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Erster Teil

Allgemeine Erkenntnistheorie

 

1. Die Bildung der Begriffe.

Dem menschlichen Geiste, wie er langsam in jedem Kinde erwacht, erscheint zunächst die Welt als ein Chaos, das aus lauter einzelnen Erlebnissen besteht. Der einzige Zusammenhang zwischen ihnen beschränkt sich darauf, daß sie aufeinander folgen. Aus diesen Erlebnissen, die zunächst alle voneinander verschieden sind, heben sich dann gewisse Anteile dadurch hervor, daß sie sich häufiger wiederholen und dadurch einen besonderen Charakter, den des Bekanntseins, erhalten. Dieser rührt daher, daß wir uns des früheren ähnlichen Erlebnisses erinnern, d. h. daß wir eine Ähnlichkeit zwischen dem gegenwärtigen Erlebnis und gewissen früheren fühlen. Die Ursache dieser für alles geistige Leben grundlegenden Erscheinung liegt in einer überaus allgemeinen Eigenschaft der Lebewesen, die in allen ihren Funktionen zutage tritt, während sie in der anorganischen Natur nur ausnahmsweise oder zufällig vorkommt. Dies ist die Tatsache, daß gleiche Vorgänge sich an einem Lebewesen um so leichter wiederholen, je häufiger sie vor sich gegangen sind. Es ist hier noch nicht der Ort, nachzuweisen, wie durch diese besondere Eigentümlichkeit so gut wie alle Kennzeichen der Lebewesen, von der Erhaltung der Art bis zu den höchsten geistigen Leistungen, bedingt werden. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß vermöge dieser Eigenschaft selbsttätig, d.h. aus physiologischen Gründen, die häufig sich wiederholenden Vorgänge aller Art an einem bestimmten Lebewesen eine Beschaffenheit annehmen, die sie wesentlich von denen unterscheidet, die nur einzeln auftreten.

Ist das Lebewesen mit Bewußtsein und Denken ausgestattet, wie der Mensch, so bilden die bewußten Erinnerungen an solche gleichförmige Erlebnisse den dauernden oder beständigen Anteil an seinen Gesamterlebnissen. Jedesmal, wenn ein solches sich erfahrungsmäßig wiederholendes Ereignis, wie etwa der Wechsel der Jahreszeiten, in irgendeinem seiner Teile zum Bewußtsein gelangt, ist ein solches Wesen darauf vorbereitet, auch die anderen Teile zu erleben, welche erfahrungsmäßig mit jenem verbunden sind. Welche Bedeutung die dadurch ermöglichte Voraussicht künftiger Ereignisse für die Erhaltung und Entwicklung des Einzelwesens sowie der Art hat, kann hier nur angedeutet werden. Beispielsweise ist die Voraussicht des kommenden Winters mit seinem Mangel an unmittelbar zu erlangenden Nahrungsmitteln die Ursache des Entschlusses, die eben vorhandenen nicht sofort zu verzehren, sondern sie für die Tage des Mangels aufzubewahren, und somit die Grundlage aller wirtschaftlichen Lebensgestaltung.

 

2. Wissenschaft.

In ihrer allgemeinsten Beschaffenheit heißt die auf Kenntnis der Einzelheiten wiederholbarer Ereignisse beruhende Voraussicht künftiger Vorgänge Wissenschaft. Hier wie meist bewirkt der Umstand, daß die Sprache sich festgelegt hat, längst bevor Klarheit über die Dinge bestand, die in ihr bezeichnet worden waren, daß mit dem Namen irgendeiner Sache leicht falsche Nebenvorstellungen, entweder aus überwundenen Irrtümern oder aus anderen, noch mehr zufälligen Ursachen, verbunden werden. So pflegt man auch die bloße Kenntnis vergangener Ereignisse Wissenschaft zu nennen, ohne daß man an ihre Benutzung zur Voraussagung künftiger denkt. Die unzweckmäßige Vorstellung, die mit diesem Worte von früherher verbunden geblieben ist, macht sich sogar noch dahin geltend, daß ein solches »Wissen« um bloß vergangene Dinge sich an Bedeutung mit der Wissenschaft als Voraussagung zu messen, ja sie sogar zu übertreffen beansprucht. Doch lehrt ein Augenblick des Nachdenkens, daß ein bloßes Wissen um Vergangenes, das nicht als Grundlage für irgendeine Gestaltung der Zukunft dienen soll oder kann, ein völlig zweckloses Wissen ist, und seine Stelle neben anderen zwecklosen Betätigungen, die man allgemein Spiel nennt, angewiesen bekommen muß. Es gibt ja allerlei Spiele, die großen Scharfsinn und geduldige Hingabe beanspruchen, wie z.B. das Schachspiel, und niemand hat das Recht, einem einzelnen die Ausübung eines solchen Spieles zu verwehren. Der Spielende aber darf seinerseits keinerlei besondere Achtung für seine Tätigkeit beanspruchen. Indem er seine Energien für sein persönliches Vergnügen und nicht für irgendeinen sozialen, d. h. allgemein menschlichen Zweck verbraucht, verliert er jeden Anspruch auf soziale Förderung dieser Tätigkeit und muß sich damit begnügen, daß nur die Schranke seines persönlichen Rechtskreises beobachtet wird. Und auch dies nur so lange, als soziale Interessen hierbei nicht zu kurz kommen.

 

3. Zweck der Wissenschaft.

Diese Darlegungen stehen im bewußten Widerspruch mit einer sehr verbreiteten Auffassung, daß man die Wissenschaft »um ihrer selbst« und nicht um des Nutzens willen betreiben soll, den sie tatsächlich oder möglicherweise bringen kann. Hierauf ist zu antworten, daß man überhaupt nichts »um seiner selbst« willen betreibt, sondern ausschließlich um menschlicher Zwecke willen. Diese stufen sich von augenblicklicher persönlicher Befriedigung bis zu den umfassendsten sozialen Leistungen unter Hintansetzung der eigenen Person ab. Aber über den Kreis des Menschlichen kommen wir mit unseren Handlungen nicht hinaus. Wenn also jene Wendung irgend etwas bedeuten kann, so bedeutet sie höchstens, daß man die Wissenschaft um des unmittelbaren Vergnügens willen treiben soll, die sie uns bereitet, d. h. daß sie als Spiel, wie es eben gekennzeichnet worden ist, betrieben werden soll. Es liegt also in jener Forderung ein mißverstandener Idealismus, der bei genauerem Zusehen in sein Gegenteil, nämlich eine Entwürdigung der Wissenschaft, umschlägt.

Das Nichtige, was in jener mißverständlichen Bemerkung liegt, ist das, daß es sich bei höher gesteigerter Kultur als besser erweist, bei dem Betriebe der Wissenschaft von der Rücksicht auf die unmittelbare technische Anwendung abzusehen, und sie daher nur mit Rücksicht auf möglichste Vollständigkeit und Vertiefung bei der Lösung ihrer einzelnen Probleme zu betreiben. Ob und wann dies zutrifft, ist ganz und gar eine Frage des allgemeinen Kulturzustandes. In den ersten Anfängen menschlicher Gesittung hat eine solche Forderung gar keinen Sinn; da ist vielmehr alle Wissenschaft notwendig und natürlich auf das unmittelbare Leben beschränkt. Je weiter und mannigfaltiger aber die menschlichen Verhältnisse sich gestalten, um so weiter und sicherer muß die Voraussicht künftiger Ereignisse werden. Und dann ist es ein Teil dieser Voraussicht, daß auch auf Fragen Antwort bereit gehalten wird, die im Rahmen der bisherigen Lebensverhältnisse noch nicht dringend geworden sind, die aber bei weiterer Entwicklung früher oder später dringend werden können.

Bei der in der Einleitung geschilderten netzartigen Verknüpfung der Wissenschaften, d. h. der verschiedenartigen Kenntnisgebiete, muß man sich beständig darauf gefaßt machen, daß die Voraussicht, welche Art von Kenntnissen man demnächst brauchen wird, sehr unvollkommen bleiben muß. Insbesondere wird man die künftigen Bedürfnisse zwar in allgemeinen Zügen mehr oder weniger bestimmt voraussehen können, nicht aber sich auf Einzelfälle vorbereiten können, die an den Grenzen solcher Voraussicht liegen, und die zuweilen von äußerster Wichtigkeit und Dringlichkeit werden können. Darum gehört es zu den wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft, eine möglichst vollständige Bearbeitung aller nur denkbaren Beziehungen durchzuführen, und in dieser praktischen Notwendigkeit liegt die Begründung der allgemeinen oder theoretischen Bearbeitung der Wissenschaft.

Die Begriffslehre. Hier erhebt sich alsbald die Frage, wie man eine solche Vollständigkeit sichern könne, und mit der Beantwortung dieser allgemeinen Vorfrage aller Wissenschaften beschäftigt sich die erste oder allgemeinste aller Wissenschaften, deren Kenntnis für den Betrieb aller übrigen Wissenschaften vorausgesetzt wird. Seit sie von dem griechischen Philosophen Aristoteles begründet worden ist, führt sie den Namen Logik, welcher Name sprachlich einen bedenklichen Hinweis auf das Wort enthält, das sich bekanntlich dort einstellt, wo die Begriffe fehlen. Es handelt sich aber hier gerade um die Begriffslehre, zu der die Sprache nur das Verhältnis eines Mittels (und zwar oft eines unzulänglichen Mittels) zum Zweck hat. Wir haben bereits gesehen, wie durch die physiologische Tatsache der Erinnerung sich solche Erfahrungen in unserem Bewußtsein zusammenfinden, die ähnlich, d. h. teilweise übereinstimmend sind. Diese übereinstimmenden Teile sind nun diejenigen, bezüglich deren wir Voraussagungen machen können, eben weil sie in einem jeden einzelnen Falle übereinstimmend sind, und nur sie bilden daher den Teil unserer Erfahrungen, welcher Folgen und daher Bedeutung hat.

