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Dezember

Die Dächer der Kolbenschen Fabrik sind nicht viel höher als der Turm, der nachts im roten Schein leuchtet und von Zeit zu Zeit einen feurigen Strahl gegen den Himmel sendet; der Turm, der die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zieht. Das ist der Hochofen, der nach unten in die graue Gießerei führt, in der Toni beschäftigt ist.

Oben arbeitet neben dem alten Litochleb der Edi Worrel, ein breitschultriger Junge mit welligen Haaren. Die Ärmel sind hochgeschürzt, das Hemd über der Brust geöffnet. Es ist immer schwarz von Kohle und Ruß.

Die Wagen mit Alteisen werden im Aufzug in den Turm hinaufbefördert. Das Alteisen ist in allen Ecken der Stadt aufgelesen, von den Lagerräumen, Müllhaufen und Höfen geholt, ein sonderbares Material, vom zerbrochenen Tiegel und bartlosen Schlüsseln bis zum Wagenrad, vom Eisenring und Irrigator bis zur Schrapnell- und Granathülse.

Acht Stunden täglich wirft Edi Worrel all dies mit der Schaufel in den Schlund des Ofens. Immer abwechselnd Eisen, Koks und Kalk. Der Schmelzofen frißt Metall und Brennstoff, schluckt unersättlich. Seine Glut steigt bis zu 1200 Grad Celsius.

Unten im Saal ist der Ofen eine glatte Walze. Er sieht grau und nackt aus wie ein geplünderter Baum und ist nur durch eine Luke unterbrochen, die nicht größer ist als die einer Gefängniszelle. Durch die Luke kann man sehen, wie einfach der Organismus dieses Ofens Nahrung und Blut verarbeitet. Genau wie die Verdauungsorgane eines Regenwurms. Über Koks und Kalk, die in weißes Eis mit leicht rosigem Schimmer verwandelt sind, laufen rosige Tropfen und dünne Fäden dessen, was vor einer Viertelstunde rostiges Zeug war und in einer Stunde Maschinenbestandteile sein werden. Das Blut wird ausgelassen. Es gehört dem Kapital, ebenso wie das Blut der Arbeiter. Man gibt weder den Menschen noch dem Ofen umsonst zu essen. Das Blut wird durch eine Öffnung ausgelassen, welche die Größe einer menschlichen Faust hat, und die jetzt mit Töpferlehm verschmiert und darum unsichtbar ist.

Um 4 Uhr nachmittags kommt der Gießmeister mit einer langen Stahlstange und sticht den Ofen wie ein Schlachttier. Das Blut schießt hervor, dickes, weißrosafarbiges Blut, läuft in den Trog und erleuchtet den Saal und die Gesichter der Arbeiter mit einem weißen Schein. Am Trog stehen die Arbeiter immer zwei und zwei mit Eimern, die auf Stangen aufgezogen sind. Sie fangen das Blut und eilen zu den Sandformen, um es einzugießen. Dann erhellt sich der Saal der grauen Gießerei von vielen roten Blumen. Die Luft erwärmt sich, der Saal füllt sich mit einem beißend-sauren Geruch. Wenn die Sandformen nicht gut getrocknet sind, springt die glühende Masse bis zur Decke und fällt den Gießern in glühenden Brocken auf den Kopf und hinter den Hals.

Dann ist das Werk des Gießers beendet.

Edi Worrel wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, zündet sich eine Zigarette an. Der alte Litochleb setzt sich auf einen Eisenhaufen und schaut tot vor sich hin.

Edi arbeitet oben, Toni unten.

Unten ist ein großer rechteckiger Saal, in dem sich Sandhaufen und Eisenhalden befinden, grauer Sand und schwarzes Eisen. Geruch des Stahls, feuchter Erdgeruch.

