Oskar Panizza
Eine Mondgeschichte
Oskar Panizza

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Nun kam eine langweilige, kaum zu erlebende Zeit. Es konnten wohl acht Tage vergehen, bis sich etwas ereignete, das nicht im Rahmen des täglichen Einerlei dieser höchst beschränkten Mondwirtschaft gelegen wäre. Für mich bildete sich allmählich eine Art Tagesordnung, ein Stundenplan aus, der mir teils durch die Vorsicht, teils durch die Notwendigkeit, mich zu verköstigen, und durch sonstige kleine Bedürfnisse, wohl auch ein klein wenig durch die Neugier, vorgeschrieben war. Tagsüber, das heißt, was durch das Verhalten der Mondleute, Aufstehen, Essen, Spinnen u.s.w. sich als Tag charakterisierte, lag ich regungslos wie eine Eule unter meinem Bett; mit dem Herannahen der Schlafenszeit rüstete ich mich zu meinem nächtlichen Streifzug; und nachts schlich ich lautlos wie eine Katze umher, teils um nur Bewegung zu machen, teils um mich zu verproviantieren. Jeden dritten Tag brauchte ich einen Käs, den ich mir im Keller holte. Meine Stiefel zog ich gar nicht mehr an; im Liegen brauchte ich sie nicht, und beim Gehen konnten sie mich höchstens verraten; ich steckte sie definitiv zwischen Matratze und Bettlade der Mondfrau, denn an ein Umkehren des Bettzeuges dachte man auf dem Mond nicht. Oft schlief ich nachts, wenn ich meinen Raubzug beendigt hatte, oft machte ich kein Auge zu; und dann quälte mich in dieser Einsamkeit ein Haufe von absonderlichen Gedanken; und dabei kam es mir oft vor, als sei meine geistige Perceptionskraft in der lautlosen Stille schärfer als sonst; manchmal war es, als wäre ich inspiriert; eine ganze Konstellation wohlausgeführter Bilder zog vor meinem geistigen Auge wie ein Bilderbogen vorüber. Und dann fuhr ich auf und glotzte unter der Bettlade hervor, als wollte ich die Bilder schärfer sehen und sie präzisieren. Und schließlich rumpelte ich hervor, und ging wie fiebernd zwischen der schnarchenden Gesellschaft im Zimmer auf und ab, um mir zuletzt in einem halb geflüsterten, halb unterdrückten Monolog Luft zu machen: »Welche Existenz!« – begann ich, – »diese armen Leute; – hier verlassen, und wie im Bagno! – Und dreißig Kinder aufbringen! – Und alles von drunten auf der Erde zusammenlesen müssen! – Denn, wo wäre denn sonst eine Verbindung? – Futter, Kleider, Mobiliar; – wo kriegt der Mann seine Käse her? – Er stiehlt sie aus einem Leydener Export-Haus! – Ja, das ist auch schneller gesagt als getan. – Wenn nun der Mond nicht über Leyden hält, sondern über Amsterdam oder über dem Meer? – Läuft er dann seine hundert Stunden – oder schwimmt er sie?

– Und inzwischen bewegt sich doch die Erde unter dem Mond weg! – Findet er dann wieder seine Strickleiter? – Wo holt sich der Mann seinen Teer für die Strickleiter? – Wo man Käse kriegt, findet man doch nicht auch gleich Teer! – Wenn ein Eisenband an einem Laden losgeht, woher kriegt er ein neues? – Und dann, wenn der ausgemergelte, totmüde Mann heraufkommt, wird er geschimpft, kriegt eventuell Prügel! – Welche Existenz! – Kann man das Armut nennen oder Misère? – Ist dies Verhältnis nicht vielmehr mirakulöse Tollheit? – Von wem hängen die Leute ab? – Verdienen sie etwas? – Tun sie etwa Spitzen klöppeln für eine schlesische Fabrik? und der Mann nimmt das Geld und geht damit nach Holland und kauft Käse? – Habe nie einen Spitzen-Rahmen gesehen! – Besorgen sie etwas im meteorologischen Haushalt der Natur? – Tun sie beleuchten, wie der einsame Bewohner auf einem Leuchtturm, und werden dafür von der Erde aus bezahlt? Unmöglich! – Der Mond ist ja immer ganz schwarz! – Woher kommen die Leute denn? Kommen sie von der Sonne, oder, wie die Leute sich ausdrücken, von der Butterkugel? – Oder kommen sie von der Erde? – Vom ›großen Käs‹? Oder sind sie ein Geschlecht sui generis? – Warum sprechen sie denn den Misch-Masch, den man zwischen Köln und Maastricht spricht? – Wie lange leben diese Leute und was wird aus ihren Kindern? Und wenn Jemand stirbt, was machen sie mit der Leiche? Werfen sie die aus der Keller-Luke heraus? – Ha, infernale Mystifikation!« – schrie ich ganz laut und vollständig meiner Umgebung vergessend und schlug mit der Faust auf den Bettrand, an den ich, auf- und abgehend, gerade angekommen war. Ich traf auf einen großen Fuß, der dort aus der Bettdecke herausstand; es war das Bett der Mondfrau; und wie von einer Tarantel gestochen fuhr die Alte im schwefelgelben Nachtkittel im Bett auf: »Himmel, Arsch und Käs!« keuchte sie mit schleimiger Stimme, »was ist das?« Ich drückte mich schleunigst unter den Bettrand und gleich darauf, hörte ich, fiel sie schwer wie ein Mehlsack wieder auf die Kissen zurück. – Ich kroch leise zu meiner Schlafstelle, und für diese Nacht wurde die Ruhe dann nicht mehr gestört.

