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Achtes Kapitel.
Der 10. August im Walde.

Das hessische Städtchen Witzenhausen ist einer der nördlichsten Punkte in unserm deutschen Vaterlande, wo man im Schutze des Werrathales Weinbau betreibt. Freilich ist der Witzenhäuser noch berüchtigter als der Grüneberger in Schlesien, den wir doch mit Hülfe der industriellen Magdeburger so oft für Saint-Julien oder unter dem Titel eines noch feinern Château-Weines trinken. Aber witzenhäuser Kirschen, Aprikosen, Birnen, Pflaumen und Weintrauben haben einen guten Markt in Kassel und Göttingen, wohin sie auf dem Rücken geschleppt werden, und Witzenhausen ist ein trauliches Oertchen, sein Johannisberg ein viel gesuchter Vergnügungspunkt.

Im August des Jahres 1792 sah es freilich sehr trübe aus im Werrastädtchen, die Einwohner machten Gesichter wie der graue Himmel, die ganze Jahresernte war dahin. Schon waren die Kirschen verregnet, die Aprikosen wollten nicht gelb, nicht roth und weich werden, sie blieben grün, die Trauben waren klein und steinhart, man konnte nicht hoffen, auch nur für ein paar Albus zu verkaufen, und doch war der ganze Ort auf Obstbau angewiesen. Auch die Bohnen wollten nicht reif werden, sie verfaulten auf den Feldern, und in den Thälern der Werra pflegte man statt Weizen und Roggen Krupbohnen (Krautbohnen) zu ziehen, deren weißer Kern als Winterspeise ganz Norddeutschland mit seinem mehligen Inhalt erfreute.

Ein junger Wanderer, sein Ränzel auf dem Rücken, einen derben Eichstock in der Hand, hatte die Wasserscheide zwischen Fulda und Werra, den Nieder-Kaufunger Wald überschritten, er kam von Kassel und war ermüdet, hungerig und durstig. Im Goldenen Hirsch neben der Rathsapotheke am Markte forderte er bescheiden ein Glas Milch, Butter und Brot und erkundigte sich bei der Wirthin, wie weit Mollenfelde noch entfernt sei, und ob er es vor Abend noch erreichen und ohne Führer finden könne? Die freundliche Wirthin, welche in dem Wanderer unschwer den Candidaten der Theologie erkannt, und, da ihr Sohn gleichfalls Candidat der Gottesgelahrtheit war, ihn mit großer Zuvorkommenheit und Artigkeit empfing, gab die erwünschte Auskunft.

Die Chaussee, welche Witzenhausen mit Münden verbindet, existirte damals noch nicht; wie lange wird es dauern, so ist sie ganz verödet, und das schnaubende Dampfroß wirbelt zwischen den grünen Bergen am Ufer der Werra seine schwarzen, schmuzigen Rauchsäulen empor!

Die Wirthin erquickte nicht nur den jungen Candidaten, der niemand anders als Heinrich Schulz war, mit Speise und Trank, sondern beschrieb ihm auch mit großer Bereitwilligkeit den Weg, den er wandern müsse. Er solle nur immer dem Laufe der Werra folgen; ehe er an den Flecken Hedemünden und die hannoverische Grenze komme, werde er rechts aus dem Thale das Schloß Berlepsch hervorschimmern sehen. Dem Hübenbache folgend müsse er, sobald er am Fuße des Hauses Berlepsch ankomme, rechts bergan steigen, dann werde er Mollenfelde und das Försterhaus, obgleich es im Walde beinahe versteckt liege, wol finden.

Das Mischdorf Mollenfelde habe ich in meiner Jugend, vor vierzig Jahren, oft besucht; am Himmelfahrtstage und an den beiden Pfingsttagen pflegte sich dort die ganze Umgegend auf mehrere Stunden im Umkreise ein Rendezvous im Grünen zu geben, d. h. auf dem Jägerhofe, der im herrlichsten Waldgrün etwa eine Viertelstunde vom Dorfe entfernt lag. Man lagerte sich im Grünen oder saß an langen Tischen in der Nähe eines großen Tanzzeltes, aus dem schon am frühen Nachmittage lustige, kecke Geigenstriche und häufig incorrecte Clarinettentöne zum Tanz aufforderten. Wer weniger tanzlustig war, der zog sich mehr in den Wald zurück, wo namentlich ganze Familien, die für Essen und Getränke selbst sorgten, im Kreise um die Feuerstelle, auf der der Kaffee bereitet wurde, herumlagerten. Liebespärchen absentirten sich noch tiefer in das Gehölz nach Eichenberg zu, durch seinen von Clauren besungenen Wunderbrunnen bekannt. Nachmittags gegen vier Uhr pflegten dann am Himmelfahrtstage ganz regelmäßig Scharen göttinger Studenten und göttinger Philister auf der Rückkehr von dem üblichen Himmelfahrtsausfluge nach dem Haustein hier Rast zu machen, auch wol bis in die Nacht zu tanzen, und die hübschen Witzenhäuserinnen, wie Damen aus Hedemünden und Münden, die Pastoren- und Förstertöchter von Meensen, Jühnde u. s. w. tanzten recht gern mit den buntkäppigen Musensöhnen. Der Förster reichte den Hungerigen Schinken und Mettwurst, süße und sauere Milch, Branntwein, Wein und kasseler Felsenbier, je wie der Beutel reichte. Mit Einbruch der Nacht fand dann regelmäßig Prügelei zwischen »den blinden Hessen« und »den dickköpfigen Hannoveranern«, welche in dem einen Dorfe zusammenwohnten, statt, aber außerhalb des Tanzzeltes. Man vertrug sich aber wieder, wenn man sich die Kopfe blutig geschlagen hatte, und tanzte auf dem Rasen weiter.

