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Zweiter Aufzug.

(Dr. Scholl sitzt an seinem Schreibtisch und arbeitet. Weidmann sehr modisch gekleidet tritt, ohne auf sein Anklopfen das Herein abzuwarten, ein).

Weidmann

(nachlässig mit auswärts gebogenem Ellbogen Scholl die Hand reichend) Tach!

Scholl.

Ei, der schöne Alex! Was verschafft mir das Vergnügen Deines Besuches?

Weidmann (affektiert näselnd).

Müssen Freunde einen Grund haben...

Scholl (lachend).

Na, na, bemühe Dich nicht, Alex. Was ist denn los, daß Du mich nach Wochen plötzlich wieder der Ehre würdig hältst, Deine letzte Modeschöpfung staunend zu bewundern?

Weidmann (setzt sich).

Gar nichts los, – thatsächlich. Im Ernst, wie findest Du die Kravatte in Verbindung mit dem Ausschnitt der Weste? Es war nicht leicht, beides mit dem Jaquet so zu stimmen ... (tastet an dem Rock herunter.) Da habe ich übrigens ein paar Briefe... das heißt... Zuschriften, die ich Dir bei der Gelegenheit zeigen möchte.

Scholl.

Also doch.

Weidmann.

Nun ja, thatsächlich – weil ich doch gerade da bin – (reicht Martin einige Papiere).

Scholl.

Gieb her. – Himmel! Lauter Rechnungen.

Weidmann.

Ja, aber die meisten genieren mich nicht. Die kleinen Leute, der böhmische Schneider mit seiner Sprache zum Totlachen und seinem fabelhaften Nachempfinden meiner Ideen, die Wäscherin, die hübsche Parfumöse, die warten, weil sie mich brauchen. Aber neulich Abend im Klub, – ich weiß nicht, wie es kam. Ich wettete, die Boutons der kleinen Rovati von der ersten Quadrille seien falsch. Ich wußte thatsächlich nicht, daß sie sie vom Grafen Trolskoi bekommen hatte. Er forderte mich, wir machten einen Gang und schieden als Freunde, – aber meine Wette gegen den Lieutenant von Sauritz habe ich verloren und die lumpigen paar Tausend mußten bezahlt werden. Wie Du siehst, habe ich deshalb etwas Geld aufgenommen, aber der Kerl nutzt meine Situation aus, und da dachte ich, Du würdest vielleicht...

Scholl.

Ich habe wirklich nicht das mindeste Interesse an den Boutons der Rovati und unsere Schulkameradschaft hat unter längeren Unterbrechungen schon so gelitten, daß ich Dir nur raten kann, Dich an Deinen Vater zu wenden.

Weidmann.

Ja, das ist eben die Sache. Seit der letzten chause beim Rennen will der Alte thatsächlich nicht mehr recht 'ran. Hat mir sogar das Ehrenwort abgenommen, regelmäßig ins Geschäft zu gehen. Zum Glück Familienehrenwort, sonst könnte ich jetzt nicht da sein. Also Du willst nicht?

Scholl.

Nein.

Weidmann.

Also reden wir von etwas anderem. Wo ist Deine Frau? Wie geht es ihr?

Scholl.

Danke, gut. (Etwas nervös.) Aber was geht Dich meine Frau an? Sie ist ausgegangen und noch nicht zu Hause und es dunkelt schon. (Zündet die Gaslampe auf seinem Schreibtisch an.) Bist Du ihr vielleicht begegnet?

Weidmann.

Leider nicht. Weißt Du, Martin, ich glaube, hinter dem Frauchen steckt viel mehr als Du denkst.

Scholl.

Und ich glaube, das könntest Du meiner eigenen Beurteilung überlassen.

Weidmann.

Mir macht es immer einen Höllenspaß, mich in ihrer Gegenwart scheinbar über sogenannte ernste Dinge zu unterhalten. Während sie sonst ganz still und apathisch dasitzt, blitzt es dann bei irgend einem Wort in ihren Augen, sie öffnet die Lippen, als wollte sie etwas sagen, schließt sie wieder – kurz, es steht ihr allerliebst.

