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4. Der Fremde.

Wochenlang schwebte Hiller zwischen Tod und Leben, endlich aber trug die sorgfältige Pflege, trug seine starke Natur den Sieg davon; langsam, sehr langsam erholte er sich. Helene drückte der so lässig fortschreitenden Genesung wegen dem Arzt gegenüber ihre Verwunderung aus. Es sei doch merkwürdig, sagte sie, daß bei der starken Konstitution ihres Mannes seine Kräfte so langsam zunehmen.

Der Gelehrte senkte beim Anhören dieser Aeußerung nachdenklich den Kopf. »Ja,« sagte er, »ich habe schon selbst darüber nachgedacht und mir doch diese Erscheinung nicht erklären können; wüßte ich nicht, mit wie inniger Liebe Ihr Herr Gemahl an Ihnen und den Seinen hängt, ich würde glauben, er sei des Lebens überdrüssig, oder besser gesagt, er fände den Mut zu einem neuen Leben nicht wieder!«

Helene lächelte. »Nein, Herr Doktor,« sagte sie, »da kann des Uebels Wurzel nicht liegen.«

Hätte sie in das Innere ihres Mannes sehen können, ihr Lächeln wäre erstorben. Ja, der Arzt hatte recht, Hiller erholte sich nicht, weil ihm der Mut zum Leben fehlte, weil er bedauerte, nicht gestorben zu sein. Dennoch nahmen seine Kräfte stetig, wenn auch langsam, zu.

Er wohnte jetzt mit Helene allein in dem Landhause am See. Ulmann war nach Kassel gefahren, um für seinen kranken Schwiegersohn die Leitung des Geschäfts zu übernehmen, und der Kleine war zu Verwandten gebracht worden, um durch seine kindliche Lebhaftigkeit die Ruhe nicht zu stören, die sowohl der Kranke wie der Genesende brauchte.

Mit dem nahenden Herbst nahm der Fremdenzufluß in der Gegend lebhaft zu; der Anschluß der Sekundärbahn an einen der großen Schienenwege erschloß das sonst stillere Fleckchen Erde der Neugier der Vergnügungsreisenden.

Für Hiller und Helene war diese Aenderung eine willkommene Abwechselung. Der Arzt hatte Hiller die Lektüre verboten und auch Helene untersagt, dem Kranken vorzulesen. So blieb die einzige Zerstreuung des Rekonvalescenten, auf der Veranda zu sitzen und die vorübergehenden Touristen zu mustern.

Eines Tages, als sie auf der Veranda saßen, Helene mit einer Handarbeit beschäftigt und Hiller den Zug der Fremden betrachtend, machte Helene ihren Mann plötzlich auf einen des Weges daherkommenden Touristen aufmerksam.

»Sieh, Benno,« sagte sie, »der Herr da hat ganz Deine Figur.«

Hiller hob den Blick, um im nächsten Moment aufgerichtet nach dem Fremden hinzustarren. Die Entfernung zwischen ihm und dem langsam Näherkommenden war noch zu groß, um seine Gesichtszüge unterscheiden zu können, aber in der Figur glaubte er – wenn eine Möglichkeit vorhanden gewesen wäre – Wismar zu erkennen.

Mit angehaltenem Atem wartete er das Herankommen des Fremden ab; aber dieser blieb plötzlich stehen, betrachtete das Landhaus und seine Bewohner einen Augenblick durch ein kleines Opernglas, drehte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen.

Schwer atmend sank Hiller in seinen Stuhl zurück. Der Fremde mochte wohl Wismar gleichen, aber er selbst – – nur tödlich Getroffene fallen mit dem Gesicht auf die Erde, das wußte er, und so war Wismar gefallen, und ferner wußte er, daß für Mörder sehr häufig die Gesichter ganz gleichgültiger Personen die Züge der Ermordeten annehmen.

»Mörder!« Es durchschauerte ihn jedesmal, wenn er sich so nennen mußte, und er sträubte sich gegen den Gedanken, es zu sein. Nein, er war kein Mörder; er hatte in der Notwehr den niedergeschossen, der sein Leben bedrohte, er hätte ihm gern das Dasein gegönnt, wenn er das seine nicht gefährdet hätte. Ihm blieb keine Wahl; besser wär's freilich, er hätte ihn nicht zu töten brauchen, und wenn er ihn aufwecken könnte? – aber der lag schon längst da unten. – Merkwürdig war es aber doch, daß Helene auch die Aehnlichkeit mit ihm bei dem Fremden bemerkt; diese Aehnlichkeit konnte also nicht bloß die Ausgeburt seiner Mörderphantasie sein. Tagelang grübelte er darüber nach, bis ihm durch Helene eine Kunde von dem Fremden wurde.

Sie hatte ihn jenseits des Sees in einem Dorfe getroffen. Sie schilderte Hiller ihr Erschrecken bei der Begegnung, es sei beinahe unheimlich, wie sehr der Fremde ihm gleiche. Größe, Gesichtszüge und Gang beider sei vollständig gleich, und sonderbar, jener sei ebenso blaß, wie er, als habe derselbe vor kurzem auch eine schwere Krankheit durchgemacht.

Hiller hörte mit gespanntem Interesse den Bericht. Standen die Toten auf? Er wußte nicht, ob er fürchten oder hoffen sollte.

Er zitterte, daß Wismar leben möchte, und fühlte sich in dem Gedanken doch von einer drückenden Last befreit.

