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3. Die roten Hände.

Dem Unglücklichen, der auf der Anklagebank den Urteilsspruch vernimmt, der ihn zu sechs Jahren Gefängnis verdammt, mag wohl diese Zeit endlos erscheinen; dem Kranken dagegen, dem der Arzt eröffnet, daß er nur noch sechs Jahre zu leben habe, wird dieser Zeitabschnitt erschreckend kurz vorkommen. So unterscheidet sich für uns alles nach unsern Hoffnungen und Befürchtungen.

Hiller hatte, als ihm unerwartet und unerhofft eine Frist von sechs Jahren gegeben wurde, diese Nachricht als unerhofftes Glück freudig begrüßt. Ihm schien auf einmal die Rettung vom Himmel gefallen zu sein. Sechs Jahre! was konnte da nicht alles geschehen, was konnte er nicht selbst unternehmen. Sein alter Spruch »wer weiß, was werden wird und sein kann,« tröstete ihn. Aber ach, er war doch nur der Kranke, der geglaubt hatte, sein Ende sei nahe, und dem der Arzt eine Frist von sechs Jahren gegeben. Bald fand er die Frist zu kurz und oft erschrak er, wenn ein Monat oder ein Jahr dahingeschwunden.

Die Zeit hatte allerdings manche Veränderung gebracht. Wismars Vater war gestorben. Die Entfernung überhob Hiller allerdings, die Reise zu machen; obwohl dieselbe der Erbregulierung wegen nötig gewesen wäre, wurde sie von ihm trotzdem aus leicht verständlichen Gründen nicht unternommen. Er überließ es den Brüdern Wismars, das Vermögen zu teilen, und legte die auf ihn fallende große Summe bei einem Bankhause nieder. Das Geld wollte er Wismar übergeben, wenn derselbe aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er hoffte ihn dadurch zu bewegen, von seinen sonstigen Rechten Abstand zu nehmen und die Dinge so zu lassen, wie sie waren. Er hoffte sicher, daß Wismar, kaum dem Gefängnis entgangen, sich nicht selbst der Beihilfe zu einem Verbrechen bezichtigen werde, welches ihn sogleich wieder auf Jahre hinter die Mauern des Kerkers führen mußte. Frei und reich, konnte es ihm ziemlich gleich sein, welchen Namen er führte, umsomehr, da sein Vater gestorben und seine Anhänglichkeit an die Geschwister keine allzugroße war.

Eine zweite Veränderung, welche die Zeit mit sich gebracht hatte, war: daß Ulmann ganz vom Geschäft zurückgetreten war und seinem Schwiegersohn die Leitung der Firma allein überlassen hatte, ein Umstand, der insofern für Hiller von großer Wichtigkeit war, als er nun leichter die Auszahlung von Wismars Erbteil bei einer gütlichen Einigung mit diesem vertuschen konnte.

Hillers Verhältnis zu Helene hatte keine Aenderung erfahren. Beide hingen mit inniger Liebe und Zärtlichkeit aneinander und vergötterten den Knaben, den Helene im ersten Jahr der Ehe ihrem Gatten geschenkt.

Beiden war das seltene Geschenk einer wahrhaft reinen und glücklichen Ehe zu teil geworden, aber der Grund, auf dem dieses Glück ruhte, war Verbrechen, Täuschung und Betrug, und um dieses Glück aufrecht zu erhalten, um es gegen Zerstörung zu verteidigen, sann der, dem es oblag, dieses Glück zu hüten, auf Mord.

Ja auf Mord, denn Hiller war fest entschlossen, Wismar, wenn er sich seinen Bedingungen nicht fügte, zu töten.

Um zu erkunden, wie weit er hoffen könne, Wismar für seine Pläne zu gewinnen, war er nach langem Widerstreben doch nach Hamburg gefahren und hatte eine Unterredung mit dem Gefangenen nachgesucht. Dieser Besuch wäre beinahe verhängnisvoll geworden, man hatte ihn auf das Stadthaus citiert und durchaus erfahren wollen, was er von dem Angeklagten wisse. Nur mit großer Mühe hatte er sich herausgelogen, indem er angab, er vermute nur, daß der Sträfling ein Bekannter von ihm sei, er wolle ihn eben deswegen sehen, um sich davon zu überzeugen.

Zum Glück ließ der Staatsanwalt, vor welchem diese Vernehmung stattfand, Wismar nicht sofort vorführen, sondern erbat sich von Hiller nur Bericht nach stattgefundener Unterredung mit dem Gefangenen.

Diese Unterredung fand im Sprechzimmer des Gefängnisses, in Gegenwart eines Beamten statt.

Wismar verzog keine Miene, als er Hiller erblickte, er hatte sofort gewußt, wen er zu erwarten hatte, wußte doch kein Mensch als sein Komplice seinen Aufenthalt.

Hiller fuhr mit der Hand über den Mund und gab Wismar durch einen gleichzeitigen Wink mit den Augen ein Zeichen, welches Wismar aufforderte, verschwiegen zu sein.

Dieser senkte, zum Zeichen, daß er verstanden habe, kaum merklich den Kopf.

»Ich scheine mich getäuscht zu haben!« sagte dann Hiller laut, »ich vermutete einen meiner früheren Angestellten in Ihnen, aber Sie sind nicht der, den ich meine, dennoch kommt mir Ihr Gesicht bekannt vor. Mein Name ist Wismar, ich bin der Chef des Hauses Ulmann u. Comp. in Kassel, zugleich der Schwiegersohn des ehemaligen Inhabers der Firma: erinnern Sie sich vielleicht, mich schon gesehen zu haben?«

»Nein!« erwiderte Wismar einfach; »ich kenne Sie nicht!«

»Wie lange dauert Ihre Strafzeit noch?«

»Zwei Jahre!« antwortete der Gefragte mit einem Seufzer.