Scholl.

Ich möchte Dich denn doch gebeten haben, Deine Beobachtungen und Studien an andern Frauen, als an der meinen zu machen. Ich dächte auch, das »Familienehrenwort« sollte Dich veranlassen, die Bureaustunden Deines Vaters einzuhalten.

Weidmann.

Du hast wirklich keinen Grund, auf mich eifersüchtig zu sein. Ich habe Dein Frauchen thatsächlich nur ganz objektiv beobachtet, weil ich finde, daß die Frauen jetzt im allgemeinen eine ganz veränderte Art annehmen. Man muß bei manchen ganz andere Saiten aufziehen als sonst. Da habe ich kürzlich durch Zufall – abends auf der Straße eine einfache Arbeiterin kennen gelernt, ich sage Dir, nicht beizukommen. Ich halte sie thatsächlich für anständig. Das giebt dem Frauenzimmer einen Reiz! Manchmal will sie mir gar nicht aus dem Sinn, diese Katharina.

Scholl.

(geht ans Fenster und sieht ungeduldig auf die Straße).

Solche Mädchen aus dem Volke haben oft einen großen Fond von Gemütstiefe, manchmal mehr, als einem lieb ist.

Weidmann.

Katharina hat auch Verstand und ein merkwürdig schlagfertiges Urteil. Einigemal, als ich mich nicht abweisen ließ sie zu begleiten natürlich nur draußen in der Vorstadt – da meinte ich fast, sie hätte mich ausgeholt über alle möglichen Dinge und Verhältnisse, die sie gar nicht interessieren können.

Scholl.

Sie wird einen Schatz haben, der Sozialist ist.

Weidmann (auffahrend).

Katharina Posinger hat keinen Schatz, darauf wette ich!

Scholl.

So viel als auf die Boutons der Rovati?

Weidmann

(die Bemerkung überhörend).

Der Sache muß ich auf den Grund kommen, und sollte ich das Mädchen in ihrem zuhause aufsuchen müssen und mich bei den Nachbarsleuten erkundigen.

Scholl.

Welche Kravatte würdest Du zu dieser Expedition wählen?

Weidmann.

Du scheinst mir heute keinen guten Tag zu haben. Adieu Martin.

Scholl.

Adieu. (Sie reichen sich gleichgiltig die Hände. Weidmann geht.)

Alice

(kommt eilig und erregt vom Ausgehen nach Hause. Während sie spricht, legt sie Pelzmütze, Muff und Jäckchen ab).

Wie froh bin ich, daß ich Dich noch treffe, Martin, ich dachte, Du wärst am Ende schon in die Redaktion gegangen.

Scholl.

So lange Du aus warst, hätte ich das nicht gethan, auch wenn mich die Arbeit weniger gefesselt hätte. Du weißt, mein Schatz, ohne einen kleinen Abschied gebe ich mich nicht zufrieden. Aber Du bist erregt, Kind, ist Dir vielleicht etwas Unangenehmes zugestoßen? Es dunkelt. Ich will nicht, daß Du in der Dämmerung allein ausgehst.

Alice.

Ich hatte die Absicht, vor einbrechender Dunkelheit zuhause zu sein – aber

Scholl

Hat Jemand gewagt Dich zu belästigen?

Alice.

Nein, sicher nicht – und das wäre auch nicht – ach Martin, ich möchte Dich nur um etwas bitten.

Scholl.

Zum Dank, daß das süße Kindergesichtchen meines Weibchens niemanden zu sündigen Gedanken reizte, sei Dir Deine Bitte...

Alice.

Sprich nicht so, Martin. Ich bin im Augenblick nicht imstande zu scherzen. Von der Erfüllung meiner Bitte hängt viel ab.

Scholl.