Ich mochte vielleicht acht Tage auf dem Mond sein, als mir eines Morgens auffiel, daß die Vorbereitungen für den kommenden Tag ganz andere als bisher waren: Die gewöhnlichen Reinigungs-Vorgänge waren alle weggefallen; die Mondfrau putzte keine Kleider aus und machte sich nicht stundenlang mit den Pipitöpfen zu schaffen; die Kinder saßen in besseren Kleidern, ohne zu spinnen, schweigend und erwartungsvoll dort; die Käsportionen waren größer ausgefallen; feierlich und ernst schleppte der hagere, ledergelbe Hausvater durch die Stube. Es mochte etwa die Zeit sein, die wir drunten auf Erden zehn Uhr vormittags nennen, als Tisch und Bänke in eigentümlicher Ordnung zusammengestellt wurden; alle Kinder nahmen Platz; am oberen Ende die Hausmutter; in einen guten Shawl einwickelt, der vorne von einer schönen Brosche mit leuchtendem, gelben Topas zusammengehalten wurde, schlug sie ein Buch auf, einen abgegriffenen Folianten mit Goldschnitt, in den sie jedoch nur selten und flüchtig hineinsah, und begann folgendermaßen: »Am Anfang war der große Käs, der tief drunten im Nebel hockt, und schnarcht, und in Dampf eingewickelt ist. –«

»Aber noch ehe der große Käs war, war das Mondhaus, das unter dem Gewölke herrscht.«

»Und das Mondhaus ward erleuchtet, und ernährt, von der großen Butterkugel, die am Himmel schwebt.«

»Und ihre fetten Strahlen befruchteten das Mondhaus, und es ward dick davon.«

»Und eines Tages, als der Mond überdick war, sprang er auf und gebar den großen Käs, der herunterfiel in die Tiefe, wo er in der Finsternis schnarcht.«

»Und auf dem Mond wuchsen der Mondmann und die Mondfrau; und sie gebaren dreißig Mondkinder, und wurden gespeist von der großen Butterkugel, die am Himmel schwebt.«

»Aber siehe, eines Tages, als der Mondmann an seinem Fenster stund, verlachte er die Butterkugel, die vorüber zog; und es blieben aus die fetten, ernährenden Strahlen, und kamen nur noch kalte, leuchtende Strahlen; ob der Sünde willen.«

»Und der Mondmann, von Fluch beladen, mußte sich eine Leiter bauen, hinunter zum großen Käs, wo kleine, schwarze Menschlein pusten und schwitzen und runde Käse bauen, und mußte sich Nahrung holen für sich, für die...« – Während so die Mondfrau explizierte, wurde es immer stiller in dem kleinen Raum; lautlos und mit glänzenden Augen blickten die Kinder auf den Mund der Erzählerin; besonders die jüngeren; während von den älteren einige mit ihren Schürzbendeln spielten; woraus ich schloß, daß dieses merkwürdige Exposé nicht zum erstenmal vorgetragen war. – Aber die Mondfrau hatte die obige Phrase nicht zu Ende führen können, denn plötzlich wandte sich der Mondmann, dem schon während des ganzen Vortrags einige unverständliche Flüche entfahren waren, um und mit den Worten: »Verdammter Schwindel! Verfluchte Lüge!« riß er den heiligen Folianten der Mondfrau aus der Hand und schmetterte ihn gegen die hölzerne Wand, daß das ganze Mondgehäuse erzitterte. Die Kinder sprangen kreischend von ihren Plätzen und verkrochen sich zwischen den Bettläden. Die Hausmutter aber, wie mir schien, an solche Szenen gewöhnt, erhob sich mit großer Würde und sagte: » Papa, warum störst Du den Religionsunterricht?« – Der Mondmann: »Weil das alles Schwindel ist, was Du den Kindern lehrst!« – Die Mondfrau: »Wer sagt Dir, daß das Schwindel ist? Hast Du mir nicht die ganze Entstehung unserer Armseligkeit selbst so erklärt?« – Er: »Meiner Lebtage nicht! Der Gedanke, mittelst einer Leiter auf den großen Käs hinunterzusteigen, war meine originäre Idee!« – Sie: »Wer bestreitet Dir, daß Du ein gescheiter Kerl bist, und daß wir ohne Dich verhungern müßten?« – Ersterer: »Die Kinder werden mich für einen Lumpen und Spitzbuben halten!« – Letztere: »Hast Du damals nicht zum Himmel hinauf gelacht? Und steht die Butterkugel jetzt nicht immer auf der Rückseite von unserem Haus?« – Wiederum Er: »Die Butterkugel am Himmel ist ein gedankenloser Brocken!« – Wieder Sie: »Sie war die Ernährerin von uns Allen, die Erfreuerin unseres Herzens, unsere Göttin!« – Der Mondmann: »Ich bin das höchste Wesen unter dem Himmel, weil ich denke!« – Die Alte: »Du bist ein armseliger, bedauernswerter Tropf!« – Er: »Mondfrau!« – Sie. »Ich fürchte mich nicht vor Dir!« – Zu diesem Moment ging der ockergelb gewordene Hausherr auf seine Mitbewohnerin zu, packte sie bei der Gurgel und warf sie mit solcher Vehemenz zu Boden, daß das ganze Holzhaus dröhnte. Aber fast im selben Augenblick fuhr unten im Keller krachend ein Laden auf, welches vermutlich die Luk-Tür war, und es entstand ein dumpfes Gepolter, wie von rollenden Gegenständen. – »Unsere Käse!« rief die Mondfrau, »unsere Käse stürzen in die Ewigkeit!« – Im Nu hatte sich die schwere Frau erhoben, tappte mit wenigen Schritten gegen die Falltür, schlug sie zurück und verschwand; – man hörte noch ein kurzes Poltern, dann ward die Luktür drunten geschlossen und verriegelt. – Schnaufend und kreidebleich erschien nach zehn Minuten, während derer der Hausherr starr vor sich hingeglotzt hatte, die Mondfrau: »Fünf Käse«, schluchzte sie, »sind hinausgestürzt. – Eins von den Kindern muß für diesen Monat hungern oder – sterben!« – Der Mondmann blieb starr und regungslos wie von Glas. – Die Kinder hörte man hinter den Bettstatten leise glucksen. Während der folgenden vierundzwanzig Stunden wurde kein Wort gewechselt; und das Schmatzen der Mäuler bei den nun kärglich ausfallenden Käsportionen, das Knerzen der Bettladen und das Auf- und Abschleppen des schweigend in sich versunkenen Hausherrn, waren die einzigen Geräusche in dieser schrecklichen Einsamkeit.