»Ich bin Mitglied des Vereins zur Unterbringung entlassener Strafgefangener,« sagte Hiller, »vielleicht kann ich etwas für Sie thun, wenn Sie Ihre Freiheit wiedererlangen!«

»Sehr gütig!« bemerkte Wismar mit einem ironischen Lächeln.

»Wollen Sie mir schreiben, wenn Sie entlassen werden?« fragte Hiller.

»Ich werde Ihnen schreiben, ganz gewiß,« antwortete Wismar mit Nachdruck.

Damit war die Unterredung zu Ende.

Hiller begab sich sofort auf das Stadthaus und berichtete dort, daß der Gefangene nicht der von ihm Gesuchte sei.

»Schade!« antwortete der Staatsanwalt, »wir möchten so gern erfahren, wer der Mensch eigentlich ist, er führt sich vorzüglich und seine Strafzeit würde gewiß um ein erkleckliches verkürzt werden, wenn er nicht jeden Aufschluß über seine Persönlichkeit verweigerte!«

»Er mag wohl seinen Grund dafür haben,« bemerkte Hiller, den die Möglichkeit, daß Wismars Strafzeit etwa abgekürzt werden könnte, nicht wenig erschreckte.

»Das glaube ich selbst,« antwortete der Staatsanwalt, »so mag er denn seine sechs Jahre absitzen.«

Hiller war mit dem Resultat seines Besuches sehr zufrieden. Er wußte jetzt, daß Wismar schweigen werde, er wußte sich ferner vor jeder Ueberraschung sicher, denn das war gewiß, daß Wismar, ehe er persönlich erschien, schreiben werde. Und er schrieb.

Sechs Jahre waren vergangen. Hiller befand sich mit seiner Familie in der Schweiz. Nicht ohne Absicht hatte er den Aufenthalt im Auslande gewählt, um dem Kommenden zu begegnen, dem Kommenden, dem Freiwerden Wismars. Er hatte ein Landhaus dicht am Vierwaldstättersee gemietet, ein entzückender Aufenthalt. Dort lebte er seit Anfang des Frühlings in scheinbar sorglosester Lebensfreude, aber sein Innerstes zerfraß Sorge und Angst, und oft brauchte es seiner ganzen Energie und Willensstärke, um nicht mitten im trauten Zusammensein mit den Seinen, laut aufzuschreien vor Schmerz und Verzweiflung.

Es war ein wunderschöner Abend. Von einem weichen, durchsichtigen Schleier umgeben, lagen die hohen Berge in majestätischer Ruhe, nachleuchtend im Glanz der untergehenden Sonne. Unfern rauschte der See, und von Zeit zu Zeit erschallte von den Kähnen, welche leicht und unhörbar über den dunklen Wasserspiegel glitten, der Gesang froher Menschen.

Hiller und die Seinen saßen auf dem hölzernen Balkon des Landhauses. Helene lehnte in einem bequemen Sessel Hiller gegenüber, sie hielt ihren Knaben, der mit dem gelösten Haar der Mutter spielte, in den Armen und blickte träumerisch zu den Bergen empor. Ulmann und Hiller besprachen bei einem Glas leichten Weins und einer Cigarre die neuesten Tagesereignisse aus den Zeitungen.

Plötzlich ging die Glocke der Hausthür und gleich darauf erschien ein Diener mit einer Handvoll Briefen. Hiller, der beim Klang der Glocke nervös zusammengefahren war, streckte hastig die Hand aus, um die Briefe in Empfang zu nehmen. Der Diener reichte sie ihm, da Hiller aber zu hastig zugriff, glitt einer der Briefe, welcher kleiner war als die andern, herab und fiel auf den Fußboden.

Weder Hiller noch der Diener bemerkten dies, aber das Kind hatte es gesehen. Rasch sprang der Knabe vom Schoß der Mutter, ergriff den Brief und ihn Helene hinhaltend, sagte er: »Mama auch Brief haben!«

Helene nahm das Schreiben, und einen flüchtigen Blick auf die Adresse werfend, reichte sie dasselbe mit den Worten ihrem Gatten: »Sieh' einmal, Benno, das sieht beinahe so aus, als ob Du es selbst geschrieben hättest.«

»Wahrhaftig!« erwiderte Hiller, nachdem er das Couvert betrachtet, überrascht. Er öffnete jedoch den Brief nicht, sondern steckte ihn in die Seitentasche seines Rockes. Seine Hand zitterte dabei so heftig, daß er kaum die Tasche finden konnte, und langsam zog eine fahle Totenblässe über sein Gesicht, mühsam nur rang er nach Atem.

Er war sich der Veränderung, welche auf seinem Antlitz sichtbar wurde, wohl bewußt, ein scheuer Blick streifte seine Umgebung. Erleichtert atmete er auf, als er sich überzeugt, daß weder Helene noch Ulmann ihn beobachtete.

»Zünden Sie die Lampe in meinem Zimmer an!« gebot er dem Diener. »Ich muß Euch einen Augenblick verlassen,« wendete er sich dann an Frau und Schwiegervater; »ich erwarte wichtige Nachrichten!«

Er hatte sich erhoben und schickte sich an, dem Diener zu folgen.