Der Gießer arbeitet in der Erde, er baut in den Sandboden Kunstbauten ein. Hier wird das Eisen eingegossen, um zu Maschinen zu werden. Aber die künftige Maschine kann nur lebendig werden, wenn ihr eine Seele eingehaucht worden ist. Die Menschen geben ihr die Seele. Die Maschinen erhalten ihr Leben davon, daß die Arbeiter mit zehn Fingern die Intelligenz ihres Hirns, die Empfindsamkeit ihrer Nerven, die Stärke ihrer Muskeln übertragen, daß sie den Maschinen die Wärme ihres Blutes, und mit ihr ein Stück ihres Lebens geben. Wenn das Gerippe eines Turbogenerators, den Toni modelliert, zur Maschine wird, wird sie sich, sei es wann immer in der Zukunft, durch Tonis Energie bewegen, und die Maschinen, die der Turbogenerator in Gang bringen wird, seien es nun Webstühle, Waschmaschinen, seien es Kräne oder Werktonnen, werden alle im Rhythmus von Tonis Herzen schlagen. Im Saal der »Graugießerei« arbeiten 100 Genossen mit Toni, deren Gesichter durch die Arbeit und den Kampf mit Eisen und Feuer scharf geworden und deren Hände von Graphit geschwärzt sind, mit dem die Formmaschine angestrichen wird. Zehn Meter über Tonis Kopf fährt sein zweiter Freund und Genosse Peter Malina. Er ist das Hirn des fahrbaren Krans. Der ist auf Traversen an der Decke angebracht und hat einen eisernen Käfig, in dem Peter sitzt, und von dem aus er die Maschine lenkt. Der Kran fährt mit Dröhnen hin und her und läßt Ketten herab, die massive Haken haben, an denen die Gußeisenblöcke, Maschinenbestandteile oder Trockenöfen befestigt werden, damit sie, schwankend und ewig die Umgebung bedrohend, nach dem anderen Ende der Graugießerei befördert werden. Beim Guß großer Maschinen fährt der Kran bis zum Kuppelsaal und greift mit seinen Kettenfängen die riesigen Gußformen, die mit 50 Zentnern flüssigen Metalls gefüllt sind. Er hebt sie einen halben Meter über die Sandform und fährt mit ihnen zur Stelle, wo sie in den Sandbau hinuntergelassen werden. Dieser Weg macht den Eindruck eines festlichen Brauchs, ein Zug von Arbeitern mit Siegermienen begleitet die Gußform auf ihrer langsamen Fahrt und hält sie mit Stangen im Gleichgewicht. Kein religiöser Ritus kann erhabener sein, als die dröhnende Musik des Krans und der Ketten und als die feierliche Illumination ringsherum. Wenn der Zug an der Form der künftigen Maschine stehenbleibt und die Arbeiter die Form mit Gewindebohrern nach vorne neigen, und wenn das glühende Eisen laut zischt und leuchtet, dann sind Sand und Eisen, die Arbeitergesichter und -hände und der Kran von roter Glut überschwemmt. Dann faßt sich Peter Malina mit seinen schwarzen Fingern an die Nase, die voll sauren Gasgeruchs ist, neigt sich aus seinem Käfig und sucht Toni mit den Augen. Denn seine Arbeit ist für diesen Tag beendet.

Auf der einen Seite der »Graugießerei« ist der Saal der »Weißgießerei«, wo Tag und Nacht eine Reihe von Martinsöfen glüht, in deren Kesseln reines Eisen zischt wie siedendes Wasser. Auf der andern Seite sind die Säle der Stahlgießerei, wo man mit kleinen Formen arbeitet, die wie Kinderspielzeug aussehen. Auf den Höfen sind Sandmühlen, Schlossereien, Tischlereien, Expeditionen, die Kohlen- und Eisenlager sind hier und die Büroräume. Es ist eine Stadt der Schlote und Gebäude, und überall ist eine Kette von Menschenhänden an der Arbeit, die sich ihr Werk reichen. 2940 Menschenhände, 1470 Genossen und Genossinnen sind an der Arbeit. 1470 moderne Industriearbeiter. Das sind nicht mehr die proletarisierten Handwerker vergangener Geschlechter, die durch die Konkurrenz der Fabriken an den Bettelstab gebracht wurden, und die, aufs Haupt geschlagen, eines Tages durch das Joch der Fabriktore gingen, ohne je das Handwerk mit dem goldenen Boden zu vergessen, und ohne je den Traum vom Rächer, von der Vernichtung der Maschinen und ihrer Feinde aufgegeben zu haben. Das sind nicht mehr die Sklaven der dreizehnstündigen Arbeitszeit, die einem vergangenen Geschlecht angehörten und unter dem Dröhnen der Maschinen auf Juteballen und Sackhaufen geboren wurden, stumpf, hungrig, vom ersten Glas Branntwein, das sie nach der Lohnzahlung tranken, betrunken, unter denen sich nur einzelne erhoben, um Kämpfer, Märtyrer und Zeugen zu werden. Die Organisationen, in Gefängnissen und Vorstadtkneipen errichtet, haben die Arbeiterschaft zur Klasse gemacht.

