinen Sachen sagte: »Die gute Muhme Karolin, wie viel Geld sie für mich aufgewendet hat.«

Und zu unterst in der Kiste war eine Schachtel und auf dieser stand wieder: »Von deiner Mirl ganz allein.«

Es waren die schönsten, süßesten Leckerbissen vom Weihnachtsmarkt, die Mariechen auch von erspartem Gelde für den Großvater gekauft. Kein Tannenbaum brannte in der stillen Hütte, aber ein heller Schein fiel weither aus der fernen Stadt bis hinaus in die dunkle Kammer, wo der früh zu Bett gegangene Greis mit dankbar wehmütigen Blicken zum gestirnten Himmel aufsah.

O Mariechen, Mariechen, die du nach der erledigten Absendung der Kiste nach Hause, wieder ganz Leichtfuß und Tollköpfchen mitten in der Weihnachtsgeschäftigkeit umherwirbelst, hättest du diese Blicke voll Sehnsucht nach dir in deines alten, treuen Großvaters Auge gesehen, du wärest nicht so wunschlos glücklich vor der Bescherung gestanden, welche die kinderfreundliche, kinderlose Fürstin auf das schönste für dich hat aufbauen lassen, und wenn du noch die bescheidene, liebevolle Mirl von ehemals wärest, so würdest du den Glanz der Weihnachtsfeier hier im Hause gern entbehrt haben um den Preis, den Großvater wiedersehen und umarmen zu können. Nun aber, da Mariechens Sinn auf Glanz und Vergnügungen gerichtet war, mochte sie gar nicht an daheim denken, dort war es ja so still und traurig und hier – o, das Bescherungszimmer glich dem Schauplatz eines Zaubermärchens. Da lagen schöne, neue Kleider auf den Stühlen, duftige Schürzchen, eine pelzbesetzte Winterjacke mit Muff und Käppchen, Schlittschuhe, Bücher, Süßigkeiten. Und der Christbaum, welche Fülle von blitzenden Sternen, Zuckerwerk, Ketten und Lichtlein!

Neujahr kam, der Baum wurde geplündert, und die alte Ordnung kam wieder ins Geleise. Mariechen war recht fleißig, sie lernte eifrig, und legte viel Begabung und Geschick an den Tag in Dingen, die Kleidernähen und Putzmacherei betrafen. Sie war jetzt bald fünfzehn Jahre alt und schon begann Madame Karoline ihr einige Gegenstände für die fürstliche Garderobe selbst anfertigen, besonders aber einfache Hüte aufputzen zu lassen.

Der Abend aber wurde der Geselligkeit gewidmet. Madame Karoline hatte viele Bekannte, die auch Kinder und junge Leute bei ihren Besuchen mitbrachten. Auch der Theaterbesuch wurde Mariechen nach und nach etwas ganz Gewöhnliches und sie war es, welche der Tante, die sich nun nach all ihres Lebens Geschäftigkeit gern etwas Ruhe und Bequemlichkeit gönnte, immer wieder die Einwilligung zu dieser Ausfahrt mit Bekannten, zu jenem Besuche, kurz zu allerlei Vergnügungen abschmeichelte. Dabei nahm sie es nicht sehr genau mit der Wahrheit. Wenn die Tante fragte, ob sie für den Lehrer auf den nächsten Tag etwas aufhabe, verneinte sie es ganz kühn, wenn auch das Gegenteil der Fall war, um nur ja nicht dadurch in einem Vergnügen behindert zu sein und etwa zu Hause bleiben zu müssen, während die Tante fortging.

Bertha, ein Mädchen, mit dem sie auch verkehrte, machte sich kein Gewissen daraus, ihre Eltern mit heimlichen Näschereien zu betrügen, sich Bücher ohne Erlaubnis zu holen und dergleichen Dinge mehr. Mariechen, deren Herz ihr zwar abriet davon, gab dem thörichten Mädchen recht, das sich über die übertriebene Strenge ihrer Eltern oft bei der Freundin beklagte und strich ihr mitleidig über das Haar, und weil Bertha dieses in gebrannten Löckchen um die Stirne trug, wußte sie es durchzusetzen, daß auch sie mit ihren Haaren ein Gleiches thun dürfte.

Und das eitle Mädchen vergeudete viele Stunden mit müßigem Putzen und mit eifriger Überlegung vor dem Spiegel, was ihr denn am besten stünde. Sie fühlte es, der Großvater würde Einsprache gegen ein solches Verhalten erhoben haben; die Tante that es nicht, und so wandte sich ihr thörichtes Herz immer mehr dieser zu und von jenem ab, der häufig in seinen Briefen leise Mahnungen an sein Enkelkind ergehen ließ.