Noch vierzig Jahre früher hauste hier der Oberförster Oskar Baumgarten; er war es, der die parkähnlichen Anlagen geschaffen, der das Tanzzelt, das seitdem vielfach erneuert war, hier aufgebaut hatte.

Die Oberförsterei, ein sehr altes großes Gebäude, hatte in frühern Zeiten, als in Münden noch welfische Herzoge residirten, diesen als Jagdschloß gedient, dann war es zu einer hannoverischen Oberförsterei umgewandelt, mit der seit uralter Zeit eine Art Schankgerechtigkeit verbunden war.

Die Oberförsterei stand seit einem halben Jahrhundert in dem wohlbegründeten Rufe, daß man dort das feinste Glas Wein und den besten Jamaicarum trinke, wohlfeil, weil für dieses alte fürstliche Schloß die Steuerfreiheit fortbestand; der Verkehr, den die Bremer die Werra hinauf nach Thüringen betrieben, gab Gelegenheit, diese Steuerfreiheit auszunutzen.

Als Oskar Baumgarten nach Mollenfelde versetzt war, hatte er von der Wirtschaft nichts wissen wollen und von der Witwe seines Vorgängers Wein- und Rumvorräthe nur aus Mitleid übernommen. Allein die Sache hatte sich gegen seinen Willen fortgesetzt. Zu Himmelfahrt und Pfingsten versammelte sich, wie seit Jahren, die ganze Umgegend vor der Oberförsterei; wenn sich auch die Mehrzahl selbst mit Speisen und Getränken zu versehen pflegte, so wurde doch das Forsthaus mit vielerlei Bitten und Ansprüchen bestürmt, die man nicht abschlagen konnte. Man konnte die Menge nicht tractiren, diese wollte auch Milch und Rahm, Butter und Brot nicht umsonst. In der Regel gingen die mitgebrachten Vorräthe zu früh auf die Neige, und den Bittenden und Durstigen konnte doch der Förster einen Trunk aus seinem Keller nicht versagen. Kurz, es ließ sich nichts dagegen machen, Oskar mußte in die Fußstapfen seines Vorgängers treten, wenn er sich nicht mit der ganzen Umgegend verfeinden wollte. Die wirtschaftliche Frau übersah die ökonomischen Vortheile, welche aus der Sache hervorgingen, nicht und richtete sich für diese Frühlingstage ein. Wenn zu anderer Zeit ein einsamer Wanderer oder eine Schar Studenten, die sich Schloß Berlepsch und seinen berühmten Park besahen, in der Oberförsterei ausruhten, so war der blanke Wein, den die hübsche Försterin vorsetzte, oder die Schale Milch mit Brot, Zucker und Zimmt so appetitlich, daß man das Weiterwandern vergaß, und der Ruf der schönen Marianne hatte schon manchen Studenten nach Mollenfelde gezogen. Die Grünen pflegen ein heiteres, offenes Herz zu haben, und das lustige Leben, welches sich an den Himmelfahrts- und Pfingsttagen im Walde entwickelte, wo man auf dem kurzen Rasen nach der schlechtesten Musik tanzte, gefiel Oskar sehr wohl.

»Wenn es doch einmal nicht anders geht«, hatte er zu seiner Marianne gesagt, »so will ich es den Leuten auch wohnlich machen«, und er legte einen Tanzboden, überdachte diesen im nächsten Jahre, ließ in der Nähe desselben Tische und Bänke aufschlagen und stellte Moosbänke sowie Lauben her. Mit jedem Jahre wurden die Anlagen vergrößert. Neben dem bedachten Tanzboden war dann noch ein unbedachter für die Bauern gelegt, zwischen beide ein Pavillon für die Musik gebaut. Mit der Musikbande eines in Münden in Garnison liegenden Regiments war ein Vertrag abgeschlossen, und ein um den andern Sonntag war Concert und Tanz vor der Försterei, wenn das Wetter nicht allzu ungünstig war.

Das Jahr 1792 war freilich den Vergnügungen im Freien nicht günstig, der Regensommer nebst einem andern Umstande störte die Sonntagsvergnügungen, das Regiment war aus Münden dislocirt, es fehlte an Musik, wenigstens an guter.

Dennoch war Oskar in den ersten Tagen des August mit seinem Forstläufer beschäftigt, neue Verbesserungen in seinen Anlagen zu machen. Er versah das Tanzzelt nach der Wetterseite mit einer Breterwand. Der junge Reisende, den wir in Witzenhausen trafen, stieg den Berg hinan und stand bald neben dem hämmernden Förster, ihm die Hand reichend.

Dieser kannte ihn nicht. »Aber Schwager«, sagte Heinrich. »Bist du es, bist du wirklich Heinrich Schulz?« »Ja, ich bin's, bin der Candidat der Gottesgelahrtheit, Heinrich Schulz, der zu dir und der lieben Schwester in die grünen Wälder flieht, um des Kummers seines Herzens Herr zu werden.«

»Willkommen denn, willkommen«, sagte Oskar, den Schwager umarmend, »eilen wir zu Mariannen, wie wird die sich freuen!«

Und sie freute sich sehr, die Schwester Marianne, sie war eine in voller Pracht aufgegangene Rose, sie trug ihr drittes Kind, das erste Mädchen, ihren Liebling und ihr Nestküken, wie sie sagte, auf dem Arme, und die beiden ältesten Jungen, Georg und Karl, saßen bald auf des Onkels Schose. Im Zimmer war es so traulich, an Holz fehlte es nicht, man hatte, wie das am Harze geschieht, trotz des August eingeheizt, aber ein Fenster geöffnet.