 

4. Konkret und abstrakt.

Solche übereinstimmende oder wiederholbare Anteile ähnlicher Erfahrungen nennen wir, wie erwähnt, Begriffe, Hier muß alsbald wieder auf eine sprachliche Unvollkommenheit hingewiesen werden, die darin besteht, daß wir in einer solchen Gruppe übereinstimmender Erfahrungen sowohl die einzelne Erfahrung oder den Gegenstand eines besonderen Erlebnisses, wie auch die Gesamtheit aller übereinstimmenden Erfahrungen oder die Zusammenfassung der ähnlichen Erlebnisse mit demselben Namen bezeichnen. So heißt uns Pferd einerseits ein ganz bestimmtes Objekt, das etwa in diesem Augenblicke einen Gegenstand unserer Erlebnisse bildet, wie auch die Gesamtheit aller möglichen ähnlichen Objekte, die früher sich innerhalb unserer Erlebnisse befunden haben und künftig darin angetroffen werden. Beide Arten gleichnamiger Bewußtseinsinhalte unterscheidet man wohl auch als konkrete und abstrakte, und ist geneigt, nur den ersten »Wirklichkeit« zuzusprechen, während man die anderen als »bloß gedachte« Wesenheiten auf eine mindere Stufe der Wirklichkeit verweist. Tatsächlich handelt es sich hier nur um den allerdings bedeutungsvollen Unterschied des augenblicklichen Erlebnisses gegenüber der Gesamtheit der entsprechenden Erinnerungen und Erwartungen, also nicht sowohl um Wirklichkeit, als vielmehr um Gegenwärtigkeit. Doch haben unsere Betrachtungen bereits erkennen lassen, daß die Gegenwärtigkeit allein niemals Wissenschaft ergeben kann; hierzu gehört als notwendiger Bestandteil die Erinnerung an frühere ähnliche Erlebnisse. Denn ohne eine solche Erinnerung und den entsprechenden Vergleich ist es uns ganz unmöglich, das Übereinstimmende und daher Voraussagbare zu ermitteln, und wir ständen einem jeden Erlebnisse, das uns trifft, mit der Hilflosigkeit eines neugeborenen Kindes gegenüber. Zuweilen verfügt man beim plötzlichen Erwachen aus tiefem Schlafe im Augenblicke nicht über seinen persönlichen Vorrat an Erinnerungen, indem man sich nicht »besinnen« kann, wo und unter welchen Umständen man sich befindet. Die erschreckende Hilflosigkeit eines solchen Zustandes ist jedem unvergeßlich, der ihn einmal durchgemacht hat.

 

5. Der subjektive Anteil.

Wir werden also auch in den abstrakten Begriffen Wirklichkeiten anzuerkennen haben, insofern sie alle, um uns überhaupt verständlich zu sein, auf irgendwelchen Erlebnissen beruhen müssen. Da die Bildung der Begriffe von Erinnerungen abhängt, und diese je nach der Person, der sie angehören, sich auf sehr verschiedene Teile des gleichen, von verschiedenen Personen erfahrenen Erlebnisses beziehen können, so haftet den Begriffen stets ein von der Person abhängiges oder subjektives Element an. Dieses besteht aber nicht in der Zufügung von neuen, im Erlebnis nicht vorhandenen Anteilen seitens der Person, sondern umgekehrt in der verschiedenartigen Auswahl aus dem Vorhandenen. Wenn jede Person alle Teile des Erlebnisses in sich aufnähme, so würden die persönlichen oder subjektiven Verschiedenheiten verschwinden. Und da die wissenschaftliche Erfahrung dahin gerichtet ist, die Aufnahme der Erlebnisse so vollständig wie möglich zu gestalten, so findet eine immer weitergehende Annäherung an dies Ideal statt, indem man in der Wissenschaft die subjektive Mangelhaftigkeit des einzelnen Erinnerns durch Zusammenstellung möglichst vieler und verschiedenartiger Erinnerungen auszugleichen und somit die subjektiven Lücken der Erfahrung möglichst auszuschalten und unschädlich zu machen sucht.

 

6. Erfahrungsbegriffe.

Die Wirklichkeit kommt zunächst und unbedingt solchen Begriffen zu, die auf stets und ausnahmelos erlebten Beziehungen beruhen. Nun können wir aber leicht und mannigfaltig Begriffe aus verschiedenen Erlebnissen willkürlich miteinander vereinigen, da unsere Erinnerung sie uns frei zur Verfügung stellt, und aus einer solchen Vereinigung einen neuen Begriff bilden. Hierbei ist es natürlich nicht notwendig, daß die von uns willkürlich ausgeführte Vereinigung auch in der Erfahrung, d.h. in unseren früheren Erlebnissen sich vorfindet. Vielmehr werden wir umgekehrt erwarten dürfen, daß es sehr viel mehr solcher willkürlicher, in der Erfahrung sich nicht vorfindender Verbindungen geben wird, als Verbindungen, die wir später durch die Erfahrung »bestätigt« finden. Erstere sind zwecklos, weil sie unwirklich sind, letztere dagegen von größter Bedeutung, denn auf ihnen beruht der eigentliche Zweck des Wissens, die Voraussagung. Die ersteren sind es, die die »Wirklichkeit« der Begriffe selbst in Verruf gebracht haben, während die letzteren zeigen, daß die Bildung und gegenseitige Beeinflussung der Begriffe tatsächlich den ganzen Inhalt aller Wissenschaft ausmacht. Es ist also von größter Bedeutung, beide Arten von Begriffsverbindungen zu unterscheiden, und die Lehre von dieser Unterscheidung bildet den eigentlichen Inhalt jener allgemeinsten Wissenschaft, die wir als Logik oder besser Begriffslehre gekennzeichnet haben.

 

7. Einfache und mannigfache Begriffe.

Die Bildung der Begriffe beruht, wie wir gesehen haben, auf der Auslese der übereinstimmenden Bestandteile verschiedener aber ähnlicher Erlebnisse unter Fortlassung der verschiedenartigen. Das Ergebnis dieses Verfahrens kann sehr verschieden ausfallen, je nach der Zahl und der Verschiedenheit der miteinander in Beziehung gesetzten Erlebnisse. Vergleicht man beispielsweise nur wenige und dazu untereinander sehr ähnliche Erlebnisse, so werden die entstehenden Begriffe sehr viel übereinstimmende Anteile erhalten; sie werden aber gleichzeitig die Eigenschaft haben, daß sie sich auf andere Erlebnisse nicht anwenden lassen, denen einige der übereinstimmenden Anteile jenes engeren Kreises fehlen. So paßt beispielsweise der Begriff, den sich ein zeitlebens an die Scholle gefesselter Landmann von der menschlichen Arbeit macht, nicht auf die Arbeit des Großstädters. Ein Begriff wird eine um so größere Anzahl von Einzelfällen umfassen können, je weniger verschiedene Anteile er enthält, und in regelmäßiger Verfolgung dieses Gedankens wird man zum Schlusse kommen, daß solche Begriffe, welche einfach sind und überhaupt keine verschiedenartigen Anteile enthalten, die weiteste Anwendung finden müssen oder die allgemeinsten sind.

Man nennt dies Fortlassen der nicht übereinstimmenden Anteile aus den begriffsbildenden Erlebnissen Abstraktion. Offenbar muß die Abstraktion um so weiter gehen, je zahlreicher und verschiedenartiger die Erlebnisse sind, aus denen die Begriffe abstrahiert werden, und die einfachsten Begriffe sind die abstraktesten.

Bei der Rückschau über den eben zurückgelegten Weg kann man die weniger abstrakten Begriffe auch als die zusammengesetzteren den einfacheren gegenüber betrachten. Nur muß man sich vor dem sprachlich nahegelegten Irrtum hüten, als seien jene weniger einfachen Begriffe wirklich aus den einfacheren zusammengesetzt worden. Der Entstehung nach waren sie früher vorhanden, indem die Erfahrung ja die Gesamtheit aller Anteile, der beibehaltenen wie der fortgelassenen, enthält. Nur durch eine spätere, willkürliche geistige Operation kann man die Zusammensetzung oder Synthese des mannigfaltigeren Begriffes bewirken, nachdem man vorher seine Zerlegung oder Analyse, nämlich die Aufdeckung der vorhandenen einfacheren Begriffe, ausgeführt hat.

Diese Verhältnisse haben eine auffallende Ähnlichkeit mit der aus der Chemie bekannten Beziehung zwischen den Stoffen, den Elementen und den Verbindungen. Aus dem Chaos aller erfahrungsmäßigen Gegenstände (in der Chemie beschränkt man sich absichtlich auf die wägbaren Körper) sondert man zunächst die reinen Stoffe aus: ein Vorgang, welcher der Bildung der Begriffe entspricht. Die reinen Stoffe erweisen sich entweder als einfach, oder als zusammengesetzt, derart, daß sich die zusammengesetzten Stoffe in je eine begrenzte Anzahl einfacher überführen lassen. Die letzteren oder Elemente haben diese Eigenschaft der Einfachheit nur bis auf Widerruf, d. h. bis irgendwie nachgewiesen wird, daß auch sie sich in noch einfachere zerlegen lassen. Das gleiche wird man von den einfachen Begriffen sagen: sie haben Anspruch auf diesen Namen nur so lange, bis etwa ihre zusammengesetzte Beschaffenheit zutage tritt.

Bei allen derartigen Ähnlichkeiten muß man sich vor allen Dingen in acht nehmen, daß man die jedesmal vorhandenen Verschiedenheiten neben den Übereinstimmungen nicht vergißt. So soll in der Folge von dem chemischen Bilde kein Gebrauch gemacht werden; es diente vielmehr nur dazu, die ganze Betrachtungsweise dem Anfänger vermittels eines gewohnten Denk- und Anschauungsgebietes schneller vertraut zu machen; im übrigen ist es durchaus sicher, daß neben den angegebenen Ähnlichkeiten auch tiefgreifende Unterschiede bestehen. Auch ist die Vorstellung von den einfachen und zusammengesetzten Begriffen oder »Ideen« bereits von J. Locke ausgearbeitet worden, noch bevor die Chemie zur Klarheit über den gegenwärtigen Begriff des Elements gekommen war.

Allerdings hat seitdem sich das Verhältnis vollständig umgekehrt. Während die Lehre von den chemischen Elementen inzwischen eine sehr weitgehende Entwicklung erfahren hat, so daß nicht nur von allen in die Hand der Chemiker gelangten Stoffen ihre Elemente erforscht, sondern auch sehr viele zusammengesetzte Stoffe umgekehrt aus ihren Elementen zusammengestellt sind, läßt sich in der Begriffslehre eine solche Entwicklung auch nicht annähernd erkennen. Vielmehr ist die ganze Angelegenheit ungefähr auf dem Standpunkte stehengeblieben, auf den sie John Locke in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gebracht hatte. Dies rührt in erster Linie daher, daß nach der Ansicht der einflußreichsten Philosophen die Logik oder Begriffslehre des Aristoteles sowohl absolut richtig, wie erschöpfend vollständig sein sollte, so daß hier den späteren Geschlechtern höchstens eine Änderung in der Darstellungsform übriggeblieben war. Zwar beginnt man in neuerer Zeit den schweren Irrtum einzusehen, der hierin liegt, und man begreift, daß die Logik des Aristoteles nur einen sehr kleinen Teil des ganzen Gebietes umfaßt (den er übrigens in höchst genialer Weise bearbeitet hat). Aber über diese allgemeine Erkenntnis ist man nicht eben weit hinausgekommen, und insbesondere eine auch nur vorläufige Tabelle der elementaren Begriffe ist seit Locke nicht wieder aufgestellt und durchgeführt worden.

