Oskar Panizza
Eine Mondgeschichte
Oskar Panizza

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Es war unter meinem Bett sehr kalt geworden. Die Entfernung der glühenden Monddächer hatte unser dünnes Holzhaus ziemlich rasch abgekühlt. Zwar war auf die stockfinstere Nacht während der letzten vierzehn Tage vor Weggang des Mondmannes eine kleine Dämmerung gefolgt, welches ich mit dem Wiederherannahen der Sonne auf der Rückseite des Mondes in Zusammenhang brachte, aber dies war nicht genügend, um die Temperatur merklich zu erhöhen. Die Kinder lagen alle wieder in den Betten; vor Hunger und vor Kälte; die Mondfrau, in dicke Shawls eingewickelt, schleppte aus dem Mondkeller Teer-Pappen herauf; beim Heruntergehen nahm sie die von den Kindern fertiggesponnenen Reservestücke für die Strickleiter mit; ein intensiver Uringeruch erfüllte jedesmal beim Öffnen der Kellertür das ganze Mond-Zimmer; offenbar hatte die Alte unten im Keller irgend ein verschließbares Blechreservoir, worin sie die zum Löschen der Monddächer bestimmten Pipi-Mengen sammelte, und hatte, da der Geruch ihre Nase nicht weiter affizierte, den Deckel offen gelassen. – Am liebsten wär' ich jetzt vorgekrochen und hätte mit der Mondfrau ein offenes Wort geredet, welches ihr die Lauterkeit meiner Absichten bewiesen, und den plötzlichen Schreck über mein Erscheinen in Abwesenheit ihres Mannes gemildert hätte, wenn ich nur die kleinste Aussicht gehabt hätte, irgend etwas Eßbares zu finden. Die Leute hatten ja selbst nichts zu essen. Ich konnte doch keines von den, – nebenbei gar nicht fetten, – Kindern anbeißen. Und der Ekel über den Urin-Geruch überwog noch bei weitem mein Hungergefühl. – In diesem Zustand lag ich gewiß noch zwei bis drei Stunden, und ich war eben im Begriff in meiner Verzweiflung den Strohsack der Mondfrau nach irgend etwas Eßbarem zu durchwühlen, als ich plötzlich aus meiner halb erhobenen Stellung mit großer Wucht mit dem Kopf auf den Boden zurückgeworfen wurde; mehrere Potschamber unter den anderen Betten fielen um; die Mondfrau unten im Keller stieß einen verwunderten Ruf aus, in dem etwas wie Beifall lag, und der etwa »Ho!« klang; die Kinder schrieen alle gleichmäßig auf, und einige riefen »der Papa kommt, – der Papa kommt!« – In der Tat, es waren wieder dieselben Oszillationen wie heute Morgen, als der Mondmann die Strickleiter verlassen, nur in umgekehrter Ordnung, indem der erste Stoß das Mondhaus auf der Seite, auf der ich lag, also bei der Eingangstür herunterschleuderte, welcher Bewegung ein ebenso energischer Rückstoß nach aufwärts folgte, und so alternierend weiter, bis die anfängliche Bewegung sich in kleine wellenförmige Oszillationen auflöste. – Ja, der Papa kam allerdings, aber es dauerte gewiß noch an die acht Stunden, bis man das Schlürfen seiner Sohlen auf den Teersprossen hörte, welches harte Geräusch zuerst nach oben drang. Eine Viertelstunde später hörte man ihn auch keuchen, und als er wirklich unterhalb der Eingangstür erschien und den ersten Halt machte, war es nach meiner Schätzung schon wieder Abend geworden, obwohl wir wieder in jener Phase gleichmäßiger Dämmerung lebten, wie sie während der ersten vierzehn Tage meines Mondaufenthaltes herrschte. Inzwischen hatten sich sämtliche Kinder angezogen, die Betten wurden gemacht, Potschamber und Pantoffeln in gleichmäßiger Ordnung unter das Bett plaziert, das Mondfenster wurde geschlossen, damit es beim Öffnen der Haupttüre keinen Zug gebe, die Kellertüre zugemacht, Tisch und Bänke gerade hingestellt, und endlich stellte sich die Alte umgeben von sämtlichen Kindern an die offene Eingangstür in Erwartung des Papa. Es war eine großartige Überraschung und ein großartiger Empfang. Als ich sah, daß ich hinter den Kindern vollständig sicher vor Entdeckung sei, kroch ich unter meinem Bett hervor, und nahm meinen Aussichtspunkt. Bevor ich den Mondmann zu Gesicht bekam, sah ich eine große Menge von Stangen, Paketen, Rollen, Kästen, Töpfen, die sich nach aufwärts bewegten: der Mondmann hatte einen ganzen Tändler-Laden auf seinem Buckel; ein Lastträger im Gebirge konnte nicht stärker bepackt sein; erst geraume Zeit später entdeckte ich über den Köpfen der Kinder hinweg tief drunten das kleine aber heftig gerötete Gesicht des Mondmannes; es glänzte vor Freude und Entzücken, und in einem Moment des Stillhaltens rief er mit schwacher, heiserer Stimme, fortwährend wie ein Asthmatiker von kurzen Atemstößen unterbrochen, herauf: »Mutter, – dies–mal – hab' ich – große – Ernte ge–halten.