Der Leser möge mir verzeihen, wenn ich über den Eintritt dieser vierundzwanzigstündigen Pause nicht ganz ungehalten bin; weniger der Pause selbst wegen, als, weil ich wieder einen Tag habe, an dem ich Nichts zu berichten brauche, und ich somit dem Ende meiner Erzählung um die gleiche Zeitdauer näher gerückt bin. Denn es ist keine Annehmlichkeit, lediglich mit Rücksicht auf den Leser, damit er keine Lücke entdecke, und damit er sich ein getreues Bild von dem ärmlichen Haushalt da droben mache, jedes, auch noch so kleine Ereignis zu erwähnen, und alles, bis zum Bedenklichen, registrieren zu müssen. – Wer frei erfindet, – der Dichter, – tut sich leichter. Er wählt willkürlich aus seiner Inspiration das aus, was er dem Leser mitzuteilen für gut befindet. – Wer, wie ich, von einer Reise zurückkehrend, dieselbe beschreiben soll, ist ein Sklave und literarischer Handlanger, denn er ist von dem Geschehen, von dem Erlebten abhängig; und wehe ihm! wenn er etwas verschweigt. Das Einzige, worin er sich auszeichnen kann, ist der Stil; aber auch da weiß ihm der Leser wenig Dank; denn gerade bei absonderlichen Ereignissen verlangt derselbe eine einfache, ungeschmückte Form. – Übrigens waren die vierundzwanzig Stunden, während derer Mondmann und Mondfrau nichts miteinander sprachen, insofern für mich nicht ganz ereignislos, als mich auch hier meine Zweifel und Gedanken nicht verließen, die ich aber, – Gott sein Dank! – dem Leser nicht mitzuteilen brauche. – Diese Mond-Entstehungs-Geschichte kam mir nämlich nicht aus dem Kopf; und wenn ich auch von der eigentlichen Genesis, die die Mondfrau vortrug, nichts verstand, so war es doch ein Punkt, der mich lebhaft interessierte: die fortwährend rückwärtige Stellung der Sonne, der »Butterkugel« in der Sprache der Mondleute, auf der fensterlosen Mondseite. Es war doch klar, daß das angebliche Lachen des Mondmannes – und wär' es vor tausend Jahren geschehen – nicht den geringsten Einfluß auf die Stellung der Sonne ausüben konnte. Sondern hierfür mußten astronomische Gründe angegeben werden. Wie die naiven Leute da oben sich die Sache schließlich zurecht legen würden, welche Historie sie darüber ausheckten, und ob sie sich derohalber an der Gurgel packten, war dann einerlei. Tatsache war, daß wir seit acht Tagen Dämmerung hatten ohne eigentliche Verdüsterung zur Nachtbildung, und ohne Aufhellung zur Tagesbildung; und nur die außerordentlich regelmäßige Lebensweise der Mondleute gestattete mir, noch weiter die Tage zu zählen, und der Feststellung der Dauer meines Aufenthaltes meine Strohhalme zu stecken. Wie ich gleich hinzufügen will, dauerte dieser merkwürdige Beleuchtungszustand noch weitere acht Tage, also im ganzen vierzehn Tage, und was dann eintrat, wird der Leser auf der vierten oder fünften Seite von hier aus mit Staunen erfahren. Für mich handelt es sich zunächst darum, zu konstatieren, ob wirklich die »Butterkugel«, – von der die Mondfrau die fantastische Legende vortrug, selbe hätte früher ernährende Strahlen ausgesandt, – auf der Rückseite, also auf der fensterlosen Seite des Mondes stund, wo allerdings eine auffallende Wärme im Zimmer, wie ich früher andeutete, diese Annahme wahrscheinlich machte. Zur Erreichung dieses Zweckes gab es drei Wege: Ich konnte auf das Dach steigen, wo der Mondmann während der ersten Tage seine Teerpappen-Reparaturen vorgenommen hatte, und von wo aus zweifellos ein tadelloser Rundblick möglich war. Zweitens: ich konnte mit einem Wellenbohrer die rückwärtige Mondwand anbohren und mit dem einen Auge durchblicken. Drittens: ich benutzte die etwas seitliche Lage des Lukfensters im Keller, um durch weites Hinauslehnen und Beobachtung des Horizontes, wenn nicht die Sonne selbst, doch einen Teil ihres reflektierten Lichts auf dem Mondhaus in Form einer Sichel wahrzunehmen. Zum ersten Projekt fehlte mir die Courage, zum zweiten der Bohrer, und das dritte beschloß ich gleich in