»Ach laß doch die Geschäfte!« rief ihm Ulmann nach, »die haben Zeit bis morgen!«

»Nein, nein!« erwiderte Hiller, »es ist schon leichtsinnig genug, das Geschäft allein zu lassen, um hier meinen Launen zu leben, jeder Pflicht darf ich mich aber nicht entziehen. – Auf Wiedersehen!« rief er Helene zu, »ich denke bald fertig zu sein!« Mit diesen Worten entfernte er sich.

In seinem Zimmer angekommen, ging er zuerst eine Weile unruhig auf und ab, dann zog er den Brief hervor und drehte ihn nervös in den Händen hin und her, ohne den Mut zu finden, ihn zu öffnen. Endlich riß er das Couvert auf.

»Ich bin seit einigen Tagen meiner Haft entlassen. Was nun? Es ist wohl das beste, wir sprechen uns – aber nicht hier, schreiben Sie mir, wo wir uns treffen wollen. Senden Sie die Nachricht postlagernd Hamburg. B. W.« So lautete der Inhalt des Schreibens.

Hiller ließ, nachdem er zu Ende gelesen hatte, das Blatt sinken und stützte den Kopf auf die Hand. Also der Kampf begann. Nach Jahren des Friedens hob die Gefahr ganz nahe vor ihm ihr furchtbares Haupt. – Sollte er den Kampf aufnehmen? sollte er fliehen? Wismar würde ihm, das wußte er sicher, heut' noch eine größere Summe auszahlen, als er ihm damals versprochen; wenn er heute die Flucht ergriff, war er geborgen, vor Not geschützt! – Aber Helene! sein Kind! Konnte er sich von ihnen losreißen? würde ihn nicht Reue, Leid und Sehnsucht verzehren? sie nie, nie mehr wiedersehen! Und welches Andenken ließ er zurück, wie mußte sie ihn verachten, hassen! Helene, ihn, sein Weib, die er über alles liebte, ihn als Schurken, als Betrüger verachten! Und wie würde sie es ertragen? würde sie es überleben? mußten nicht Gram, Scham und Ekel sie töten! Und sein Kind, sein Kurt, sein Fleisch und Blut, sollte er der Mutter eine Last werden? eine stete Mahnung an die Schurkerei seines Vaters? Wie sollte sie ihn erziehen, was ihn lehren? nachdem der Mann, den sie am meisten geliebt und geachtet, sich als der größte Betrüger entpuppt; wie sollte sie ihm, nach dieser Täuschung, von Vertrauen und Treue reden, was sollte sie ihm von seinem Vater sagen!

Er rang die Hände und stöhnte laut auf.

»Nein! nein!« schrie er dann auf, »ich muß weiter, ich darf nicht feig zurück! Komme, was kommen mag, der Kampf beginnt, und ich werde kämpfen! Es gilt nicht mein Glück allein, es gilt die Ruhe der Meinen. Sollen sie vernichtet werden, oder ein Schurke seinen Betrug glücklich zu Ende führen?«

Entschlossen trat er, nachdem er einige Male im Zimmer auf- und abgegangen war, an den Schreibtisch. Sein Gesicht hatte einen finster drohenden Ausdruck angenommen, die grauen Augen blickten kalt und entschlossen. Mit fester Hand warf er die Zeilen auf das Papier.

»Zu näherer Besprechung erwarte ich Sie in Bad Ilmenau am 24. dieses Monats am sogenannten Tulpenstein nachmittags um halb vier.

B. W.«

Er legte einen Tausendmarkschein in das Schreiben, schloß das Couvert und steckte den Brief in die Tasche, dann öffnete er der Reihe nach die eingelaufenen Geschäftsbriefe. Er war völlig ruhig geworden, und als Helene eintrat, fand sie ihn, über Briefe und Rechnungsauszüge gebückt, ganz in Geschäften versunken, vor dem Schreibtisch sitzend.

Sie beugte sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. »Laß doch die dummen Geschäfte!« sagte sie, »und komm hinaus, es ist so schön draußen.«

»Die Geschäfte will ich Dir zuliebe schon lassen, mein Kind!« gab er zur Antwort, »aber auf die Veranda kann ich Dir nicht folgen, da ich noch einen Brief zur Post tragen muß. Willst Du mich begleiten?«

»Gern!« erwiderte sie und hängte sich zärtlich an seinen Arm.

Traulich aneinandergeschmiegt, schritten sie den Feldweg hinab, der von dem Landhause nach dem Dorfe führte.

»Wie schön der Abend, wie schön der Himmel, sieh wie prachtvoll dieses sternbesäte Himmelsgewölbe!« sagte Helene, deren Augen schwärmerisch nach oben gerichtet waren.

»Und doch nur Schein und Täuschung!« entgegnete Hiller, »alles Lüge, wie das Leben!«

»Schein und Täuschung?« sagte Helene fast bestürzt, »aber die Sterne glänzen doch.«

»Nichts glänzt, das ganze All der Schöpfung ist ein totes, starres, eintöniges Grau. Was wir Glanz und Farbe nennen, ist Täuschung, die unsere Sinne uns vorspiegeln!« antwortete Hiller.