« »Ja, komm nur herauf, Herzensmännchen!« sagte die Alte, welchem Willkomm ein großes Geschrei und Gejubel der Kinder folgte. – Der Alte glotzte fortwährend herauf, obwohl er sich dabei zweifellos viel schwerer atmete, als wenn er den Kopf nach unten gehalten hätte. Ich glaube, die Tränen traten in seine wasserblauen Augen; er versuchte wiederholt zu reden, indem er wie ein Fisch das große Maul aufsperrte, man hörte aber nichts; endlich ließen die Kinder mit ihrem In-die-Hände-Patschen und Schreien nach, und der Alte kam zum Wort: »Ich – wäre – früher ge–kommen,« sagte er, »aber es – gab so – viel...« – »Herzensmännchen!« – antwortete die Mondfrau, – »ich hab' Dich nicht so früh erwartet; Du bist schrecklich schnell wieder da gewesen!« – Die Wahrheit war, daß der Mondmann nach meiner Berechnung mindestens drei Stunden länger gebraucht hatte, um heraufzukommen, als das letztemal. – Aber der müde, freudige Steiger war noch immer nicht fertig, er sperrte immer wieder den Mund auf, als wollte er was sagen; und als es endlich Ruhe wurde, rief er mit einem so breiten Ausdruck der Kinnladen, daß man das Entrücken gewahr werden mußte, herauf: »Die Käs–leute ha–ben ihre – Stadt an–gezündet, und – da gab es – viel zu – holen!« – Die Alte schien dieser Mitteilung keineswegs besonderen Wert beizumessen, denn mit dem Ton freudiger Überraschung rief sie nur hinunter: »So komm nur endlich herauf, Goldkäferchen!« – während die »angezündete Stadt« mir viel zu denken gab. – »Mutter!« rief der drunten wieder herauf, indem er die letzten Sprossen zurücklegte, wobei Kinder und Alte vom Eingang zurückdrängten, was für mich das Zeichen war, mich wieder zu verbergen. »Mutter! nimm nur zuerst die großen Dinge ab, sonst komm' ich nicht hinein! – Nun griff die Alte zu und zog, wie ich von unter dem Bett aus beobachten konnte, ein Durcheinander von allen möglichen Gegenständen in die Stube herein; unter anderem bemerkte ich einen langen Besen, eine kurze Holzleiter, eine alte Steinschloß-Flinte, einen großen Anstreich-Pinsel, einen Kürassier-Säbel; nachdem dies abgeladen war, kroch endlich der Mondmann mit einem enormen Sack herein und ließ ihn dröhnend in die Mondstube fallen. – Das Gesicht des Alten, obwohl es die Spuren der fürchterlichen Anstrengung nur zu deutlich zeigte, war noch immer helles Entzücken; fortwährend blinzelte er die Alte an, deren Miene ebenfalls freudige Überraschung kundgab. – »Tausend-Sassa!« sagte sie, »wo hast Du nur all die Sachen her?« – Ich kann die Kosenamen nicht alle wiedergeben, da die Alte viel »Platt« in ihren Dialekt mischte, welches mir selbst Schwierigkeit machte. – Nun wurde unter Mithilfe der Kinder der Sack aufgemacht. Der Alte schien diesmal gar nicht müd'; er selbst holte alles heraus und übergab es mit Phrasen und Lobsprüchen den um ihn Herumstehenden. Auch die zwei Potschamber fehlten nicht. Ein gütiges Geschick wollte, daß gleich anfangs ein Käs in der Nähe der Eingangsthür kollerte; der Leser wird begreifen, mit welcher Gier ich danach langte und ihn unter mein Bett beförderte. Unter anderen Stücken kam auch ein großer, weißer Kübel zum Vorschein, der zwei lange weiße Stiele hatte. – »Was ist denn das?« frug die Alte, »ist das ein Potschamber?« – »Nein,« antwortete der Mondmann, »das tragen die Käsleute auf dem Kopf!« – Ich schaute noch einmal genau hin; es war eine frischgestärkte holländische Haube. – Die Mondfrau machte ein verdutztes Gesicht; schließlich aber überwog doch die Empfindung, daß es sich hier um eine Art Respekts-Präsent handle, und nach längerem Betrachten legte sie dieselbe sorgfältig auf ihr Bett. – Was noch alles aus dem Sack herauskam: Kleider, Strümpfe, Hausgeräte, einige geschlossene kleine Päckchen, die offenbar einer Kolonial-Handlung entnommen waren, und, soweit ich nach der Verpackung urteilen konnte, Zichorie oder Schnupftabak enthielten, diverse Töpfe, einige Kappen, ein Schweinsleder-Foliant, – außerdem der gewöhnliche Bedarf auf dem Mondhaus: Eisenklammern, Nägel, Bandeisen, Hanf-Büschel, ein Fäßchen Teer, eine große Anzahl der roten bekannten Käse; – läßt sich nicht alles behalten. Aber große Freude herrschte auf dem Mondhaus. Alles ward sorgfältig im Keller untergebracht; einige Käse wurden heroben behalten und nach kurzer Zeit saß die Familie beim schmatzenden Mahl, während der Alte in seinem unermüdlichen Fleiß drunten im Keller die Strickleiter heraufwand.