Über all dies ging der Winter rasch dahin. Der Frühling sandte seine hellen Sonnenstrahlen auch über die verbaute luftarme Stadt und wenn Mariechen jetzt noch das alte Mirl gewesen wäre, da hätte sie es kaum ausgehalten zwischen den engen Mauern vor Sehnsucht nach dem Anblick des freien, blauen Himmels, der grünen Matten, der würzigen Luft ihrer Heimat. In ihrer jetzigen Verfassung aber, war sie von der Natur nur entzückt, wenn man mit lustiger Gesellschaft im neuen, hellen Kleide einen Ausflug nach den Lustorten in der Umgebung der Stadt unternahm. Einmal gab's sogar Gondelfahrt im reich dekorierten Boote auf künstlich angelegtem Teiche und eine regelrechte Blumenschlacht.

Wenn Mariechen allein fort durfte mit den bekannten Familien, da kannte sie keinen Zügel für ihre Lustigkeit, für ihr Wünschen und Handeln, und wenn ihr auch oft dabei das Gewissen das milde, vorwurfsvolle Auge Vater Kilians ins Gedächtnis rief. Der ganze Sommer war ein Vergnügen, eine Lustbarkeit.

Das junge fürstliche Paar befand sich schon seit Frühling auf Reisen; im Hause gab es infolgedessen weniger zu thun, und die Tante, die sonst gegen die Dienerschaft so straff die Zügel hielt, war dem einschmeichelnden Wesen Mariechens gegenüber von beispielloser Nachgiebigkeit.

Der einzige Schatten in der hellen Gegenwart war für Mariechen der Gedanke an den Herbst. Nun war sie bald ein Jahr hier in der Stadt und hatte viel gelernt, das ist wahr. Tafeln decken, Zimmer und Kleider instandhalten, einer Dienerschaft befehlen, sie beaufsichtigen, die feinsten Speisen kochen, Einkäufe machen, das verstand sie ebensogut wie die Tante selbst; dazu spielte sie am Klavier eine nette Hand, sang Lieder von Noten und plauderte französisch, doch was sollte sie mit all dem in der Einöde beim Vater Kilian beginnen?

»Seine Tage sind ja gezählt,« überlegte die Tante, »wir werden ihm so hübsch zart und sachte beibringen, daß Mariechen wenigstens noch über den Winter dableiben müsse, wenn's nur nicht wäre wegen des fatalen Alleinseins dort oben, sobald Herbert –«

»Onkel Herbert schreibt,« schnitt da Mariechens helle Stimme der Tante Gedanken mitten durch, indem sie mit einem Briefe in der Hand eintrat. Die Tante las und ihre Züge erhellten sich zusehends dabei.

»Onkel Herbert teilt mir mit,« sagte sie dann zu Mariechen gewendet, »die Herstellung des Schlosses Fischbachhorn werde seine Anwesenheit in Fischbach noch für eine Zeit lang nötig machen; da kann mein braves Mariechen noch über den Winter bei mir bleiben.«

»Wirklich!« rief das Mädchen strahlend vor glücklicher Überraschung.

»Und da ist etwas für dich vom Großvater selbst!«

»Mein herzliebes Kind,« stand da in zitterigen Schriftzügen; diesmal hatte der Greis seinem Unvermögen zum Trotz die wenigen Zeilen selbst zu Papier gebracht. »Nun ist's bald Herbst. O, wie ich mich freue auf dich! Herbert und Thekla bleiben über den Winter doch da. Komm' bald, du mein Herzenstrost zu

Deinem
alten, treuen Großvater.«

 

Mit sichtlicher Enttäuschung ließ Mariechen das Blatt sinken. Wohl hatte ihr der Anblick der zitterigen Schriftzüge erst mächtig ans Herz gegriffen, aber ihr Wunsch hier zu bleiben, besiegte alles Übrige.

»Du siehst, Tante, der Großvater will es nicht,« sprach sie kleinlaut.

»Sei nicht so kindisch, glaubst du, er meint das so wörtlich. »Bald« ist ja noch gar keine bestimmte Frist. Laß mich nur machen; ich will ihm gleich schreiben.«

Und Mariechen, anstatt daß sie gerufen hätte: »Nein, nein, liebe Tante, laß mich schreiben: »Großvater, ich komme bevor es Herbst wird,« Mariechen zog sich ohne Widerrede in ihr Zimmer zurück, und die Tante setzte einen sehr ausführlichen, sehr freundlichen und bestimmt gehaltenen Brief auf, in dem sie klar die Notwendigkeit vorlegte, noch mindestens ein halbes Jahr zur Vervollkommnung der Ausbildung Mariechens vor sich zu haben.

Johann brachte den Brief zur Post und nach einer Woche, einer langen, bangen Woche kam die Antwort.