»Nein, nein,« rief Helene, »das glaube ich nicht, will ich nicht glauben, es wäre schrecklich!«

»So verschließe Dich der Erkenntnis!« erwiderte er sanft, »Du brauchst es ja nicht zu glauben, aber kann Dich eine Lüge glücklich machen?«

»Wenn ich die Wahrheit nicht kenne, muß mir die Lüge die Wahrheit ersetzen, als solche kann sie mich wohl beglücken!«

»Auch im Leben?«

»Wie meinst Du das?«

»Wir sprachen von dem All der Schöpfung,« erwiderte Hiller ernst; »als solches kann es uns Menschen allerdings völlig gleich sein, ob es sich so darstellt, wie es uns erscheint, oder eine andere, uns nicht wahrnehmbare Form und Farbe hat, ja es könnte uns entzücken und beglücken, selbst wenn wir wissen, daß unsere Gefühle nichts als Selbsttäuschung sind. Anders ist es im Leben, da hört mit der Erkenntnis der Glaube auf – oder nicht?«

»Ich verstehe Dich nicht recht,« antwortete Helene; »wie meinst Du das?«

»Nun ich meine, wenn Du zum Beispiel erfahren würdest, daß die, die Du bis jetzt geliebt und geachtet, dieser Liebe und Achtung nicht wert gewesen wären, könntest Du darüber hinwegkommen, könntest Du sie ferner lieben und achten?«

»Meinst Du Dich oder den Vater?«

»Ich meinte eigentlich alle, für die Du Sympathie hegst, aber bleiben wir bei uns beiden stehen: würdest Du zum Beispiel, wenn Du in Erfahrung brächtest, daß ich oder Dein Vater ein Verbrechen begangen hätten – früher, vor Zeiten, würdest Du uns noch lieben können?«

Helene blickte zu Boden. »Lieben,« antwortete sie, »lieben, ja, denn die Liebe kommt nicht und vergeht nicht an einem Tage, aber achten nicht. Ich glaube, ich würde die Nähe dessen, von dem ich es wüßte, nicht mehr ertragen. Ach ich weiß nicht, was ich thun würde, ich weiß nicht, was geschähe; ich weiß nur, daß ich an dem Tage sterben würde oder wünschen müßte, sterben zu können. Aber warum sagst Du so etwas, wie kannst Du auf solche Gedanken kommen?«

Wie geängstigt klammerte sie sich an seinen Arm. Er lächelte. »Philosophieren ist nichts für Dich!« sagte er heiter.

»Nein!« rief sie ebenfalls lächelnd, »das ist für alte, trockene Philosophen, wir sind jung, heiter und glücklich! Mag die Welt sein, wie sie will, ich bin Dein und Du bist mein, und unsere Welt ist der Papa und der Junge, und diese Welt ist ganz sicher so, wie sie uns erscheint!«

Sein Herz krampfte sich bei diesen Worten zusammen, aber er nickte leise, dann beugte er sich nieder, küßte sie und drückte sie schmerzlich bewegt an sich.

Einige Tage nach diesem Gespräch traf Hiller mit Wismar in Ilmenau zusammen.

Der Tulpenstein, wo beide sich trafen, ist ein ziemlich einsam im Walde gelegener Felsblock, ein alter Opferstein.

Als Hiller den steilen Weg heraufstieg, fand er Wismar, bereits wartend, auf dem Stein sitzen.

Als der Wartende ihn erblickte, erhob er sich.

Hiller atmete tief auf, als er die Höhe erstiegen, der steile Weg hatte ihn außer Atem gebracht. Er wischte sich den Schweiß von der Stirne.

»Wir sehen uns unter eigentümlichen Verhältnissen wieder,« wendete er sich dann an Wismar, »jedenfalls aber unter günstigeren Bedingungen wie das letzte Mal, für Sie wenigstens!«

»Wieso?« antwortete Wismar trocken; »was wollen Sie damit sagen?«

»Nun, das letzte Mal sahen wir uns im Sprechzimmer des Gefängnisses.«

»Ach ja – das meinen Sie also,« erwiderte Wismar, »ja allerdings sind die Verhältnisse für mich jetzt günstiger. Sie wünschten wohl freilich, man hätte mich Zeitlebens eingesperrt oder ich läge jetzt auf dem Hamburger Sträflingskirchhof!«

»Ob ich das wünschen muß, wird von dem Resultat dieser Unterredung abhängen.«

»Ja, das wird es wohl,« wiederholte Wismar gleichgültig. »Wie denken Sie sich denn dies Resultat?«

»Ich hoffe, daß Sie menschlich genug denken werden, um einzusehen –«

»Menschlich denken!« unterbrach Wismar aufkreischend den Sprechenden. »Menschlich denken! Glauben Sie, man lernt in sechs Jahren im Gefängnis menschlich denken? Wissen Sie, daß ich dort nur einen Gedanken gehabt habe, mein Unglück an dem zu rächen, der es verschuldet? Wissen Sie, daß ich nur ein Gebet hatte, dem zu fluchen, der mich in den Kerker gebracht?«

»Das war ebenso thöricht, wie ungerecht!« erwiderte Hiller mit großer Ruhe. »Wenn von einer Schuld die Rede sein kann, so trifft dieselbe doch ganz allein Sie! Habe ich Ihnen geraten, den Schutzmann zu erschlagen?«

»Das war ein unglücklicher Zufall, den ich bitter bereut und schwer gebüßt habe. Aber Sie waren es, der den Plan erdacht, den saubern Plan, der mich auf alle Fälle ins Gefängnis bringen mußte. Wer weiß, was Sie für Hintergedanken dabei hatten!«

»Es wäre thöricht –«

Wismar unterbrach den Sprechenden: »Ich war übrigens in Kassel,« sagte er, »und habe da erfahren, daß Sie ja förmlich im Glück badeten, ja badeten, während ich hinter Kerkermauern stöhnte.«

»Wirklich stöhnte?« wiederholte Hiller ironisch. »Uebrigens lassen Sie, bitte, alles was vorüber, und halten wir uns an das Gegenwärtige. Was soll geschehen?«

»Vor allem verlange ich die Herausgabe meines Vermögens – ich weiß, daß mein Vater gestorben ist.«