Nun soll der Leser nicht glauben, ich werde ihn mit derselben Behaglichkeit durch diesen zweiten Monat schleppen, mit der die ersten vier Wochen, wie ich glaube, in zu großer Anschaulichkeit vor ihm ausgekramt wurden, – und ich werde ihm nun lang und breit erzählen, wie der Mondmann zuerst sein Dach wieder deckte – wie gesponnen, gehämmert, Käs gegessen, Betten geklopft und Pipi gemacht wurde, – wie es allmählich wärmer wurde, – und wie draußen in dem ruckweise Sich-Entzünden und Glühendwerden des Daches ein Stück von dem Mond nach dem andern zu glosten anfing, und damit beleuchtet wurde, – wie der große Käs erschien u.s.w. Freilich wäre manches Neue aus diesem zweiten Monat zu erwähnen; wie das Verhältnis zwischen Mondmann und -Frau ein ganz anderes und viel besseres war: – wie sie immer zu ihm »mein Goldmännchen« oder das bewundernde »Tausendsassa« sagte, während er sie meist »Mutter« oder »Mutterchen« anredete; wie die Alte den für den Mondmann fatalen Religionsunterricht teils ganz mied, oder jede Gelegenheit benutzte, um den Kindern den Papa als eine Respekts-Person, der man die höchste Verehrung entgegenbringen müsse, hinzustellen; – wie die geistige Verfassung des Alten damit eine ruhigere und behaglichere wurde, – seine Auffassung und Beurteilung der Verhältnisse um ihn eine viel freiere, – wie er sich und seine Familie weit weniger in der Richtung von Himmel, Weltkörper, Sonne und dergleichen in ein Verhältnis zu bringen suchte, als vielmehr in der Richtung vom »großen Käs«, mit dem er sich, man sah, in einer gewissen Art ausgesöhnt hatte; – was für Freude ihm der große Foliant machte, und wie er darin las, und ihn dann mit dem verglich, den die Mondfrau damals beim Religionsunterricht vor sich gehabt; – wie er gesprächiger wurde und seine Kinder streichelte; – wie er seine Ideen, – die allerdings barock genug waren, – jetzt wenigstens mitteilte, sodaß man ein Urteil bekommen konnte, was in ihm vorging, und was der Gegenstand seiner ewigen schwarz-blutigen Unzufriedenheit war; – und schließlich, ob diese plötzliche Wandlung dem Heraufschleppen besseren und reichlicheren Futters, oder der neuen Haube für die Mondfrau, oder dem Folianten zuzuschreiben war; – kurz, es könnte manches zu Gunsten der Verlängerung der »Mondgeschichte«, und auf Kosten der Bequemlichkeit des Lesers, noch mitgeteilt werden, was während des zweiten Monats dem Interieur des Mondhauses ein verändertes Aussehen gab. Aber eine Episode darf ich dem Leser, bevor ich definitiv von diesem merkwürdigen Heim Abschied nehme, doch nicht vorenthalten:

Es war gegen Ende der ersten Woche, eines Nachmittags; alles saß beisammen am langen Tisch; die Kinder in besseren Kleidern; vielleicht war es Sonntag; (ich hatte jede Kalender-Rechnung bereits aufgegeben) – als die Mondfrau ihre frühere Frage, die ihr, wie es schien, recht geläufig war, wiederholte: »Papa, was gibt's denn neues auf dem großen Käs?« – »Ach«, – sagte der Alte, – »das ist ein merkwürdiges Volk; jetzt haben sie ihre große Stadt angezündet!« – »Die Stadt angezündet,« replizierte die Mondfrau, – »ja, warum denn?« – »Ach, ich glaub' um uns zu ärgern« »Uns zu ärgern! – ja, was hat das für einen Sinn?« – »Weil wir heller sind – weil wir mehr Licht von der Butterkugel bekommen!« – »Ja, bekommen denn die Käsleute keines?« – »Es ist ja immer ganz dunkel, wenn ich hinunterkomme; – wir haben doch wenigstens vierzehn Tage Helligkeit!« – »Ja, wissen denn die Käsleute, daß wir heller dran sind?« – »Sie schauen doch herauf!« – »Welches dumme Volk, sich um uns zu bekümmern!« – »Ach, Du hättest dabei sein sollen! Dieses Feuer, das sie machten!« – »Nun, und, – was taten sie noch?« – »Sie gestikulierten und schrieen und hüpften oben von ihren Häusern heraus – und ich stand dabei, und mich sahen sie nicht!« – »Dich sahen sie nicht, warum denn? – Bist Du denn anders als die Käsmenschen?« – »Mondfrau«, sagte der Alte, zwar besänftigend, aber mit einem Ton des Vorwurfs, wie mir schien, über die Zumutung, ihn mit den Käsmenschen zu vergleichen. – »Nun, und was tatest Du?« – »Ich raffte zusammen, was ich kriegen konnte, Hüte, Töpfe, Besen, Pinsel... sie warfen ja alles aus den Häusern heraus, – und freuten sich über die Flammen, – und taten ganz verrückt; – einige bliesen in gelbe Röhren, daß es fürchterlich schallte, – andere holten ein Stück aus dem Fluß nach dem anderen und warfen es in die Flammen, daß es hoch aufqualmte; – es war ein Hauptspektakel!« – »Nicht wahr, Papa« – frugen jetzt einige der älteren Mädchen, – »wir sind schöner als die Käsleute?« – »Oh, viel schöner«, – antwortete der Mondmann mit dem Ausdruck einer starken Überzeugung, – »die Käsleute haben unregelmäßige, verzerrte Gesichter, und verzerren sie noch jeden Augenblick anders!« – »Nicht wahr, wir sind auch gescheiter?« – frugen die Kinder weiter. – » In jedem Fall – gesetzter«, – antwortete der Alte sehr nachdenklich, – »gesetzter und mit regelmäßigeren schöneren Gedanken...« – wurde aber immer nachdenklicher dabei. – »Warum müssen wir denn drunten die Käse holen?« frug ein älteres Kind weiter. – » Weil wir keine heroben haben,« antwortete der Gefragte sehr kurz und fast trocken: sein Gesichtsausdruck veränderte sich aber immer merkwürdiger. Einige andere Kinder stellten noch einige unpassende Fragen, die dem Alten wohl sehr zu Herzen gingen, denn plötzlich sprang er auf, preßte die flachen Hände gegen die Schläfe und rief, indem er wie wahnsinnig im Zimmer auf- und ablief, mit halb erstickter Stimme: »Ach Gott, wir sind ein besseres, höheres, edleres Geschlecht, und müssen hinunter zu den niedrigen Käsleuten, denen das Futter zum Maul hineinwächst, und müssen uns durch ihre Kellerlöcher zwängen, damit wir nicht verhungern!« – Die Mondfrau hatte den Anfall gar nicht herannahen sehen, sondern spielte mit der neuen Haube. – Jetzt sprang sie auf, drohte den Kindern heimlich mit der Faust, jagte sie zu Bett, und machte sich dann um ihren kranken Gemahl zu schaffen. – Den ganzen folgenden Tag trug der Mondmann ein Tuch um den Kopf, und war wieder so nachdenklich und schweigsam, wie während des ganzen ersten Monats.