Lieschen, mir wird ja ganz gruselig zu Mute, wenn ich höre, was mein lustiges Singvögelchen plötzlich für ernste Töne anschlägt.

Alice

Bitte, gieb mir hundert Mark.

Scholl.

Hundert Mark! Donnerwetter, wofür denn mein Schatz?

Alice.

Ich möchte es lieber nicht sagen. Martin, ich fürchte, Du lachst mich aus. Bitte gieb mir hundert Mark von meinem Geld, ich meine von dem Gelde, das der Vater Dir für mich gegeben hat.

Scholl.

Du meinst von Deiner Mitgift, Kindskopf! Die ist fest und sicher angelegt, da kann ich nicht eins-zwei über den Schrank gehen und Dir hundert Mark geben, so wie Du über Deine Haushaltungskasse gehst und die Eierfrau bezahlst.

Alice.

Und ich kann gar nichts von dem Gelde haben?

Scholl.

Nein, wenigstens nicht ohne meine Zustimmung, und daß ich die nur gebe, wenn ich weiß, wozu Du das Geld verwenden willst, kannst Du Dir denken, Lieschen.

Alice.

Ich will es nur zu gutem Zwecke verwenden, Martin – einer armen Frau helfen.

Scholl

(flüchtig auf die Papiere deutend, die auf seinem Schreibtisch liegen). Es sind doch kluge Herren, die die Gesetze machen. Um irgend einer armen Familie zu helfen, kann eine bescheidene Redakteursfrau nicht hundert Mark ausgeben. Und es ist gut, daß meine kleine Frau ohne ihren vorsichtigen Ehegatten über keinen Pfennig verfügen kann. Dein mitleidiges Herz würde Dich bald zum Zielpunkt gewissenloser Ausbeutung machen.

Alice.

Aber die Leute sagten immer, ich sei ein reiches Mädchen und der Vater sprach auch von meinem Gelde...

Scholl.

Gewiß, aber darüber wurde mir mitsamt Deinem süßen Persönchen das Verfügungsrecht eingeräumt.

Alice.

Und nun soll ich mit einemmale so arm sein, daß ich einer armen Frau nichts geben kann?

Scholl.

Frau Doktor Scholl denken Sie über solche Dinge nicht nach, denn die verstehen Sie doch nicht! Genügt es Dir nicht, daß Du meine Frau bist, daß ich Dir meinen Namen gegeben habe, daß Du hast, was Du brauchst und in gewissem Rahmen sogar Alles, was Du Dir wünscht? Daß auch sonst Alles mit rechten Dingen zugeht, darauf kannst Du Dich unter Ehrenmännern verlassen. Dein Vater und ich haben die geschäftlichen Angelegenheiten, die mit einer Eheschließung notwendig verbunden sind, die Dir aber im Grunde gleichgiltig sein können, nach Recht und Gesetz abgemacht.

Alice.

Das dachte ich doch auch und wagte nur nicht, anderer Meinung zu sein, als die Damen heute wieder davon sprachen, daß die Frau rechtlos sei.

Scholl.

Nun sag' mir aber um Himmelswillen, wo Du warst, daß Du mit so merkwürdigen Wünschen und Gedanken zu mir zurückkehrst.

Alice.

Ich war in einer Sitzung des Frauen-Hilfsvereins.

Scholl.

Und was sprachen die Basen? Wurde hübsch Parlament gespielt mit Vorsitz und Schriftführung, Wahl und Beschluß?

Alice.

Du weißt ja, daß ich erst kurze Zeit Vereinsmitglied bin und nur wenige Sitzungen mitgemacht habe. Ich gestehe Dir zu, daß mir Vieles dabei sonderbar und oft sehr komisch vorkommt. Aber wenn einzelne Frauen sprechen, so einfach, klar und deutlich von Not und Elend und der Pflicht zu helfen, da versinkt vor meinen Augen alles Lächerliche und ich fühle, daß diese Frauen Großes und Gutes wollen.