Die kleinen Spaziergänge, die er in den letzten Tagen am Arme Helenens unternommen, wurden durch plötzlich eintretendes Regenwetter unterbrochen. Tagelang war die Gegend wie in einen grauen Mantel gehüllt, der Fremdenzuzug hörte auf, der rätselhafte Fremde war verschwunden.

Hiller hatte sich, trotzdem er die Gefährlichkeit des Vorhabens einsah, die Nummern des Ilmenauer Stadtblattes von Juni an schicken lassen und studierte, obwohl ihm der Arzt das Lesen immer noch nicht erlauben wollte, eifrig dessen Inhalt. Aber trotzdem er die Blätter mehrere Male von vorn bis hinten durchlas, er fand nichts, was auf die Blutthat am Tulpenstein Bezug gehabt hätte. Dennoch überzeugte ihn diese Thatsache wenig, er wußte zu genau, daß man in Bädern Selbstmorde gern vertuschte. Die Badeverwaltungen haben ein großes Interesse daran, derartige Ereignisse nicht bekannt werden zu lassen. Der Selbstmord eines Kurgastes oder Fremden übt stets eine nachteilige Wirkung auf die Frequenz des Bades aus. Nur eine Gewißheit schöpfte Hiller aus der Lektüre, und zwar die, daß er außer aller Gefahr. Hatte man Wismar am Tulpenstein gefunden, so war der Getötete als Selbstmörder angesehen und als solcher begraben worden. Einen Mord hätten die Blätter nicht verschwiegen, nicht verschweigen können.

Aber der blasse Fremde, wer war er? War es ein Geist, eine Spukgestalt, die gekommen war, ihn zur Rechenschaft zu ziehen?

Er lächelte bei dem Gedanken. Er, der starre Materialist, für den das Leben aufhörte, wenn das Herz ausgeschlagen, für den es weder Gutes noch Böses in der Welt gab, der nur ein Gesetz kannte, das der Notwendigkeit, für den Regungen der Reue und des Gewissens weiter nichts wie angeborene Vorurteile im Aberglauben erwachsener Eltern, Erbteile früherer Generationen, die in geistiger Stumpfheit dahingelebt.

Nein, ein Geist war es nicht, das wußte er.

Und wenn es Wismar war? wenn ihn irgend ein Zufall vom Tode gerettet? was sollte dann geschehen? Stieg nicht die Gefahr, die er schon beseitigt wähnte, drohender als früher vor ihm auf? Wie sollte er Wismar gegenübertreten? Würde derselbe nicht heute sich noch viel unversöhnlicher zeigen, wie ehedem? Das war ja rein menschlich, natürlich. Was sollte er nun thun, wie sich schützen? Sollte er jetzt den Kampf aufgeben, und wenn er ihn von neuem aufnahm, wie ihn führen? Warum unternahm Wismar nichts gegen ihn? was konnte er im Schilde führen? und schließlich, wovon lebte er? Hiller hatte das ganze Vermögen des vermutlich Ermordeten in Händen. Wismar besaß nichts, als die tausend Dollar, die er sich in Hamburg zurückbehalten, und die tausend Mark, die ihm Hiller geschickt. Seit seiner Haftentlassung war beinahe ein Vierteljahr vergangen, bei Wismars Lebensgewohnheiten mußte die Summe bereits aufgebraucht sein.

Er mußte Gewißheit haben. Er mußte den Fremden aufsuchen, mußte ihn sprechen, koste es, was es wolle. Er bestimmte einen der Nachmittage, an denen Helene nach der nächstgelegenen Stadt zu fahren pflegte, um Erkundigungen einzuziehen. Der Ort, wo er seine Nachforschungen beginnen wollte, war das Dorf, in welchem seine Frau den Fremden getroffen. Er war nunmehr so weit hergestellt, um allein ausgehen zu können, auch die Gemütsbewegung fürchtete er nicht, wohl aber, daß seine noch angegriffenen Nerven ihn im Stich lassen oder ihn zu großer Nachgiebigkeit bestimmen könnten.

Er mußte sich noch eine Weile gedulden, ehe er sein Vorhaben ausführen konnte; das Regenwetter hielt an und Helene verschob die Fahrt von einem Tage zum andern. Endlich schien die Sonne wieder. Das Wetter war wunderschön, als sich Hiller zum Aufbruch rüstete. Es war das erste Mal, daß er es wagte, allein einen Ausflug unternahm, aber er rüstete sich dazu ohne Besorgnis, daß derselbe von üblen Folgen für seine Gesundheit sein könnte. Dehnend reckte er seine Glieder, als er ins Freie trat, mit Wohlbehagen ließ er die heißen Strahlen der Nachmittagsonne auf sich einwirken.

Langsam stieg er den Fußpfad hinab, der von dem Landhaus zur Dampferstation führte, er hatte Zeit und brauchte sich nicht allzusehr zu beeilen. Von einem kleinen Hügel aus ließ er sein Auge über die Wasserfläche streichen, und was er da erblickte, ließ sein Herz rascher schlagen. In einem kleinen Kahn, der sich langsam dem Ufer näherte, saß emsig rudernd ein Mann. Es war der Fremde!

Wie zu Stein erstarrt, blickte Hiller nach dem auf- und abschwankenden Boot.

War es Wismar?