Marianne brachte für den Bruder den geblümten Zitzschlafrock des Mannes, ihm den nassen Rock abziehend, dann bereitete sie die Abendmahlzeit, eine warme Biersuppe, Butter und Brot, Käse und Schinken und eine Flasche alten Franzweins, die noch vom Vorgänger übernommen war. Heinrich zeigte einen ganz gesunden Appetit, Oskar nicht minder. Nun wurden die Kinder zu Bett gebracht. Marianne holte ihrem Alten die Meerschaumpfeife, für Heinrich die lange Thonpfeife und stellte eine frische Flasche auf den Tisch, nahm das Kinderzeug, an dem sie nähte, zur Hand und sagte: »Mein lieber Bruder, erzähle; wir wohnen hier so einsam und verlassen, mit Ausnahme der Tanzsonntage, daß wir von der Welt wenig sehen und hören. Was macht die gute Mutter? was Vater und Geschwister? Gibt es wirklich Krieg und wo ist Bruder Fritz? Was bringt dich hierher? Kommst du von Göttingen oder von Münden?«

»Hast du nicht noch ein Schock anderer Fragen, du Plappermäulchen?« sagte Oskar und gab der Frau einen herzhaften Kuß, »laß Heinrich zuerst von sich selbst erzählen, er kommt hierher, um Herr seines Kummers zu werden, wahrscheinlich Herzenskummer. Heraus mit der Sprache, mein Junge.«

»Ihr wißt«, begann Heinrich, »daß es mir gleich nach bestandenem Examen glückte, bei der Witwe des Siebenmeiers Emeyer eine Stelle als Hauslehrer zu finden, in Grünfelde, so nahe bei den Aeltern, so nahe –« »Nur zu«, unterbrach Oskar, »ich kann es mir denken, bei Anna.« – »Ja, bei Anna, meiner ersten Liebe. Ich bin Lehrer zweier Mädchen, von denen die älteste, Therese, funfzehn, die jüngere, Agnes, zehn Jahre alt ist. Die Mutter war die reichste Anerbin in der ganzen Grafschaft, denn außer dem Siebenmeierhofe besaß ihr Vater Omeyer noch einen angeheirateten Vollmeierhof von seiner Frau her, aber ihre Bildung war vernachlässigt. Sie kann nur mühsam im Gesangbuche oder der Bibel lesen und kaum mehr als ihren Namen schreiben, dagegen vortreffliche Butter machen, gut kochen, räuchern, pökeln, Früchte einmachen und Obst dörren, gutes Brot und schönen Kuchen backen. Die Höfe waren im Siebenjährigen Kriege stark mit Einquartierung belastet gewesen, geplündert, der eine gar niedergebrannt. Dieser Neubau hatte den alten Omeyer in Schulden gestürzt, und diesen Schulden wurde die Tochter dann wieder geopfert. Sie mußte wider ihren Willen den zweiten Sohn des reichen Siebenmeiers Emeyer heirathen.«

»Was ist denn eigentlich ein Siebenmeier?« fragte die Schwester.

»Das weiß man nicht recht«, erwiderte Heinrich, »Karl Haus, mein Freund, hat mir freilich einmal gesagt, der Bischof Adalbert von Bremen habe vor vielen Jahrhunderten die Dekanei zu Bücken mit sieben Meierhöfen dotirt, und die Advocati, Verwalter, Meier auf diesen Höfen hätten sich in der Reformationszeit, man wisse nicht recht wie, zu Eigentümern zu machen gewußt. Das kann aber nicht wohl wahr sein, denn es gibt nur sechs Siebenmeierhöfe, ich glaube daher mit dem Volke, daß der Name daher stammt, weil solche Höfe siebenmal so groß sind als ein gewöhnlicher Meierhof.«

»Was gehen uns die Siebenmeierhöfe an«, brummte Oskar, »wir erben doch keinen, erzähle weiter.«

»Meine Principalin lebte mit ihrem Manne, der ein roher Bauer war, nicht glücklich; er tyrannisirte sie zwölf Jahre lang, weil sie ihm nur zwei Töchter, keinen Anerben gebar, und so die schönen Güter in fremde Hände fielen. Nach seinem Tode konnte die Witwe durchsetzen, was sie während der Lebenszeit des Mannes nicht vermocht, Sorge tragen, daß ihre Töchter klüger, gebildeter, vor allem vornehmer würden als sie. Es steckt ein bischen Hochmuthsteufel in der guten Frau, sie hat vor allem, was adelich oder vornehm ist, einen ganz ungemeinen Respect; aber sie ist eine sehr gute Frau, die ihre Töchter über alles liebt. Hans Dummeier, ihr Vetter, empfahl mich, als sie einen Hauslehrer suchte, als solchen und ich erhielt die Stelle. Ach!« Heinrich seufzte und ließ den Kopf sinken, schwere Thränen rannen aus seinen Augen.

»Aber Heinrich, was fehlt dir«, sagte Marianne, den Bruder küssend und herzend.

»Ach, du ahnst wol kaum, daß ich von meiner Kindheit an, seit der Zeit, wo wir die Spritzenhauswohnung verließen, Anna Dummeier liebte, mit jedem Jahre mehr liebte. Sie war mein Ideal während der Schule und Universitätsjahre, ihr Bild hat mich zu nächtlichem Fleiße gespornt, mich vor hundert leichtsinnigen Dingen, vielleicht vor manchem schlechten Thun bewahrt. Selten habe ich mir zwar nur eingebildet, daß sie mich wiederliebe, aber nicht nur in Träumen des Nachts, auch in Phantasien des Tages hatte ich mein Leben und meine Zukunft so innig mit der ihrigen verwebt, daß ich mir keine Zukunft denken konnte als an ihrer Seite.