Der Begriff Klasse ist das größte Pfand der neuen Zeit, denn er hat die Leere der ungeheuren Massen mit einem Inhalt gefüllt, hat ungezählten Massen die Möglichkeiten zur Liebe und zum Kampf gegeben, zur Liebe bis zum Tode, zum Kampf bis zum Sieg. Er ist schon lange ins Mark und Blut des Toni Krousky und seiner Genossen übergegangen. Es wurde ihnen klar, daß sie die Schöpfer aller Dinge und ihre Erben sind. Der Haß gegen das Werk, gegen die Maschine, gegen die Fabrik war geschwunden. Sie sahen ihre Herrscher nicht mehr in Equipagen durch die Fabriktore fahren, sie brachten ihnen nicht mehr am Vorabend von Festtagen für ein Faß Bier und einen Topf Wurstzeug Ständchen. Das Herrentum hatte sich in Aktien verflüchtigt, die man in den Fächern der Schreibtische aufbewahrte, und in Kleider der Frau verwandelte.

Am 9. Dezember 1920, um 4 Uhr nachmittags, in der Zeit, wo die Gußformen ihren glühendroten, sprühenden Inhalt in die Sandform gossen, erscholl der Kampfruf. Der Heizer Nedela lief von der Weißgießerei in die Graugießerei zu Toni.

»Krousky, das Volkshaus ist von der Polizei besetzt worden!«

Tonis Gestalt richtete sich auf. Das Herz begann ihm zu schlagen. Die Finger bogen sich, als ob sie nach dem Gewehr griffen.

»Was weißt du weiter?«

»Nichts – die Kolbenfabrik soll zu Hilfe kommen.«

Toni lief durch den Saal der Graugießerei, sprang über Werkzeuge und glühende Eisenstücke hinweg und eilte die Wendeltreppe hinauf.

»Edi, die Polizei hat das Volkshaus besetzt. Wir müssen zu Hilfe kommen. Alarmiere die Höfe, ich nehme die Säle auf mich.«

Er flog die Treppe hinunter in den Saal zum Kran.

»Peter, Peter«, rief er hinauf.

Aber Peter verstand im Eisengetöse nicht und neigte sich, die Hände ans Ohr legend, aus dem Käfig. Da sprang Toni auf die Form und brüllte, den Arbeitslärm übertönend:

»Arbeit einstellen, Genossen! Das Volkshaus ist von der Polizei besetzt worden. Niemand geht nach Haus. Wir ziehen hin.«

Die Arbeiter liefen zusammen. Auch diejenigen, welche die Sache nichts anging, unterbrachen die Arbeit, um zu hören, was los war. Der Meister eilte hochroten Gesichts herbei und brüllte Toni an:

»Menschenskind, sind Sie verrückt geworden, jetzt aufhören?«

Peter Malina verstand erst jetzt, worum es ging. Er stoppte den Kran, und im Saal war es auf einmal still.

»Was ist, Toni? Sollen wir zu Hilfe kommen?«

»Ja.«

Da stellte sich Peter Malina in seinem Käfig auf und schrie, daß es durchs Eisen der Graugießerei hindurchklang und durchs Tor in die Weißgießerei und in die Stahlgießerei hinüberschallte:

»Arbeit einstellen, das Volkshaus ist von der Polizei besetzt.«

Der Ingenieur schoß herbei, der Meister brüllte zu Peter hinauf und fuchtelte mit den Händen.

»Menschenskinder, seid ihr verrückt geworden?«

Ein großer schwarzer Gießer drängte sich bis zu ihm durch und brüllte:

»Was mischen Sie sich denn in unsere Sachen?«

Er wandte sich energisch um.

»Arbeit einstellen!«

Toni sprang von der Gußform herunter. Er eilte in die Weißgießerei und schrie schon in der Tür seinen Schlachtruf. Dann weiter, in die Stahlgießerei.

»Arbeit einstellen, wir kommen dem Volkshaus zu Hilfe.«

Indes rannte Edi Worrel von einem Hof zum andern, zu den Sandmühlen, nach den Lagerräumen, in die Handwerker-Werkstätten. Er hielt sich überall nur eine Sekunde auf, um Alarm zu schlagen.

Das Volkshaus war von der Polizei besetzt.