Die Entfernung war noch zu groß, um die Gesichtszüge des Fremden zu erkennen. Hiller erkannte nur die Gestalt und den Anzug, den der Ruderer trug. Einen solchen Anzug hatte Wismar getragen, als er ihn niederstreckte.

Der Fremde im Boot wurde des Wartenden nicht gewahr, er strebte dem Ufer zu und band, nachdem er es erreicht und ans Land gesprungen war, das Boot an den Zweigen eines Strauches fest. Dann watete er durch das hohe Ufergras dem Wege zu.

Hiller, der noch außer Rufweite entfernt war, fing jetzt an zu laufen, um den Fremden einzuholen. Ein Gebüsch verbarg denselben jetzt vor seinen Blicken, aber kaum hatte er dieses erreicht, da trat der Gesuchte plötzlich hinter dem Buschwerk hervor.

Beide standen sich Aug' in Auge gegenüber. Wie entgeistert starrte Hiller dem vor ihm Stehenden ins Gesicht. Es war Wismar.

Wismar fuhr beim Anblick Hillers erschreckt und bestürzt zurück und griff in die Brusttasche. Hiller achtete es nicht, er starrte nur immer in das Gesicht seines Gegenüber. Endlich brach er in die Worte aus: »Also Sie leben!«

Wismar hatte sich soweit gefaßt, um einzusehen, daß er bei dieser Begegnung einer Gefahr nicht ausgesetzt sei. Er verzog das Gesicht deshalb zu einem spöttischen Lächeln und antwortete: »Zu meinem großen Bedauern bin ich gezwungen, Ihre geistreiche Frage zu bejahen. Das ist Ihnen wohl recht fatal, was?«

Da Hiller nicht antwortete, fuhr er fort: »Die Begegnung ist Ihnen wohl unangenehm? ja, ja, das glaube ich, waren wohl auf eine Zusammenkunft in dieser Welt zwischen uns beiden nicht vorbereitet. Heute haben Sie wohl keine Pistole bereit, um mir ein Freibillet nach den Gefilden der Seligen zu spendieren. Aber ich hab' eine!« höhnte er weiter, »sehen Sie mal, es ist dieselbe, mit der Sie mir das Lebenslicht auszublasen beabsichtigten! Wie wenn ich nun heut' Gleiches mit Gleichem vergelten wollte!« Er zog bei diesen Worten die Pistole, deren sich Wismar am Tulpenstein bedient und die er, um Wismars Selbstmord wahrscheinlich sein zu lassen, neben ihn hingeworfen, aus der Tasche, spannte den Hahn und richtete den Lauf gegen Hillers Kopf.

Dieser achtete nicht darauf, immer noch starrte er Wismar ins Gesicht, und noch einmal rang sich wie ein tiefer Seufzer der Erleichterung die Frage aus seiner Brust: »Also Sie leben!«

»Zum Teufel mit der albernen Frage!« rief Wismar. »Sie sehen ja, daß ich lebe; wenn Sie wieder einmal einen erschießen wollen, dann überzeugen Sie sich gefälligst erst, ob er tot ist, bevor Sie weglaufen. Na, das nächste Mal werden Sie sich schon besser vorsehen, mein Herr Raubmörder. Fein eingefädelt war Ihr Plan: den Brief ließen Sie mich einstecken, bevor Sie mich ermordeten, damit man ganz sicher glauben solle, ich habe mich selbst umgebracht, aber in der Hauptsache haben Sie's doch verpaßt; ja, ja, so geht es den meisten Gelegenheitsverbrechern!«

»Sie sind gänzlich im Irrtum,« entgegnete Hiller, »ich hatte keineswegs die Absicht, Sie zu töten, sondern hatte die Waffe eingesteckt, um mich zu erschießen; Ihre Erbarmungslosigkeit, Ihr kalter Spott, Ihre Ungerechtigkeit ließ mich in einem Augenblick, da ich meiner selbst nicht mächtig, den Lauf der Pistole auf Ihre Brust richten, und ich danke Gott, daß mich ein Zufall vor einem Morde bewahrt!«

»So?« sagte Wismar, ihn durch die zusammengekniffenen Augen anblinzelnd. »Wissen Sie, mein lieber Raubmörder und Galgenkandidat, das glaube ich Ihnen nicht! Sie hatten die Absicht, mich zu ermorden, und diese Absicht ist zu Ihrem großen Bedauern fehlgeschlagen. Es thut mir ja um Ihretwillen herzlich leid, daß es so gekommen, aber Sie können mir es nicht verdenken, wenn ich mein Möglichstes thue, so lange es irgend geht, am Leben zu bleiben.«

»Und was soll nun geschehen?« fragte Hiller kurz, dem Spöttelnden unter der gesenkten Stirn einen bösen Blick zuwerfend.

»Meine Bedingungen sind die alten!« antwortete der Gefragte.

Hiller senkte das Haupt. »Sie wollen also meinen Untergang? Ich kann das heute eher verstehen wie damals; gut, es sei, das Glück ist mit Ihnen, Sie haben das Spiel gewonnen, auch bin ich eben erst von einer schweren Krankheit aufgestanden und nicht widerstandsfähig genug, den Kampf mit dem stärkern Gegner aufzunehmen. Machen wir also ein Ende, ich werde meiner Frau alles sagen und bitte nur um ein paar Tage Zeit, ich möchte meinen Schwiegervater bitten, hierherzukommen, damit meine arme Frau nicht ohne Stütze bleibt. Freuen Sie sich, Sie stolzer Sieger!« setzte er bitter hinzu. »Ihr Sieg ist das Verderben dreier unschuldiger Menschen!«

»Rechnen Sie Meuchelmörder ebenfalls zu den unschuldigen Menschen?«

»Ich rechnete mich gar nicht dazu, sondern meinte meine Frau, meinen Knaben und dessen Großvater,« entgegnete Hiller.