»Ich war ein halbes Jahr in Grünfelde, als an einem trüben Novembertage die gute Mutter mich zu besuchen kam. Sie allein hatte mit sorgsamen Mutteraugen meine Liebe bemerkt, wußte auch längst, daß ich unglücklich liebe. Sie kam, mir das auf die mildeste Weise kundzuthun, mir die Verlobung Anna's mit dem Obergestütmeister Claasing, ich weiß nicht, ob er zu euerer Zeit schon nach Kirnberg hingeschneit war, so schonend wie möglich zu melden. Der Schlag traf mich härter als das Schwerste in meinem Leben, als – du, liebe Marianne, warst damals ein kleines Kind – als dem Vater das Haus verkauft wurde, des Processes wegen, wir nach Klein-Paris ziehen mußten und ich jede Aussicht auf die Rectorschule verlor. Der liebe Gott und Anna Maria haben unsere Geschicke zum Besten gewendet. Der Trost, den mir die Mutter gespendet: »Es gäbe der schönen Mädchen noch mehrere und ich würde wol noch eine finden, die besser zu mir passe als die leichtsinnige Anna, ich würde ein Mädchen finden, das mich mit gleicher Liebe wiederliebe. Liebe ohne Gegenliebe sei nichts, sei Phantasiespuk, bloße Sehnsucht nach Liebe«, dieser wohlgemeinte Trost kam mir so nüchtern, so alltäglich vor, ich blieb mehrere Tage unfähig, meine Schülerinnen ordentlich zu unterrichten und«, er stockte und wurde roth, »meinen Kummer zu überwinden.«

Heinrich verschwieg hier etwas, und er selbst wurde verlegen über sein Schweigen und stockte in seiner Erzählung; es tauchte in seiner Phantasie ein neues Bild auf und unterbrach den trüben Gedankengang, dem er sich hinzugeben im Begriffe stand, wie ein Sonnenstrahl durch dunkles Regengewölke bricht. Seine älteste Schülerin, Therese, hatte ihm damals, als sie ihn öfters weinend fand, gleichfalls unter Thränen und Freundschaftsversicherungen das Geheimniß seines Kummers abzulauschen gewußt und ihn auf die naivste Weise durch die Versicherung, daß sie ihm von Herzen gut sei und ewig bleiben werde, zu trösten gesucht. Therese hatte sich sogar an ihn schmiegen und ihn liebkosen wollen. Er hatte sie, die aufknospende Jungfrau mit den Madonnaaugen seiner eigenen Mutter, nicht ohne Selbstüberwindung auf den Standpunkt eines Kindes und einer Schülerin zurückweisen, sie daran erinnern müssen, daß sie eine reiche Erbin sei, an welche die Mutter und die Freundschaft, sobald sie erwachsen sei, andere Ansprüche machen würden, und daß sie vielleicht noch schwerere Opfer zu bringen bereit sein und größern Schmerz tragen müsse als er jetzt. »Ich«, hatte er gesagt, »bin ein armer Candidat, der Sohn eines armen Handwerkers, der vor nicht langer Zeit von Gemeinde wegen im Spritzenhause einquartiert war, und der jetzt ein untergeordneter gräflicher Diener ist. Nur durch Stipendien und Freiliste und die Unterstützung der Gräfin von Wildhausen ist es mir möglich geworden, die Domschule zu besuchen und zu studiren. Ach! Armuth erzeugt Demuth, und der liebe Gott scheint mich dafür bestrafen zu wollen, daß ich so hochmüthig war, meinen Sinn zu Ihrer Cousine, zu Anna Dummeier, zu erheben. Es ist nur ein Gefühl des Mitleids, das Bedürfniß aller guten weiblichen Seelen – zu trösten – welches Sie für Zuneigung halten. So gern ich in diesem Hause bin, so lieb ich Sie und Ihre Schwester habe, so zwingen Sie mich, dieses Haus zu verlassen, wenn Sie dieser kindlichen Grille mehr Gewicht beilegen, als sie verdient, wenn Sie auch nur durch einen Blick kundgeben, daß Sie in mir mehr als einen treuen Lehrer und Freund sehen. Ich würde ja vor Gott, vor Ihrer Mutter und meinem Gewissen nicht verantworten können, wenn ich Ihre kindliche Zuneigung misbrauchte.«

»Ich sehe wohl«, erwiderte Therese, in helle Thränen ausbrechend, »daß Sie mir nicht ein bischen gut sind, sonst könnten Sie so garstige Worte nicht reden. Wenn Sie uns verlassen, gehe ich in die Weser!«

Therese entsagte, aber sie war nicht geheilt; oft, wenn der Gedanke an Anna Heinrich's Gesicht in den Lehrstunden mit Düsterheit überschattete, blickte sie ihm so bittend in die Augen und erdrückte die schweren Thränen, die ihr aus den Augen quollen, mit den langen seidenen Augenwimpern. Das that denn Heinrich, trotz der Härte, mit der er Therese von sich abgewehrt, unendlich wohl.