So werden wir auch die nachstehenden Untersuchungen derart ausführen müssen, daß wir von den Elementen oder einfacheren Bestandteilen eines mannigfaltigen Begriffes nur in solchem Sinne sprechen werden, daß diese Begriffselemente sich nur dem letzteren gegenüber als einfachere kennzeichnen, nicht aber in solchem Sinne, daß bereits die einfachsten oder wahrhaft elementaren Begriffe herausgearbeitet worden seien. Letztere zu finden muß späteren Forschungen überlassen werden, wobei zu erwarten sein wird, daß in Zeiten großen geistigen Fortschrittes sich die Auflösung einiger bislang als einfach angesehener elementaren Begriffe in noch einfachere vollziehen wird.

Mannigfache Begriffe können zunächst aus der Erfahrung gebildet werden, indem man innerhalb eines Erfahrungsbegriffes verschiedene begriffliche Bestandteile antrifft, die sich zwar durch ein Abstraktionsverfahren voneinander sondern lassen, bei den fraglichen Erfahrungen aber stets zusammen angetroffen werden. Beispielsweise ist der Begriff des Pferdes aus einer sehr oft ähnlich wiederholten Erfahrung entstanden. Er enthält bei der Analyse eine Unzahl anderer Begriffe, wie Vierbeinigkeit, Wirbeltier, Warmblüter, Behaarung usw. Pferd ist also offenbar ein mannigfacher Erfahrungsbegriff.

Andererseits können wir eine beliebige Anzahl einfacher Begriffe verbinden, auch wenn wir sie in der Erfahrung nicht zusammen angetroffen haben, denn tatsächlich besteht kein Hindernis, alle Begriffe, die uns das Gedächtnis liefert, in beliebiger Zusammenstellung miteinander zu vereinigen. So erhalten wir mannigfache Willkürbegriffe.

Die Aufgabe der Wissenschaft läßt sich nun noch schärfer als bisher dahin kennzeichnen, daß sie die Aufstellung von Willkürbegriffen gestattet, welche unter vorgesehenen Umständen in Erfahrungsbegriffe übergehen. Es ist dies ein anderer Ausdruck für das Voraussagen, das wir als Kennzeichen der Wissenschaft erkannt haben, und geht tiefer als jene Angabe, weil hier die Mittel für einen solchen Erfolg angegeben werden.

 

8. Der Schluß.

Zunächst betrachten wir die wissenschaftliche Bedeutung der mannigfachen Erfahrungsbegriffe. Sie liegt darin, daß sie uns an das Beieinanderbestehen der entsprechenden Begriffselemente gewöhnt. Treten uns nun in einer neuen Erfahrung einige dieser Elemente gemeinsam entgegen, so entsteht in uns alsbald die Vermutung, daß auch die anderen, noch nicht konstatierten Elemente sich in dem gleichen Erlebnis werden antreffen lassen. Eine solche Vermutung nennen wir einen Schluß. Ein Schluß geht stets über die vorhandene Erfahrung hinaus, indem er ein zu erwartendes Erlebnis voraussagt. Daher ist die Form des Schlusses die allgemeine Form der wissenschaftlichen Aussage.

Zu einem Schlusse gehören mindestens zwei Begriffe, nämlich der, den man erlebt, und der, den man auf Grund dieses Erlebnisses erwartet. Jeder mannigfache Erfahrungsbegriff ermöglicht einen solchen Schluß, nachdem er in einfachere Begriffe zerlegt worden ist, und zwar ist der einfachste Fall natürlich der, daß nur zwei solche Anteile vorhanden sind oder betrachtet werden.

Wieweit ein solcher Schluß zutrifft, d. h. wieweit das Erlebnis den vorausgesehenen Begriff bringt, hängt offenbar von einer ganz bestimmten Hauptfrage ab. Ist nämlich die Verbindung beider Teilbegriffe erfahrungsgemäß ausschließlich, so daß niemals das Vorkommen des einen Teilbegriffes ohne den anderen erlebt worden ist, so besteht die größte Wahrscheinlichkeit dafür, daß auch das bevorstehende Erlebnis von gleicher Beschaffenheit sein und der Schluß sich als zutreffend oder richtig erweisen wird. Allerdings gibt es kein Mittel, sich dessen zu vergewissern, ob die bisher erfahrene Ausschließlichkeit des Zusammenvorkommens beider Begriffe auch in alle Zukunft fortbestehen wird. Denn unser einziges Mittel, in die Zukunft zu dringen, besteht ja nur in der Anwendung jenes Schlusses aus bisherigen Erfahrungen auf künftige, und kann daher in keiner Weise eine absolute Geltung beanspruchen. Wohl aber bestehen verschiedene Grade der Sicherheit oder vielmehr Wahrscheinlichkeit, die einem solchen Schlusse anhaftet. Handelt es sich um Erlebnisse, die nur selten vorkommen, so liegt die Möglichkeit nahe, daß wir bisher nur gewisse Verbindungen einfacher Begriffe erlebt haben, während andere zwar vorkommen, aber noch nicht in den beschränkten Kreis unserer Erfahrung eingetreten sind. Dann wird ein Schluß der beschriebenen Art zwar richtig sein können, er kann aber auch ebensogut falsch sein. Handelt es sich aber umgekehrt um Erlebnisse, die wir äußerst häufig und unter den verschiedenartigsten Lebensumständen haben, und finden wir stets die gleiche und ausschließliche Verbindung, so besteht auch eine sehr große Wahrscheinlichkeit, daß wir bei künftigen Erfahrungen die Verbindung wiederfinden werden, und die Wahrscheinlichkeit des Schlusses nähert sich der Sicherheit. Allerdings können wir nie die Möglichkeit ganz ausschließen, daß neue, bisher noch nicht erlebte Verhältnisse eintreten können, durch welche der Schluß, der bisher immer richtig war, nun falsch wird, sei es, daß nur in einzelnen Fällen, sei es, daß in allen die bisherige Erwartung sich als unzutreffend erweist.

Hieraus geht hervor, daß unsere Schlüsse im allgemeinen eine um so größere Wahrscheinlichkeit haben werden, je allgemeiner und häufiger die entsprechenden Erfahrungen stattgefunden haben und stattfinden. Solche Begriffe, die sich übereinstimmend in vielen und sonst verschiedenartigen Erfahrungen vorfinden, nennt man ihrerseits allgemeine Begriffe, und daher werden wir um so mehr Wahrscheinlichkeit in den Schlüssen der beschriebenen Art antreffen, je allgemeiner die Begriffe sind, auf welche sie sich beziehen. Dies geht so weit, daß wir das Gefühl haben, gewisse, sehr allgemeine Schlüsse müßten immer und ganz ohne Ausnahme zutreffen, indem ihr Nichtzutreffen »undenkbar« sei. Eine solche Behauptung ist indessen immer nur eine versteckte Berufung auf die Erfahrung. Denn durch die Fragestellung selbst, ob der Schluß auch falsch sein könne, hat man die Denkbarkeit des Gegenteils der bisherigen Erfahrung nachgewiesen, und die behauptete »Undenkbarkeit« besteht nur darin, daß sich ein solches Erlebnis nicht erinnerungsmäßig im Geiste hervorrufen läßt, eben weil gemäß der Voraussetzung solche Erinnerungen nicht vorhanden sind, indem derartige Erlebnisse gefehlt haben. Da aber andererseits kein Hindernis besteht, beliebige Begriffe miteinander verbunden zu denken, so macht es, wie jedem bekannt, nicht die mindeste Schwierigkeit, sich jeden beliebigen »Unsinn« zu denken. Nur sich vorstellen, d. h. aus der Erinnerung hervorrufen kann man solche Verbindungen nicht.

Der wissenschaftliche Schluß nimmt somit zunächst die Gestalt an: wenn A ist, so ist auch B. Hier stehen A und B für die beiden einfachen Begriffe, welche erfahrungsmäßig gemeinsam in dem mannigfaltigeren Begriffe C vorkommen. Das Wort »ist« bedeutet hierbei irgendeine, den Begriffen gemäße erfahrungsmäßige Wirklichkeit, Man kann den Schluß daher auch etwas umständlicher, aber genauer in der Gestalt aussprechen: wenn A erlebt wird, so wird auch das Erleben von B erwartet. Die Hervorrufung und somit Begründung dieser Erwartung liegt in der Erinnerung an das Zusammenvorkommen beider Dinge in früheren Erlebnissen, und die Wahrscheinlichkeit hängt in der beschriebenen Weise von der Anzahl der zutreffenden Fälle ab. Hierbei ist zu bemerken, daß selbst einzelne Fälle, in denen die Erwartung getäuscht worden ist, uns meist nicht veranlassen, den Schluß für allgemein unrichtig zu halten, d. h. auf die Erwartung von B aus A zu verzichten. Denn wir wissen, daß unsere Erfahrung stets unvollkommen ist, daß wir unter Umständen Vorhandenes nicht bemerken und daß es somit an subjektiven Verhältnissen liegen kann, wenn wir eine sonst zutreffende Beziehung einmal nicht zutreffend finden. Nur werden mir, falls derartige Enttäuschungen sich wiederholen, nach anderweiten Zusammenhängen zwischen diesen und anderen Erfahrungselementen suchen, damit wir späterhin auch solche Fälle voraussehen und in die Erwartung einschließen können.

 

9. Die Naturgesetze.

Die eben beschriebenen Verhältnisse haben sehr häufig ihren Ausdruck in der Lehre von den Naturgesetzen gefunden, indem man sich ebenso wie bei den von Menschen erlassenen sozialen oder politischen Gesetzen einen Gesetzgeber dachte, der aus irgendwelchen Gründen, vielleicht aus Willkür, angeordnet hat, daß die Dinge sich so und nicht anders verhalten sollen. Die geistige Entstehungsgeschichte der Naturgesetze läßt indessen erkennen, daß es sich hierbei um einen ganz anderen Vorgang handelt. Die Naturgesetze befehlen ja nicht, was geschehen soll, sondern sie berichten, was geschehen ist und zu geschehen pflegt. Ihre Kenntnis gestattet daher, wie immer wieder betont wurde, die Zukunft in bestimmtem Grade vorauszusehen, und auch einigermaßen zu bestimmen. Letzteres geschieht, wenn man solche Verhältnisse herstellt, unter denen die erwünschten Folgen eintreten. Ist es nicht möglich, dies zu tun, sei es aus Unkenntnis, sei es wegen Unzugänglichkeit der maßgebenden Verhältnisse, so besteht auch keine Aussicht auf wunschgemäße Gestaltung der Zukunft. Je weiter die Kenntnis der Naturgesetze, d. h. des tatsächlichen Verhaltens der Dinge, vorgeschritten ist, um so eher und mannigfaltiger werden die Möglichkeiten der wunschgemäßen Gestaltung auftreten, und in solcher Weise kann die Wissenschaft aufgefaßt werden als die Lehre, wie man glücklich wird. Denn glücklich ist der, dessen Wünsche in Erfüllung gehen.