»Mit Gottes Segen, in Gottes Namen bleib' mein Kind,« ließ der Großvater sagen, »ich will geduldig warten, und der gütige Vater im Himmel wird mich leben lassen, bis ich dich wiedersehe.«

Der Sommer verging, der Herbst zog ein. Als dann die Weihnacht wieder in Stadt und Land alle Freudenglocken in Bewegung setzte, dachte Mariechen nicht mehr daran, sich bei ihren Einkäufen am Weihnachtsmarkte etwas zu versagen um des Großvaters willen, noch erschien es ihr lieblos, ihm eine reiche Sendung gekaufter Gegenstände zu schicken, anstatt selbstgefertigter Dinge.

Sie verlebte die Feiertage in Saus und Braus und freute sich der Tanzschuhe und des weißen Tüllkleides über allem anderen am Weihnachtstisch, denn das war wieder um ein Glanz mehr für die Tanzstunden, an denen sie seit Herbst mit Altersgenossinnen in befreundeten Familien teilnahm. Sie, die Leichtfüßige, die schon daheim mit den Gemsen um die Wette von Stein zu Stein gesprungen war, übertraf auch hier im lichterhellen Tanzsaale alle übrigen an Leichtigkeit und Anmut.

Die Durchlauchten waren während dieses Winters in einem südlichen Kurorte abwesend, da die etwas leidende Fürstin Erholung brauchte. Man sprach davon, daß sie den nächsten Sommer zum größten Teil auf dem bis dahin fertiggestellten Schloß Fischbachhorn zubringen würden. Mariechen dachte mit großem Unbehagen daran, wie leicht dann ihre vornehmen Wohlthäter all die Schlichtheit und die Armut ihres eigentlichen Daheims durchblicken könnten, und dieser Gedanke trieb ihr schon jetzt, selbst hier so weit von Fischbach die glühende Röte einer falschen Scham in die Wangen.

Und die Zeit der Heimkehr rückte immer näher und näher, und Mariechen ward immer unruhiger und verstimmter. Der Tante war es auch nicht sehr behaglich zu Mute und sie überlegte, ob nicht neuerdings ein ausführlicher Brief an den nachgiebigen Vater Kilian zu richten wäre, um den Aufenthalt Mariechens in der Stadt zu verlängern. Nun war es schon April, aber merkwürdigerweise traf keine Mahnung ans Heimkommen von Fischbach ein, ja überhaupt seit längerer Zeit schon keinerlei Nachricht.

Da präsentierte Johann eines Tages auf silberner Platte einen Brief aus den Bergen. Die Tante öffnete ihn und las. Mariechen, die gerade ein neugelerntes Lied auf das fröhlichste vor sich hinsummte, hielt plötzlich mit einem Angstschrei inne, als sie auf das Gesicht der Tante blickte, die totenblaß geworden war.

»Mariechen, wir müssen deine Sachen packen,« brachte sie stockend hervor. »Dein Großvater liegt, – ich meine, er ist sehr krank; Kind beruhige dich, so schlimm ist's nicht.«

Mariechen hörte nichts mehr, sie hatte sich nur den Satz ergänzt: Großvater liegt im Sterben, dann war sie mit einem lauten herzzerreißenden Schmerzensschrei aufs Sofa gesunken. Sie vernahm die Beruhigungen der Tante nicht, fühlte nicht deren liebkosendes Streicheln über Haar und Wangen – es war, als brauste um sie und in ihr eine erregte, tobende Flut und die Wogen derselben hießen Reue, schmerzliche Erkenntnis, namenlose Sehnsucht, grenzenloses Mitleid mit dem armen, alten, vergessenen und vernachlässigten Großvater. Wie Nebelschleier zerrissen alle Gefühle und Gedanken der Gegenwart in ihrem Herzen, klar und deutlich trat darin das Bild des guten Greises auf, der all sein Denken und Thun stets nur dem Wohle, der zartesten Sorge für sein Enkeltöchterchen zugewendet hatte und das abgeschabte Käppchen, seine bäuerische Joppe, die groben Schuhe, die in ihrer Erinnerung mit auftauchten, waren plötzlich nicht mehr Gegenstände ihrer geheimen Scham, nein es waren traute, liebe Teile des treuesten, selbstlosesten Menschen, den sie kannte – und hätten ihr alle hier in der Stadt noch mehr Gutes gethan und Schönes geschenkt, als es schon der Fall gewesen, ein solches Herz wie der alte Vater Kilian hatte hier keines für sie. O, das empfand sie jetzt so deutlich. Er war gut, und doch wenn es sich um ihre Erziehung handelte, nie schwach und nachgiebig gewesen, wie die Tante gar oft. Mariechen erschrak nun, da sie erkannte, wie sehr sie diese Nachgiebigkeit ihrer Pate die ganze Zeit über mißbraucht hatte. Da stand vor ihr die Annamirl von ehemals, die mit himmelwärts gehobenem Blick versprochen hatte, den Großvater immer lieben, ihm ein reines, bescheidenes Herz aus der Stadt wieder heimbringen zu wollen – und das Mariechen von heute – ach, gestern noch hatte sie lächelnd gelogen, gestern war sie noch eine Stunde in eitler Selbstbetrachtung vor dem Spiegel gestanden, gestern noch hatte sie heimlich Näschereien von Bertha angenommen trotz des Verbotes der Tante, und gestern war schon weitab von hier oben in der stillen Waldhütte in Schwäche und Schmerzen der Großvater gelegen, und die Worte waren geschrieben worden, die ihr eben jetzt fast das Herz brachen.