»Ihr Vermögen steht mit Zins und Zinseszins zu Ihrer Verfügung, ich habe keinen Pfennig davon angerührt. Und weiter?«

»Was weiter? – Was wir verabredet haben.«

»Ich sollte heute noch fliehen, heute noch wollten Sie zu Ulmann gehen und ihm das Märchen erzählen, das wir damals ausgedacht?«

»Das ist meine Absicht.«

»Und welchen Zweck verfolgen Sie damit?«

»Mein Gott! Ich will doch wieder in meinen Stand eingesetzt werden, will wieder meinen Namen erhalten, will wieder ich sein!«

»Dazu ist es jetzt zu spät, dadurch würde mein Weib und mein Kind ins Unglück gestürzt. Das kann ich nicht zugeben!«

»Ich werde mich den Teufel um Sie scheren!«

»Sie haben nur ein Mittel Ihren Willen gewaltsam durchzusetzen,« sagte Hiller. »Die Denunciation. Aber vergessen Sie nicht, daß Sie, zeigen Sie unsern damaligen Betrug bei Gericht an, ebenfalls bestraft werden.«

»Das weiß ich,« entgegnete Wismar trotzig, »aber ich bin jetzt gerade drin, was kommt es mir auf ein paar Wochen oder Monate Gefängnis mehr oder weniger an. Ich will meinen Namen, will zurück zu den Meinen, ich habe mich keines entehrenden Verbrechens schuldig gemacht, ich wollte den Menschen nicht töten. Ich habe unsere damalige Verabredung gehalten, habe geschwiegen und werde ferner mein Wort halten. Nun halten Sie aber auch, was Sie versprochen, die Zeit ist da, ich bin frei und komme, mein Recht geltend zu machen, ob inzwischen sechs Wochen oder sechs Jahre vergangen, ist ganz gleich.«

Hiller sah finster zur Erde.

»Sie verlangen mit einem gewissen Recht, was Sie fordern,« sagte er düster. »Aber es ist ein großer Unterschied, recht haben und recht thun. – Wismar!« rief er plötzlich flehend, »ich bitte Sie mit aufgehobenen Händen, ich beschwöre Sie bei allem, was Ihnen heilig, beim Andenken Ihrer Mutter, haben Sie Mitleid mit mir, vernichten Sie nicht das Glück von vier Menschen. Sie haben keinen Schaden, wenn Sie die Verhältnisse lassen wie Sie sind. Suchen Sie Ihre Frau auf, sagen Sie ihr die volle Wahrheit, wie und warum Sie ins Gefängnis gekommen, und lügen Sie hinzu, daß Sie, um Ihrer Familie keine Schande zu machen, vor den deutschen Behörden den Namen Hiller angenommen hätten, den sie nun weiterführen würden. Ihre Frau, die Sie liebt, wird Ihnen glauben und zufrieden sein. Und Ihre Familie – mein Gott – die Liebe zu Ihren Geschwistern ist doch nicht so groß. Wenn Sie dieselben auch nicht wiedersehen, Sie werden sich trösten! Ist das nicht besser, als daß Sie schuldlose, gute Menschen elend und unglücklich machen? Mein Weib! Mein Kind! Sie müssen zu Grunde gehen!«

Er sank schluchzend auf den Stein nieder, auf dem Wismar vorhin gesessen.

Dieser blickte ihn halb spöttisch, halb verächtlich an. »Faseln Sie?« sagte er hart, »damit Sie die Früchte eines perfiden Betruges in Ruhe genießen können, soll ich Name, Heimat, Familie opfern?«

»Und damit Sie die Früchte dieses perfiden Betruges ernten, wollen Sie mich, mein Weib und Kind unglücklich machen?« gab Hiller die Frage zurück.

»Ihr Weib und Kind durch Betrug!« sagte Wismar, »einmal kommt der Vorfall ja doch an den Tag, es ist eine Thorheit, die Zeit hinausschieben zu wollen, und für alle Beteiligten besser, wenn ein schnelles Ende gemacht wird.«

»Also nochmals, Sie gehen nicht auf meinen Vorschlag ein?« fragte Hiller.

»Nein! Sie tragen die Schuld, daß die Verhältnisse so sind wie sie liegen. Warum ergriffen Sie nicht, wie wir verabredet, sechs Wochen nach der Hochzeit die Flucht? Damals wäre Ihnen das Scheiden leicht geworden, jetzt wird es Ihnen schwer durch eigene Schuld.«

»Ja, Sie haben recht!« seufzte Hiller. »Mein ist die Schuld! Ich möchte Ihnen Rechnung ablegen, verschiedenes mit Ihnen besprechen,« fuhr er fort, »aber ich bin es jetzt nicht im stande, ich muß Ruhe haben, um nachdenken zu können. Treffen wir uns morgen um dieselbe Stunde wieder hier. Und vielleicht,« setzte er zögernd hinzu, »überlegen Sie sich meinen Vorschlag noch einmal.«

»Da ist nichts zu überlegen!« entgegnete Wismar, »also bis morgen, aber nur bis morgen; sind wir dann nicht im klaren, bringe ich die Sache zur Anzeige und dann bekommen Sie gar nichts, auch die fünfundzwanzigtausend Dollars nicht, die noch in Australien für Sie angewiesen sind. Also das Ueberlegen ist Ihnen nötiger als mir. Bis morgen denn.«

Damit drehte er, ohne zu grüßen, Hiller den Rücken und schritt rasch den Fußpfad hinab, dem Thale zu.

Hiller sah dem Davoneilenden mit einem Blick tödlichen Hasses nach.