Heinrich fuhr fort: »Aber jetzt, als Anna's Hochzeitstag kam – er ist morgen – hielt es mich nicht länger in Grünfelde; ich habe meine Herbstferien in den August verlegt und bin zu euch geeilt. Mutter hat uns, wie du dich erinnern wirst, so oft von dem Eindrucke gesprochen, den das düstere Weserthal mit seinen Eichenwäldern auf sie gemacht habe, als sie dem Vater aus dem goldenen Mainz nach Heustedt folgte, daß ich die umgekehrte Reise zu Fuß zu machen beschloß. So bin ich denn stromaufwärts gewandert, über Nienburg und Stolzenau, durch die Porta Westphalica in die Grafschaft Schaumburg. Die Gegend wurde mit jedem Tage schöner und erreichte bei Hameln ihren Glanzpunkt. O! das Thal ist schön, schöner als der Main mit seinen langweiligen Rebengeländen. In Münden zog es mich erst hinüber nach dem Weißen Stein Später Napoleons-, jetzt Wilhelmshöhe genannt. , der aber schon zum grauen geworden ist. Nun bin ich bei euch und will, wenn ihr mich haben wollt, bis Mitte September hier bleiben, will Berge erklettern, in die Wälder mich vergraben und des Grams vergessen.«

»Das ist ja prächtig, mein Junge«, sagte der Oberförster und reichte dem Schwager die Hand. »Schlag dir die Dummeier aus dem Kopfe, die war immer ein hoffärtiges, vorlautes, eingebildetes Ding, das dich schon als kleines Mädchen an der Nase herumführte, und dem du als Pferd vor dem Wagen oder als Schulkamerad gut genug warst, die aber lieber auf Karl sah, als auf dich hörte.

»Wir wollen einen Feldzugsplan machen, für die ganze Zeit, wo du hier bist. Morgen muß ich in Geschäften nach Dransfeld, da gehst du mit, wir sprechen bei dem Förster in Jühnde vor, wenn du willst, auch bei dem Schwarzrock dort. Du kannst dort bleiben, bis ich zurückkomme, oder wenn's klar ist, begleitest du mich bis zu den Basaltkuppen des Hohen Hagen und schwelgst dort Natur, bis ich nach Dransfeld herniedergestiegen und zurückkomme. Uebermorgen muß ich für meinen Schatzrath einen Hirsch und einige Rehböcke schießen; es kommt der Ausschuß der Kalenbergschen Landschaft zusammen, dem will er ein Diner geben. Sonntag gehen wir nach Hedemünden zur Kirche, der Pastor da ist gut. Nachmittags wird, wenn das Wetter es erlaubt, hier getanzt. Montag muß ich nach Eichenberg, da kannst du mich begleiten und nach dem Hanstein laufen, wenn du willst. Dienstag gehen wir in das Leinholz auf den Anstand, um der Mutter einen Sonntagsbraten zu erlegen. Mittwochs« –

»Halt ein«, unterbrach ihn Marianne, »nun komm' ich auch an die Reihe, ich will meinem Bruder die Töchter des Landes zeigen, hübsche Hessinnen links, schöne Hannoveranerinnen rechts. Mittwoch geht's also nach Mensen zu der Oberförsterswitwe, Donnerstag, da mußt du, lieber Mann, anspannen lassen, da wollen wir nach Witzenhausen zu Apothekers, Sonnabend muß ich scheuern, da jage ich euch aus dem Hause, und Sonntag werden alle Freunde und Bekannte zu Mittag eingeladen, ich will mit meinem Bruder renommiren.« So ging es fort, über Tage und Wochen wurde im voraus bestimmt.

Wir erinnern uns, daß der Hochzeitstag Olga's und Anna's ausnahmsweise ein Tag des Sonnenscheins war; die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel, als Oskar schon seinen Schwager, den Langschläfer, vom Lager aufscheuchte, wo er von Anna und Therese, die unaufhörlich die Köpfe und Gestalten wechselten, träumte.

»Der Kaffee steht auf dem Tische und frische Kuchen, die Marianne dir zu Ehren gebacken; spute dich, daß du herunterkommst.«

»Wir wollen erst auf dem Rückwege in Jühnde einkehren«, sagte Oskar, als man den Kaffee eingenommen hatte; »da nimm das Fernrohr, auf dem Hohen Hagen kannst du das Brockenhaus bei dem klaren Wetter recht deutlich wahrnehmen, noch besser aber den Hercules auf dem Weißen Stein sehen.«

Und in der That, als man nach anderthalb Stunden auf dem Plateau des Hohen Hagen war, bot sich ein Panorama dar, das gewiß mit zu den anziehendsten im nördlichen Deutschland gehört und wenig bekannt ist. Nach Osten die Blicke gerichtet, hatte man über dem göttinger Stadtwald den ganzen westlichen Abhang des Harzes mit seinen Zerklüftungen und den Thaleinschnitten von Osterode, Lerbach, Herzberg, Lauterberg bis Ellrich vor sich. Ueber diese westlichen Abhänge schoben sich der Bruchberg und der Große Winterberg, weiter südlich der Jagdkopf und die Andreasberger Höhen hervor, dahinter aber streckte der alte Brocken seinen dromedarisch gekrümmten Rücken.