Die Dinge waren im Laufe des Herbstes gereift. Die Partei wurde zu 80 Prozent von der Opposition gewonnen, und als sich ihr Zentralorgan, das »Volksrecht«, auf einen anderen Standpunkt stellte, zog eines Abends, nach einer stürmischen Sitzung, ein Trupp von Vertrauensleuten herbei und besetzte die Redaktion.

Die Polizei benachrichtigte Anton Deutsch, der in der Redaktion saß. »Ein Haufen von ungefähr zweihundert Menschen zieht zum Volkshaus. Wünschen Sie Hilfe?«

Das Herz des alten Anton Deutsch schlug ängstlich. Es war doch ein Arbeiterherz. So weit sind die Dinge gediehen? Die Arbeiter gegen ihn!

»Nein, wir danken Ihnen«, antwortete er der Polizei und verließ mit Josef Stiwin das Blatt, an dessen Wiege er gestanden hatte.

Die Arbeiter eroberten das Volkshaus und die Redaktion. Es war ihr Eigentum. Sie waren es gewesen, die sich das Abendbrot, ein Glas Bier und Zigaretten versagt hatten, um dem Vertrauensmann eine Marke abzukaufen, die einen Ziegelstein des künftigen Volkshauses bedeutete. Sie hatten, als das Blatt in schwerster Not war, Sammlungen veranstaltet. Sie hatten von Tür zu Tür agitiert. Sie opferten den Morgenschlaf vor Arbeitsbeginn für die Zeitungskolportage. Sie nahmen nun von neuem von ihrem Eigentum Besitz.

Zwei Monate hielten sie es, zwei Monate dauerten die Verhandlungen mit den Advokaten, Direktoren, Ministern, Abgeordneten und der Regierung, die verlangten, daß das Eigentum der Partei den Arbeitern wiedergenommen und in ihre Hände zurückgelegt würde.

Es war klar, daß dies nur mit bewaffneter Macht erzwungen werden konnte.

Es kam der 9. Dezember. Das Volkshaus wurde von der Polizei besetzt.

Alles ging den Amtsweg. Um ½4 Uhr kam ein Magistratsbeamter in das halbleere Gebäude des Volkshauses und überreichte dem Direktor der Druckerei einen Bogen Papier, der mit Amtsstempeln versehen war und den Auftrag enthielt, die Druckerei zu versiegeln.

Eine geräuschlose Amtshandlung, zu der auch die Tageszeit passend gewählt war. Die Abendausgabe des Blattes ist bereits erschienen, mit der Morgenausgabe ist noch nicht begonnen. Die Maschinen schlafen, die Räume sind halbleer. Auf den Straßen erhellen sich die ersten Schaufenster. Nur wenig Passanten sind zu sehen. In den Fabriken eilt die Arbeit in scharfem Tempo dem Ende zu, und es ist keine Zeit, an etwas anderes zu denken.

Auch die Jahreszeit war günstig. Zu Weihnachten spricht man in den Arbeiterfamilien viel mehr von Weihnachtskuchen und von den Geschenken für die Kinder als von der Revolution, und die Gedanken der Mütter sind von Sentimentalität durchwirkt.

Die einstigen Arbeiterführer kannten genau die Schwäche der Festung, gegen die sie den Sturmangriff unternahmen, und sie kannten ihre Besatzung. Dennoch brachte die Amtshandlung eines armseligen Beamten, die an einem ruhigen Nachmittag vollzogen wurde, den ganzen Staatsapparat in Erschütterung. Das Militär hatte Bereitschaft. Polizei war aus der ganzen Umgegend zusammengezogen. Das Polizeipräsidium war von frühmorgens in Tätigkeit. Die Telephonleitungen des Volkshauses wurden überwacht. Schon am frühen Nachmittag statteten Detektive dem Volkshaus einen Besuch ab; stiegen bis zu den Kellern hinunter und bis zu den Dachböden hinauf und forschten nach, ob keine Waffen verborgen seien.

Wenn ein Detektiv einem Arbeiter verdächtig erschien, so fragte er sofort, ob hier nicht Herr Glos arbeite.

In der Minute, als der Magistratsbeamte dem Direktor den Befehl zur Versiegelung überreichte, saß der Ministerpräsident in einem Sessel in seinem Arbeitszimmer. Ihm zur Seite stand sein treuer Helfer, Ministerialdirektor Podhradsky. Beide, erfahrene Beamte des alten kaiserlichen Regimes, gaben sich, die Zigarre im Munde, noch ruhiger, als sie in Wirklichkeit waren, und erwarteten die ersten Berichte.