»Bis morgen!« zischte er zwischen den geschlossenen Lippen hervor. Er hob die Faust und schüttelte sie drohend hinter dem Davonschreitenden. Dann irrte er lange, in tiefe Gedanken verloren, durch die dunkelsten Gänge des Waldes, bis er endlich mit der untergehenden Sonne den Heimweg antrat.

Im Hotel begab er sich sofort auf sein Zimmer. Dort angekommen setzte er sich nieder und schrieb:

Geliebte Mutter!

Du hast von dem Unglück, das mich getroffen, vielleicht gehört, obgleich ich vermieden habe, Dir zu schreiben. Ich habe durch einen unglücklichen Zufall, indem ich mich einer ungerechten Verhaftung widersetzte, einen Polizeibeamten erschlagen, und dafür eine Gefängnisstrafe von sechs Jahren erhalten und abgebüßt. Wieder in Freiheit gesetzt, wollte ich ein neues Leben beginnen, aber alles stößt mich zurück, jeder verweigert dem Zuchthäusler Arbeit und Unterkunft. Meinem Leben ist das Brandmal der ewigen Schande aufgedrückt, mein Leib ermattet, mein Mut gebrochen. Ich raffe meine letzte Kraft zusammen, um die Last des Lebens, die ich zu tragen nicht mehr im stande bin, von mir abzuschütteln. Verzeihe dem Sterbenden, geliebte Mutter, den dieser letzte Schritt vor Schande und Entehrung rettet! Verzeihe dem Sohn, der noch im Todeskampfe die teure Mutter tausend und tausendmal segnet.

Bad Ilmenau.
Ferdinand Hiller.

Er adressierte das Schreiben, nachdem er es couvertiert hatte.

Es überlief ihn kalt, als er die Züge der Aufschrift nochmals überlas – die Adresse seiner Mutter – wie lange hatte er ihr nicht geschrieben, wie lange der alten Frau nicht gedacht. Er lebte in glänzenden Verhältnissen, sie in Armut und Dürftigkeit; war denn gar keine Möglichkeit vorhanden gewesen, sie zu unterstützen, seiner Mutter die letzten Lebenstage zu erleichtern? Er wußte doch sonst Mittel und Wege zu finden, seinen Willen durchzusetzen. Sich darüber den Kopf zu zerbrechen, war ihm nie in den Sinn gekommen. Aber jetzt zog er sie in seinen raffinierten Mordplan, ohne danach zu fragen, ob er ihr Kummer mache oder nicht; er war doch ein recht schlechter Sohn.

»Ein schlechter Sohn,« – er lachte ingrimmig auf bei dem Gedanken, – ein Schurke war er, ein Betrüger! Bald ein – er zuckte zusammen und warf sein Taschentuch auf den Brief; es war ihm, als ob der Name seiner Mutter ihn vorwurfsvoll anblicke.

Er sprang auf und schritt erregt auf und ab.

Immer tiefer und tiefer sank die Nacht, und noch immer hatte er seinen Weg nicht beendet. Er zündete alle im Zimmer befindlichen Kerzen an, dann schritt er weiter, ruhelos von einer Wand zur andern. Plötzlich blieb er vor seinem Koffer stehen und öffnete denselben. Vorsichtig griff er mit der Hand unter Kleidungsstücke und Wäsche, bis auf den Boden. Eine Zeitlang tastete er suchend, mit abgewandtem Gesicht zog er endlich einen Gegenstand hervor. Es war ein Pistol. Er legte die Waffe auf den Tisch und nahm von neuem seine Wanderung auf.

Wohl eine Stunde mochte er auf und abgeschritten sein; sein Gesicht zeigte einen ruhigeren Ausdruck, nur die Lippen waren fest aufeinandergepreßt.

Er trat zum Tisch, prüfte die Waffe, probierte die Spannkraft der Feder und ließ den Hahn einige Male niederschnappen; dann lud er das Pistol und legte es auf den Nachttisch, der neben dem Bett stand.

»Vielleicht träume ich in der Nacht, man verhafte mich, und ich benütze im Schlaf die Waffe, um sie gegen mich zu richten,« murmelte er. »Wäre es nicht überhaupt besser, ich machte gleich jetzt ein Ende? – Ein Druck, und die ganze Komödie wäre ausgespielt. – Nein!« schrie er plötzlich so laut auf, daß er vor seiner eigenen Stimme erschrak, »soll einer sterben – und wenn Wismar hartnäckig bleibt, giebt es keinen andern Ausweg –, so sei es der, den die Schuld trifft. Ich morde nicht, ich schütze mich und die Meinen!«

Eine ferne Uhr schlug die zweite Morgenstunde, als er sich ermüdet aufs Bett warf. Der Schlag derselben Uhr weckte ihn auch am andern Tage aus einem traumlosen Schlummer. Er glaubte etwa eine Stunde geschlafen zu haben, aber es war gegen elf, wie ihn ein Blick auf seinen Reisewecker belehrte. Dennoch zögerte er, aufzustehen.