Weiter nach Süden, im Vordergrunde mit den Gleichen, der Porta Eichsfeldica und dem Rusteberge, erhebt der Rabenkopf sein hohes Haupt. Rechts davon, südlicher, bezeichnete Oskar zwei Punkte als den Kyffhäuser mit dem Rothbart und dahinter den Inselberg in Thüringen. Drehte man sich noch mehr nach Süden, so hatte man das reiche Leinethal zu seinen Füßen und ragten Arenstein, Hanstein, Ludwigsstein mit dem Hintergrunde des langgestreckten Meißner zwischen grünen Wäldern und zahlreichen Dörfern auf ihren Burghöhen hervor. Mehr nach Westen zeigten sich die Contouren des Werrathales durch die davorliegenden Bergeshöhen, unter denen sich die Brackenburg auszeichnete. Dahinter sucht sich der Kauffungerwald mit seinem Luthersberge zuguterletzt noch gegen die Vereinigung von Werra und Fulda zu stemmen, die ihr immerwährendes Hochzeitsfest in dem bergumkränzten Thale von Münden zu feiern eilen. Der nordwestliche Blick bot die Wesergebirge bis hinter Hameln, am rechten Ufer die Bergrücken des Id und bis zum Deister, im Vordergrunde den tiefwaldigen Brammerwald und Solling mit der Bramburg als Ausläufer nach Osten. Im Norden übersah man das ganze Leinethal, bis es durch die Hohe Hufe hinter Eimbeck abgeschlossen wurde. Den Weg an der Heerstraße bezeichnen die Burgen Plesse und Hardenberg.

Nachdem Oskar den Cicerone gespielt und Heinrich über alle Berge und Hügel die begehrte Auskunft gegeben hatte, wandte er sich zu seinem Geschäftsgange; nach anderthalb Stunden erwarte er Heinrich dort rechts im Jägerhofe zum Frühstück. Obgleich nun die Aussicht und Fernsicht nach allen Seiten schöner war als die nach Nordwesten, so richtete doch Heinrich seine Augen wie das Fernglas nirgends häufiger hin als dahin, wo er den Deister und seine Ausläufer in der Porta Westphalica zu erblicken glaubte, denn hinter diesem letzten Gebirge lagen nur noch föhrenbewachsene Sanddünen, und dahinter lag Heustedt und lag Grünfelde. Ob sie wol schon morgens getraut werden? dachte Heinrich. Wie lieblich wird Anna als Braut aussehen, diese lachenden Augen, diese reizenden Grübchen, dieser Sammt der Wangen, dieses goldene Haar! Doch plötzlich war es, als wolle sich das Schabernackspiel der Nacht wiederholen, er sah Theresens Gestalt in dem Brautkleide, und die Augen Theresens sahen ihn mit einer Liebe und Zärtlichkeit an, wie sie ihm einst als Kind aus den Augen der Mutter erinnerlich schienen, aus einer Zeit, wo er noch in der Wiege lag. Das Mutterwort: »Liebe ist ohne Gegenliebe nichts als leeres Phantasiegebilde«, fiel ihm wieder ein und durchdrang ihn mit seiner tiefen Wahrheit. Er weilte einige Augenblicke in diesem Gedanken und gestand es sich, wie er doch nicht ungeliebt sei, und er nahm sich vor, Anna's Bild gänzlich aus dem Herzen zu bannen. Ja, wenn das nur so leicht gethan wäre!

So saß und träumte er; Oskar war nach Dransfeld gegangen, zurückgekehrt, ohne ihn im Jägerhofe zu finden, er fand ihn noch auf dem alten Platze träumend, das Gesicht nach Nordwest gewendet.

Die Tage schwanden, wenn auch das vorher entworfene Programm zu ihrer Ausfüllung nicht immer innegehalten werden konnte, da das Wetter abermals alle seine bösen Seiten herauskehrte und von Aufdenanstandgehen, von weitern Touren nach der Teufelskanzel, Allendorf und dem Meißner verzichtet werden mußte. Nachdem bei den Pastoren, Förstern, Gutspächtern u. s. w. der Umgegend Visiten gemacht, diese bei Baumgartens zu Tische gewesen waren, erfolgten indeß mehr Einladungen, als man annehmen konnte. Heinrich mußte in Hedemünden, in Jühnde und einem hessischen Dorfe predigen, und namentlich die weiblichen Zuhörer lobten seinen Vortrag wie den Inhalt seiner Predigten. So war es Ende August geworden, und jetzt kam der Herr des Hauses Berlepsch, Hofrichter und Schatzrath von Berlepsch, zur Jagd, und sein Sohn, der Drost, kam von Herzberg herüber. Oskar Baumgarten beaufsichtigte die Berlepsch'schen Forsten und beschoß das Jagdgebiet derselben, manches Stück Roth- und Schwarzwild in die Küche nach Hannover liefernd. Der Hofrichter liebte die Geselligkeit, und wenn er auf dem Schlosse war, wurden die Honoratioren der Umgegend, die Förster und Pfarrer, sein Gerichtshalter, der zugleich Advocat und Notar in Hedemünden war, nicht nur fleißig zu den Treibjagden gezogen, sondern auch häufig zum Diner geladen. Heuer, wo das abscheuliche Wetter beinahe jeder Jagd ein Hinderniß war, folgten sich die Einladungen rascher, und Oskar wie Heinrich waren beinahe tägliche Gäste im Hause Berlepsch; dem alten Herrn, dem die Frau längst gestorben war, schmeckte das Essen nicht ohne Gesellschaft.

Vielleicht trug aber auch der Umstand dazu bei, daß der alte Herr in Heinrich einen sehr geduldigen Zuhörer fand, den er stundenlang mit einer Menge Reformplanen unterhalten konnte, die er ins Leben gerufen hätte, wenn er Minister geworden wäre. Der eigene Sohn, wie Oskar und andere, hatten das Thema schon zu viele Jahre gehört, um noch Interesse daran zu haben.