»Tante,« schrie sie auf und stellte sich totenblaß mit verstörten Zügen auf die Füße, »ich fahre sofort, wie ich bin, ich brauche nichts als Tuch und Hut. O Gott, wenn der Großvater derweil stürbe,« und sie sank wieder einer Ohnmacht nahe auf den Teppich. Die Tante hob sie sanft tröstend auf.

»Mariechen, sei mein tapferes, gescheites Mädchen. Dein Köfferchen ist schon bereit. Ich habe Johann befohlen anspannen zu lassen. Trockne deine Thränen; setz' dich schön ruhig hier nieder und trink' diesen Thee, es ist noch Zeit bis zur Abfahrt des nächsten Zuges. Ich brauche dir wohl keine Verhaltungsmaßregeln auf die Reise mitzugeben, bist ja meine weltgewandte, kleine Dame. Ich kann mit dem besten Willen nicht mit dir fahren, du weißt die Ankunft Seiner Durchlaucht wird in den nächsten Tagen erwartet. Grüße mir den Großvater schön, und wenn er wieder gesund ist, dann wird sich schon alles wieder machen.«

Mariechen nickte wortlos, mit farblosen Lippen und abwesenden Augen küßte sie die Tante, als sie in den Wagen stieg, winkte noch einmal Lebewohl, dann verschwand das Gefährte im Straßengewühl.

Die ganze Nacht hindurch war Mariechen mit dumpfem, ödem Kopf, schmerzenden Gliedern und brennenden Wangen in einem Waggon erster Klasse auf weichen Sammetkissen durch die stillen, dunklen Landschaften gefahren. Jetzt grüßte der Morgenstern herein bei dem Waggonfenster und Mariechen sah um sich. Sie saß ganz allein in dem vornehm ausgestatteten Raum und dachte darüber nach, wie sich das alles gleich einem Traum vollzogen hatte vergangenen Abend. Johann hatte im Auftrage der Tante ihr Billet gelöst und ihr geholfen, es sich auf den roten Sammetkissen bequem zu machen. Nun saß sie da und vor ihr stieg die Erinnerung an die erste Eisenbahnfahrt ihres Lebens auf, die sie in der dritten Klasse ganz steif eingeengt in ihre neue ungewohnte, städtische Kleidung und doch so herzensfroh vor anderthalb Jahren angetreten. An all ihre glücklichen Hoffnungen und Gedanken von damals dachte sie, an jede Einzelheit, auch an die Speisung der Mitreisenden von ihren Vorräten, und sie sah mit schmerzlicher Reue, wie sie damals immer nur an andere gedacht und dabei selbst stets so heiter und zufrieden gewesen, nun aber, seit sie sich in den Mittelpunkt all ihrer Wünsche und Gedanken gestellt hatte, war jenes wahre, dauerhafte Glück von ihr gewichen und trotzdem sie nun im Vergleiche zu damals um so vieles vornehmer und gebildeter war, kam sie sich doch innerlich so arm vor. Und dann überwältigte sie der fürchterliche Gedanke: Vielleicht ist es nie wieder gut zu machen, vielleicht konnte sie nicht mehr abbitten die Lieblosigkeit und Hoffart, mit der sie sich all die Monate hindurch von ihrem liebsten, treuesten Angehörigen abgewandt, vielleicht liegt er schon still und tot in der Hütte daheim und hat das Bewußtsein mit sich genommen, all seine Liebe an ein undankbares, leichtsinniges Kind verschwendet zu haben.

Auf Mariechens Wangen brannten Thränen, deren Glut, deren Bitterkeit niemand beschreiben kann. Endlich, endlich wich die Flachheit der Gegend felsigen und grünen Höhen, die Luft, die bei dem geöffneten Fenster hereinströmte, war stark und würzig und etwas wie Beruhigung kam in Mariechens gequälte Brust, als sie den heimatlichen Duft atmete. Jetzt tauchten bekannte Bergketten auf, und dort – dort grüßte der Kirchturm von Fischbach herüber. Lautschluchzend preßte das Mädchen ihr Antlitz gegen die Scheiben des Fensters – jetzt hielt der Zug, der Schaffner selbst hob der vornehmen jungen Reisenden die feine Ledertasche aus dem Waggon; dort stand Onkel Herbert mit blassen, ernsten Zügen.