Die Naturgesetze stellen sich in dieser Auffassung als die Angaben darüber dar, welche einfacheren Begriffe man in mannigfachen Begriffen antrifft. Der mannigfache Begriff Wasser enthält die einfacheren der Flüssigkeit, einer bestimmten Dichte, der Durchsichtigkeit, der Farblosigkeit Genauer einer sehr blassen blauen Farbe. und noch viele andere, und die Sätze: Wasser ist flüssig, Wasser hat die Dichte Eins, Wasser ist durchsichtig, Wasser ist farblos, bzw. blaßblau usw., sind ebenso viele Naturgesetze.

Welche Voraussagungen gestatten denn nun diese Naturgesetze? Sie gestatten die Aussage, daß, wenn wir einen gegebenen Körper vermöge der eben angegebenen Beziehungen als Wasser erkannt haben, wir alsbald berechtigt sind, alle anderen Beziehungen, welche vom Wasser bekannt sind, bei demselben Körper zu erwarten. Und bisher hat die Erfahrung solche Erwartungen stets bestätigt.

Weiterhin dürfen wir erwarten, daß, wenn wir eine bisher noch nicht bekannt gewesene Beziehung an einer bestimmten Probe Wasser entdecken, die wir eben unter Händen haben, wir diese Beziehung auch an allen anderen Proben Wasser wiederfinden werden, auch wenn wir sie nicht auf das Vorhandensein derselben geprüft haben. Man erkennt alsbald, welch eine ungeheure Erleichterung der Fortschritt der Wissenschaft hierdurch erfährt. Denn es ist nur nötig, in irgendeinem, dem Forscher zugänglichen Falle die neue Beziehung festzustellen, um alsbald für alle anderen Falle die gleiche Beziehung aussagen zu können, ohne daß man diese einer neuen Feststellung zu unterwerfen braucht. In der Tat ist dies die allgemeine Arbeitsweise der Wissenschaft, und daher ist es möglich, daß diese durch die Bemühungen der verschiedensten Forscher, die voneinander unabhängig arbeiten und oft voneinander gar nichts wissen, einen regelmäßigen und allgemein gültigen Fortschritt nimmt.

Natürlich darf hierbei nicht vergessen werden, daß derartige Schlüsse immer nach dem Schema gezogen werden: bisher haben sich die Dinge so verhalten, darum erwarten wir, daß sie sich auch künftig so verhalten werden. Es besteht also in jedem derartigen Falle die Möglichkeit eines Irrtums. Bisher aber ist es, wenn einmal eine solche Erwartung nicht eingetroffen ist, fast immer möglich gewesen, eine »Erklärung« für den Irrtum zu finden. Diese bestand entweder darin, daß die Einbeziehung des vorliegenden Sonderfalles in den allgemeinen Begriff sich späterhin als unzulässig erwies, da auch von den anderen Kennzeichen desselben mehrere nicht vorhanden waren, oder sie bestand darin, daß die angenommene Kennzeichnung des Begriffes einer Verbesserung (Einschränkung oder Ausdehnung) bedurften. Es war mit anderen Worten die Anpassung zwischen Begriff und Erfahrung an der einen oder anderen Seite unzulänglich gewesen, und es hat sich dann meist früher oder später ermöglichen lassen, eine bessere Anpassung zu erzielen.

Dieses allgemeine Verhalten ist denn vielfach wieder so aufgefaßt worden, als müßte zuletzt immer und ohne Ausnahme eine solche Anpassung durchführbar sein, als müßte mit anderen Worten ein jeder Teil der Erfahrung endlich restlos als naturgesetzlich bedingt nachweisbar sein. Offenbar geht eine solche Behauptung weit über das hinaus, was man beweisen kann. Und selbst der gewohnte Schluß: weil es bisher sich so herausgestellt hatte, wird es künftig ebenso sein, findet hier keine unbedingte Anwendung. Denn der Anteil unserer Erlebnisse, den wir naturgesetzlich fassen können, ist verschwindend klein gegenüber dem, wo unsere Wissenschaft noch gänzlich versagt. Ich erinnere nur an die Unsicherheit, die noch heute bezüglich der Vorausbestimmung des Wetters auch nur über einen Tag besteht. Beachtet man dazu, daß naturgemäß bisher nur die leichtesten Probleme gelöst worden sind, weil eben diese unseren Hilfsmitteln am zugänglichsten waren, so erkennt man, daß die Erfahrung keine breite Unterlage für jenen Schluß liefert. Wir dürfen also nicht sagen: weil wir bisher alle Erfahrungen naturgesetzlich haben erklären können, wird es auch künftig so sein, denn wir haben bei weitem nicht alle Erfahrungen erklären können, sondern wir haben nur einen sehr kleinen Teil überhaupt zu erforschen begonnen. Und ebensowenig dürfen wir sagen, daß wir alle die Probleme unserer Erfahrung, die wir einer wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen haben, auch erklärt hätten, denn hiervon sind wir weit entfernt, und eine jede Wissenschaft, auch die Mathematik, wimmelt von ungelösten Problemen. So müssen wir uns bei dem gegenwärtigen Stande menschlichen Wissens und Könnens bescheiden, und dürfen höchstens die durch die bisherigen Erfahrungen begründete Hoffnung aussprechen, daß wir mehr und mehr von der unabsehbaren Zahl der Probleme unserer Erfahrung werden lösen können, ohne uns über die Vollständigkeit dieser Arbeit irgendwelchen Einbildungen hinzugeben.

 

10. Das Kausalgesetz.

Der eben beschriebene geistige Vorgang hat wegen seiner Häufigkeit und Wichtigkeit eine vielfältige Untersuchung erfahren, und man hat jene allgemeinste Form des wissenschaftlichen Schlusses (die wir übrigens im gewöhnlichen Leben noch sehr viel häufiger anwenden, als er in der Wissenschaft angewendet wird) unter dem Namen des Kausalgesetzes zu einem vor aller Erfahrung vorhandenen und die Erfahrung erst ermöglichenden Prinzip erhoben. Hieran ist so viel richtig, daß durch die besondere physiologische Organisation des Menschen die Erinnerung im allgemeinsten Sinne, d. h. der leichtere Vollzug solcher Vorgänge, welche bereits mehrfach im Organismus stattgefunden haben, gegenüber ganz neuartigen Vorgängen, die Bildung der Begriffe (als der sich wiederholenden Anteile in der stets wechselnden Mannigfaltigkeit der Erfahrung), besonders angeregt und erleichtert wird. Hierdurch gelangen die sich wiederholenden Anteile der Erlebnisse besonders in den Vordergrund, und wegen ihrer überragenden praktischen Bedeutung für die Sicherung der Lebenshaltung kann man im Sinne der Entwicklungs- und Anpassungslehre wohl sagen, daß die ganze Beschaffenheit und Lebensweise der Organismen, vorab des menschlichen, ja vielleicht das Leben selbst, mit jener Voraussicht und daher auch mit dem Kausalgesetz unlösbar verknüpft ist. Will man ein solches Verhältnis »a priori« nennen, so steht dem natürlich nichts im Wege. Für den einzelnen Menschen ist es zweifellos vor seiner Erfahrung vorhanden, indem die ganze Organisation, die er von seinen Eltern mitbringt, bereits unter solchem Einflusse gebildet worden ist. Daß es aber Gebilde oder Wesen geben kann, welche ohne eine derartige Eigenschaft bestehen können, zeigt uns das ganze Reich des Unorganischen, in welchem, soweit unsere Kenntnis reicht, weder Erinnerung noch Voraussicht, sondern nur unmittelbar passive Teilnahme an den Vorgängen der Umwelt sich nachweisen läßt. Man darf hiergegen nicht etwa einwenden, daß doch bekanntlich auch die unorganische Natur dem Kausalgesetze unterworfen sei. Die kausale Betrachtung der unorganischen Erscheinungen ist eine ausgeprägt menschliche, und nichts berechtigt uns zu behaupten, daß nicht die gleichen Erscheinungen einer ganz anderen Betrachtungsweise untergeordnet werden können.

Ferner hat man den Umstand, daß die kausale Beziehung durch die besondere Art hervorgerufen wird, in welcher wir auf unsere Erlebnisse reagieren, zuweilen so ausgedrückt, daß das Verhältnis von Ursache und Wirkung in der Natur überhaupt nicht vorhanden sei, sondern erst durch den Menschen hineingebracht würde. Hieran ist so viel wahr, daß ein ganz anders organisiertes Wesen vermutlich seine Erlebnisse nach ganz anderen gegenseitigen Beziehungen würde ordnen können oder müssen; da wir aber von solchen Wesen keine Erfahrung haben, so haben wir auch keine Möglichkeit, uns von ihrem Verhalten eine zutreffende Anschauung zu bilden. Andererseits müssen wir anerkennen, daß auch eine Art der Erfahrung oder eine Welt wenigstens formal denkbar ist, in welcher es überhaupt keine Erlebnisse mit übereinstimmenden Anteilen gibt, und in welcher daher eine Voraussage nicht möglich ist. Eine solche Welt würde auch bei einem mit Erinnerung begabten Wesen keine naturgesetzliche Auffassung und Zusammenfassung der verschiedenen Erlebnisse entstehen lassen. Somit müssen wir anerkennen, daß neben dem subjektiven oder von unserer körperlich-geistigen Beschaffenheit abhängigen Faktor bei der Gestaltung unserer Kenntnis von der Welt auch deren von uns unabhängige oder objektive Beschaffenheit entscheidend in Frage kommt, und daß insofern die Naturgesetze auch objektive Anteile enthalten. Will man sich die Verhältnisse an einem Bilde veranschaulichen, so vergleiche man die Welt mit einem Haufen Kies und den Menschen mit einem Paar Sieben von etwas verschiedener Maschenweite. Indem der Kies dieses Doppelsieb passiert, sammeln sich zwischen dem weiteren und dem engeren Siebe Kieskörner von merklich gleicher Größe an, indem die größeren durch das erste Sieb ausgeschlossen, die kleineren aber vom zweiten Sieb durchgelassen wurden. Man würde einen Irrtum begehen, wenn man behaupten wollte, daß der ganze Kies aus solchen Körnern gleicher Größe bestände; aber es würde ebenso falsch sein, zu behaupten, daß die Siebe die Körner erst gleich gemacht hätten.

 

11. Die Reinigung des Kausalverhältnisses.

Wenn wir erfahrungsmäßig einen Satz des Inhaltes gefunden haben: wenn A ist, so ist auch B, so bestehen die beiden Begriffe A und B im allgemeinen aus mehreren Elementen, die wir mit a, a', a'', a''' usw. und b, b', b'', b''' usw. bezeichnen wollen. Nun entsteht die Frage, ob alle diese Elemente für die fragliche Beziehung wesentlich sind oder nicht. Es ist nämlich ganz wohl möglich, ja selbst sehr wahrscheinlich, daß man zunächst nur einen Sonderfall des vorhandenen Verhältnisses gefunden hat, d.h. daß der Begriff A, der sich als verbunden mit dem Begriff B erwiesen hat, noch Bestimmungsstücke enthält, die für das Erscheinen von B gar nicht erforderlich sind.