Scholl.

Ja, ja, das mag schon sein – in gewissen Grenzen. So lange die Frauen sich damit begnügen, Milch und Windeln an die bedürftige Menschheit zu verteilen, habe ich gegen die ersprießliche Thätigkeit der Frauen-Vereine nichts einzuwenden. Aber es giebt Dinge, in die die Frauen sich nicht mischen sollten. Uns vielgeplagten Männern mit Petitionen und Gesetzbestimmungen unnötige Arbeit und Schreiberei zu machen, das z. B. kann ich unmöglich billigen.

Alice.

Ja, eine Petition an den Reichstag, über die wurde auch lebhaft gesprochen und ich habe sie sogar mit unterschrieben.

Scholl (auflachend).

Nun das ist doch wundervoll! Ich schreibe in meiner Zeitung für die erste Fassung des bürgerlichen Gesetzbuches insoweit es das Familienrecht betrifft, ich vertrete die Jahrhunderte alten Rechte des Mannes, die die emancipierten Blaustrümpfe fin de siècle uns nicht abschwatzen und nicht abtrotzen werden – und meine eigene Frau unterschreibt die Petition an den Reichstag zur Abänderung der fraglichen Paragraphen! – Du hast also juristisch andere Ansichten als ich?

Alice.

Ich habe in solchen Dingen gar keine Ansicht. Ich wußte nichts von einem neuen Gesetzbuch, nichts von Familienrecht und alledem. In der Schule lernen wir von solchen Sachen nichts und wenn sie zu Hause zur Sprache kamen, da rückten die Herren immer zusammen und es schien mir so gelehrt, was sie sprachen, sie brachen ihre Rede so geflissentlich ab, wenn Mama oder ich herantraten, daß ich immer dachte, es müßten sehr häßliche Dinge sein, die sie besprachen besonders als Du, bevor wir uns verlobten, immer sagtest, das sei nichts für Damen.

Scholl.

Nun, der Ansicht bin ich auch noch.

Alice.

Frau Doktor Helmut sagte aber, in der Gesetzgebung sei sehr vieles, das die Frau verstehen müsse, um in vielen Dingen zu ihrem Recht zu gelangen.

Scholl.

So, so.

Alice.

Wenn z. B. eine Frau Geld erbt, und sie will es nach ihrem Sinne verwenden – vielleicht zur Ausbildung der Kinder – dann kann der Mann sie daran hindern und das Geld für seine eigensten Zwecke verwenden, auch wenn diese den Interessen der Familie entgegengesetzt sind. Das ist doch ungerecht!

Scholl.

Allerdings kommen derartige Verhältnisse vor, doch glaube ich nicht, daß eine veränderte Gesetzgebung sie ändern wird. In den meisten Fällen ist der Mann der Begründer und Erhalter der Familie und ihm steht es zu, in den wichtigsten Fragen die Entscheidung zu treffen.

Alice.

Und dann Martin, daß ich's nur auch gestehe, diese Geldsache zwischen Mann und Frau, die war es auch gar nicht, die mich veranlaßte, meinen Namen –

Scholl.

Meinen Namen.

Alice.

– auf das cirkulierende Blatt zu setzen, sondern –

Scholl.

Welche Weisheit hat Frau Doktor Helmut noch in Dein Köpfchen gepflanzt?

Alice.

– sondern eine noch viel schrecklichere Ungerechtigkeit – der Paragraph 1589 des neuen Gesetzbuches.

Scholl.

So, also der Paragraph 1589 ist es, über den Ihr Damen Euch unterhalten habt. Ich bin Frau Doktor Helmut sehr dankbar für die Samenkörner von Auflehnung, die sie in das Gemüt meiner Frau trägt. Ich werde ihr demnächst selbst dafür danken. Vorläufig bitte ich Dich aber, den Umgang mit dieser Dame und die Vereinssitzungen aufzugeben.

Alice (mit steigender Erregung).