»Mirl, da ist sie! Nun hab' ich schon drei Züge abgepaßt und endlich bringt dich der vierte doch.«

»Großvater?« hauchte Mariechen und in ihrem farblosen, thränennassen Antlitz las der Onkel eine furchtbare Angst.

»Ruhig, ruhig, Annamirl, heute geht's schon wieder besser. O, er freut sich so sehr auf dich, aber da wird nichts daraus, Mirl, wenn du so weinst und so zitterst, kann ich dich nicht zu ihm lassen. Du mußt mir versprechen, so ruhig und heiter als möglich zu sein.«

Das wirkte. Mariechen kämpfte die Thränen hinunter, und sah mit großen, durstigen Augen um sich. Es war so schön hier, wunderbar schön. O, welch eine Himmelsbläue, welch frisches Grün, welch trautes Rauschen und Rieseln von zahllosen Bächlein ringsum; o, wieviel wohlklingende Vogelstimmen, wieviel Duft und Sonnenschein neben erquickendem Schatten! Aber nicht mehr webte sich jenes freundschaftliche Band, das sie einst zu vollkommenster Zusammengehörigkeit mit der Natur verbunden, zwischen dieser und ihr. Es überwältigte sie der Anblick der großartigen Schönheit ihrer Heimat, aber sie kam sich wie eine Fremde darin vor, welche die traute Sprache in Wald und Feld, zwischen Busch und Quelle nicht mehr verstand. Schweigend wanderte sie an der Seite des Ohms, der ihre Tasche trug und das blasse Mädchen mitleidig von der Seite ansah, den blumenumdufteten Pfad zur Hütte hinan. Er erzählte ihr schonend von der Erkrankung des Großvaters und wie schwer er sich entschlossen habe, sein ahnungsloses Enkelkind durch die Mitteilung von derselben zu erschrecken und plötzlich heimzurufen.

Da schlug ein bekannter, lauter Ton an Mariechens Ohr – das Gebell Dachsls und dann Waldmanns, und aus dem Gebüsch sprangen die getreuen Wächter schwanzwedelnd mit hellem Freudengeheul an der rasch Erkannten empor. Mariechen beugte sich nieder, streichelte die lieben Tierlein und mußte all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, damit ihr dabei nicht wieder die Thränen aus den Augen strömten.

Dort stand die Hütte mit dem moosbezogenen Dach und man trat in die wohlbekannte Thür, über der das Hirschgeweih thronte. Frau Thekla trat vor und reichte dem Mädchen freundlich die Hand; die fremde Magd steckte den Kopf neugierig zur Küchenthür hinein.

Onkel Herbert aber ging, um Vater Kilian schonend von der Ankunft Mirls zu benachrichtigen. Diese sah sich inzwischen im Wohnzimmer um; hier war es sehr verändert, wo früher Großvaters Sachen gestanden, war jetzt alles voll von Gerätschaften der beiden anderen Hauptinwohner.

Endlich öffnete sich die Thür der Kammer – von schneeweißem Bart und Haupthaar umrahmt lag dort das blasse, abgezehrte und gefurchte Antlitz des Greises auf schmalen, bunten Kissen. Aus seinen weitgeöffneten, müden Augen aber brach ein Strahl überirdischer Freude, als die liebliche Gestalt seines so lang und sehnsüchtig erwarteten Enkelkindes im Thürrahmen erschien.

»Großvater, einziger Großvater!« jubelte und schluchzte dieses in einem und warf sich, alle Mahnungen zur Ruhe und Mäßigkeit vergessend, an seine Brust.

* * *

Es war nun schöner, lichter Sommer. Dunkler färbte sich alles Laub, und im Thale unten wurden die Obstbäume ihres Kirschreichtums entledigt. Nicht heiß, nur angenehm warm schien die Sonne hier oben auf den Rasenplatz vor der Hütte, wo von Annamirl sorglich gestützt und eingehüllt Vater Kilian unter der versilberten Tanne saß.

Heute morgen waren Tante Thekla und Onkel Herbert thalwärts gewandert, denn Schloß Fischbachhorn war im besten Stande seit Wochen, und nun da der Großvater seine Bettlägerigkeit glücklich überstanden, war ihre Rückkehr in die Stadt, wo neue Arbeiten auf den Baumeister warteten, nicht mehr zu verschieben.

Da saßen nun die beiden glücklich in ihrer trauten Einsamkeit. Sie sind wohl noch sehr blaß nach all den überstandenen Leiden, aber inniger Friede strahlt aus beider Augen.

Wieder daheim.