Eines Tags, Mitte September, als man im Thurmzimmer des Schlosses nach dem Himmel schaute, ob er nicht einmal Erbarmen haben und Gelegenheit zu einem großen Treibjagen geben würde, und der alte Herr, ungeduldig auf den Ruf, daß zum Essen gedeckt sei, sein altes Thema angeschlagen hatte, daß, wenn sein Vetter, der Graf Hardenberg, sich nicht mit dem Prinzen Ernst erzürnt hätte, weil dieser seiner Schwester zu zärtlich den Hof gemacht, dieser das Kurfürstenthum jetzt von London aus beherrschen würde, als allmächtiger Premierminister, und er in Hannover Kammerpräsident sein würde und seine Reformen ins Leben rufen könne, da geschah das bisjetzt unerklärliche, aber so häufig vorkommende Zusammentreffen, es erschien der Wolf in der Fabel. Oskar, der am Fenster stand, machte den Drosten darauf aufmerksam, daß von da, wo sich der Weg in den Park einbog, eine sechsspännige Extrapost angefahren komme. Man holte ein Fernglas herbei und unterschied deutlich die Uniform der preußischen Postillone, und bald hörte man auch aus zwei Hörnern ein lustiges Reiterlied den Berg hinaufblasen. Man machte Conjecturen, wer wol der Insasse der großen prächtigen Kalesche sein möge, ohne das Richtige zu treffen, denn den wirklichen Insassen, den Bruderssohn der Mutter Berlepsch's, den kürzlich mit dem Rothen Adlerorden decorirten und zum preußischen Cabinetsminister ernannten Grafen, später Fürsten Hardenberg, glaubte man ziemlich weit entfernt; der hatte ja Ansbach zu reguliren und preußisch zu organisiren, dessen Markgraf Land und Leute dem Könige von Preußen übergeben und sich seiner Souveränetät gegen eine sichere Leibrente begeben hatte. Und dennoch war es Hardenberg, damals zweiundvierzig Jahre alt, ein großer stattlicher Mann, geschaffen, Weiberherzen im Sturm zu nehmen. Die beiden im »Faust« ausgesprochenen Maximen, die Gunst der Frauen zu erwerben, hatte Goethe aus seinem Munde vernommen, als er mit ihm und Jerusalem zusammen zu Wetzlar war, Hardenberg hatte beide erprobt. Der alte Arndt hat in seinen »Wandlungen und Wanderungen« Hardenberg in Stein'scher Manier angeknurrt, ihn einen homo mulieris genannt. Es ist wahr, Hardenberg hatte viel von der Natur des Alcibiades, Egmont und anderer Herzenseroberer, aber um mit der verhüllend diplomatischen Sprache des Verfassers der »Lebensbilder« zu reden, war nicht diese wunderliche Abhängigkeit und Unabhängigkeit von Julia, Fulvia, Octavia, Kleopatra, die Wahlfrauen abgerechnet, etwas Staunenswertes? Diese Gabe, Menschen in wenig Augenblicken zu gewinnen, etwas nur wenigen Gegebenes?

Der Graf kam von Ansbach. Da, wo die Heerstraße von Heiligenstadt sich rechts nach Göttingen wendet, links der Werra sich zuzieht, war ihm der Einfall gekommen, statt direct zum Schloß Hardenberg zu eilen, nach links abzubiegen und dem ältern Vetter eine Ueberraschung zu bereiten.

Man setzte sich zur Tafel, an der Hardenberg beinahe die Kosten der Unterhaltung allein trug, denn selbst der redselige Berlepsch schien den tiefsten Respect vor dem jüngern Vetter zu haben. Man unterhielt sich lange und ungenirt über die hohe Politik. Berlepsch hatte dazu die Veranlassung gegeben, indem er es völlig unverständlich fand, wie Preußen der gleichsam durch die Natur gebotenen Stellung zu Oesterreich am 27. August 1791 in Pillnitz habe entsagen können, um sich mit diesem in Freundschaft zum Schutze des in Frankreich bedrohten Königthums und der Niederdrückung der Neufranken zu verbinden.

Der Schloßherr zeigte Hinneigung zu dem Neufrankenthum, bezweifelte eine treue und aufrichtige Bundesgenossenschaft des in den Händen jesuitischer Minister liegenden Oesterreichs, sprach von der Macht der Ideale, tadelte das kurz vorher bekannt gewordene Manifest des Herzogs von Braunschweig, obgleich er wußte, daß der als Geheimrath in Ferdinand's Diensten gestandene Vetter, der diesem eigentlich seine Stellung in Berlin verdankte, ein treuer Anhänger des Herzogs war.

Der Graf nahm die Coalition in Schutz, vertheidigte aber das Manifest nur schwach, es gieße freilich Oel ins Feuer, nach den neuesten Depeschen, die er von seinem königlichen Herrn erhalten, lasse die Eroberung von Verdun auf eine baldige Niederwerfung der Neufranken hoffen. Sein königlicher Herr weile in Glarieux bei Verdun, die Armee dringe rasch vor, und er werde, nachdem er in wenig Tagen das Nöthige auf dem Hardenberge geordnet, dem Könige ins Hauptquartier folgen, das dann vielleicht schon in Paris aufgeschlagen sei.