Sag' einmal, Martin, ist es wahr, ist es möglich, daß ein Gesetz gemacht wird, in dem es heißt, der Vater sei mit seinem Kinde nicht verwandt? Martin, wenn ich mir denken müßte, daß unser Kind keinen Vater hätte, daß Du ein Recht hättest von mir zu sagen: ich kenne diese Frau und deren Kind nicht, diese Frau, die sich Dir hingegeben mit Leib und Seele – oh Martin, lach' mich doch aus, sag' mir, daß ich falsch verstanden habe, was die Frauen sprachen.

Scholl.

Ich kann Dir nicht sagen, daß Du falsch verstanden hast, was die Frauen sprachen. Der Paragraph 1589, den Du erwähnst, soll allerdings in unser Familienrecht aufgenommen werden – aber was Du nicht verstehst und auch vorerst bei Deiner Jugend nicht zu verstehen brauchst, das sind die Verhältnisse, die einen solchen Paragraphen wünschenswert, ja notwendig machen. Eine Reihe schöner, ruhiger, idealer Familienverbindungen würden zerfallen oder nie hergestellt worden sein, wenn jeder Mann die Verbindungen, zu denen jugendliche Leidenschaft ihn führte, bis ins späte Alter aufrecht erhalten wollte.

Alice.

Aber die Frau, der diese Leidenschaft galt und die sie teilte, ein Kind, das einer solchen Leidenschaft sein Leben dankt, warum müssen die rechtlos sein? Müssen Frau und Kind als Sünder leben, dann war die Leidenschaft sündig und muß eingestanden und gesühnt werden, oder die Leidenschaft besteht zu Recht in des Menschen Brust, dann müssen auch beide Teile, Mann und Frau, den Folgen gerecht werden.

Scholl.

Frau Doktor Helmut hat Dich gut unterwiesen.

(Es läutet an der Hausthüre.)

Alice.

Nein, nein, das, was ich eben sagte, hat Frau Doktor Helmut nicht gesagt. Auf meinem Wege zu der armen Frau und zurück – ich hatte eine gute Stunde zu gehen – da wirbelten mir die Gedanken nur so durch den Kopf. Ganz klar wurden sie mir erst eben, da ich auszusprechen versuchte, was ich gedacht. Wie entsetzlich das Alles ist! Befreie mich doch von der furchtbaren Vorstellung. Sage mir, es ist Alles nicht so, Alles liegt anders, wir sind nicht ungerecht!

Scholl.

Ich sagte Dir ja schon, daß im Interesse der Ruhe und des Familienglückes jener Schichten der Gesellschaft, die die eigentlichen Träger der Zivilisation sind...

Das Hausmädchen.

Ein Bettelkind ist da, das sich nicht abweisen läßt.

Scholl.

Sagen Sie nur, ich wäre Mitglied des Vereins gegen Hausbettel.

Alice.

Nein, nein, Marie, lassen Sie das Kind nur eintreten, ich habe es hierher bestellt.

Das Hausmädchen (schnippisch).

Der Vorplatz ist erst frisch geputzt.

Alice.

Dann lassen Sie das Mädchen in die Küche gehen und geben Sie ihr eine Tasse Kaffe und ein Brödchen.

Das Hausmädchen.

Es ist kein Kaffe mehr da.

Alice

(geht mit einer Geberde des Unwillens von dem Hausmädchen gefolgt zur Thüre hinaus. Martin zündet sich eine Zigarre an und geht langsam im Zimmer auf und ab. Alice kommt eilig wieder).

Das arme Ding ist ganz blau gefroren.

Scholl.

Jetzt sag' mir mal Alice, was das alles bedeuten soll. Willst Du vielleicht gar anfangen, philantropische Ideen in die Praxis umzusetzen und mit allerhand Gesindel in's Haus zu ziehen? Ich teile mit Marie den Sinn für Reinlichkeit und meine Geruchsnerven sind sehr fein entwickelt. Armeleut-Geruch ist mir entsetzlich.