Der allgemeine Weg, sich hiervon zu überzeugen, ist, daß man die Bestandteile des Begriffes A, also a, a', a'' usw. einzeln fortläßt, und dann zusieht, ob B noch erscheint oder nicht. Dies Fortlassen ist nicht immer leicht auszuführen; je nachdem es sich um die Beobachtung von Dingen handelt, an denen man von sich aus nichts ändern kann (wie z.B. die astronomischen Erscheinungen) oder um den Versuch an solchen, die man beeinflussen kann, hat man derartige Untersuchungen mehr oder weniger in seiner Gewalt. Man findet dann im allgemeinen den einen oder anderen Faktor, den man fortlassen kann, ohne daß B verschwindet, und hat dann so zu verfahren, daß man aus den als notwendig erkannten Faktoren einen entsprechenden neuen Begriff A' bildet, (der allgemeiner sein wird, als der frühere A) und den fraglichen Satz in der verbesserten Form ausspricht: wenn A' ist, so ist auch B.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem anderen Gliede dieses Verhältnisses. Es zeigt sich häufig, daß, wenn a, bzw. a'', a''' da ist, einigermaßen verschiedene Dinge erscheinen, die nicht unter den anfangs aufgestellten Begriff B passen. Dann hat man wiederum die Erfahrungen möglichst zu vermannigfaltigen, um festzustellen, welche Elemente dem jedesmaligen B angehören, und aus diesen stets vorhandenen Elementen den entsprechenden Begriff B' zu bilden. Der verbesserte Satz lautet dann: wenn A' ist, so ist auch B'.

Diesen ganzen Vorgang kann man die Reinigung des Kausalverhältnisses nennen. Die Bezeichnung drückt die allgemeine Tatsache aus, daß bei der ersten Aufstellung eines derartigen regelmäßigen Zusammenhanges sehr selten alsbald die angemessenen Begriffe miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dies rührt daher, daß man sich zunächst vorhandener Begriffe bedient, die für einen ganz anderen Zweck gebildet worden waren; es muß daher als ein besonderer Glücksfall angesehen werden, wenn sich diese alten Begriffe alsbald für den neuen Zweck als geeignet erweisen sollten. Ferner aber pflegen auch die vorhandenen Begriffe durch ihre Namen, deren man sich ja zum Ausdruck der neuen Beziehung bedienen muß, so wenig bestimmt gekennzeichnet zu sein, daß es auch deshalb notwendig wird, erfahrungsmäßig festzustellen, in welcher Weise der Begriff bestimmt festzulegen ist.

Die verschiedenen Wissenschaften sind unaufhörlich mit dieser Arbeit der gegenseitigen Anpassung der Begriffe, die in ein Kausalverhältnis eintreten, beschäftigt. Als Beispiel diene der »selbstverständliche« Satz, den man einem unvorsichtigen Kinde zuruft, das den Finger in die Kerzenflamme steckt: Feuer brennt! Man entdeckt, daß es selbstleuchtende Dinge (phosphoreszierende) gibt, welche keine Temperaturerhöhung und daher keine Schmerzempfindung bewirken. Man entdeckt, daß es Verbrennungsvorgänge giebt, die kein Licht entwickeln, aber doch Wärme genug, daß man sich die Finger verbrennen kann. Und schließlich kommt die wissenschaftliche Untersuchung dieses Satzes zu dem allgemeinen Ausdruck, daß chemische Vorgänge im allgemeinen von Wärmeentwicklungen begleitet sind, daß aber auch umgekehrt dabei Wärme aufgenommen werden kann. So entfaltet sich jener Kindersatz zu der ausgedehnten Wissenschaft der Thermochemie, wenn er dem fortgesetzten Reinigungsprozeß des Kausalverhältnisses unterzogen wird, der die allgemeine Aufgabe der Wissenschaft ist.

Ergänzend ist hierzu noch zu bemerken, daß bei diesem Anpassungsverfahren der Begriffe auch zuweilen der umgekehrte Weg gegangen werden muß. Dies wird nötig, wenn in einer vorläufig ausgesprochenen Beziehung Ausnahmen beobachtet werden, wenn also der Satz: wenn A da ist, so ist auch B da, zwar vielfach zutrifft, zuweilen aber versagt. Dies ist ein Anzeichen dafür, daß in dem Begriff A noch ein Bestandteil fehlt, der in den zutreffenden Fällen außerdem vorhanden ist, in den negativen Fällen aber fehlt, und dessen Fehlen deshalb nicht bemerkt wird, weil er in A nicht enthalten ist. Dann ist es notwendig, diesen Bestandteil aufzusuchen, und nachdem er gefunden ist, ihn in den Begriff A aufzunehmen, der dadurch in den neuen Begriff A' übergeht.

Dieser Fall ist dem vorigen entgegengesetzt, denn hier erweist sich der angemessenere Begriff als weniger allgemein, als es der vorläufig angenommene war, während im ersten Falle der verbesserte Begriff allgemeiner war. Daraus bilden wir die Regel: Ausnahmen aus der vorläufigen Regel erfordern eine Einschränkung, Freiheiten dagegen eine Erweiterung des angenommenen Begriffes.

 

12. Induktion.

Die vorher erörterte Schlußform in der Gestalt: weil es bisher so gewesen war, erwarte ich, daß es auch künftig so sein wird, ist diejenige Form, durch welche eine jede Wissenschaft entstanden ist und ihren wirklichen Inhalt, d. h. ihren Wert für die Beurteilung der Zukunft gewonnen hat. Man nennt sie den Schluß durch Induktion, und nennt die Wissenschaften, in denen er vorwiegend angewendet wird, die induktiven Wissenschaften. Die gleichen Wissenschaften werden auch erfahrungsmäßige oder empirische Wissenschaften genannt. Es liegt dieser Namengebung die Vorstellung zugrunde, als gäbe es noch andere Wissenschaften, die deduktiven oder rationalen, in welchen ein umgekehrtes Schlußverfahren angewendet werde, wobei aus allgemein und von vornherein gültigen Sätzen nach einem absolut sicheren Schlußverfahren ebenso absolut gültige Folgerungen gezogen würden. Gegenwärtig bricht sich indessen die Erkenntnis Bahn, daß die deduktiven Wissenschaften eine nach der anderen solche Ansprüche aufgeben müssen und teilweise auch schon aufgegeben haben. Teils deshalb, weil sie sich bei genauerem Zusehen gleichfalls als induktive Wissenschaften erweisen, teils deshalb, weil sie den Anspruch auf die Rolle und Stellung einer Wissenschaft überhaupt einbüßen. Das letztere gilt insbesondere von solchen Kenntnisgebieten, die nicht für die Vorausbestimmung der Zukunft verwertet wurden oder verwertet werden können.

Kehren wir zum Induktionsverfahren zurück, so ist zu bemerken, daß Aristoteles, der es zum ersten Male beschrieb, zwei Arten der Induktion aufstellte, die vollständige und die unvollständige. Die erste hat die Form: da alle Dinge einer gewissen Art sich so verhalten, so verhält sich ein jedes einzelne Ding so, während die unvollständige Induktion nur sagt: da viele Dinge einer gewissen Art sich so verhalten, so verhalten sich vermutlich alle Dinge dieser Art so. Man erkennt alsbald, daß beide Arten des Schlusses ganz wesentlich verschieden sind. Der erste beansprucht ein absolut sicheres Ergebnis zu liefern. Er beruht aber auf der Voraussetzung, daß man alle Dinge der fraglichen Art kennt und auf ihr Verhalten geprüft hat. Diese Voraussetzung ist allgemein unerfüllbar, da man niemals nachweisen kann, daß nicht noch weitere Dinge der Art außer den bekannt gewordenen und geprüften vorhanden sind. Ferner ist der Schluß überflüssig, denn er wiederholt nur eine Kenntnis, die man bereits unmittelbar erhalten hatte, da man ja bereits alle Dinge jener Art geprüft hat, also auch das besondere, auf welches sich die Aussage bezieht.

Umgekehrt sagt die unvollständige Induktion etwas aus, was noch nicht geprüft ist, und bedingt dadurch eine, zuweilen äußerst wichtige, Erweiterung unserer Kenntnis. Zwar muß sie dabei den Anspruch auf unbedingte oder absolute Geltung aufgeben, gewinnt aber dafür den unersetzlichen Vorzug praktischer Ausführbarkeit. Ja, gemäß der erfahrungsmäßig berechtigten wissenschaftlichen Praxis, die S. 38 geschildert worden ist, nimmt die Form des wissenschaftlichen Induktionsschlusses die Gestalt an: weil es einmal so gefunden worden ist, wird es immer so sein. Hieraus erhellt gleichzeitig die Bedeutung dieses Verfahrens für die Vermehrung der Wissenschaft, die ohne diesen Satz ein unvergleichlich viel langsameres Zeitmaß haben müßte.

 

13. Deduktion.

Neben dem induktiven Verfahren besitzt man (S. 47) in der Wissenschaft noch ein anderes, welches im gewissen Sinne die Umkehrung des ersteren sein, und zudem absolut richtige Ergebnisse liefern soll. Man nennt es das deduktive Verfahren, und es wird als das Verfahren beschrieben, welches von allgemein gültigen Voraussetzungen mittels allgemein gültiger Schlußmethoden zu allgemein gültigen Ergebnissen führt.

Tatsächlich gibt es keine Wissenschaft, die in solcher Weise arbeitet oder arbeiten könnte. Zunächst fragt man sich vergebens, wie man zu solchen allgemein oder absolut gültigen Voraussetzungen kommen soll, da doch alles Wissen empirischen Ursprunges und daher mit der Möglichkeit des Irrtums als einem unverwischlichen Ursprungszeugnis ausgestattet ist. Ferner läßt sich nicht einsehen, wie aus vorhandenen Sätzen Schlüsse gezogen werden können, deren Inhalt über den jener Sätze (und der außerdem verwendeten Denkmittel) hinausgehen. Drittens ist die absolute Richtigkeit solcher Ergebnisse bereits dadurch zweifelhaft, daß Irrtümer oder Mißgriffe des Verfahrens selbst beim Vorhandensein absolut richtiger Voraussetzungen und Methoden nicht ausgeschlossen werden können. Praktisch hat sich denn auch ergeben, daß in den sogenannten deduktiven Wissenschaften Zweifel und Widersprüche verschiedener Forscher über die gleiche Frage keineswegs selten sind; es sei nur beispielsweise an die durch Jahrhunderte geführte und auch heute noch nicht beendete Erörterung über den Euklidischen Parallelensatz in der Geometrie erinnert.