»Ach so,« sagte Wismar, »ich glaubte schon, Sie meinten sich selbst auch mit; das wäre meiner Ansicht nach doch etwas kühn gewesen. Uebrigens, was mich wundert, ist, daß Sie sich gar nicht danach erkundigen, welchem glücklichen Zufall ich meine Rettung aus Ihren Mörderhänden verdanke.«

Hiller zuckte die Achseln. »Ich habe Sie eben schlecht getroffen,« sagte er; »man hat Sie aufgefunden und Sie wurden geheilt. Das ist doch unschwer zu erraten.« – »Getroffen!« rief Wismar, »Sie sind doch eigentlich ein feiner Kopf. Ich sagte das schon in Hamburg. Aber genug des Geschwätzes; es zieht ein Gewitter auf, ich werde mit meinem Boot nicht wieder über den See kommen. Wissen Sie keine Stelle, wo ich es lassen kann?«

»Unfern von jener Villa liegt ein Bootshaus, Sie können es nicht verfehlen, wenn Sie am Ufer hinrudern; dort können Sie Ihr Boot anlegen,« antwortete Hiller.

»Gut,« sagte der andere, und wendete sich dem See zu. Er wandte dabei Hiller nicht ganz den Rücken, die Pistole hielt er noch immer in der Hand.

»Wismar!« rief Hiller dem Davonschreitenden nach, »ist kein anderer Ausgleich möglich?«

»Keiner, Meuchelmörder,« gab der Gefragte höhnisch zurück und verschwand hinter den Büschen.

In ohnmächtiger Wut streckte Hiller drohend die Faust nach dem Gehenden aus. Dann wandte auch er sich und schritt den Weg zurück, den er gekommen. Sein Gang war langsam und schleppend, sein Kopf gesenkt. Er rang mit einem Entschluß, und konnte den Mut zu einem festen Vorsatz nicht fassen.

Wismars würdeloses Gebaren hatte ganz seltsam auf ihn gewirkt. Als zuerst die Möglichkeit, daß Wismar gerettet sei, sich vor ihm aufrollte, hatte er neben der Angst vor dem Kommenden etwas wie Freude empfunden, eine Befriedigung, daß er nun doch kein Mörder sei. Jetzt lebte keine Spur dieser Regung mehr in seiner Seele, sondern der dumpfe Haß gegen den Bedroher seiner Existenz hatte wieder die Oberhand gewonnen. Hätte ihm Wismar Vorwürfe gemacht, ihn seinen Abscheu, seine Verachtung fühlen lassen, er hätte es ohne ein Wort der Erwiderung über sich ergehen lassen. Aber dieses kindische Triumphieren, dieser läppische Siegerhochmut, der sich mit Beleidigungen begnügte und es nicht einmal wagte, sich bis zu Drohungen emporzuschwingen, diese, nach einem Zusammentreffen, wie es unter Millionen Menschen kaum einer hat, das Zusammentreffen des geretteten Opfers mit seinem Mörder, diese feige Besorgnis einer stürmischen Wasserfahrt wegen und die kleinliche Sorge um das Boot, alles dies hatte jeder neuerwachten Sympathie für Wismar den Todesstoß gegeben; bisher hatte er ihn gefürchtet und gehaßt, nunmehr verachtete er ihn bloß. Jetzt erst bereute er aufrichtig, ihn nicht besser getroffen, ihn nicht getötet zu haben; denn jetzt erst erschien er ihm nicht mehr als Mensch, sondern als ein bösartiges, gefährliches Tier, das zu vernichten nicht nur Recht, sondern sogar Pflicht sei.

Und abermals beschloß er, Wismar zu töten.

Noch ehe er zu Hause anlangte, war der Mordplan fertig. Das Boot Wismars sollte zur Ausführung desselben eine bequeme Handhabe bieten.

Im Landhause angekommen, fand er Ulmann und sein Söhnchen, die von Helene zur Feier seiner Genesung eingeladen waren.

Er mußte sich Gewalt anthun, seinen Schwiegervater herzlich zu begrüßen, so wenig wünschte er eben jetzt seine Anwesenheit. Auch sein Söhnchen hätte er am liebsten jetzt nicht gesehen. In Gegenwart des Kindes kam ihm sein Vorhaben verbrecherischer vor, als wenn er mit Helene allein war. Er wagte nicht, dem Knaben ins Auge zu blicken.

Dennoch blieb ihm keine Wahl, er mußte bald vollbringen, was er plante. Er schützte Geschäfte vor, als er sich schon zeitig von der Gesellschaft zurückzog; er mußte allein sein, um die Vorbereitungen zu seiner verbrecherischen That zu treffen.

Mit großer Ruhe überlegte er seinen Plan.

Ein Zögern oder Schwanken, wie es ihm bei dem ersten Mordanschlag gegen Wismar so oft befallen, überkam ihn jetzt beim zweiten auch nicht ein einziges Mal. Mit großer Ruhe hatte er seinen Plan überlegt, und ruhig und zielbewußt ging er an die Ausführung.