»Da wären wir nun wieder unter der alten Tanne. Ihr letztes Grün ist verblichen, siehst, Annamirl, ich hab' vorausgesehen, daß sie's verlieren wird. Aber eins ist nicht eingetroffen, noch ist sie nicht umgestürzt. Verstehst mich, Annamirl? Schau', ich hab' auch mein Tannengrün, mein Herzenskind beinahe verloren. O, glaub' nicht, daß ich nicht alles ahnte, soweit weg ich auch von dir war. Wenn ich auch nur ein alter, schlichter Mann bin, der kaum mehr lesen kann, das Lesen zwischen den Zeilen verstehe ich wie einer und übte es immer an deinen Briefen. Aber siehst du, Mirl, trotzdem ich's vorausgefühlt, was du mir jetzt nachher gestanden, ich kannte deinen braven, tüchtigen Grund, wollte, daß du aus dir selbst heraus wieder die Alte würdest und der liebe Gott hat es, wenn auch auf eine strenge, plötzliche Weise, so doch sehr wirksam durch meine Erkrankung herbeigeführt. Nun, da alles vorüber, da alles verziehen ist von meiner, und gut gemacht durch herzliche Reue von deiner Seite, jetzt können wir ganz ruhig und friedlich davon sprechen.

Schau', so hat's nicht kommen müssen, Annamirl; du hättest viel Nützliches lernen können drin bei der Muhme und doch ein kindlich bescheidenes, reines Herz behalten können, denn das ist nicht die wahre Stärke, nicht die wahre Tugend, die gleich bei der ersten Versuchung knickt wie das Rohr im Winde. Irgendwo in der Einsamkeit nicht eitel werden, das ist keine Kunst, aber gerade, wenn man Gelegenheit hat, es zu bemerken, oder vielleicht auch zu hören, daß man hübscher sei als viele andere, wenn man schöne Kleider trägt, dabei einfach und bescheiden und ohne Einbildung zu bleiben, das ist's, was des Herzens Güte beweist. Schönheit und Anmut sind Gaben von Gott,« fuhr der weise Greis fort, »über die wir uns dankbar freuen mögen, wegen welcher wir uns aber niemals über andere erheben dürfen.«

»O ja, ja, Großvater, das seh' ich jetzt so klar,« war des Mädchens überzeugte Antwort, »doch ich war nicht nur eitel allein, auch so lieblos gegen dich, Großvater, ach, ich kann's gar nicht so erzählen, aber mir wird sterbenstraurig zu Mute, wenn ich daran denke; und dann noch eins, Großvater – eins kommt niemals wieder, wie's gewesen ist – wenn ich draußen bin im Freien, auf der Wiese, im Walde oder am See, es ist alles so still um mich, so stumm, und früher, ach, früher, da war's, als könnte alles sprechen, als seien Baum und Blümchen, Vöglein und Schmetterling meine Spielkameraden – o, so wird's niemals, niemals wieder!«

Mirl schmiegte den Kopf an des Greises Schulter und Thränen rannen ihr über die Wänglein herab.

»O, doch, doch, mein Kind, glaub' nur das nicht. Wenn du dir jetzt auch noch wie eine halbe Fremde in der lieben, trauten Heimat vorkommst, so ist das nur die Folge des verlorenen Friedens, der gestörten Ruh' in deinem Herzen. Je mehr dieses in die alte, stille Bahn zurücklenkt, desto vertrauter wirst du wieder mit allem werden, was dich in deinen ersten Kinderjahren umgeben hat.«

Mariechens Thränen floßen sanfter; sie schwieg und erst nach einer Weile fragte sie plötzlich: »Großvater, sag', war die Tante Thekla immer gut gegen dich?«

»Kind, was bringt dich auf diese Frage?«

»Bitte, Großvater, sag's!«

»Darüber wollte ich schweigen, Annamirl, denn ich rede nicht gern auch nur das geringste Nachteilige von einem Menschen, und wenn's auch die Wahrheit ist. Aber nun, da du mich frägst, will ich dir's sagen. Sie ist eine herrschsüchtige Natur. Was sie will, muß geschehen. Sie hat ohne Frage, ohne Schonung meine ganze alte Ordnung im Hause von oberst zu unterst gekehrt und ich habe viel darunter gelitten. Nicht, daß sie für mich nicht gesorgt hätte, aber auf ihre eigene Weise that sie's. Im warmen Bette bleiben in der Früh, beim Kachelofen essen, wie ich's gewohnt war, am Abend eine kleine Lesung hören, als alter, erfahrener Mann auch ein Wörtlein mitsprechen dürfen, das und noch viel mehr gab's die ganze Zeit her nimmer für mich. Die Menschen sollen verträglich, entgegenkommend und nachsichtig sein untereinander, da lebt sich's so schön und friedlich, gelt, Annamirl, so wie du jetzt zu mir bist.«

»O Großvater, Großvater, werd' ich's jemals gut machen können, daß ich nicht dablieb für dich zu sorgen, dich zu pflegen! Und ich ahnte es, Onkel Herbert werde gut sein zu dir und Tante Thekla – o, wenn du schon soviel sagst, du guter Großvater, wie vorher, da muß sie schon schlimm rücksichtslos gewesen sein.«

»Meine Annamirl hat mir gefehlt, ja, ja, gar sehr, aber Tante Thekla hat viel Gutes auch, sie ist eine strenge, musterhafte Hausfrau und den Mädchen im Dorfe hat sie manche praktische Neuerung gelehrt.«

Unter diesem Gespräche hatte sich Vater Kilian erhoben und Mariechen führte ihn ein wenig auf der samtgrünen Wiese umher bis in den Wald hinein, wo erquickende Kühle aus Moos und Blättern hauchte.