Ich löse das Mond-Rätsel nicht, lieber Leser, – und wenn Du es vermagst, so hast Du jetzt das Gesamt-Material meiner Betrachtungen vor Augen. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen. Ob der Mondmann ein himmlisches oder ein irdisches Wesen war, ich weiß es nicht. Aber die täppischen und kindischen Zwischenfragen der Mondfrau in dem soeben mitgeteilten Diskurs lassen vermuten, daß auch sie, obwohl äußerlich frappant irdisch geartet, doch in ihrem Urteil über den »großen Käs« auf der untersten Stufe stand, sonach kaum als reifes Frauenzimmer die Erde verlassen hatte, vielleicht als halberwachsenes Mädchen von drunten geraubt worden war, und den größten Teil ihres Lebens hier oben zugebracht hatte. Umgekehrt der Mondmann, vielleicht ursprünglich ein siderisches Geschöpf, war durch seine häufigen Besuche auf dem »großen Käs« doch zu einiger Kenntnis über die Vorgänge auf der Erde gekommen, welche er freilich von einem höchst beschränkten und sonderbaren Standpunkt aus betrachtete. – Wären es Franzosen gewesen, mit denen wir es da droben zu tun hatten, so hätte ihr fleißiges Mundwerk uns vielleicht manches verraten, und unsere Wahrscheinlichkeitsschlüsse stünden auf einem sichereren Boden und wären weniger lückenhaft; so sind es Holländer oder holländisch geartete Leute, die ihre besten Gedanken für sich behalten, und deren knappe und trockene Redeweise uns nur zu Vermutungen kommen läßt, von dem, was sie wissen und was in ihrem Innern vorgeht. –

Der Leser wird begreifen, daß, sobald nur die ersten Zeichen des herannahenden Mondwechsels sich kundgaben, ich, mit einem Viertel-Käs bewaffnet, zur Schlafenszeit mich hinausschlich auf die Mondlandung, um bei dem ersten Sichtbarwerden der Strickleiter mich auf dieselbe zu stürzen, und mir so selbst für den Fall des Entdecktwerdens, durch schleuniges Hinabklettern die Verbindung mit der Erde zu sichern; denn ich fühlte, daß, wenn ich jetzt nicht um jeden Preis den Mond verließe, ein Verbleiben darauf vielleicht auf unabsehbare Zeiten mein Schicksal sein werde. – Und Schwiegersohn auf dem Mond zu werden, war, obwohl ich auf der Erde nichts zu verlieren hatte, und beim Wiederbetreten derselben mir in Leyden nur Schlimmes bevorstand, – doch nicht nach meinem Geschmack. – Als ich so da draußen saß, und sah in die weite Welt hinein, – über mir der brennende, pratzelnde Mond, – unter mir eine gähnende Unendlichkeit, – kam mir die Erinnerung an meine Hausfrau mit den langen Zähnen, an das Leydener Studentenleben, an meine Beschäftigung auf der Anatomie, und ich kam mir vor wie jemand, der aus der Vakanz zur Schule zurückkehrt, der zwei Monate auf dem Land bei einfachen, ruhigen Leuten gelebt hat, und in das Gewühl der Stadt zurück muß, und mit Wehmut gedachte ich der possierlich dummen Gesichter der Mondkinder, die ich nun verlassen müsse, und die ich schon zum letztenmal gesehen hatte. – Von draußen konnte ich jetzt vortrefflich beobachten, wie das Feuer auf der schwarzglänzenden Mondrinde weiterfraß. – Ich überlegte die ganze Prozedur zur Abnahme der feurigen Dächer, – die große Feuersgefahr für das leicht gezimmerte Mondhaus selbst, – die Schwierigkeit der Befestigung der lodernden Teermassen an der eisernen Kette, und genügende Entfernthaltung von dem nun schutzlosen Haus, – und kam schließlich zur Überzeugung, daß, wenn ich, wie beabsichtigt, das letztemal hinter dem Mondmann dreingestiegen wäre, ich zweifellos verbrannt wäre, – zum mindesten erstickt; denn bei der Neigung der brennenden Hitze nach oben zu steigen, mußten mich die glühenden Gase, während der Alte hinabstieg, fortwährend in einen Mantel verderbenbringender Atmosphäre hüllen; und wenn dies auch nur eine Viertelstunde währte, während welcher die glostende Masse in sich zusammensank, so war ich verloren, da von einem Zurückbleiben auf der Leiter, hier, am Anfang, noch keine Rede sein konnte. Diese Erkenntnis erfüllte mich voll dankbarer Gesinnung gegen die weiblichen Mitglieder des Mondhauses, die durch ihr Ansammeln an der Eingangstür mir damals das Besteigen der Leiter zur Unmöglichkeit machten. Aber die Angst, nun doch in irgend einer Weise mit dem Feuer in Berührung zu kommen, wenn auch nur durch ein unglücklich abbrechendes Teerstück, veranlaßten mich, sobald die Leiter hinabgerollt war, – und dies geschah kurz darauf und dauerte an die fünf Stunden, – dieselbe sofort zu besteigen, und mich einige dreißig Meter