Fragen wir uns, ob es im Sinne der oben durchgeführten Betrachtungen über die Bildung wissenschaftlicher Sätze überhaupt etwas, wie die Deduktion gibt, so können wir allerdings ein Verfahren finden, welches eine gewisse Ähnlichkeit mit jenem unmöglichen Verfahren hat und welches tatsächlich in der Wissenschaft häufig und mit großem Nutzen angewendet wird. Es besteht darin, daß allgemeine Sätze, die durch die gewöhnliche unvollständige Induktion gewonnen worden sind, auf besondere Fälle angewendet werden, die bei ihrer Aufstellung nicht in Betracht gezogen waren, und deren Zugehörigkeit unter den allgemeinen Begriff nicht unmittelbar zutage trat. Durch eine solche Anwendung auf solche nicht vorgesehene Fälle werden dann besondere Naturgesetze erzielt, die gleichfalls nicht vorgesehen waren, die aber entsprechend der Wahrscheinlichkeit jenes Ausgangssatzes und der Richtigkeit der Schlußbildung gleichfalls wahrscheinlich richtig sind. Indessen fühlt der Naturforscher in jedem solchen Falle, eingedenk des Unsicherheitsfaktors, mit dem solche Schlüsse behaftet sind, das Bedürfnis, solche Ergebnisse alsbald an der Erfahrung zu prüfen, und erst, wenn er eine derartige Bestätigung gefunden hat, erachtet er die Deduktion als vollendet.

Die Deduktion besteht daher tatsächlich in der Aufsuchung von Sonderfällen eines durch Induktion gefundenen Satzes und ihrer Bewahrheitung durch die Erfahrung. Hierdurch wächst die Wissenschaft allerdings nicht in der Breite, wohl aber in der Tiefe. Das Bild eines vielfach verbundenen Netz- oder Maschenwerkes ist bereits mehrfach auf die Wissenschaft angewendet worden; in der Tat ist es bei der ersten Aufstellung eines neuen Naturgesetzes unausführbar, alsbald den ganzen Umfang der möglichen Erfahrungen zu übersehen, auf welche es Anwendung finden kann. Die notwendige Arbeit, diesen Umfang kennen zu lernen, und die besonderen Formen zu prüfen, die das Gesetz namentlich in den fernerliegenden Fällen annimmt, ist ein regelmäßiger und wichtiger Bestandteil aller wissenschaftlichen Arbeit. Wenn nun durch einen besonders begabten und weitsichtigen Forscher von vornherein eine besonders allgemeine Fassung des induktiven Gesetzes gelungen war, so finden sich bei der probeweisen Anwendung überall Bestätigungen, und es entsteht dann leicht der Eindruck, als seien die letzteren überflüssig, da sie eben nur das ergeben, was schon »deduziert« worden war. Tatsächlich ist aber auch der umgekehrte Fall nicht selten, daß die Bestätigung ausbleibt und ganz andere Verhältnisse als die erwarteten gefunden werden. Solche Entdeckungen bilden dann meist den Ausgangspunkt wichtiger und weitgreifender Abänderungen der ursprünglichen Fassung des fraglichen Gesetzes.

Wie man sieht, ist die Deduktion eine notwendige Ergänzung, ja eigentlich ein Bestandteil des induktiven Verfahrens. Die Entstehungsgeschichte eines Naturgesetzes ist im allgemeinen die folgende. Der Forscher bemerkt in einzelnen von ihm beobachteten Fällen gewisse Übereinstimmungen, die ihn zu dem Versuche veranlassen, durch die vorläufige Aufstellung eines entsprechenden Begriffes oder Naturgesetzes diesen Zusammenhang probeweise festzulegen. Er prüft dann andere, ihm zugängliche Fälle daraufhin, ob der vermutete Zusammenhang zutrifft, und wenn dies nicht der Fall ist, so versucht er andere Ausdrücke, welche sich auch auf die widersprechenden Fälle anwenden lassen, oder welche die widersprechenden Fälle als nicht zugehörig ausschließen. Durch ein solches Anpassungsverfahren gewinnt er schließlich einen Satz, der einen gewissen Umfang an Gültigkeit besitzt. Indem er ihn den Fachgenossen mitteilt, werden diese ihrerseits veranlaßt, andere, ihnen bekannte Fälle zu prüfen, auf die der Satz angewendet werden kann, und etwaige Zweifel und Widersprüche, die hierbei entstehen, veranlassen wieder den Autor des Gesetzes, etwa nötig gewordene Anpassungen auszuführen. Nun hängt es von der wissenschaftlichen Phantasie des Entdeckers ab, wie groß der Kreis der Fälle ist, der ihm zur Aufstellung des allgemeinen induktiven Satzes ausreicht, oft auch von unbewußten Denkvorgängen, die man als wissenschaftlichen Instinkt bezeichnet. Sowie aber die Aufstellung, wenn auch nur im Bewußtsein des Entdeckers, vollzogen ist, beginnt der deduktive Teil der Arbeit, und die hierbei sich ergebende Prüfung der ersten Aufstellung ist von dem allerwesentlichsten Einflusse auf den Wert des Ergebnisses.

Man erkennt alsbald, daß dieser deduktive Teil um so stärker ins Gewicht fallen wird, je allgemeiner die Begriffe sind, um die es sich handelt. Kommt dazu, daß die Aufstellung der induktiven Gesetze bereits frühzeitig in verhältnismäßig großer Vollkommenheit gelungen war, so erhält man den oben beschriebenen Eindruck, als könnte man aus einer Prämisse unbegrenzt viele unabhängige Resultate ableiten. Kant hat die Sonderbarkeit einer solchen Ansicht, die wesentlich durch Euklids Darstellung der Geometrie ungemein verbreitet war, lebhaft empfunden, und sie in der berühmten Frage: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? zum Ausdrucke gebracht. Wir haben gesehen, daß es sich überall nicht um Urteile a priori, sondern um induktive Schlüsse mit deduktiver Anwendung und Prüfung handelt.

 

14. Ideale Fälle.

Ein jedes Erlebnis läßt sich im allgemeinen unter unbestimmt viele verschiedene Begriffe bringen, die sich alle aus diesem Erlebnis durch entsprechende Betrachtung abstrahieren lassen. Somit wären auch unbestimmt viele Naturgesetze erforderlich, um dieses Erlebnis in allen seinen Teilen voraussagen zu können, und ebenso müßten die unbestimmt vielen Voraussetzungen bekannt sein, durch deren Anwendung jene Naturgesetze erst einen bestimmten Inhalt gewinnen. Es sieht demnach so aus, als sei es überhaupt unmöglich, Naturgesetze zur Vorausbestimmung eines kommenden Erlebnisses anzuwenden, und in gewissem Sinne ist dies auch richtig (S. 39). So sind wir beispielsweise, wenn ein Kind geboren wird, ganz außerstande, die persönlichen Schicksale vorauszusagen, welche dieses Wesen treffen werden, und nur in ganz groben Linien und mit zahlreichen Wenn und Aber können wir über die Angabe hinausgehen, daß es zunächst eine unbestimmte Zeit leben und hernach sterben wird.

Wenn wir trotzdem einen sehr großen Teil unseres Lebens und unserer Tätigkeit nach Maßgabe der Voraussichten einrichten, die wir auf naturgesetzlichem Wege bezüglich zahlreicher Einzelheiten dieses Lebens konstruieren, so entsteht die Frage, wie sich die genannte Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit überwinden läßt.

Die Antwort ist, daß wir vielfach unsere Erlebnisse so finden oder gestalten können, daß gewisse naturgesetzliche Beziehungen das Erlebnis ganz vorwiegend bestimmen, während die anderen, unbestimmt gebliebenen Teile in den Hintergrund treten. Dann wird auch die Voraussicht einen so erheblichen Anteil des Erlebnisses decken, daß wir auf die Voraussicht des übrigen Anteils verzichten können. Es bleibt genug Voraussicht übrig, um eine praktische Gestaltung des Lebens zu ermöglichen, und die zunehmende Erfahrung, sei es die persönliche des Einzelnen, sei es die Allgemeinerfahrung der Wissenschaft, vergrößert beständig diesen beherrschbaren Anteil der künftigen Erlebnisse.

Ähnlich wie das praktische Leben, nur freier, verfährt die Wissenschaft. Überall wo es sich um die Prüfung eines Naturgesetzes von der Gestalt: wenn A ist, so ist auch B, handelt, bestrebt sich der Forscher, die Erfahrungen so zu wählen oder zu gestalten, daß möglichst wenig Nebenbestandteile, und die unvermeidlichen derart vorhanden sind, daß sie möglichst wenig Einfluß auf das fragliche Verhältnis ausüben können. Vollständig gelingt dies nie; um dennoch einen Schluß zu gewinnen, wie sich das Verhältnis ohne jene Nebeneinflüsse gestalten würde, wird folgende allgemeine Methode angewendet.

Man untersucht eine Reihe von Fällen, die so angeordnet sind, daß der Einfluß der Nebenbestandteile immer kleiner und kleiner wird. Dann pflegt sich das untersuchte Verhältnis einer Grenze zu nähern, die nie ganz erreicht wird, der es aber um so näher kommt, je geringer der Einfluß der Nebenbestandteile ist. Alsdann wird der Schluß gezogen, daß, wenn es möglich wäre, die Nebenbestandteile ganz auszuschließen, auch jene Grenze des Verhältnisses erreicht werden würde. Einen solchen Fall, bei dem gar keine Nebenbestandteile des Erlebnisses wirksam sind, nennt man einen Idealfall, und den Schluß aus einer Reihe von Werten auf einen solchen Grenzwert nennt man eine Extrapolation. Solche Extrapolationen auf den Idealfall sind ein ganz allgemein angewendetes Verfahren in der Wissenschaft, und ein sehr großer Teil der Naturgesetze, insbesondere alle quantitativen Gesetze, d.h. solche, welche eine Beziehung zwischen meßbaren Werten ausdrücken, haben nur für den Idealfall genaue Geltung.

Wir stehen somit hier vor der Tatsache, daß viele, und unter ihnen die wichtigsten Naturgesetze für Bedingungen ausgesprochen sind und gelten, die in der Wirklichkeit überhaupt nicht vorkommen. Dies scheinbar absurde Verfahren ist in der Tat das zweckmäßigste, da solche Idealfälle sich dadurch auszeichnen, daß für sie die Naturgesetze die einfachste Form annehmen. Dies ist die Folge davon, daß bei den Idealfällen absichtlich und willkürlich von aller Verwickelung und Zusammensetzung der maßgebenden Faktoren abgesehen wird und man durch sie somit die denkbar einfachste Gestalt dieser besonderen Klasse von Erfahrungen beschreibt. Die wirklichen Fälle werden dann aus den idealen derart konstruiert, daß man sie als eine Summe von all den Anteilen darstellt, welche einen Einfluß auf das Erlebnis oder Ergebnis haben. Ebenso wie man mit den zehn Ziffern die unbegrenzte Menge aller endlichen Zahlen darstellen kann, so kann man mit einer endlichen Anzahl von Naturgesetzen eine unbegrenzt große Anzahl verwickelter Geschehnisse darstellen und so eine weitgehende Annäherung an die Wirklichkeit erreichen.