»Sag', Mirl, gefällt's dir denn wirklich wieder hier in der Heimat bei dem stillen Alten? Wie ist dir denn zu Mute, wenn du an alles denkst, was du in der Stadt drin hattest, und nun entbehren mußt?«

»Wie mir zu Mute ist, Großvater? O, wenn ich's nur so recht sagen könnte; weißt du, ich denke so, wie wenn ein Wanderer in ein ganz fremdes, reiches Land kommt und einen ganzen Tag lang die wunderlichen Dinge anstaunt und von einem zum anderen läuft, so daß er gar nicht recht zur Besinnung kommt, dann ist ihm am Abend so müde und taumlig im Kopfe, und er denkt: Jetzt hab' ich genug davon. Glaub' mir, Großvater, eine ordentliche Arbeit hier macht nicht so müde wie das Hin- und Herdrängen dort drin, das lange Aufbleiben des Abends in den heißen, vollen Räumen.«

»Ich wollt's mir selber nicht gestehen, aber ich habe mich oft sehr nach der stillen, schönen Heimat gesehnt. Du glaubst nicht, Großvater, wie mir unser Schwarzbrot, die Milch, unser einfach Süpplein nun schmeckt nach all den Leckerbissen.«

»Bei denen du blaß geworden bist, meine Kleine,« fiel der Großvater ein. »Aber deine schönen Kleider?«

Die Begegnung mit der Fürstin.

»O, die muß die Tante alle verschenken.«

»Aber, Mirl, sie wird dich bald wieder zurückhaben wollen, da brauchst du sie ja.«

»Ich – zurück? Großvater, was denkst du? Wenn du in mein Herz gesehen hättest in der Nacht als ich heimfuhr, und glaubte, dich nicht mehr lebend zu finden, o Großvater, du würdest nicht glauben, daß ich noch jemals von dir wegkönnte.«

»Jetzt weiß ich's,« sprach mit einem Freudenleuchten in den Augen der Greis, »daß du wirklich meine alte Annamirl wieder bist, denn du hast den Großvater, der dir nichts geben kann, als ein Herz voll Treu lieber als die Pracht und Herrlichkeit da draußen.«

Mariechen nickte glücklich und schmiegte sich zärtlich an den Greis.

»Ich bin der Tante sehr dankbar für alles, was ich bei ihr hatte und bekam und dann der gnädigsten Fürst–«

Da brach sie mitten in der Rede ab, tief errötend vor Überraschung, denn siehe – die sie soeben genannt, trat im hellen Sommerkleide lieblich wie eine Fee aus dem Waldesdunkel, Merkur, ihr überschlankes, hochbeiniges Windspiel zur Seite. Der Blick der Heranschreitenden haftete von ferne schon mit forschendem Interesse an den Gestalten des Greises und seiner jugendlichen Begleiterin.

»Mariechen – du?« rief sie endlich, »hier daheim? Davon hab' ich ja gar nichts gewußt.«

»Seit einem Monat schon, Durchlaucht,« erwiderte die Gefragte mit einem tiefen, zierlichen Knix.

»Mein lieber, guter Großvater, Durchlaucht, der die Zeit bisher so krank gewesen ist.«

Die hohe Dame reichte dem Greise, der ehrerbietig sein Käppchen zog und sich zitternd verneigte, auf das freundlichste die behandschuhte Rechte.

»Jetzt werdet Ihr aber froh sein, daß Ihr Euer Mariechen wieder habt.«

»O Ihro Gnaden, ich kann's nicht sagen wie, und tausend, tausend Dank von mir armen Alten, der's nicht besser ausdrücken kann, für all die Güte, die Ihro Gnaden dem Kinde bewiesen.«

»Ach, guter Vater Kilian, da giebt's wohl nichts zu danken, es war mir ja selber die größte Freude, wenn ich Euer Mariechen bei mir hatte. Ich hoffe, ich werde sie jetzt alle Tage auf Schloß Fischbachhorn sehen, nicht wahr, Vater Kilian, Ihr erlaubt es?«

»Welche Ehre für uns, Ihro Gnaden.«

»Ich habe auch hier einen Flügel, da kannst du spielen, mein Liebling, sonst verlernst du ja alles.«

»Durchlaucht,« hub Mariechen nach einer Pause an, »ich – ich hätte eine so große Bitte – ich weiß nicht, ob ich's sagen darf, wenn Ihre Durchlaucht sich in Großvaters Hütte bemühen wollten; ich möchte so gern, daß Durchlaucht einmal bei uns einen kleinen Imbiß nehmen.«

»Danke, danke, Kind, wenn ich Euch keine Ungelegenheiten mache, von Herzen gern.«

Die hohe Dame winkte dem Diener, der ihr in respektvoller Entfernung folgte, gab ihm den Befehl, im Walde auf ihre Rückkehr zu warten und begab sich mit Vater Kilian und Mariechen nach der nahen Hütte.