hinunter zu retirieren, wo ich mich so gut wie möglich zwischen den Sprossen zurechtsetzte. – Auf diesem Platz blieb ich eine halbe Nacht, als ich aus dem Geschrei der Kinder und dem Übergreifen der züngelnden Flammen auch auf das nördliche Monddach erkannte, daß die Stunde der Krise herangekommen sei. In der Tat erschien bald der Alte wieder im gelben Lederkostüm mit dem langen Schürhaken und brach von den drei Mondöffnungen aus die Dach-Überzüge ab, riß dann in einem äquatorähnlich angelegten Kreis die obere Dachhälfte von der unteren durch, so daß das Mondhaus heraus schlüpfen konnte und packte schließlich mit der Rechten eine Kette, von der ich bei meinem entfernten Standpunkt nicht sehen konnte, wie sie befestigt war, die aber, wie ich glaube, verzweigt unter beide Hohldächer schon von Haus aus angebracht war, und riß mit einem einzigen Ruck beide flammende Hauben so weit nach seitwärts, daß sie, ihrem Zuge nach oben nachgebend, plötzlich mehrere Meter hoch über dem schwarzen Mondhaus erschienen. Diese Maßregel erschien mir äußerst praktisch; denn es war klar, daß, hätte der Mondmann den brennenden Hohlmond seitwärts oder unterhalb des Hauses nur kurze Zeit gehalten, dieses wie die Strickleiter in höchster Gefahr waren, anzubrennen. In einer gewissen Entfernung über dem Haus aber, wo die Flammen nach oben züngelten, war ein Übergreifen des Feuers ausgeschlossen. – Dies Alles war draußen auf der Mondlandung vom Alten bewerkstelligt worden; und er, wie das Haus, und die an der Ausgangstür neugierigen Gesichter der Mond-Insassen waren im Nu in tiefes Dunkel gehüllt. Aber schon kurz darauf senkten sich die zu einem großen Ballen zusammengeschmolzenen Monddächer infolge ihrer natürlichen Schwere langsam herab, und der Mondmann, der diese wohl noch aufgelockerte, aber nicht mehr brennende Kugel soweit seitwärts wie möglich herabführte, begann unter dem Jubelgeschrei der Kinder seinen Abstieg. – Ich eilte voraus, so schnell ich konnte; nicht so sehr aus Furcht, mit dem Mondmann oder seinem glühenden Vollmond in allzunahe Berührung zu kommen; sondern ein unbestimmtes Etwas trieb mich vorwärts; ich wollte aus diesen abnormen Verhältnissen heraus sein; ich wollte wieder die Erde unter meinen Füßen haben, um all' das Unbegreifliche, was ich gesehen, in meinem Verstand ruhig ordnen, in meinem Gedächtnis übersichtlich plazieren zu können. – Ein anderer hätte sich vielleicht mit Rücksicht auf seinen Magen nach einer gemischten Kost gesehnt, um aus dem Käs-Einerlei herauszukommen; – ich sehnte mich nach irdischer Speise für meine Augen und für meinen Kopf, um aus dem Mond-Einerlei und seinen beschränkten Gesichtspunkten herauszukommen. Ich dachte an mein Bett in Leyden und an meinen Platz im Wirtshaus zu »De Groene Meerfrouw«, wo ich alles während der zwei Monate Vorgefallene reiflich zu überlegen und mit meinen Kommilitonen zu besprechen mir vornahm. – Aber ich kam nicht so schnell vorwärts, als ich beabsichtigte; die dickeren Luftschichten, in die ich hineinstieg, machten meine Adern heftig pulsieren, und bei der ganz veränderten Kraft-Anstrengung ermatteten meine Glieder in dem Maße, daß ich nur Sprosse für Sprosse nehmen konnte und bald den gewonnenen Vorsprung vor meinem Nachmann verlor. – Es war vollständig Nacht um mich. Über mir der Mondmann stieg mit einer Ruhe und Gleichmäßigkeit nach, wie ein Lastträger im Gebirge, der einen Weg zum hundertsten oder tausendsten Mal zurücklegt; die Mondkugel verbreitete nur einen strahlenden Schein, der wirkungslos in die Nacht hineinschoß, ohne zu erhellen; das Mondhaus über uns war vollständig in Finsternis gehüllt; tief unter mir entdeckte ich einen schwachen Lichtkomplex, der zunahm, je mehr wir uns der Erde näherten, und bald war es klar, daß wir in ein Zwielicht hineinstiegen; ob es das einer Morgen- oder Abend-Dämmerung war, ließ sich noch nicht feststellen. – Wenn dieser Mondmann, sagte ich mir, wirklich der Bewohner jenes Himmelkörpers ist, den wir mit Mond bezeichnen, – und daran zu zweifeln wäre nach allem Vorgefallenen ein so großer Fehler, daß der feste Glaube daran geradezu als Tugend erschiene, – dann muß er oder seine Vorgänger auch schon so lange da droben hausen und die Mondgeschäfte verrichten, als der Mond den Erdbewohnern bekannt ist; denn es geht nicht an zu glauben, daß erst der Mond existierte, und dann ein solches imaginäres Haus sich an seine Stelle setzte; ist das der