der folgenden Nacht durchzuführen. – Wir standen vor der neunten Nacht: Samstag Nacht oder Sonntag in aller Früh, war ich heraufgekommen; also die Nacht Montag auf Dienstag in der zweiten Woche, wenn ich recht gezählt hatte. – Es mochte einige Stunden vor Mitternacht sein. Ich hatte keinen Grund anzunehmen, daß nicht alles bereits in seinen Betten war und schlief; wiewohl ich während des ganzen Abends vollständig apathisch unter meinem Bett gelegen war und auf nichts aufgepaßt hatte, was um mich her vorging. Die Kellertür war offen; dies war nichts Auffallendes in der letzten Zeit. Die Mondfrau hatte selbe wiederholt aufgelassen; so wenig auffallend wie das Gemisch von Käs- und Teer-Geruch, welches draus hervordrang und welches meine Nase kaum mehr empfand. Ich war schon sehr vertraut mit den unteren Räumlichkeiten; wenn durch nicht Anderes, durch das viele Käsholen. So ging ich denn rasch die paar Staffeln hinunter, über den weichen Hanf, um die Aufwind-Maschine herum, in der Richtung auf die Käse zu, als ich plötzlich erschrocken wie vor einem Gespenst inne hielt: In der Fensterluke saß ein dickes Weib mit aufgeschlagenen Röcken und hatte über dem Haarscheitel einen langen, strichförmigen, glänzenden Licht-Reflex, wie von einem Vollmond, der, nach der ganzen Art der Richtung und des Auffallens von draußen, aus der Scharnierlücke des halbaufgeschlagenen Ladens kam. Das Weib keuchte und preßte und hielt den Atem an, als gälte es eine Riesenarbeit zu vollenden. Und ehe ich schlüssig werden konnte, was in diesem Fall zu tun, hatte sie mich bemerkt und sprach mich an: »Kommst Du auch Papa? Es ist für Dich höchste Zeit; freilich Du ißt ja schrecklich wenig.« – Ich erkannte jetzt die Stimme, es war die Mondfrau. – Doch diese Entdeckung erschien mir nicht so sehr wichtig; ich wäre wohl auch so draufgekommen: denn welche weibliche, dicke Person sollte denn auf einmal durch die Kellerluke zum Mond hereinsteigen?! – Die Mondfrau war mit dem Stuhlgang beschäftigt; vermutlich dem ersten seit meiner Heraufkunft; diese Tatsache war für mich von nicht geringer Satisfaktion, weil ich den Platz für diesen Zweck zuerst entdeckt hatte; aber auch dieser Gedanke beschäftigte mich nur flüchtig. – Die Mondfrau hielt mich in der Dunkelheit für den Hausherrn. Dies war ein Glück, aber hervorragende Bedeutung konnte ich diesem Umstand ebensowenig beimessen; obwohl, wenn es gegenteilig gewesen wäre, wenn die Mondfrau mich als Fremden erkannt hätte, ich keinen Anstand genommen hätte, sie mitsamt ihrem Stuhlgang hinunter auf den »großen Käs« zu stürzen; lieber, als mich gegebenen Falls von ihrem Mann totschlagen oder aushungern zu lassen. – Nein! was mir von fundamentaler Wichtigkeit schien, war der strichförmige, glänzende Reflex auf dem Haarscheitel der Mondfrau! Das war keine Sonne oder »Butterkugel«-Stoff. Das war genau wie Mondlicht, was da durch die Ladenspalte hereinfiel. – – Mondlicht? – Aber, auf dem Mond waren wir ja selbst! – Ha, infernale Täuschung! – sagte ich zu mir, – wenn wir doch nicht auf dem Mond wären! – Doch ich ließ den Gedanken gleich wieder fahren. Es war ja reine Torheit, über diesen Punkt weiter nachzugrübeln. Und da die Mondfrau, wie mir schien, Anstalten zur Beendigung ihrer Sitzung machte, ich auch durch weiteres Anglotzen des strichförmigen Reflexes, der jetzt auf ihrem Buckel ruhte, nichts profitiert hätte, so machte ich mich aus dem Keller, und ahmte, um ein Übriges zu tun, auf der Treppe den schlappigen Schritt des Mondmanns nach. Oben eilte ich dann unter mein Bett. Es dauerte wohl noch eine Stunde, bis die Alte heraufkam. Sie packte ihren Mann, als sie an seiner Bettstatt vorbeiging, kräftig beim Arm, schüttelte ihn und rief: »So, jetzt kannst Du hinunter!« – Dann ging sie zu Bett. – Aber der Mondmann blieb liegen, und die Mondfrau blieb liegen, und ich blieb liegen. Und die Ruhe wurde für diese Nacht dann nicht mehr gestört.