»Was soll ich unter Menschen?« meditierte er; »aber was soll ich allein? Ich möchte schlafen, schlafen, schlafen, bis es geschehen, und dann wieder schlafen, damit ich glaube, ich habe geträumt! – ›Lieblich sind des Schlafes Träume, nur das Wachen träumt so schwer!‹« – Dieser Vers, er wußte nicht, wo er ihn gelesen oder gehört, kam ihm ins Gedächtnis und verließ ihn nicht wieder. Plötzlich sprang er auf. »Feigling, Schwächling!« rief er. »Laß Dein weichmütiges Denken, das Dir den Sinn verwirrt. Weißt Du, was heute geschieht? Denk' jetzt nicht daran!«

Er kleidete sich an und bestellte das Frühstück, dann nahm er einen Stoß Geschäftsbriefe, die er sich mitgebracht, aus dem Koffer, und versuchte zu arbeiten. Zuerst unterbrach er sich oft; halbe Stunden lang saß er, den Kopf auf die Hand gestützt, vor einem angefangenen Briefe, mit der Zeit aber floß die Feder gleichmäßiger über das Papier. Dennoch vergingen die Stunden langsam, und so oft er nach der Uhr sah, schüttelte er den Kopf. Um 1 Uhr brach er auf. Er verschloß die Briefe in dem Koffer, nur das Schreiben an seine Mutter und das Pistol steckte er zu sich. Der Tulpenstein lag etwa eine Stunde von dem Badeort entfernt, er hatte also drei Stunden Zeit. Das war ihm insofern angenehm, als er es für vorteilhaft hielt, einen Umweg zu machen; andere Vorsichtsmaßregeln hielt er für überflüssig, ja, für geradezu gefährlich.

Es war nach vier, als er auf dem Tulpenstein ankam. Wismar war noch nicht da. Ob er kommen würde? Ja, da kam er den Weg herauf.

»Was haben Sie beschlossen?« rief er dem Kommenden entgegen.

»Es bleibt bei dem, was ich gestern gesagt!« entgegnete Wismar keuchend, die letzten Stufen zu der Höhe erklimmend.

»Wismar!« rief Hiller eindringlich, »ich bitte, ich beschwöre Sie! Sie laden den Tod eines Menschen auf Ihr Gewissen!«

»Ich bin für anderer Thun nicht verantwortlich.«

»Wissen Sie, daß ich mich töten werde?«

»Die Welt würde den Verlust verschmerzen,« erwiderte Wismar höhnisch. »Uebrigens glaube ich es nicht, Leute Ihres Schlages töten sich nicht.«

»Meinen Sie?« sagte Hiller finster. »Lesen Sie!«

Er reichte ihm den Brief, den er an seine Mutter geschrieben.

Wismar warf einen flüchtigen Blick auf das Schreiben. »Phrasen,« sagte er dann. »Uebrigens ist der Brief ja noch nicht abgeschickt.«

»So bitte ich Sie, ihn abzusenden, da mir keine Zeit dazu bleibt, ich werde diesen Wald nicht lebend verlassen.«

»Soll bestens besorgt werden,« sagte Wismar, cynisch lachend, und steckte den Brief in seine Brusttasche.

»Also Sie haben kein Mitleid?« rief Hiller. Er warf dabei einen raschen Blick um sich. Niemand war in der Nähe.

»Heiße ich Sie, sich umzubringen? Thun Sie, was Ihnen gut dünkt.«

»Und wenn ich mich vor Ihren Augen töte?« rief Hiller. Er zog die Pistole aus der Tasche, spannte den Hahn und richtete den Lauf gegen seinen Kopf.

Wismar fuhr erschreckt zusammen; im ersten Augenblick hob er den Arm, als wolle er Hiller die Waffe entreißen, gleich darauf aber trat er einen Schritt zurück, zuckte die Achseln und sagte verächtlich: »Pah, sie wird wohl nicht geladen sein!«

»So überzeuge Dich!« zischte Hiller zwischen den Zähnen hervor. Blitzschnell senkte er den Lauf der Pistole auf die Brust des vor ihm Stehenden und drückte ab. Ein scharfer Knall, eine Dampfwolke – und ohne einen Laut von sich zu geben, stürzte Wismar vornüber zur Erde.

Dumpf dröhnte das Rollen des Schusses durch den schweigenden Wald, hie und da ein Echo weckend. Dann war alles still.

Mit stieren Augen blickte Hiller auf den am Boden Liegenden, aber nur einen Moment dauerte die Erstarrung, dann fuhr er auf. »Fort, fort!« flüsterte er, dann warf er das Pistol neben die Leiche, duckte sich und eilte in der seinem Herwege entgegengesetzten Richtung davon, sich immer hinter Bäume und Sträucher bückend. Erst eine Viertelstunde vom Schauplatz der That richtete er sich auf, und ging im gewöhnlichen Schritt dem Badeort zu.

»Was nun kommt, bleibt abzuwarten!« sagte er vor sich hin. »Werde ich entdeckt, so kostet es den Kopf, aber das Lebensglück der Meinen war vernichtet, wenn ich ihn nicht tötete. Und höchst wahrscheinlich wird die That nicht entdeckt, dafür sorgt der Brief, – den wird nun wohl ein anderer besorgen müssen.« Er lächelte bei diesen Worten höhnisch. »Ein feiner Gedanke von mir, ihn denselben selbst einstecken zu lassen, ich weiß nicht, ob ich den Mut gefunden hätte, ihn der Leiche in die Tasche zu schieben.«

Es war gegen acht, als Hiller wieder in seinem Hotel anlangte. Er hatte eigentlich beabsichtigt, noch einige Tage in Ilmenau zu verweilen, aber er reiste doch noch am Abend desselben Tages ab. Nicht aus Furcht vor einer Entdeckung, diese glaubte er ausgeschlossen, aber es drängte ihn, den Ort zu verlassen. Mit der Zahl der Meilen, die er zwischen sich und den Schauplatz der blutigen That legte, glaubte er die Erinnerung an dieselbe in die Ferne gerückt.