Nach einer kurzen Zeit klingelte das Telephon im Büro des Volkshauses. Es meldete sich das Innenministerium. Es empfahl, einen Versuch zu unternehmen, die Angelegenheit im Vergleichswege zu ordnen. Es erklärte, daß es keineswegs wünsche, daß es zu irgendwelchen politischen Kämpfen käme, und nahm zur Kenntnis, daß für 6 Uhr eine Versammlung der Vertrauensleute nach dem Volkshaus einberufen sei, die über die Angelegenheit beraten und entscheiden sollte.

Es war der Ministerialdirektor Podhradsky, der gesprochen hatte. Der Ministerpräsident saß mit gekreuzten Beinen im Ledersessel, hielt den Hörer in der Hand und nickte bei den fragenden Blicken Podhradskys kurz mit dem Kopf.

Während dieser unfruchtbaren Verhandlungen besetzten 300 Mann Polizei das halbleere Volkshaus. Sie pflanzten sich in Reihen auf den Höfen auf und sperrten die Durchfahrten nach den Straßen ab. Die halbleere Festung, in einem Zeitpunkt überrascht, wo sie es am wenigsten erwartet hatte, wurde von der Welt abgeschnitten und luftdicht abgeschlossen. Keine Lebewesen konnten hinein oder heraus, nur das Telephon funktionierte noch. Es war von einigen Funktionären besetzt, die zufällig im Hause waren, und die nach der ganzen Stadt telephonierten und versuchten, soweit es ging, mit den Fabriken in Verbindung zu treten.

»Das Volkshaus ist von der Polizei besetzt. Verständigt die Fabriken, Danek, Kolben, Ringhofer und die anderen. Für sechs Uhr abends ist in dem Gartensaal des Volkshauses eine Sitzung der Fabrikvertrauensleute einberufen. Schnell nach den Betrieben, alles verständigen!«

Als die Polizei, die das Telephon überwachte, merkte, welche Parole aus dem Volkshaus kam, wurden die Gespräche unterbrochen, und das Telephon verstummte. Das Volkshaus war von der übrigen Welt vollkommen abgeschnitten. Es stand inmitten des Dezemberabends allein wie ein Fremdkörper, der zwischen die Häuser der Stadt eingezwängt wurde, anders als diese und außerhalb ihrer Gesetze.

Um 5 Uhr nachmittags traf der erste organisierte Zug ein. 150 Arbeiter marschierten im schnellen Schritt durch die Straße, und die vielköpfige Menschenmenge trat vor ihnen gerne zurück, lieber als vor den Straßenbahnwagen. Als der Zug vor dem Eingang zum Volkshaus stand und nur eine kleine Spanne von der Brust der Schutzleute entfernt war, da wich er unwillkürlich zurück und schwankte.

In der Gasse vor dem Volkshaus ballten sich kleine Haufen von Fußgängern zusammen, und die Reisenden, die vom Bahnhof gegenüber kamen, blieben stehen, um zu sehen, warum das Tor des Volkshauses von der Polizei abgeriegelt war, und warum so viele Schutzleute auf der Straße standen.

»Weitergehen! Nicht stehenbleiben! Weitergehen!« schrien die Schutzleute.

»Zurück!« brüllte der Polizeioffizier aus dem halberleuchteten Eingang.

Der Polizeioffizier stand hinter dem vierfachen Kordon der Schutzleute.

»Ich mache sonst von der Waffe Gebrauch.«

Ein Sturm von Entrüstung antwortete ihm. Die Polizeimannschaften hielten die Hände fester, die sich zu vierfacher Kette geschlossen hatten.

Geschrei, Geschrei.

Der Vertrauensmann des Zuges brüllte den Polizeioffizier an, daß für 6 Uhr nachmittags im Volkshaus auf Wunsch des Innenministeriums eine Sitzung einberufen sei, und daß man ihn hereinlassen müsse.

Der Offizier antwortete irgend etwas.

Die erregten Arbeiter erklärten den Schutzleuten leidenschaftlich, daß auch sie Proletarier seien, und daß die Uniform ihre Familien nicht vor Hunger und Not schütze. Die eisigen Gesichter der Schutzleute waren bleich. Ihre Hände schlossen sich krampfhaft. Dann toste wieder der Lärm.

Ein Aufschrei.