So behandelt die Geometrie gerade Linien, Ebenen und Kugeln von vollkommener Gestalt, obwohl solche niemals beobachtet worden sind, und ihre Ergebnisse stimmen um so genauer mit der Wirklichkeit überein, je genauer die wirklichen Linien, Ebenen und Kugeln den idealen Forderungen entsprechen. Ebensowenig gibt es in der Physik ideale Gase oder ideale Spiegel, oder in der Chemie ideal reine Stoffe, während doch die in diesen Wissenschaften ausgesprochenen einfachen Gesetze nur für solche Gebilde gelten. Die nicht idealen Gebilde dieser Wissenschaften, welche die Wirklichkeit in verschiedenen Graden der Annäherung bietet, verhalten sich um so genauer diesen Gesetzen gemäß, je geringer die Abweichungen der Wirklichkeit vom Ideal sind. Und dieselbe Methode findet auch in den sogenannten Geisteswissenschaften, der Psychologie und der Soziologie Anwendung, wo das normale Auge oder der geschlossene Handelsstaat Beispiele solcher idealisierter Grenzbegriffe sind.

 

15. Die Bestimmtheit der Dinge.

Eine sehr verbreitete und in ihren irrtümlichen Ergebnissen sehr folgenreiche Ansicht ist die, daß durch die Naturgesetze alle Dinge bis in die letzte Einzelheit eindeutig und unveränderlich bestimmt seien. Man nennt diese Ansicht Determinismus und hält sie meist für eine unausweichliche Konsequenz jeder naturwissenschaftlichen Gesamtauffassung. Die genaue Untersuchung der tatsächlichen Verhältnisse ergibt indessen ein ganz anderes Bild.

Die allgemeinste Fassung des Naturgesetzes: wenn A erlebt wird, erwarten wir B, bezieht sich zunächst und notwendig nur auf bestimmte Anteile der erlebten Dinge. Denn eine vollkommene Gleichheit zweier Erlebnisse ist bereits dadurch ausgeschlossen, daß wir selbst uns unaufhörlich und einseitig ändern, und daher eine noch so genaue Wiederholung eines früheren Erlebnisses doch durch unseren Anteil daran, der nicht auszuschalten ist, anders sein muß. Es kann sich also stets nur um eine teilweise Wiederholung eines Erlebnisses handeln, und dieser gemeinsame Teil ist ein um so geringeres Bruchstück des ganzen Erlebnisses, je allgemeiner der diesem Teil entsprechende Begriff ist. Auf solche sehr allgemeine Begriffe beziehen sich aber auch die allgemeinsten und wichtigsten Naturgesetze. Diese bestimmen demgemäß nur einen kleinen Teil des Gesamtergebnisses. Andere Teile desselben werden durch andere Gesetze bestimmt, aber niemals können wir ein Erlebnis bezeichnen, das vollständig und eindeutig durch uns bekannte Naturgesetze bestimmt würde. Beispielsweise wissen wir allerdings, daß ein Stein, den wir werfen, in einer annähernd parabolischen Kurve zur Erde fallen wird. Aber bei dem Versuch, seine Bahn genau zu bestimmen, müßten wir auf Luftwiderstand, Drehbewegung beim Wurf, Eigenbewegung der Erde und zahllose andere Umstände Rücksicht nehmen, deren exakte Feststellung weit über die Kräfte der gesamten Wissenschaft geht. Es ist vielmehr nur eine angenäherte Bestimmung der Bahn möglich, und jeder weitere Schritt im Sinne der Genauigkeit und Eindeutigkeit würde wissenschaftliche Fortschritte erfordern, die vielleicht erst in Jahrhunderten erreicht werden können.

So kann die Wissenschaft in diesem Falle keineswegs die genaue lineare Bahn bestimmen, die ein jeder Punkt des geworfenen Steines zurücklegen wird, sondern sie kann nur einen gewissen breiteren Raum nachweisen, innerhalb dessen die Bewegung jedenfalls bleiben wird, und dieser Raum ist um so breiter, je weniger weit die Wissenschaft des betreffenden Gebietes vorgeschritten ist. Ebenso verhält sich jede andere Vorausbestimmung auf Grund von Naturgesetzen. Es wird durch diese immer nur ein gewisser Rahmen angegeben, innerhalb dessen das Ding bleiben wird; welche aber von den unendlich vielen Möglichkeiten innerhalb dieses Rahmens hernach Wirklichkeit werden wird, läßt sich mit menschlichen Kräften niemals eindeutig bestimmen.

Der Glaube, daß dies möglich sei, ist nur durch ein weitgehendes Abstraktionsverfahren der Wissenschaft hervorgerufen worden. Indem man an Stelle des Steines einen »ausdehnungslosen Massenpunkt« annimmt, und indem man von der Berücksichtigung aller anderen Faktoren absieht, welche (bekannter- oder unbekannterweise) auf die Bewegung Einfluß ausüben, kann man allerdings eine anscheinend eindeutige Lösung der Aufgabe bewerkstelligen. Sie gilt aber nicht für das wirkliche Erlebnis, sondern für ein ideales, das mit dem wirklichen eine mehr oder weniger tiefgehende Ähnlichkeit hat. Nur eine solche ideale, d.h. willkürlich von ihrer tatsächlichen Mannigfaltigkeit abstrahierte Welt hat jene Eigenschaft der eindeutigen Bestimmtheit, welche man der wirklichen Welt zuzuschreiben pflegt.

Nun könnte man allerdings auf das allgemein in der Wissenschaft übliche Abstraktionsverfahren und die eben erörterte Extrapolation auf ideale Fälle hinweisen, und die Behauptung von der eindeutigen Bestimmtheit der Weltgeschehnisse als eine solche berechtigte Extrapolation auf den Idealfall betrachten, daß wir alle Naturgesetze kennen und sie vollständig auf den Einzelfall anzuwenden verstehen. Hiergegen ist aber zu sagen, daß die nachträgliche Rechtfertigung solcher Ideal-Extrapolation, die in dem Nachweise liegt, daß die wirklichen Fälle sich dem idealen um so mehr annähern, je mehr wir die gemachten Voraussetzungen verwirklichen, hier noch nicht ausführbar ist, weil wir für den größten Teil unserer Erlebnisse nicht einmal die annähernden oder idealen Naturgesetze kennen, mit deren Hilfe wir solche Idealfälle konstruieren könnten. Beispielsweise ist das ganze Gebiet des organischen Lebens uns gegenwärtig im wesentlichen wie ein unbekanntes Land, in welches nur einige wenige, weit voneinander entfernte und blind auslaufende Pfade führen.

 

16. Die Willensfreiheit.

Dieses Verhältnis erklärt es uns, weshalb wir einerseits für viele Dinge, nämlich alle, welche der wissenschaftlichen Erfassung und Regelung zugänglich gewesen sind, eine weitgehende Determination annehmen, andererseits aber das Bewußtsein haben, daß wir frei handeln, d.h. daß wir künftige Geschehnisse in verschiedenem Sinne leiten können, je nach dem Einflusse, den sie auf unsere Wünsche haben. Gegen einen grundsätzlichen Determinismus, welcher erklärt, daß dieses Gefühl der Freiheit nur ein anderer Ausdruck dafür sei, daß ein Teil der Kausalkette innerhalb unseres Bewußtseins gelegen sei, und daß wir diese (an sich determinierten) Vorgänge so empfinden, als bestimmten wir selbst ihren Ablauf, läßt sich nichts einwenden. Aber ebensowenig läßt sich die Überlegung als falsch nachweisen, daß, da die Anzahl und Beschaffenheit der Faktoren, welche auf jedes Erlebnis einwirken, unbegrenzt groß und mannigfaltig ist, jedes Ereignis zwar für einen allesumfassenden Geist als determiniert erscheinen würde, daß aber für unseren begrenzten Geist stets ein undeterminierter Rest in jedem Erlebnis notwendig nachbleiben muß, und insofern die Welt für menschliche Wesen immer praktisch teilweise undeterminiert bleiben muß. So führen die beiden Ansichten: daß die Welt nicht vollständig determiniert ist, und daß sie es zwar ist, von uns aber niemals so erkannt werden kann, praktisch zu demselben Ergebnis: daß wir uns nämlich der Welt gegenüber verhalten können und müssen, als sei sie nur teilweise determiniert.

Wenn nun aber zwei verschiedene Betrachtungsweisen im ganzen Gebiete des Erfahrbaren überall zu dem gleichen Ergebnisse führen, so können sie nicht sachlich, sondern nur formal oder äußerlich verschieden sein. Denn gleich ist, was man nicht unterscheiden kann; eine andere Definition der Gleichheit gibt es nicht. So sehen wir, daß der Streit zwischen jenen beiden Ansichten seit Jahrhunderten immer wieder von neuem begonnen wird, ohne daß er ein Ende finden zu können scheint. Dies läßt sich aus dem Gesagten leicht verstehen, denn ganz dieselben sachlichen Gründe, welche für eine Ansicht angeführt werden können, lassen sich auch zur Stütze der anderen verwerten, weil ja beide in ihren sachlichen Ergebnissen nicht verschieden sind.

Diese Angelegenheit ist bereits an dieser Stelle erörtert worden, weil sie ein sehr eindringliches Beispiel für ein Verfahren bietet, welches in allen Wissenschaften Anwendung findet, wenn es sich um die Lösung alter und immer wieder auftretender Streitfragen handelt. Jedesmal, wenn man derartigen Problemen begegnet, hat man sich die Frage zu stellen: welche Verschiedenheit würde erfahrungsgemäß nachweisbar sein, je nachdem die eine oder die andere Ansicht die richtige wäre? Man nimmt mit anderen Worten zunächst an, die erste sei richtig und entwickelt die entsprechenden Folgen. Dann nimmt man an, die zweite sei wahr, und entwickelt aus dieser Annahme die entsprechenden Folgen. Erweisen sich diese von den früher erhaltenen in einem bestimmten Punkte verschieden, so hat man darin, daß man nachsieht, in welchem Sinne sich die Erfahrung entscheidet, jedenfalls die Möglichkeit, die falsche Ansicht zu erkennen. Man darf allerdings nicht schließen, daß dadurch die andere Ansicht als allseitig richtig nachgewiesen sei. Denn sie kann gleichfalls falsch sein, nur mit der besonderen Beschaffenheit, daß sie in dem fraglichen Falle doch zu richtigen Schlüssen führt. Daß so etwas möglich ist, weiß jedermann, der seine eigenen Lebenserfahrungen aufmerksam beobachtet hat. Wie oft handeln wir nicht praktisch richtig, obwohl wir von falschen Voraussetzungen ausgingen! Die Erklärung dieser Möglichkeit liegt in der äußerst zusammengesetzten Beschaffenheit eines jeden Erlebnisses und einer jeden Annahme. Es ist ganz wohl möglich, und geschieht sogar in der Regel, daß eine bestimmte Ansicht zwar richtige Bestandteile enthält, daneben aber auch falsche. Bei solchen Anwendungen, wo die richtigen Bestandteile entscheidend ins Gewicht fallen, werden auch richtige Ergebnisse erzielt, trotz der im übrigen vorhandenen Fehler. Und ebenso werden falsche Ergebnisse dort erzielt, wo die falschen Bestandteile maßgebend sind, trotz der richtigen Ergebnisse, die mittelst der richtigen Anteile an anderen Stellen erhalten werden können oder erhalten worden sind. Somit können wir im Falle der »Bestätigung« nur schließen, daß der für den vorliegenden Fall wesentliche Teil der Ansicht richtig ist.