Alice.

Höre doch nur den Zusammenhang, warum ich das Mädchen hierher bestellte und ich bin sicher, daß Du mir in allen Stücken Recht giebst.

Scholl (ungeduldig).

Also los!

Alice.

Der Frauen-Hilfs-Verein schickt an die Familien, die sich bei ihm um eine Unterstützung melden, Fragebogen. Wenn diese Fragebogen ausgefüllt zurückkommen, wird in den Sitzungen bestimmt, welche Art von Unterstützung der Petentin angewiesen werden soll. Nun kam dieser Tage ein Brief von einer Frau an den Verein, die für eine Nachbarin um Hilfe bat. Eine der Damen, die solche Recherchen zu machen übernommen haben, suchte die Frau in einer der entlegensten Straßen des Hafenviertels auf. Die Dame brachte nach einigen Tagen den Bescheid, daß die Frau sehr krank sei und anscheinend in sehr ärmlichen Verhältnissen lebe; sie habe aber in sehr bestimmten Ausdrücken jede Auskunft über sich verweigert und erklärt, keinerlei Unterstützung annehmen zu wollen, so wie auch, daß der Brief der Nachbarin an den Verein ganz ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen geschrieben worden sei. Mit der Begründung, daß man die Frau nicht gegen ihren Willen unterstützen könne, daß sie wahrscheinlich Hilfsquellen habe, die sie nicht nennen wolle, betrachtete der Vorstand in der Sitzung den Fall als erledigt.

Scholl.

Das ist auch ganz korrekt.

Alice.

Korrekt mag es ja sein, aber die Idee, daß die kranke Frau vielleicht aus wirklichen, guten Gründen lieber mit ihrer Familie ihr Elend tragen wolle, als es in einem Fragebogen registrieren zu lassen, trieb mich dazu, mich nach der Sitzung auf den Weg nach dem Hafen zu machen, um zu sehen, ob die Frau nicht durch Zuspruch die Hilfe einer Einzelnen annehmen würde.

Scholl.

Und da verlangte sie gleich hundert Mark. Das war jedenfalls praktischer, als Milch und Fleisch oder Kohlen vom Verein anzunehmen.

Alice.

Du thust der Frau bitteres Unrecht. Wenn Du gesehen und gehört hättest, was ich dort sah und hörte, Du würdest auch anders denken und sprechen.

Scholl.

Wahrscheinlich das übliche Quantum Schmutz und Verkommenheit, Arbeitsscheu und Trunkenheit, das meiner Ansicht nach mit der modernen Sentimentalität und dem Humanitätsdusel nicht verringert wird.

Alice.

Im dritten Stück eines winkeligen Hauses fand ich die Frau, die ich suchte. Der Eingang, die Treppe, die oben eine Art Leiter wurde, der Geruch auf dem mansardenartigen Flur waren so entsetzlich, daß mich ein eigentümliches Gefühl von Angst und Beklemmung beschlich. Ich mußte förmlich Mut fassen, um an die Thüre oben anzuklopfen und auf ein zweistimmiges Herein einzutreten. Denke Dir eine winzige Dachkammer, darin ein Bett, in dem eine junge Person abgemagert mit glühenden Augen liegt, ein Kinderbett, in dem ein Kind angezogen sitzt, ein Herd, auf dem ein Topf mit Wäsche kocht, Lumpen hängen zum Trocknen zwischen Herd und Fenster und was an atembarer Luft noch da ist, wird von zwei Frauen, jede ein Kind auf dem Arm, der Kranken weggenommen, während sie laut und heftig auf die Ärmste einsprechen. Zuerst wußte ich gar nicht, was ich sagen sollte. Wie einem Gespenst, das zugleich alle Sinne reizt und verletzt, fühlte ich mich gelähmt der Armut gegenüber stehen.

Scholl.

Du wirst poetisch, liebe Frau.

Alice.