Was doch in dem Kopf und Herzen eines Menschen für Regungen Platz haben!

Hiller war kein böser Mensch; er war empfänglich für alles Gute, Edle und Schöne, er war wahrheitsliebend und treu, er hatte ein stark entwickeltes Gerechtigkeitsgefühl, aber er war eine Ichnatur im vollsten Sinne des Wortes; ein Ichmensch, welcher sein Ich mit allen Mitteln verteidigt. Wehe, wer ihn bedrohte; mit eiserner Faust wurde er vernichtet. Herrennaturen nennt man fälschlich derartige Gewaltmenschen, Herrennaturen vielleicht, da Herr von herrschen abgeleitet. Raubtiernaturen sollte man sagen, und derartige Menschen wie Raubtiere unschädlich machen.

Noch sind die Menschen thöricht, feig und erbärmlich genug, den Gewaltthaten derartiger Kraftmenschen Bewunderung zu zollen. In der Geschichte spielen sie die erste Rolle, in der Litteratur nehmen sie das Interesse der Leser gefangen. Die Herren von Fink, die Helden Sudermanns, sind solche Gestalten, zu denen der Leser in Ehrfurcht erschauernd aufblickt, ohne zu bedenken, daß die Bewunderten im schlimmsten Falle Verbrecher, im besten Falle Flegel sind.

Hiller war durch ein Verbrechen zu Reichtum und Ansehen gekommen. Das Bewußtsein, alles was er sein nannte, selbst sein Weib, selbst den Namen, den er trug, einem schamlosen Betrug, einer perfiden Lüge zu verdanken, schmälerte sein Wohlbefinden keineswegs. Auch machte dieses Glück ihn weder übermütig, noch ungerecht. Im Gegenteil, im Genusse seines Wohlstandes war er menschlich und gerecht. Alles dieses aber, was gut und wahr in ihm, war ausgelöscht und vergessen, sobald er sein Glück ernstlich bedroht sah. Und wie er dasselbe einem Verbrechen verdankte, so war er jeden Augenblick bereit, zu der einzigen Waffe zu greifen, die die Sünde besitzt, zu neuen Verbrechen.

Es war am Abend desselben Tages, an welchem sich Hiller überzeugt, daß ein wunderbarer Zufall ihn davor bewahrt, ein Mörder zu sein, als er bereits zur Ausführung eines zweiten Mordanschlages schritt.

Der Sturm, der seine Anzeichen schon am Nachmittag vorausgeschickt, war heraufgezogen. Er peitschte die Wellen des Sees, er fuhr heulend über Wiesen und Aecker, er wirbelte hohe Staubsäulen in die Höhe und warf sie auf die Felder, die in seinem Bereich lagen, er rüttelte an den Fenstern und Thüren des Landhauses und fuhr pfeifend und heulend durch die Rauchfänge und Schlote.

Es mochte gegen zwölf Uhr sein, als Hiller, in einen weiten Mantel gehüllt, durch die Hinterthür des Landhauses ins Freie trat.

Der Sturm faßte seinen Mantel und zerrte daran, als wollte er ihn von den Schultern reißen. Hiller mußte seine ganze Kraft aufbieten, um die Thüre wieder zu schließen.

Den Kopf vorgebeugt, den Mantel fest um die Schultern schlagend, schritt er durch das Brausen und Heulen des Sturmes dem Bootshause zu.

Die Nacht war finster. Undeutlich zeichneten sich die Konturen der hohen Berge am Himmel ab. Ueber ihnen erhob sich der Himmel einen Schein heller. Wie eine schwarze, ebene Fläche dehnte sich der See ins Endlose. Zuweilen glänzten die weißen Wellenkämme leuchtend durch die Nacht. Mitunter brachen sich die Wogen tobend am Ufer, zuweilen rauschte das Wasser nur auf wie ein dumpfes, zorniges Murren.

Unbekümmert um das, was um ihn her vorging, schritt Hiller den Weg zum See hinab, dem Bootshause zu. Er öffnete dasselbe mit dem mitgebrachten Schlüssel und trat hinein. Drei Fahrzeuge lagen da, in dem großen, scheunenartigen Gebäude; eine große Gondel, die mehrere Ruderer brauchte und zu gemeinsamen Fahrten benutzt wurde; ein kleineres, auch zum Segeln eingerichtetes Ruderboot und noch ein kleinerer Kahn. Es war das Boot Wismars.

Alle drei Fahrzeuge waren zu zwei Dritteln aufs Trockene gezogen. Die Wasserpforte des Bootshauses war geschlossen und durch ein starkes Tau versichert. Der Gärtner mochte, als er den Sturm heraufziehen sah, diese Sicherheitsmaßregeln getroffen haben.

Vorsichtig verschloß Hiller die nach dem Land führende Thüre hinter sich, dann zündete er eine kleine Blendlaterne an.

Er legte nunmehr die zu seinem Mordplan notwendigen Werkzeuge sorgfältig auf die Bank der großen Gondel. Es war ein Centrumsbohrer, eine Düte mit ungelöschtem Kalk, ein Stück Wachs und einige Blatt Papier. Ein Leimtiegel, den er noch benötigte, stand, wie er wußte, im Bootshause. Er fand denselben auch bald und setzte ihn in Brand. Vorsichtig lehnte er ein Brett vor die Ecke, in welche er ihn gestellt, damit die im Luftzuge züngelnde Flamme keinen Schaden anrichten könne.