Man erkennt leicht, daß diese Betrachtungen in allen Gebieten der Wissenschaft und des Lebens Anwendung finden. Es gibt keine absolut richtigen Behauptungen, und auch die falscheste kann in irgendeiner Beziehung richtig sein. Es gibt nur größere und geringere Wahrscheinlichkeiten, und aller Fortschritt des menschlichen Geistes geht dahin, den Wahrscheinlichkeitsgrad der erfahrungsmäßigen Beziehungen oder Naturgesetze zu erhöhen.

 

17. Die Einteilung der Wissenschaften.

Aus den vorangegangenen Betrachtungen lassen sich die Mittel entnehmen, um eine vollständige Tabelle der Wissenschaften zu entwerfen. Allerdings darf man diese Vollständigkeit nicht so auffassen, als sei bereits jede mögliche Verzweigung und Wendung einer jeden Wissenschaft gegeben, wohl aber so, daß sich ein Rahmen aufstellen läßt, innerhalb dessen an bestimmter Stelle eine jede Wissenschaft Platz findet, so daß bei fortschreitender Erweiterung der Rahmen nicht überschritten zu werden braucht.

Der Grundgedanke, auf welchem diese Einteilung beruht, ist der der stufenweisen Abstraktion. Wir haben gesehen (S. 28), daß ein Begriff um so allgemeiner, d.h. auf um so mehr Erlebnisse anwendbar wird, je weniger Anteile oder Elementarbegriffe er enthält. So werden wir das System der Wissenschaften mit den allgemeinsten, d.h. den Elementarbegriffen selbst (oder mit dem, was wir zurzeit als Elementarbegriffe ansehen müssen) beginnen und in stufenweiser Vermannigfaltigung der Begriffe eine entsprechende Stufenreihe der Wissenschaften aufstellen. Hierbei ist noch zu bemerken, daß diese Stufenreihe wegen der sehr großen Anzahl eintretender neuer Begriffe eine entsprechend große Anzahl verschiedener Wissenschaften ergeben muß. Aus praktischen Gründen hat man aber jeweils eine Anzahl solcher Stufen zusammengefaßt, und dadurch eine zwar gröbere, aber übersichtlichere Teilung geschaffen. Das zweckmäßigste und dauerhafteste Schema dieser Art rührt von dem französischen Philosophen Auguste Comte her und ist in der Folge nur etwas geändert worden.

Nachstehend ist zunächst die Tabelle der Wissenschaften gegeben, deren Erläuterung alsbald folgen wird.

      I. Ordnungswissenschaften:
                  Logik oder Mannigfaltigkeitslehre
                  Mathematik oder Größenlehre
                  Geometrie oder Raumlehre
                  Phoronomie oder Bewegungslehre.

      II. Arbeitswissenschaften:
                  Mechanik
                  Physik
                  Chemie.

      III. Lebenswissenschaften:
                  Physiologie
                  Psychologie
                  Soziologie.

Wie man sieht, handelt es sich zunächst um die drei großen Gruppen der Ordnungs-, Arbeits- und Lebenswissenschaften. Die ersten behandeln Eigenschaften, welche allen Erlebnissen angehören und daher stets in Betracht kommen, wo es sich um eine bewußte Gestaltung des Lebens, d.h. um Wissenschaft im weitesten Sinne handelt. Um einem vielverbreiteten Irrtume gleich hier entgegenzutreten, sei betont, daß diese Wissenschaften ebenso als erfahrungsmäßige oder empirische Wissenschaften aufzufassen sind, wie dies bei denen der beiden folgenden Gruppen außer Zweifel steht. Dadurch aber, daß die hier behandelten Begriffe so überaus allgemein, die entsprechenden Erfahrungen also die häufigsten von allen sind, verliert sich das Bewußtsein leicht, daß es sich überhaupt um Erfahrungen handelt, und das überaus festsitzende Bewußtsein von der ausnahmelosen Gleichförmigkeit dieser Erfahrungen läßt sie als angeborene Eigenschaften des Geistes oder Urteile a priori erscheinen. Indessen beweist z.B. die Tatsache, daß in gewissen Teilen der Mathematik (in der Zahlentheorie) Gesetze bekannt sind, die empirisch gefunden worden sind, und deren »deduktiver« Beweis bisher noch nicht gelungen ist, daß auch die Mathematik eine empirische Wissenschaft ist. Der allgemeinste Begriff, welcher in diesen Wissenschaften zum Ausdruck und zur Wirkung kommt, ist der Begriff der Zuordnung oder der Funktion, dessen Inhalt und Bedeutung allerdings erst später bei der eingehenderen Betrachtung der einzelnen Wissenschaften zutage treten wird.

In der zweiten Gruppe der Arbeitswissenschaften tritt die Willkürlichkeit der Einteilung sehr deutlich hervor, da diese Wissenschaften zu den bekanntesten gehören. So ist man durchaus berechtigt, die Mechanik als einen Teil der Physik zu betrachten, und zwischen diese und die Chemie schiebt sich gegenwärtig die physikalische Chemie ein, die sich während der beiden letzten Jahrzehnte plötzlich zu einer ausgedehnten und wichtigen Sonderwissenschaft entwickelt hat.

Der allgemeinste Begriff der Arbeitswissenschaften ist der der Energie, der in den Ordnungswissenschaften noch nicht vorkommt. Er ist übrigens seinerseits kein fundamentaler Begriff, sondern kennzeichnet sich unzweifelhaft als zusammengesetzt oder vielmehr mannigfach.

Die dritte Gruppe umfaßt alle Verhältnisse der lebenden Wesen, und ihr allgemeinster Begriff ist demgemäß der des Lebens. Unter Physiologie ist die gesamte Lehre von den nicht geistigen Lebenserscheinungen verstanden; sie umfaßt also das, was in dem gegenwärtigen, vielfach zufällig geordneten Wissenschaftsbetrieb Botanik, Zoologie und Physiologie der Pflanzen, Tiere und Menschen genannt wird. Psychologie ist die Lehre von den geistigen Erscheinungen und als solche nicht auf den Menschen beschränkt, wenn auch dieser aus mehrfachen Gründen den weit überwiegenden Anteil für sich beansprucht. Soziologie ist endlich die Lehre von den Zusammenschlüssen der Lebewesen und den hieraus erfolgenden Gesamterscheinungen. Auch hier erstreckt sich die Wissenschaft grundsätzlich über alle Lebewesen, wenn auch wiederum den soziologischen Erscheinungen beim Menschen bei weitem das größte Interesse entgegengebracht wird.

 

18. Die angewandten Wissenschaften.

Besonders bemerkenswert bei dieser Gruppierung ist, daß gewisse Lehrfächer, die an den Universitäten und den gleichwertigen technischen Anstalten vertreten sind, in dieser Ordnung überhaupt keine Stelle gefunden haben. Man sucht nicht nur Theologie und Jurisprudenz, sondern auch Astronomie und Medizin vergebens usw.

Die Erklärung und Rechtfertigung hierfür ist, daß man für systematische Zwecke zwischen reinen und angewandten Wissenschaften unterscheiden muß. Die reinen Wissenschaften bilden vermöge ihrer strengen begrifflichen Sonderung eine regelmäßige Stufenfolge, derart, daß jedesmal alle Begriffe, welche in den vorhergegangenen Wissenschaften benutzt und behandelt worden sind, in den nachfolgenden wiederkehren, während gewisse charakteristische neue Begriffe dazutreten. So übt die Logik und Mathematik, die sich als Mathetik zusammenfassen lassen, ihre Herrschaft auf sämtliche anderen Wissenschaften aus, während die Begriffe der Physik und Chemie nichts mit ihr zu tun haben, wohl aber für sämtliche Lebenswissenschaften von Bedeutung sind. Durch dieses stufenweise Hinzutreten neuer (natürlich empirischer) Begriffe ist der Aufbau der reinen Wissenschaften ein streng gesetzmäßiger, und ihre Probleme rühren ausschließlich aus der Anwendung der neuen Begriffe auf sämtliche früheren her. Es gelangen mit anderen Worten die Probleme nicht von außen in diese Wissenschaften, sondern sie ergeben sich aus deren Begriffen durch die Wechselwirkung derselben.

Daneben aber gibt es Probleme, welche uns der Tag ohne Rücksicht auf Systematik stellt, nämlich solche, die aus der Aufgabe folgen, das Leben zu verbessern und das Übel zu bekämpfen. In den Problemen des Lebens tritt uns nun die ganze Mannigfaltigkeit der möglichen Begriffe entgegen, und die Notwendigkeit des Tages gestattet uns nicht, mit der Aussaat von Korn oder der Hilfe in Krankheitsfällen zu warten, bis die Physiologie und die anderen in Betracht kommenden Wissenschaften alle Probleme des Pflanzenwachstums und des menschlichen Stoff- und Energiewechsels gelöst haben. Wir benutzen die Stellungen der Gestirne zur Orientierung auf dem Meere, wenn andere Marken fehlen, somit bilden wir die Lehre von den Gestirnen oder die Astronomie als angewandte Wissenschaft aus, bei welcher die Mechanik zuerst allein beteiligt schien; später ist dann die Physik, insbesondere die Optik hinzugekommen, und in neuester Zeit hat nicht nur die Chemie in die Astronomie ihren Einzug gehalten, sondern auch der biologische Entwicklungsbegriff ist in ihr mit Erfolg angewendet worden.

Es bestehen also neben den reinen Wissenschaften die angewandten, die sich von jenen durch den Umstand unterscheiden, daß sie ihre Probleme nicht in rein systematischer Weise entwickeln, sondern sie durch äußere Lebensumstände der Menschheit zugewiesen bekommen. Daher sind an den Aufgaben der angewandten Wissenschaften fast immer alle reinen Wissenschaften mehr oder weniger beteiligt: beim Bau einer Brücke oder Eisenbahn kommen beispielsweise neben physikalischen Problemen auch soziologische (Verkehrsfragen) in Betracht, und ein guter Arzt muß ebenso Psycholog wie Chemiker sein.

Da indessen alle einzelnen Fragen, welche in den angewandten Wissenschaften auftreten, sich grundsätzlich als Probleme einer oder der anderen reinen Wissenschaft darstellen lassen, so bedürfen jene keiner besonderen Aufzählung neben den reinen Wissenschaften, zumal ihre Entwicklung sehr von zeitlichen Umständen abhängig und daher einer einfachen Systematik nicht unterwerfbar ist.


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