Was ich zuerst sagte, wie ich mein Eindringen in die Behausung fremder Leute entschuldigte, weiß ich nicht. Die beiden Frauen wurden bald sehr mitteilsam, während die Kranke mich stumm, fast feindselig anstarrte. Nach und nach erfuhr ich von der einen Frau, derselben, die an den Verein geschrieben hatte, daß die Kranke Näherin für ein Export-Konfektionsgeschäft gewesen sei und daß sie brustkrank sei. Sie könne nicht arbeiten, Miete sei rückständig, der Bäcker wollte nicht mehr borgen und die Frau sei so eigensinnig, daß sie keine Unterstützung annehmen wollte. Ich bemerkte, daß die Kranke sprechen wollte, aber ein schrecklicher Hustenanfall hinderte sie daran. Ich ging zur Thüre hinaus, eine der Nachbarinnen folgte mir und erzählte mir noch eine Menge, von dem ich nur das Entsetzliche behalten habe, daß die Frau – keine Frau – daß das Kind – keinen Vater habe! –

Scholl.

Nun ja, daß es ein uneheliches Kind sei. Das kommt oft vor. Was erzählst Du mir davon? Das sind unerquickliche Dinge, von denen man nicht gern spricht und hört, mit denen Du Dir Deinen Sinn nicht vergiften solltest und Deine Heiterkeit nicht rauben. Dein kindischer Frohsinn ist es ja gerade, der mir so wohl thut in meinem arbeitsreichen Leben. Man soll nicht an Sachen denken, die man doch nicht ändern kann.

Alice.

Ich kann nicht allen Menschen helfen, das weiß ich wohl. Wenn ich aber einem Fall begegne, wo Hilfe möglich ist, wo helfen so Not thut, wie hier, da ist es doch meine Pflicht, zu helfen. Deshalb bestellte ich die Tochter einer jener Frauen hierher. Ich will der Kranken etwas schicken, damit sie heute noch wenigstens der drückendsten Sorge ledig werde und etwas Nahrungsmittel anschaffen kann. Die rückständige Miete macht 43 Mark, der Bäcker bekommt 18 Mark, die Apotheke 2,50...

Scholl.

Sind denn die Leute nicht Mitglied einer Krankenkasse?

Alice.

Das weiß ich nicht.

Scholl.

Da siehst Du, wie schlecht Du informiert bist und wie leicht Du betrogen werden kannst. Ich sehe schon, ich muß die Sache angreifen, damit Dein gutes Herz sich beruhigt.

Alice (lebhaft erfreut).

Ich wußte ja, Martin, daß Du gut bist. Was wollen wir thun? Wie viel wollen wir geben?

Scholl.

Vor der Hand nichts. Solche Sachen müssen mit ruhigem Blut gründlich recherchiert werden. Ich muß jetzt in die Redaktion. Am nächsten schönen Tag machen wir zusammen einen Spaziergang an den Hafen und Du führst mich zu Deiner armen Frau. Bist Du nun mit mir zufrieden? Bekomme ich keinen Kuß? Nun, dann nehme ich mir einen!

(Küßt sie und geht.)

Alice.

Am nächsten schönen Tag! – Und bis dahin? (sie geht an ein Schränkchen, nimmt Haushaltungsbücher und einen Blechkasten heraus) Fünfundzwanzig Mark sind alles, über das ich verfügen kann! Besser als nichts. Martin muß morgen mit mir hingehen. (Wickelt das Geld in ein Stückchen Papier und geht in die Küche).

Das Hausmädchen

(kommt durch die mittlere Thüre, geht in ein Nebenzimmer und kommt mit einem Jäckchen in der Hand zurück).

Das Jäckchen hätte mir besser gepaßt als dem Bettelvolk. Aber heute ist mit der Madam nichts anzufangen. Sie scheint mit dem linken Fuß aufgestanden zu sein. Sie befiehlt ganz kurz und sieht aus, als wäre sie um einen Kopf gewachsen.


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