Mondmann, – sagte ich ganz laut zu mir, – der da droben jetzt hinunterschlurft, und holländisch spricht, dann muß er mit seinen Vorfahren seit etwa dreitausend Jahren diese Bude innehaben. d. h. solange als der Mond bekannt ist. – Ich fühlte, ich kam wieder ins Kombinieren hinein, und es werde wie alle vorherigen Male zu nichts führen; aber die Luft war so mild, und das Niedersteigen ging so glatt und regelmäßig vor sich: ich konnte mein Gehirn nicht zwingen, eine andere Gedankenrichtung zu nehmen, und so mag denn die Walze in der Musikdose da droben zum letzten Mal ablaufen: die Assyrer, – fuhr ich fort, – sind das älteste Volk, die des Mondes erwähnen; sie kannten seine Phasen, und waren überhaupt durch ihre gründliche Himmelsschau die Nation, die den Grund zur Astrologie legte; seit ihnen kann sich nichts Wesentliches in den Mondverhältnissen, wie das Beziehen des Mondes, das Hinaufsteigen, das Abheben der Monddächer, das Herunterschleppen des Vollmondes u.s.w. ereignet haben, weil sie es sonst, entweder selbst, oder die nach ihnen kommenden und ihre Studien aufnehmenden Völker, wie die Griechen und Römer, entdeckt haben würden. Also so, wie der Mond heut' ist, so muß er seit drei- bis viertausend Jahren gewesen sein. Dann ist der Mondmann nur der Nachkomme einer seit urdenklichen Zeiten das Mondhaus bewohnenden und die Mondgeschäfte besorgenden Familie, wobei zwar in der Weise eine Ergänzung von der Erde aus stattgefunden haben mag, als eine Schwiegertochter, – so lange der Mannesstamm nicht erloschen war, – oder, in diesem Falle, ein Schwiegersohn hinaufgeholt wurde zur Sicherung der Nachkommenschaft und zur Sicherstellung des Gewerbs, – ähnlich wie das Scharfrichter-Metier oder sonst absonderliche Berufsarten sich durch eine lange Reihe von Jahren in derselben Familie heimisch erhalten. – Nun ist bis auf die Assyrer zurück nie ein Fall beobachtet wurden, wonach ein Herabsteigen oder Besteigen des Mondes vorgekommen oder belauscht worden wäre. Und zufällig trifft es sich, daß dasjenige Volk, welches noch älter ist als die Assyrer, und das uns, wenn es Überlieferungen hätte, sagen könnte, ob es auch schon den Mond am Himmel gesehen hat, die Zigeuner sind. Und zufällig ist es, daß, wie wir auf dem Wege der Vermutung oben schon gefunden haben, dieses das Volk ist, das durch seine natürlichen Bedürfnisse, wie durch seine hochentwickelte Intelligenz, auf die Erbauung einer Sicherheitswohnung in den unzulänglichen Höhen des Himmels sich angewiesen sah. Und ein dreifacher Zufall ist es, daß, während alle die alten Kulturvölker ausgestorben sind, dieses auf die prekärsten Bedingungen zur Erhaltung seines Stammes angewiesene Zigeuner-Volk heut noch lebt, und mit schiefen Augen zum Mond hinaufschaut, als erkennte es da oben ein von ihrer Weisheit mitten in den Himmel hineingeschobenes glänzendes und göttliches Monument. – Summa: Das Mondhaus oder der Mond ist eine vor den Assyrern und vor aller Überlieferung in den Himmel hineingebaute Zigeuner-Wohnung. Fragt sich: Wie bleibt das Mondhaus schwebend? – Die Gastheorie habe ich lang und breit oben schon besprochen. Aber alle Steinkohlen der Erde, glaube ich, würden nicht zu dem Gasquantum ausreichen, um seit bald viertausend Jahren eine Kinderstube mit zweiunddreißig Insassen, mit Proviant, Teerfässern und Käsen in dieser Höhe am Himmel schwebend zu erhalten! – Aber was konnte eintreten? – Der Zigeuner konnte einmal seinen Ballon zu stark gefüllt haben, und durch die energische Aufwärtsbewegung gelangte das Mondhaus bis in den Bereich der Anziehungskraft der Sonne, und die schließliche ungeheure Höhe der Zigeunerwohnung war das Resultat der einander entgegenwirkenden Anziehungskräfte, Sonne und Erde. Aus dieser Höhe war ein Herabziehen des Mondhauses nicht mehr möglich. Aber bald merkte der Zigeuner, daß nun auch der Ballon überflüssig war. Er kappte also den Ballon über seinem Haus, und nun nahm er seine Strickleiter, die zwanzig oder dreißig mal zu kurz war, um die Erde zu erreichen, und spaltete sie, um nicht zu verhungern, in ebenso viele Teile, und da sie von Haus aus dick und fest war, gelang es; und wie einer, der bei einem Brand sich an einem zerschlitzten Bettuch drei Stock hoch herunterläßt, so ließ sich unser Zigeuner mit der zusammengeknüpften Strickleiter auf die Erde hinab; und unten kaufte er zunächst allen Hanf zusammen, den er kriegen konnte, und baute sich so erst eine sichere