Der Sturm nahm stetig an Heftigkeit zu. Donnernd schlugen die Wogen an die geschlossene Wasserpforte, und das Wasser, welches in das Bootshaus hineinreichte, schwankte auf und ab und spritzte zuweilen hoch empor. Wild rüttelte der Orkan an den Ecken des leichten Gebäudes und oft war es, als ob das Dach sich höbe.

Nachdem Hiller den Spiritus entzündet, untersuchte er mit der Laterne eifrig den Boden von Wismars Boot. Er hoffte ein Astloch oder eine andere Oeffnung zu finden.

Als er nichts fand, was er benutzen konnte, blieb ihm kein anderer Weg als selbst nachzuhelfen. Zu diesem Zweck mußte er das Boot mit dem Kiel nach oben drehen. Sonst wäre das wohl ein leichtes für ihn gewesen, aber jetzt, durch die Krankheit geschwächt, konnte er nur mit Aufbietung aller Kräfte damit zu stande kommen.

Nunmehr nahm er den Centrumsbohrer und bohrte in den Kiel des umgestürzten Bootes ein Loch, welches er gleich darauf mit Papier verklebte. Nachdem er das etwa handtellergroße Stück Papier mit Erde dunkel gefärbt, brachte er das Boot in seine alte Lage. Darauf füllte er die Oeffnung, welche das Loch mit dem darunter geklebten Papier bildete, voll ungelöschten Kalk und verschmierte die Oeffnung mit dem mitgebrachten Wachs. Dann verließ er das Bootshaus und begab sich wieder nach dem Landhause zurück. Er rechnete so: wenn das Boot ins Wasser kam, so würde zunächst das feste Papier das Wasser am Eindringen verhindern und dem im Boot Befindlichen Gelegenheit geben, sich eine ziemlich weite Strecke vom Ufer zu entfernen. Endlich würde aber doch das Wasser das Papier durchdrungen, der ungelöschte Kalk die Nässe aufsaugen, die sich entwickelnde Hitze das Wachs schmelzen und dem Wasser ungehinderten Zutritt in das Boot gestatten, welches sich auch bald füllen mußte. Nun war es zwar möglich, daß, wenn der See sehr belebt, dem Untergehenden Hilfe gebracht werden konnte, ehe das Boot untersank; Hiller zog auch diesen Umstand in Betracht, wußte aber kein Mittel, ihn zu verhindern.

Als er das Bootshaus verließ, hatte der Sturm nachgelassen, nur in einzelnen Stößen fuhr er noch über den kochenden See und die Ebenen des Ufers.

Die dritte Morgenstunde hatte bereits geschlagen, als sich Hiller leise und vorsichtig in das eheliche Schlafgemach schlich. Wohl hatte er keine Veranlassung, das Erwachen Helenens zu fürchten, denn er hatte ihr gesagt, daß er noch lange in seinem Zimmer zu arbeiten habe. Sie hatte ihn zwar gebeten, die Arbeit mit Rücksicht auf seine noch nicht genügend gestärkte Gesundheit nicht zu lange auszudehnen, aber er wollte nicht mit ihr sprechen, sie nicht sehen, er glaubte ihren Blick nicht ertragen zu können. – Eben hatte er sich niedergelegt und mit dem Versuch zu schlafen sein schweres Haupt in die Kissen gedrückt, als Helene mit einem lauten Schrei aus dem Schlafe fuhr und seinen Namen rief.

Er richtete sich auf. »Was ist denn?«

»Ach, Benno!« rief sie, »mir hat ein entsetzlicher Traum geträumt.«

»Sei ruhig mein Herz, ein Traum bedeutet nichts!«

»Aber er war so schrecklich; ich will ihn Dir erzählen. Der Fremde – weißt Du, der Fremde!«

Hiller horchte auf: »Welcher Fremde?«

»Der Herr, der Dir so ähnlich sieht – er kam einen Berg hinauf, wir beide standen oben – er aber wurde immer größer und größer und auf einmal ward er die Baalsfigur der Chatager, dieses Götzenbild von glühendem Erz, und er streckte seine langen Arme nach Dir aus, riß Dich von meiner Seite und drückte Dich an seine glühende Brust. Und Du schriest laut und jammertest unaufhörlich. Auf einmal neigte er sich hintenüber und ihr beide versankt vor meinen Augen in unendliche Tiefen. Ist das nicht fürchterlich?«

»So freue Dich, daß Du nur geträumt hast,« sagte Hiller. »Geh, versuche wieder zu schlafen, Du hast in letzter Zeit so viel durchgemacht mit meiner Krankheit. Schlaf, mein gutes Kind.«

Gehorsam lehnte Helene den Kopf in die Kissen, und bald verrieten ihre gleichmäßigen, ruhigen Atemzüge, daß sie schlief. Nicht so Hiller, unruhig wälzte er sich hin und her und erst als die Sonne schon längst aufgegangen war, fand er kurze Erquickung in einem traumlosen Schlummer. –

Der Sturm, der die Nacht getobt, hatte völlig nachgelassen. Wolkenlos lag der blaue Himmel über der unvergleichlichen Scenerie der Ufer des Vierwaldstättersees. Nur das Wasser des Sees wogte noch unruhig auf und ab und heftiger wie gewöhnlich peitschten die Wellen den Ufersand.