Der Schatzrath meinte zwar, er fürchte, das werde doch so schnell nicht gehen, das Wetter sei abscheulich, und in Paris organisire man den wahren Widerstand erst, möglich sei sogar, daß das Ding ein Ende mit Schrecken nähme. Auch schiene die österreichische Mitwirkung nicht energisch und kräftig genug. Allein Hardenberg lachte und meinte mit leichtem Sinne: »Ich hoffe, es sollen wenige Wochen vergehen, und ich selbst werde mich in Paris überzeugen können, ob die Pariserinnen durch die Revolution an ihrer Anmuth und Liebenswürdigkeit verloren haben. Jedenfalls werden sie unter der Regierung Ludwig's. XVII. diese bald wiedergewinnen.«

Der arme Candidat der Theologie hatte einen Mann von solcher gründlich wissenschaftlichen Bildung, von solcher Höhe und solchem Umfange des Blickes in die menschlichen Verhältnisse, verbunden mit den feinsten, leichtesten, gefälligsten Manieren, noch nie gesehen, er starrte ihn fortwährend an und vergaß darüber Essen und Trinken. Der Graf, der dies bemerkte und den das politische Gespräch ermüdete, erbarmte sich seiner, er fragte ihn auf das leutseligste nach seinen Studien, erkundigte sich nach göttinger Größen, nach Schlözer und Spittler, Eichhorn, Michaelis und Planck, nach Lichtenberg und Bürger, auch nach Heinrich Dietrich, dem Buchhändler; er lobte unsern jungen Freund, daß er sich mit der in Göttingen sonst verrufenen Kant'schen Philosophie beschäftigte, sprang auf Goethe's »Faust« über, aus dem er lange Stellen recitirte, zeigte sich bewandert in allen Fächern der poetischen deutschen Literatur und rühmte namentlich Schiller's neueste historische Arbeit im »Taschenkalender für Damen«. So kam der Tafelschluß – der Champagner war entkorkt, und Oskar wagte auf das Wohlsein der tapfern preußischen Armee, welche die Champagne wol schon erobert habe, in Epernay campire und dort sich an dem edeln Schaumwein selbst labe, ein Hoch! anzustimmen. Wer hätte geglaubt, daß die tapfere Armee nach drei Wochen schon, im traurigsten Rückzuge begriffen, eilen mußte, hinter dem Rhein Schutz zu suchen? –

Pfeife und Taback wurde mit dem Kaffee präsentirt, man überließ sich gemüthlichen Plaudereien.

»Wie haben dir denn die Ansbacherinnen gefallen?« fragte Berlepsch den Vetter.

»Sie sind nicht so warm, zuvorkommend und hingebend als die Wienerinnen und nicht so kalt und heuchlerisch als euere Damen in Hannover; aber, wenn sie lieben, voll Glut und Opfermuth.«

»Apropos, lieber Drost«, wandte sich der Graf zu dem Drosten, »ich habe ganz vergessen – die Staatsactionen mögen das entschuldigen – dir meine Gratulation zur Verlobung mit Ida von Vogelsang zu bringen. Ehe ich zum Reichstage nach Regensburg ging, war ich einmal einige Zeit in Heustedt, als Gast des Grafen von Wildhausen. Das waren drei herrliche Weiber, die Gräfin Melusine, die Baronin Bardenfleth und die Vogelsang, deine Schwiegermutter wie die übrigen nicht gar spröde. Gute alte Schule!«

Hardenberg schien sich in die Vergangenheit zurückzuversetzen, und zwar in eine angenehme, denn seine schönen Züge verklärten sich förmlich.

Der Drost bekam Fahrwasser, er war bisjetzt schweigsam gewesen.

»Also lieber Oheim, du kennst Heustedt? Da muß ich dir doch die neueste Anekdote erzählen, die bei der Doppelhochzeit der Olga von Wildhausen und ihrer Milchschwester Anna passirte; ein Skandal, der in Hannover das größte Aufsehen erregt hat.«

Und der Drost erzählte nun, was unsere Leser bereits wissen. Heinrich wurde es warm und kalt bei dieser Erzählung; weder der Schloßherr noch sein Sohn ahnten, daß und in welcher Beziehung er und Oskar zu Heustedt und den Personen ständen, von denen man sprach.

»Da strafen sich die Sünden der Väter und Mütter«, sagte der Graf; »kein nobler Blutstropfen mehr in diesen Schlottheims, trotz des uralten Adels. Die Großmutter war Maitresse Georg's II., vom Manne selbst in der Göhrde verkuppelt, es gelang ihr aber nicht, die Schulenburg zu verdrängen; die Mutter suchte sich Liebhaber aus allen Ständen; der Geheimrath hatte selbst stark gelebt in Wien und Berlin und ließ es geschehen.

»Dieser Gestütmeister, von dem du erzählst, muß derselbe sein, der mit der Karoline Mathilde von Kopenhagen kam, eine Creatur Struensee's, aus der Hefe des Volks, von dem man arge Dinge erzählt. Er soll noch lange im Solde der Giftspinne Juliane gestanden haben, das wird kaum ein gutes Ende nehmen, diese Doppelhochzeit!«

Man war auf ein Kapitel gekommen, das unerschöpflich war, auf die Entartung des hannoverschen Adels durch die Maitressenwirthschaft seit der Zeit des Kurfürsten Ernst August. Hardenberg wie Berlepsch waren äußerst bewandert in allen den geheimen und öffentlichen Liebesaffairen der beiden ersten George, und man zählte die wenigen Familien auf, die sich rein erhalten von dem Versuche, durch Gattinnen und Töchter Gunst und Ehrenstellen zu gewinnen.

Heinrich winkte dem Schwager mit den Augen zu, dieser verstand endlich, und man verabschiedete sich. Als man ins Forsthaus zurückgekehrt war, erklärte Heinrich, er werde morgen abreisen, es wäre ihm, als müsse er Anna aus einer großen Gefahr befreien.

In der Nacht träumte er denn wirklich, Claasing wäre ein neuer Blaubart und erdrossele seine Anna.

Am folgenden Tage brachte Oskar den Schwager nach Göttingen, wo er zwei Tage sich aufhalten mußte, um die Abfahrt der Postkutsche, einer federlosen natürlich, die wie ein heutiger Thierwagen aussah, nach Hannover zu erwarten.


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