Verbindung mit der Erde. – Aber bald merkte er, daß sein Holzdach oben von der Sonne in Brand gerate, und jetzt erst legte er Teerpappen auf, und als diese regelmäßig sich entzündeten, aber ohne dem eigentlichen Dach zu schaden, nahm er sie regelmäßig ab und ersetzte sie durch neue, und die glühenden brachte er als Vollmond hinunter auf die Erde und verband mit diesem Gang gleich den der Verproviantierung; und der alte Zigeuner, der ursprünglich zum Stehlen sich ein Haus in die Luft baute, blieb jetzt droben – aus Gewohnheit. Und pflanzte sein Geschlecht und sein Metier fort. Und wenn er keine Zigeunerin bekam, holte er sich eine Assyrerin mit hinauf. Und sein Enkel vielleicht eine Lydierin. Und im Wechsel der Völker seine Nachkommen eine Griechin oder Römerin. Und noch später eine Gothin. Und allmählich wurde das Interieur des Mondhauses germanisch. Und der Letzte seines Geschlechts holte sich eine Krefelderin oder Xantnerin. –

Es wurde bitter kalt. Und der Leser, der über die soeben gemachten Ausführungen spöttisch lächelt, oder bedenklich den Kopf schüttelt, möge bedenken, daß ich mich zwischen Himmel und Erde befinde, und daß mein Herz, fast zerspringend vor Heimweh und Freude, im Begriff war zur Erde, wie zu einer Mutter, zurückzukehren. Die Kälte brachte mich auch zurück zu meiner Steig-Arbeit. Ein feuchter Dunst lag auf meinen Kleidern und auf meinen Haaren, ein Zeichen, daß wir den Dunstkreisen der Erde immer näher kamen. Wir mochten an die vier Stunden schon gestiegen sein. Es war aber noch immer stockfinster. Trotzdem glaubte ich, daß wir dem Tag näher waren, als der Nacht, denn die dämmrige Ausbreitung unter mir war eher heller geworden. Schwarze, gigantische Figuren mit insektenhaften Beinen sah ich unter mir lautlos sich hin und her bewegen. Ich glaubte, wir passierten jetzt das Reich des Dämonen, welches nach der mittelalterlichen, theologischen Anschauung zwischen Erde und Himmel inzwischen lag; es waren aber die Schattenbilder von Mondmann und mir, die von der glostenden Mondkugel auf die Nebelmassen unter uns geworfen wurden. Bald tauchten wir auch in den Nebel ein und sahen nun gar nichts. Trotzdem wurde es immer lichter und zweifellos war für die Erde die Sonne im Begriff des Aufgehens. Sonach war diesmal der Mondmann um viele Stunden später daran, als vor zwei Monaten, wo er gegen Mitternacht unten landete. Ein eigentümliches Sausen drang von unten herauf; waren es die von der nahenden Sonne bewegten Luftmassen, oder waren es die Wälder, oder die Flüsse, oder das Meer, – kurz, ich fühlte, wir seien in nächster Erdennähe. Ich überlegte genau, welche Gänge ich zuerst machen werde, um meine Verhältnisse in Leyden, besonders der Universität gegenüber, zu ordnen, – als mich plötzlich ein schrecklicher Gedanke überfiel: wir konnten ja ebensogut in Panama oder auf Hawaï herunterkommen, und ich war dann ohne Hilfsmittel unter Fremden oder Wilden, und eine halbe Weltkugel von meiner Heimat entfernt. Ich beschleunigte meine Kletter-Arbeit. Der dicke Nebel gab mir Hoffnung, daß wir uns in einem kalten und feuchten Klima befanden. Nach etwa einer Viertelstunde tauchten wir aus dem Nebel heraus, und – unter mir lag eine stark angereifte Wiese; es fiel mir ein, daß es jetzt Januar sein müsse; von einer Erkennung der Gegend war keine Rede; aber der Tag war entschieden im Anbrechen; nach etwa zehn Minuten kam ich gegen das Ende der Strickleiter. Zu meinem Schrecken sah ich, daß die Leiter nicht ganz zum Boden herabreichte, gleichzeitig aber auch bemerkte ich, daß sie umgeschlagen, und das umgeschlagene Ende weiter oben festgebunden war. An ein Losbinden dieses Stückes war aber für mich nicht zu denken, weil ich schon über die Stelle weg war. Jetzt noch vor Torschluß, mit dem Mondmann in Konflikt geraten, war gar nicht nach meinem Geschmack. – Ich stieg also zunächst bis zur letzten Sprosse herab, um Umschau zu halten. Und da nur wenige Meter bis zum Erdboden fehlten, so nahm ich zum letztenmal die Courage zusammen, und ließ mich fallen. Ich kam zwar nicht sehr sanft auf dem gefrorenen Boden an, aber doch ohne mich zu verletzen; trotzdem konnte ich nicht gehen, geschweige fortlaufen, wie ich beabsichtigt hatte, denn ich wollte vom Mondmann und seinen Geschäften nichts mehr sehen noch hören. Ich merkte, daß es die Ungewohnheit war, mich auf dem Erdboden fortzubewegen, denn ich machte lauter falsche Bewegungen und stieß überall an. Mit