Wenn ich, lieber Leser, abgesehen von den Gefahren, die ich bestanden, und von den Konsequenzen, die sich für meine Person ergaben, einen Wunsch hatte, als ich glücklich vom Mond herunter und die Erde wieder erreichte hatte, so war es der, ein Astronom möchte statt meiner auf dem Felde zwischen Leyden und D'decke Bosh den Mondmann angetroffen haben. Seine Beobachtungen würden von ungeheurem Wert nicht nur für seine Wissenschaft, sondern für unser ganzes Verhältnis zum Mond, zum Himmel, zum Sonnensystem gewesen sein. Nach seiner Rückkehr wäre er ganz gewiß, wie ich relegiert, zum Ehrendoktor erhoben worden, und einige Kometen oder Fixsterne hätten die Ehre, unter seinem Namen den Himmel zu durchwandern. – So kam ein Mensch hinauf, der, ohne astronomische Vorkenntnisse, keine solche zu erwerben, noch für die Welt nutzbar zu machen suchte, und dem, wenn für ihn das Bewußtsein der persönlichen Gefahr wegfiel, ein Strich-Reflex auf dem Rucksack der Mondfrau, schon durch die Farbe, die Silhouette, die ganze Konstellation, tausendmal mehr Interesse erweckte, als etwa die Frage, ob besagter Reflex vielleicht, da wir auf dem Mond waren, von der vollbeleuchteten Venus in ihrer Mondnähe herrühren könne. – Ich mache diese Bemerkung, weil wir jetzt vor dem astronomisch jedenfalls wichtigsten Ereignis meines Mond-Aufenthaltes stehen. Und ich mache sie, um jede Frage mathematischer, physikalischer oder sonst welcher Natur, die nur dazu führen kann, meine Unwissenheit zu konstatieren, abzuschneiden. – Nachdem nämlich die Dämmerung in ziemlich gleichmäßiger Weise vierzehn Tage gedauert hatte, während welcher Zeit die Sonne mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf der fensterlosen Rückseite des Mondes stand, wurde es – Nacht! – Ja, Nacht wurde es, nicht Tag, wie ich und vielleicht mancher Leser erwartet hatte. Warum? – Ja, das weiß ich nicht. Es wurde aber Nacht. Und ich bitte den Leser, alle folgenden Ereignisse in diesem Licht zu betrachten; oder so, als gingen sie im Mondkeller vor sich. Und damit weiß der Leser auch, daß wir in der zeitgerechten Abwicklung der Begebenheiten um weitere acht Tage fortgeschritten sind. Irgendwie Hervorragendes war nämlich seit dem letzten Dienstag, der oben erwähnt ist, nicht vorgekommen. – Ein Nachttopf zerbrach. Die Klagen über das Nicht-Ausreichen der Käse wurden mit dem Dünnerwerden der Käseproportionen immer größer. Ich selbst schränkte jetzt meine Magen-Bedürfnisse etwas ein, um mich als Mitesser nicht allzu fühlbar zu machen. – Aber ein interessantes, wenn auch kurzes Zwiegespräch zwischen den beiden Gatten, ebenfalls über die Käse, muß ich doch ganz hierhersetzen: Die Mondfrau verlangte nämlich, er solle in der Zwischenzeit, sie meinte wohl, unter dem Monat, hinuntersteigen und Käse holen. Er verneinte kopfschüttelnd. Die Alte war taktlos genug, darauf hinzuweisen, das Hinausstürzen der Käse aus der Kellerluke vor acht Tagen, oder wann es war, sei seine Schuld gewesen; folglich müsse er für Ersatz sorgen. – »Ich darf nicht!« erwiderte der Mondmann. – »Wir verhungern!« entgegnete die Alte. – »Ich darf nicht,« – wiederholte der Mondmann, indem er sich aufrichtete und mit drohender Miene den rechten Arm erhob – »ich darf nicht ohne Mond hinuntersteigen!« – – Ich darf nicht ohne Mond hinuntersteigen! – Von diesen Worten ging etwas wie ein helles Licht auf alle die sonderbaren Gepflogenheiten dieses merkwürdigen Menschen aus. Er durfte nicht ohne Mond hinuntersteigen. War denn der Mondmann durch irgend welche Gesetze gebunden? Faßte er sein Verhältnis zur Erde als ein ethisches auf? – Oder lieferte er den Vollmond jedesmal am Schluß des Monats an einen holländischen Spekulanten ab? – Hatte der Mondmann Religion? – Was war der tiefere Grund dieser merkwürdigen Phrase? – Ich weiß es nicht. –