Mariechen sprang voraus, deckte drin in der kühlen Stube säuberlich den Tisch und setzte in den besten Gefäßen des Hauses schäumende Milch, gelbe Butter, Schwarzbrot und eine Schüssel appetitlich gezuckerter Erdbeeren darauf. Leutselig nahm die Fürstin Platz in der niederen Stube und Mariechen war entzückt, Ihrer Durchlaucht aufwarten zu können, während diese eifrig mit dem Großvater sprach.

Am nächsten Tage legte Mariechen eines ihrer einfacheren Stadtkleider an, die sie behalten hatte, und begab sich nach Schloß Fischbachhorn. Den Großvater mußte sie leider allein daheim lassen, da der Weg für ihn viel zu weit und diese Seite des Berges unbefahrbar war.

Als Mariechen die vornehmen hohen Räume betrat, gefiel ihr zwar alles sehr gut, aber von jenem Gefühle des Neides, das sie in der Stadt so oft belastet und verbittert hatte, war ihr Herz nun völlig befreit.

Die Fürstin empfing sie mit mütterlicher Herzlichkeit. Sie mußte Schokolade trinken und Kuchen essen, nachdem sie alle Räume betrachtet hatte, und dann durfte sie sich ans Klavier setzen und nach Herzenslust spielen. Endlich führte die Fürstin sie in den Schloßgarten hinab und in der lauschigen Gartenlaube schlang die hohe Dame innig den Arm um des jungen Mädchens Nacken und sprach so gütig und teilnehmend mit ihr, daß Mariechen ihr ganzes Herz aufschloß.

»Das hoffärtige Stadtmariechen aber ist nun fort, Durchlaucht,« endete Mariechen, »das ist bestimmt, denn drinnen war es mir immer ein sehr unangenehmer Gedanke, daß Ihre Durchlaucht erfahren könnten, welch einfacher Mann mein Großvater ist. Nun aber bin ich so froh, daß Ihre Durchlaucht ihn kennen und schäme mich nicht ein bißchen, daß wir ganz arme, einfache Menschen sind. Nicht wahr, Durchlaucht verachten uns deswegen gewiß nicht?«

»Verachten,« rief die Fürstin, »Kind, wisse, ob reich, ob arm, das macht's nicht aus. Wem im Herzen, in der Seele das Gold des Edelmutes und der Rechtschaffenheit liegt, der ist reich, und arm der begüterte Gemütlose.«

* * *

Jahre sind seither vergangen. Drunten im Dorfkirchhof ruht der Großvater. Mirl ist nicht die Kammerfrau der Fürstin geworden. Ihre elterliche Hütte wurde zu einem schmucken Forsthaus umgebaut; darin waltete sie als die glückliche, junge Frau Erichs, des fürstlichen Försters.

Die Pate Karoline hat es ihr erst nach und nach verziehen, daß sie ihr mit »ihrer Vorliebe für die Wildnis« den ganzen schönen Plan einer glänzenden Zukunft verdorben habe.

Doch hatte sie sich herzlich mit ihrem lieben, unverbesserlichen Mariechen ausgesöhnt, bevor sie auch zur ewigen Ruhe einging.

Frau Annamirl aber lebt glücklich mit ihrem Gatten und ihren herzigen Kindern in der trauten, teuren Heimat. Die Fürstin hat selbstlos auf den Wunsch verzichtet, ihren Liebling stets um sich zu haben; sie sah ein, daß es am besten so passe, wie es nun war. Durch die Nähe des Schlosses Fischbachhorn blieb Frau Annamirl mit ihrer Familie nicht ganz abgeschlossen von jenem vornehmen Leben, an das die Backfischzeit sie gewöhnt hatte, und doch lebte und wirkte sie in ländlicher Stille, in dem trauten Bereiche ihrer schönsten Kindererinnerungen. Wenn sie mit ihren Kindern draußen war und diese jubelten und ergötzten sich an der Pracht ringsum, da war's, als dämmere ihre eigene Kindheit wieder herauf und sie verstand wieder, was Busch und Quelle, Wind und Blümchen, Vögel und Sonnenglanz all zusammen verkünden von Gottes wunderbarer Vatergüte, von echtem Glück und wahrem Frieden.


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