Mühe schleppte ich mich wenigstens von dem Platze weg, wo der Mondmann herunter kommen mußte, und bald war Mondmann, Strickleiter und Mondkugel für mich im Nebel verschwunden. Eine furchtbare Last, fühlte ich, löste sich jetzt von meinem Herzen. Und diese war so groß, daß ich über die Angst, ich könnte in einem fremden Lande sein, laut hinauslachte. Bald konnte ich meine Füße wieder richtiger gebrauchen. Ich ging in der eingeschlagenen Richtung weiter. Und nach wenigen Minuten erkannte ich halb im Nebel und von der etwas durchbrechenden Sonne fantastisch beleuchtet den Kirchturm von D'decke Bosh. Wir waren also, wenn auch nicht ganz genau an derselben Stelle, doch in nächster Nähe davon gelandet, wie vor zwei Monaten. Trotzdem konnte ich mich nicht allsogleich in der winterlichen Gegend orientieren. Und als ein Bauer aus der Richtung von D'decke Bosh herkam, frug ich ihn nach dem Weg nach Leyden. Dieser Bauer muß mir angemerkt haben, daß ich irgend woher kam, woher zu kommen nicht mit rechten Dingen zuging. Er schaute mich lange prüfend an; und endlich, wie den Versuch aufgebend, meine Person zu eruiren, wies er mit der Hand nach rechts, und sagte: »Dort lag Leyden!« – Er betonte das Wort »lag« in besonderer Weise. Ich ging in der angegebenen Richtung, und bald konnte ich mich an einigen Brücken und Gewässern orientieren. Aber welches furchtbare Bild bot sich meinen Augen: Die halbe Stadt war abgebrannt, ein eigentümlicher Geruch lag in allen Straßen; von den größeren Gebäuden standen noch Kirchen, Universität und Magistratsgebäude. Vor dem letzteren, an dem ich vorbeikam, standen Tausende arme, halb-erfrorene Menschen und warteten auf das Austeilen von Brot. Eine furchtbare Leere in der ganzen Stadt; alle Wirtshäuser und die meisten Läden geschlossen. Endlich, nach langem Herumlaufen kam ich in die »lüttje Straat«, und pochenden Herzens stieg ich die Stiege meiner Wohnung hinauf, und klopfte an die mir wohlbekannte Tür; ein altes, greisenhaftes Weib ohne Haube mit zerzausten Haaren öffnete, und als sie mich sah, fuhr sie mit einem gellenden Schrei zurück und fiel wie leblos zu Boden.

Es war meine Hausfrau. Eine Scheu hielt mich ab, mich teilnehmend um sie zu kümmern. Ich ging auf mein früheres Zimmer zu und drückte auf die Klinke. Mit einem Krach, als wäre sie eingefroren gewesen, ging die Türe auf; gleichzeitig fiel durch die Erschütterung ein dicker Band, ein medizinisches Lexikon, von der höchsten Stelle des Bücherregals mit einem dumpfen Schlag mitten in das Zimmer; eine dicke Staubwolke schlug mir entgegen; alles war fingerdick mit Staub bedeckt; meine anatomischen Präparate verschimmelt; alle meine Papiere und Schriften gelb und eingebogen; an den Ecken und Kanten der Möbel Spinngewebe; auf dem Tisch mit der gestrickten Decke lag ein Schreiben, welches weniger dick verstaubt war, als die übrigen Gegenstände; ich nahm es und ging damit zum Fenster, um es zu lesen; auf dem Weg dahin passierte ich den Spiegel; ich blickte in das vollständig blind gewordene Glas und blieb fast starr vor Schrecken: mein Haar war fast vollständig ergraut; mein Gesicht zitronengelb und ledern; meine Augen erloschen, und um die Mundwinkeln hatte ich, wie festgefroren, jenen Zug der Bitterkeit, wie ich ihn beim Mondmann in seinen düsteren Stunden bemerkt hatte. Entsetzt wandte ich mich ab und versuchte in meinem Gedankengang wenigstens die grauenhafte Couleur auf das schlechte Spiegelglas zu schieben.

Auf dem Weg zum Fenster fiel mein Blick in's Freie: ein schreckliches Bild der Zerstörung; nur schwarze Mauern und eingestürztes Gebälk. – Ich öffnete das Schreiben; es war von der Universität, und enthielt meine Relegation. Ich war erst fest entschlossen nicht zu weinen. Aber plötzlich wurde ich überwältigt. Und kaum fähig, mich noch aufrecht zu erhalten, machte ich noch einige Schritte, und brach dann schluchzend über meinem Bett zusammen. »Ach Gott!« – rief ich, auf den Knien liegend, und mein trockenes Gesicht in den staubigen Kissen vergrabend, – »ist das das Los, wenn wir aus Verzweiflung von der Erde fliehen, und andere Götter oder überirdische Gewalten aufsuchen; – zurückgekehrt, stoßen uns nun die Menschen auch von sich, und ohne einen überirdischen Besitz entdeckt zu haben, will man uns auch als irdische Bürger nicht mehr anerkennen, – und wir sind schwebend wie zwischen Himmel und Erde?« –


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