Wir waren also jetzt in vollständige Nacht gehüllt. Und war der Aufenthalt auf dem Mond bis dahin erträglich, so wurde er jetzt ein elendes und trauriges Dasein. Ich kam mir vor wie im Zuchthaus; wie ein Maulwurf, der zum Winterschlaf verdammt ist. Die Hoffnung, daß ich mich jetzt etwas freier werde bewegen können, erwies sich als eine trügerische. Denn die Mondleute waren an die Dunkelheit gewöhnt; ihre Augen, die nur zwischen Dämmerung und Nacht unterschieden, und, wie ich vermutete, nie ein grelles Licht zu ertragen gehabt, waren andere als unsere irdischen Augen. Und beinahe wäre ich ein Opfer dieses von mir nicht vorhergesehenen Umstandes geworden, indem die Mondfrau, als ich, durch die Dunkelheit sicher gemacht, einmal im Begriffe war, in den Keller hinunterzusteigen, während sie selbst mit den Kindern zu Tische saß, mich sah; wie wütend sprang sie auf, und da ich schon einige Stufen hinunter gemacht hatte, warf sie mir die Klapptür mit den Worten: »Jetzt wird kein Käs mehr geholt!« mit solcher Vehemenz auf den Kopf, daß ich halb betäubt hinunter in den Hanf fiel. Aus den hinterher geschrienen Worten: »Jetzt will er auf einmal essen!« schien hervorzugehen, daß sie mich für den Mondmann gehalten, obwohl ich viel, viel kleiner bin. Der lag aber angezogen auf dem Bett und schlief. – Worauf einzig und allein die Dunkelheit im gewöhnlichen Gebaren der Mondleute einen Einfluß hatte, das war die Unterhaltung, die oft halbe, oft ganze Tage stockte. Und wie ein chinesisches Schattenspiel bewegte sich diese merkwürdige Gesellschaft nun an mir vorüber. Im übrigen aber folgten die Verrichtungen des Tages wie früher in sicherer Regelmäßigkeit aufeinander: Die Kinder spannen; die Mondfrau räumte den lieben langen Tag auf, oder hantierte im Keller, und der Mondmann, der noch während der ersten zwei Wochen einigemal auf's Dach geklettert war, um Dachpappen aufzulegen, oder Kloben anzutreiben, lag jetzt meist auf dem Bett, oder ging mißmutig auf und ab. – Eine einzige Erscheinung, die vollständig neu war, trat am zweiten oder dritten Tag der Nacht-Gleiche auf. Auf der Südseite des Monds, – ich sage Südseite, weil ich mich immer nicht von dem Gedanken los machen konnte, daß dort drüben hinter der Mond-Wand die »Butterkugel« stand; ich meine aber die fensterlose Rückseite, – von dort hörte ich bis unter mein Bett hinunter ein eigentümliches Knistern und Pratzeln; ich glaubte erst, es seien die nach vorgängiger Erwärmung nun erkaltenden Teerflächen; gleich in der folgenden Nacht aber kroch ich hervor, zwängte mich durch zwei der Mädchen-Bettstatten und legte mein Ohr an diese Südwand. Das Geräusch, welches immer auffallender und lauter wurde, dauerte mir für eine Kontraktion durch Erkaltung nun zu lange; gleichzeitig stieg ein verdächtiger, brenzlicher Geruch auf; es war für mich fast kein Zweifel mehr, daß die Dach-Pappen draußen brennen, oder in einem Erhitzungs-Stadium sich befinden, der dem Ausbrechen der Flammen knapp vorhergeht. Ich kam in große Beunruhigung. Ich dachte mir: Soll ich den Mondmann wecken? – Ich den Mondmann wecken! – Kann denn ein Mensch, – entgegnete ich mir selbst, – der aus Zufall heraufgekommen ist, den Mondmann wecken wollen? – Die Leute würden ja wahnsinnig werden vor Schrecken, wenn sie mich an ihrem Bett stehen sähen! Abgesehen davon, daß ich den eigentümlichen Dialekt, den sie sprachen, in diesem Moment nicht hätte nachmachen können. – Ich kann den Leser versichern, daß ich in diesem Augenblicke nicht an meine Person dachte, sondern daß mir der Mond zumeist am Herzen lag. Ich befand mich in der Lage eines Menschen, der Nachts auf einem Eisenbahn-Zuge fährt, und beim Herausschauen aus dem Fenster entdeckt, daß eine Achse heißgelaufen ist, und nicht weiß, wie er sich kundgeben soll. Er ist wohl in Gefahr, aber in weit größerer Gefahr ist doch der Zug. – Doch was wollte ich machen? – Ich schaute noch einmal zum Fenster hinaus, und als ich keine Helle bemerkte, kroch ich unter mein Bett. – Aber erst am folgenden Morgen, als das Geräusch niemandem auffiel, wurde ich ruhiger.