Hiller war schon zeitig weggefahren, ein Freund, der einige Meilen landeinwärts lebte, hätte ihn zu einer wichtigen Besprechung eingeladen. Dieses sagte er wenigstens Helene, in Wahrheit wollte er nicht zu Hause sein, wenn Wismar sein Boot zurückholen würde. Er blieb den ganzen Tag und kehrte erst gegen Abend, die Sonne neigte sich bereits zum Untergange, zurück.

Helene war allein, als er wiederkam, sie befand sich im Garten, wo sie auf einer Bank sitzend beschäftigt war, Erdbeeren für den Abendtisch zu bereiten.

Er küßte sie herzlich und ließ sich neben sie nieder. »Nichts passiert?« fragte er nach einer Weile.

Sie erzählte ihm die Begebenheiten des Tages, die, auf welche er wartete, war nicht darunter.

»Wo ist Papa und Kurt?« fragte er plötzlich.

»Sie rudern auf dem See!« antwortete Helene.

In Hiller stieg ein beklemmendes Gefühl auf.

»In der großen Gondel?« fragte er schnell.

»Ich weiß es nicht.«

Hiller stieg auf die Gartenbank und versuchte über die Sträucher wegzusehen, aber er sah nichts.

Er setzte sich wieder neben Helene nieder, doch eine ihn immer heftiger erfassende Unruhe trieb ihn bald wieder in die Höhe.

»Papa wird doch nicht mein Segelboot genommen haben?« sagte er nach einer Weile. »Es ist etwas schadhaft.«

»Papa ist ja so vorsichtig!« bemerkte Helene ruhig.

»Ja, allerdings!« gab Hiller etwas beruhigter zur Antwort, dennoch litt es ihn nicht in dem Garten, er eilte hinaus, um sich zu überzeugen, daß kein Grund zur Besorgnis vorläge.

Helene, durch die Unruhe ihres Gatten angesteckt, folgte ihm, Hiller eilte zum Bootshause, hastig riß er die Thüre auf. Die große Gondel und das Segelboot lagen auf derselben Stelle, auf welcher sie gestern gelegen. Wismars Boot fehlte und das Wasserthor stand weit offen.

Die Haare sträubten sich ihm, als er die Sachlage überblickte, kein Zweifel, Ulmann hatte Wismars Boot zu der Spazierfahrt gewählt.

Mit größter Anstrengung schob er das Segelboot ins Wasser, mit wenigen Ruderschlägen trieb er es hinaus.

»Dort fahren sie!« rief ihm Helene, die am Ufer stand, zu und zeigte mit der Hand über die Fläche. Hiller richtete sich auf und folgte mit den Augen der angegebenen Richtung. Jetzt erblickte er das Boot. Ulmann handhabte die Ruder, der Knabe saß am Steuer und sang mit seiner hellen Stimme ein fröhliches Kinderlied.

In namenloser Angst krampfte sich Hillers Herz zusammen, das Blut kreiste in seinem Gehirn, und vor seinen Augen wurde es dunkel. Alle Kraft zusammennehmend trieb er in mächtigen Ruderschlägen sein Boot vorwärts.

Als Ulmann seinen Schwiegersohn kommen sah und die Eile bemerkte, mit welcher jener näher zu kommen strebte, glaubte er, Hiller wolle ihm seine Geschicklichkeit im Rudern zeigen, und begann ebenfalls schneller mit den Riemen zu arbeiten, als gelte es eine fröhliche Wettfahrt. Als Hiller das bemerkte, wurde er fast wahnsinnig vor Wut und Angst.

»Nicht rudern!« schrie er, »hierher kommen!« Mehr wagte er nicht zu sagen, aus Furcht, sich verraten zu können.

Seine Worte schienen nicht verstanden worden zu sein, denn Ulmann ruderte mit gleicher Heftigkeit weiter und der kleine Kurt schwenkte fröhlich lachend seine Mütze.

Verzweifelnd sank Hiller auf die Ruderbank zurück; er sah ein, daß er auf diese Weise das viel kleinere und leichtere Boot nicht werde einholen können. Seine ganze Hoffnung bestand darin, sich verständlich zu machen, er sprang deshalb von neuem auf, winkte heftig mit dem Taschentuch und rief: »Halt! Gefahr droht!«

Diesmal schien Ulmann wenigstens annähernd verstanden zu haben, was ihm sein Schwiegersohn zugerufen hatte, denn er zog die Ruder ein, erhob sich und rief, die Hand an den Mund legend: »Was droht?«

Eben wollte Hiller Antwort geben, als er sah, wie Ulmann sich bückte, dann aufstand, sich wie suchend umsah und etwas herüberrief, was er nicht verstand. Zugleich sah er, wie der Kahn sich drehte, sich auf die Seite neigte und versank. Noch einen Augenblick hielt sich Ulmann, der den Knaben hoch emporhielt, über Wasser, dann versank auch er und gleich darauf, einen Schrei ausstoßend, das Kind.

In wilder Verzweiflung packte Hiller die Ruder von neuem; mit übermenschlicher Kraft trieb er sein Boot der Unglücksstelle zu. Er kam nicht allein dort an; einige Fischerboote, die in der Nähe gewesen und deren Insassen den Vorfall bemerkt, waren gleichfalls herbeigekommen und zwei der Fischer bereits ins Wasser gesprungen, um die Verunglückten zu retten, aber es war zu spät. Zwar gelang es, beide aus dem Wasser zu ziehen, aber weder Ulmann noch der Knabe gaben ein Lebenszeichen von sich – beide waren tot.