Er täuschte sich nicht; je weiter ihn der eilende Zug brachte, desto freier und leichter fühlte er sich. Die That selbst bereute er nicht. Wismar hatte sich selbst gemordet, war an seinem eigenen bösen Willen zu Grunde gegangen, mit dem er ihn, sein Weib und Kind in Verzweiflung stürzen wollte. Mitunter stieg wohl das Bild des Gemordeten vor seinem Auge auf, zuweilen rief eine Stimme in seinem Innern: »Mörder! Mörder!« Aber die mahnende Regung seines Gewissens quälte und ängstigte ihn nicht halb so sehr, wie ihn all die Jahre der Gedanke gefoltert und gepeinigt, Wismar einst töten zu müssen.

Zuweilen dachte er wohl auch daran, daß seine That entdeckt und er verhaftet werden könnte. Dann überlegte er eifrig, wie er sich zu benehmen habe. Ruhig, recht ruhig vor allem, mit kalter Ueberlegenheit, wollte er den Beamten entgegentreten. Das sollte ein Leichtes sein. Wie wenig er aber in Wirklichkeit der Situation gewachsen war, davon sollte er sich nur zu bald überzeugen.

Es war auf der Rückreise von Prag. Der Zug hielt auf einer kleinen Station. Hiller lag schlummernd in der Ecke eines Coupés erster Klasse, als ihn Stimmengewirr und heftiges Auf- und Zuschlagen der Wagenthüren weckte. Er trat ans Fenster, um gleich darauf entsetzt zurückzufahren; der ganze Bahnhof war von Gendarmen besetzt. Wohin er blickte, sah er die grünen Federbüsche und aufgepflanzten Bajonette der österreichischen Landgendarmen. Zwei derselben schritten mit dem Zugführer und dem Bahnhofinspektor den Zug entlang.

»Sie suchen Dich,« war sein erster Gedanke, und noch ehe er denselben völlig erfaßt, stürzte er mit einem wilden Sprunge nach der gegenüberliegenden Thüre, um durch dieselbe das Freie zu gewinnen. Zu seinem Glück gab das Schloß nicht sogleich nach; das brachte ihn wieder zur Besinnung.

»Komm' zu Dir selbst!« zischte er zwischen den Zähnen hervor; dabei drückte er sich die Nägel der rechten Hand so tief in das Fleisch der linken, daß die Male blutig unterliefen. Langsam schritt er zu dem nach dem Fahrsteig liegenden Fenster zurück, lehnte sich hinaus und fragte den Beamten, welcher die Expedition leitete, was geschehen sei.

Jedem anderen würde wohl der Gendarmeriewachtmeister die Antwort schuldig geblieben sein, dem Passagier erster Klasse gegenüber ließ er sich zu einer Erklärung herab. Sein geschulter Polizeiverstand sagte ihm: erster Klasse fahren nur Minister, Abgeordnete, Hochstapler oder sehr reiche Leute, diesen vier Menschensorten gegenüber ist Höflichkeit auf alle Fälle das sicherste Schutzmittel gegen Unannehmlichkeiten, schadet nie, kann aber nützen.

»Wir suchen ein Frauenzimmer – eine Kindesmörderin,« sagte er deshalb und schritt, die Hand zum Hute erhebend, weiter. Aufatmend sank Hiller in die Kissen des Polstersitzes zurück.

»Verwünschte Nerven!« brummte er; »wenn ich nun nicht allein gewesen wäre?«

Am Abend desselben Tages langte er bei den Seinen in dem Landhause am Vierwaldstättersee an. Da er seine Ankunft nicht gemeldet, trat er unerwartet auf die Veranda, wo sich die Familie befand. Mit einem Aufschrei freudigster Ueberraschung flog Helene an seinen Hals. Er preßte sie an sich, aber wie ein Fieberschauer schüttelte es seine Glieder, als er den Mund auf ihre Lippen preßte. Sein kleiner Knabe, der auf der Erde mit einem Farbenkasten gespielt, sprang gleichfalls auf und eilte dem Vater entgegen. Der Kleine achtete es nicht, daß er beim Aufspringen ein Gefäß mit roter Farbe umgestoßen und sich über die Hand geschüttet hatte. Nach Jungenart faßte er des Vaters beide Hände und versuchte, an ihm emporzuklettern. Hiller wollte das Kind emporheben; da – wie er den Knaben an seine Brust drücken will, fällt sein Blick auf seine Hände. Seine Augen treten aus den Höhlen, er läßt das Kind fallen und starrt mit aschfahlem Gesicht seine weit vorgestreckten Hände an – nein – das ist keine Täuschung, das ist kein Licht einer Laterne; sie sind rot – voll roter, blutiger Flecke.

»Blut! Blut!« stammelt er entsetzt; dann entringt sich ein Schrei seiner Brust, so schmerzlich, so qualvoll wie der eines Gefolterten, und ohnmächtig sinkt er dem erschreckt hinzuspringenden Ulmann in die Arme.

Der schnell herbeigerufene Arzt konstatiert ein schweres Nervenfieber und ordnet die Ueberführung des Erkrankten in ein Sanatorium an. Aber Helene will davon nichts wissen, sie will ihn pflegen, sie allein.

So sitzt sie denn Nacht für Nacht an dem Lager des sich in der Fieberglut ruhelos Wälzenden, sie hört seine wilden Selbstanklagen, die wirren Bilder seiner wilden Träume. Die Hand auf seine Stirn gelegt, sitzt sie neben ihm, bis der Morgen graut und ihr die Kräfte versagen; nur zuweilen läßt sie die Hand von seiner Stirn, um sie zum Gebet zu falten, und ihre Lippen stammeln:

»Erhalte ihn mir, mein Herr und mein Gott, und nimm die bösen Träume von ihm, die ihn ängstigen und quälen, ihn, den besten, reinsten, edelsten aller Menschen!«


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