So kam das Ende der dritten Woche herbei. – Das Leben wurde immer trostloser. Es war eine Qual zuzusehen, wie die Leute in der finsteren Nacht sich aus ihren Betten erhoben und zum kärglichen Mahl zusammensetzten; man hätte an eine Arbeiterfamilie glauben mögen, die vor Tagesgrauen aufgestanden, und schweigend und geschäftig den Morgen-Imbiß zu sich nimmt, um sich dann ebenso flink auf die Arbeit zu begeben. Es war ein grauenhaftes Einerlei. Der Mondmann und die Mondfrau sprachen oft tagelang kein Wort; sie waren überhaupt seit jener Rauf-Scene in kein erträgliches Verhältnis mehr zueinander gekommen; und es schien mir, als überlege manchmal die Mondfrau, die überhaupt klüger und was man sagt welterfahrener oder monderfahrener war, welche Rolle sie spielen solle, die der versöhnlichen, nachgiebigen, oder der brüsken, auf ihrem Recht stehen bleibenden Gattin. Leider richtete sie nur mit beiden Manieren so schrecklich wenig aus, weil mit dem Mann gar nichts anzufangen war. Dieser ewig unzufriedene, in sich verbissene, aber zum Klagen viel zu stolze Mann bemerkte gar nicht die kleinen Komödien seiner Frau, sondern war immer mit anderen Dingen beschäftigt. Mir schien, dieser spekulative Kopf steckte weit im Himmelsgebäude drin, im dem Triangel zwischen Venus, Erde und Sonne, und er wartete auf irgend eine Weltkonstellation, um seine traurige Lage zu verbessern. Die Kinder sprachen fast gar nichts, und aus der unbeholfenen Manier, in der sie gewisse Bedürfnisse der Mutter anzeigten, schien mir hervorzugehen, daß sie des Sprach-Dialekts ihrer Mutter überhaupt nicht vollständig mächtig waren, mit einem Wort, daß es Idioten, zum Teil vielleicht Taubstumme waren.