Mit starrem Auge blickte Hiller auf die Entseelten. Verzweiflung und Angst kämpften in seiner Seele. Tot, tot, durch seine Schuld! sein Sohn, sein Kind, das er über alles liebte! der Stolz, die Freude seiner Eltern! Wie sollte er es tragen? wie vor Helene hintreten, der er nicht nur den Sohn, der er auch den Vater geraubt?

Langsam und traurig bewegte sich die kleine Flottille dem Lande zu, voran das größere der Fischerboote mit den beiden Leichen, hinterher das zweite, welches das Boot Hillers ins Schlepptau genommen hatte.

Helene stand am Ufer, von dort war sie Zeugin des Vorfalls gewesen. Mit gefalteten Händen stand sie da und starrte den ankommenden Booten entgegen. Ein herzzerreißender Schrei entrang sich ihrer Brust, als die Leiche ihres Vaters vorbeigetragen wurde. Sie umklammerte den Arm ihres Gatten.

»Tot?« preßte sie heraus, »tot?«

Hiller nickte traurig. Hinter den beiden alten Männern, die die Leiche Ulmanns trugen, stieg ein junger, starker, Bursche aus dem Boot. Er hielt den kleinen Kurt in den Armen. Sorgfältig und zärtlich trug er das Kind, dessen blasses Köpfchen auf seinem Arme ruhte. Bei diesem Anblick löste sich die Erstarrung, die Helenens Glieder gefesselt hatte, von dem Augenblick an, da sie die Gefahr erkannt, in der ihre Lieben schwebten.

»Mein Kind! Mein Sohn! mein einziges Kind!« schluchzte sie herzbrechend auf. Sie sank in die Knie und streckte die Arme nach ihrem Kinde aus.

Mit zuckenden Lippen legte der große Bursche den toten Knaben an das Herz der Mutter; große Thränen rannen ihm dabei über die gebräunten Wangen. Aufschluchzend preßte Helene ihr Kind an die Brust, taumelnd erhob sie sich und schritt schwankend dem Hause zu.

Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck im Auge blickte ihr Hiller nach, aber er folgte ihr nicht; er ging ein paar Schritte am Ufer entlang, alle Selbstbeherrschung hatte ihn verlassen, er wußte nicht mehr, was er dachte und was er that. Mechanisch schritt er vor sich hin, krampfhaftes Schluchzen hob seine Brust, erschütterte seine Glieder; plötzlich blieb er stehen, reckte die Arme zum Himmel, und ein Stöhnen entquoll seinem Munde, so schwer, so martervoll, wie das eines zu Tode gequälten Sterbenden, dann schlug er die Hände vors Gesicht und weinte.

Die Sonne ging unter, er achtete es nicht; die Dunkelheit legte sich über die Gegend, weiße Nebel stiegen gespensterhaft bleich aus dem See empor, er rührte sich nicht. Unaufhaltsam drängten sich die Thränen aus seinen Augen; sie quollen zwischen seinen Fingern durch und rannen heiß und schwer ins taufeuchte Ufergras. Eine leichte Hand fuhr leise über sein Haar, eine sanfte Stimme nannte müde und tonlos seinen Namen.

Mühsam blickte er auf. Helene kniete an seiner Seite. Er raffte sich auf. Im wortlosen Jammer streckte ihm Helene beide Hände entgegen. Er sah sie scheu und wild an und sprang auf.

»Was forderst Du sie von mir?« rief er, »ich war es nicht, ich habe sie nicht getötet; das Schicksal war es, das seine eherne Hand auf unser Glück gelegt, das Schicksal und die Schuld! Das eben ist der Fluch der bösen That, daß sie fortzeugend Böses muß gebären! Die Schuld, die Schuld!« rief er außer sich, »ich löse sie! ich bezahle sie!« und ehe Helene wußte, was er beabsichtigte, eilte er die Uferstrecke hinab und stürzte in den See, dessen Wellen brausend über seinem Haupte zusammenschlugen.

Aber schon im nächsten Augenblick war Hilfe da; die Schiffer, welche die Leichen Ulmanns und des kleinen Kurt geborgen, lagen mit ihren Kähnen unmittelbar neben der Stelle, von welcher Hiller in den See gesprungen. Ohne Mühe zogen sie den Lebensmüden aus dem Wasser und betteten ihn zu den Füßen der vor Angst und Schreck halb ohnmächtigen Helene.

»Ei, ei, Herr!« sagte einer der Fischer, ein alter weißhaariger Mann mit tausend Falten im Gesicht, »das ist gar nicht christlich, sich einen Verlust so sehr zu Herzen zu nehmen. Was Gott uns nimmt, das sollen wir fahren lassen und uns in seinen unerforschlichen Willen fügen!«

»Ist er tot?« fragte in diesem Augenblick eine feste scharfe Stimme. Helene blickte auf und erkannte den geheimnisvollen Fremden. Entsetzt und ihres Traumes gedenkend, starrte sie ihm ins Gesicht, das ihr so bekannte Züge trug. »Ist er tot?« fragte der Fremde nochmals.

»Nein, Herr!« erwiderte einer der Fischer.

»Umso schlimmer für ihn!« sprach der Fremde mit mitleidslosem und hartem Tone und schritt, ohne sich umzublicken, davon.


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