Es war in einer Nacht um die Wende der dritten und vierten Woche. Ich lag unter meinem Bett. Die auffallendste Erscheinung aus der zweiten Phase meines Mondaufenthalts, das Knistern und Pratzeln außerhalb des Mondgebäudes, beschäftigte fortwährend meine Gedanken. Irgendwelches künstliche Licht, – sagte ich mir, – besteht auf dem ganzen Monde nicht. Es wird nicht gekocht, nicht gewärmt, nicht geheizt; nirgends ein Schwefelholz; niemand raucht; nirgends eine Friktion oder Reibung. Es kann also aus dem Innern der Mondwohnung nichts nach außen gekommen sein, welches die Überhitzung der Teer-Platten bewirkt haben soll. Sonach muß diese Überhitzung oder In-Brand-Setzung einem meteorologischen Ereignis zugeschrieben werden. Und dann bleibt als Ursache nichts anders anzunehmen übrig, als die Sonne, die in dieser reinen Höhe von größerer Treff-Sicherheit ihrer Strahlen, und bei dieser Continuität des Auffallens, – denn die Sonne mußte solange drüben gestanden sein, als wir herüben auf der Nordseite Dämmerung hatten, d. h. vierzehn Tage, – schließlich die Teerplatten entzündete, und durch Überhitzen der ganzen Mondrinde, auch nach ihrem Untergang ein fressendes Fortkriechen des Verbrennungs-Prozesses bewirkte. – Damit stimmte, daß das verdächtige Geräusch in der linken Ecke der südlichen Hemisphäre begonnen, und einem draußen wandernden Himmels-Körper entsprechend, sich bis zur rechten Ecke der gleichen Hemisphäre fortgesetzt hatte, während die nördliche Mondhälfte so gut wie noch unberührt war. Dann, – kalkulierte ich weiter, – ist dieser ingeniöse Teer-Überzug nicht nur ein Schutz gegen Wind und Wetter, sondern auch gegen die sengenden Sonnenstrahlen, die sonst das hölzerne Mondgebäude angreifen würden. – Aber dann, – schloß ich endlich, – müssen diese glühenden Teer-Platten von Zeit zu Zeit abgekratzt werden, sonst geht eines Tages die ganze Mond-Baracke in Flammen auf. – Als ich bis zu diesem Punkt in meiner Erwägung gekommen war, bemerkte ich plötzlich am Fenster, an jenem Teil, den ich von meiner Lage unter dem Bett aus übersehen konnte, eine auffallende Helle. Sie war nicht flackernd, sondern ruhig, Deshalb blieb meine Gemütslage zunächst unberührt. Auch schien dieselbe nicht mit dem Mond direkt zusammenzuhängen, vielmehr dem Horizont anzugehören. Aber trotzdem erschrak ich, als diese Helle, die von der linken Seite her sich ausbreitete, ein großer, feurig-glänzender, kompakter Rand am Himmel nachfolgte, der einem Körper von riesigem Durchmesser angehören mußte. Als wenn eine Feuersbrunst ausgebrochen wäre, verließ ich schleunigst meine Lagerstätte und stürzte ans Fenster. Ein furchtbarer, schauerlicher und grenzenlos schöner Anblick bot sich meinem Auge: Von links her näherte sich eine mächtige, gelbglühende Kugel, die am gänzlich schwarzen Himmel nicht wie ein Gestirn, sondern wie ein verderbenbringendes, aus einer anderen Welt hereingeschleudertes, sphärisches Ungetüm sich ausnahm. Obwohl ich mich rechts stellte, – das Fenster wagte ich nicht aufzumachen, – soweit es ging, vermochte ich nicht die ganze Kugel zu überschauen, die mit verwitterten Rändern und eingebettet in einem feuchtgrünen Nebel, mit unheimlicher Stetigkeit nach vorwärts und aufwärts strebte, und, äußerlich betrachtet, wie ein zerschmolzener, schmutziger Schneeball von der Größe einer Bräupfanne am Himmel stand. Überraschend war, daß der glänzend-duftige Körper trotz seiner Dimension und intensiven Leuchtkraft nicht blendete; es war ein kaltes, bleiches, friedhofähnliches Licht. Die Nebel um ihn herum schienen in fortwährender Bewegung zu sein, und auf Momente zerriß der grüne Schleier, der den eigentlichen schwefelgelben Kern zu umschließen schien, – eine glänzendere, hellere Scheibe rückte heraus, auf der ich dann selbst wieder dunklere Flecke abgegrenzt von helleren Zonen entdeckte. – Aber wer beschreibt mein Erstaunen, als ich, in einem Moment, da die feuchten Dämpfe wie auf eine Seite gerissen wurden, und der Himmelskörper in seinem größten Durchmesser sich präsentierte, auf der phosphoreszierenden Fläche, langgestreckt, wie mit feinem Tusch aufgetragen, die deutlichen, die langgehackten Konturen von Nord- und Süd-Amerika erkannte! – Ein befreiender Gedanke stieg in mir auf: Kein Zweifel, die Kugel war die Erde, von der untergegangenen Sonne beleuchtet, und in ihre leuchtkräftige, dunstige Atmosphäre gehüllt. – Dort schwimmt also die Erde! – sagte ich mir, – und dort in der Lüttje-Straat in Leyden sitzt die alte Hausfrau mit den langen Zähnen, und simuliert nach, wo ihr Student hingekommen sein mag, und trauert über ihn, wie über einen entlaufenen Hund, den man zu sehr geschlagen hat. – Die prächtige, dunstgeschwellte Kugel war inzwischen noch weiter heraufgekommen und ich war eben im Begriff, mich auf die eine Seite der Kindbettstatt stützend, von einem etwas höheren Standpunkt aus nachzusehen, ob die ganze Erdfläche erleuchtet sei, als aus dem Hintergrund des Zimmers eine gilfge Stimme rief: »Kinder, der große Käs!« – Und eh' ich mich's versehen konnte, waren sämmtliche Kinder aus ihren Betten gesprungen, und eilten barfüßig an's Fenster. Ich retirierte so schnell wie möglich aus dem schmalen Gang, um unter den Tisch zu gelangen. Aber zu spät! Das vorderste Kind, ein Mädchen von etwa zwölf Jahren, stolperte über mich, und stürzte mit dem blanken Kopf auf den Boden. Scheinbar, ohne sich ernstlich wehe zu thun, denn man hörte kein Wehklagen. Über die Daliegende stürzten noch andere, und im Augenblick lag ein ganzer Knäuel Menschen am Boden. Nun kam auch die Alte herangewackelt. Sie hatte sich Zeit genommen, ihre Schlappen anzuziehen. Das Fenster ward aufgemacht, und die meisten der größeren Mädchen drängten sich nun um die Mutter, die zuvörderst war und sich weit hinaus lehnte, und quatschten und gilften in die Luft hinaus, ohne daß ich ein Wort verstehen konnte. Ich war inzwischen glücklich unter den Tisch gekommen. – Also das ist ihr »großer Käs«, sagte ich mir, von dem sie immer so viel reden, und hier vom Himmel herunter haben sie den kühnen Vergleich abgelesen! – Und jetzt fiel mir auch das Bild ein, welches gerade gegenüber hing, mit seiner rätselhaften Amerika-Darstellung, und das der Mondmann hier an diesem Fenster vielleicht vor unzähligen Jahren, vielleicht als junger Mensch, angefertigt hatte. – Ich begriff, wie diese großartige Erscheinung, das Vorüberziehen dieses blendenden Himmelskörpers, für die Mondleute ein Ereignis allerersten Ranges war; für sie, die von der Sonne nichts weiter zu merken bekamen, als daß sie ihnen ihre Teerpappen draußen auf der Südseite verbrannte. Es schien auch, daß eine Haupt-Konstellation im Auf- und Unter-Gehen des »großen Käs« heut Nacht gegeben war, weil die Mondfrau so lang und so eifrig draußen mit den Kindern plauderte, – daß er vielleicht oft unterhalb oder oberhalb der Aussichtslinie des Mondhauses wegzieht, wie damals, als ich im Keller drunten die Mondfrau in der Luke sitzend überraschte. Denn von woher anders kam damals der strichförmige Reflex auf ihrem Buckel? – Allmählich zogen sich die Kinder einzeln zurück. Erst ganz spät ging auch die Mondfrau fort mit den zwei Ältesten. Das Eine von ihnen stellte noch, während die Mutter das Fenster schloß, eine Frage, die ich nicht verstehen konnte; die Alte antwortete aber: »Der Papa schaut den großen Käs nicht an; er steigt ja alle Monat hinunter!« – Dann ging alles schlafen. – Ich aber blieb noch lange wach – obwohl der »große Käs« längst verschwunden war – und saugte den grünen Duft auf, der noch tief ins Wohnzimmer hereinfiel, wie eine Nahrung, die man lange entbehrte; wie eine Botschaft aus einem fernen Weltteil, dem man einst angehörte, und den man vielleicht nicht mehr sehen wird.


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