Ruck-zuck. Von rückwärts kam ein kurzer mächtiger Ruck, Körper stieß gegen Körper, erhobene Arme schützten die Augen. Der vierfache Kordon ist durchbrochen, die Vordersten stolpern und laufen, die Masse treibt vorwärts, die Einfahrt dröhnt von eilenden Schritten. Die Masse ergießt sich in den Vorhof des Volkshauses. Wer mitkommen wollte, wurde mitgerissen.

»Hurra, Hurra!«

Die Gesichter der Schutzleute waren aschgrau. Irgend jemand verhöhnte sie. Das Konfektionshaus gegenüber ließ eilig die Jalousien vor den erleuchteten Schaufenstern niedergehen.

Die Straße verdunkelte sich dadurch ein wenig.

Der zweite Durchbruch gelang kurz darauf den Metallarbeitern von Danek.

Danach kam die Kolbenfabrik. 150 Metallarbeiter, die sich auf dem Wege noch mit anderen vereint hatten. An der Spitze gingen Toni, Peter und Edi Worrel.

Man hörte sie schon von weitem.

Sie sangen ein Marschlied, 200 Männerkehlen sangen das rote Lied, und ihre Stimmen und ihre Schritte ließen das Glas der Straßenlaternen erzittern.

»Fort mit Tyrannen und Verrätern!« erklang es zwischen den Häuserblöcken, und das Wort »Verräter« hatte eine wilde rote Farbe.

»Es kommt der Tag, da wir uns rächen!« erscholl es zum Abendhimmel. Der Gesang näherte sich, die Neugierigen traten in ängstlicher Achtung vor dieser organisierten Kraft schweigend zurück.

Der Zug von 200 Metallarbeitern mit schwarzen Händen und Augen, aus denen Entschlossenheit blitzte, trieb sie mit derselben Selbstverständlichkeit auseinander, mit der das Messer ins Brot dringt.

Der Polizeioffizier in der Einfahrt schrie wieder irgend etwas.

Aus den dichtgedrängten Gruppen der Neugierigen arbeitete sich mit Händen und Füßen ein junger Student heraus, der junge Jandak. Er lief den Marschierenden entgegen, sprang zu Toni. Seine Augen leuchteten.

»Wir stoßen durch. Nehmt mich mit!« schrie er, neben Toni marschierend.

»Komm!« antwortete Toni ruhig, ohne den Schritt zu verlangsamen.

»Wir beide gehen als erste, Toni!«

Die Stimme des jungen Jandak zitterte. »Wir müssen den Genossen drinnen eine wichtige Nachricht bringen. Die Polizei hat das Kino in der Seitenstraße besetzt und will nach der Vorstellung durch das rückwärtige Tor in das Volkshaus eindringen.«

Sie waren bis auf 20 Schritte an den Polizeikordon herangekommen. In diesem Augenblick sprang der junge Jandak zwei Schritte vor, hob die Rechte und brüllte »Hurra«. Mit hervorquellenden Augen, mit geöffnetem Munde und gehobenen Händen flog er vorwärts. In der Masse hinter ihm ging das letzte Wort des Liedes in ein betäubendes »Hurra« über. 400 Beine machten 15 wilde Schritte. Es gab kaum einen Zusammenprall, die vierfache Kette der Schutzleute wankte und riß. Durch die enge Einfahrt jagten die Arbeiter der Kolbenfabrik in den halbdunklen Hof des Volkshauses, wie Wein aus dem Faß hervorbricht. Sie kümmerten sich nicht um die Schutzleute, die gegen die Wand gedrängt und vom Strom mitgerissen wurden.

»Hurra«, klang es ihnen begeistert vom Hof entgegen.

Ein mächtiger Choral, das »Lied der Arbeit« erscholl. Seine Melodie war voll Vertrauen und voll Siegesgewißheit.

Unter diesen Umständen konnte die Versiegelung der Druckerei nicht durchgeführt werden. Der Magistratsbeamte ging unter den schwarzen Menschenmassen auf und ab und bemühte sich, möglichst unauffällig zu bleiben. Die Arbeiter bauten Barrikaden.

Sie schleppten Wägelchen und Kisten in den Garten und schleiften ein altes unbenutztes Tor hin.

Aus Kisten und Papierrollen bauten sie an beiden Durchfahrten Barrikaden. Niemand nahm zur Kenntnis, daß eine Kette von Schutzpolizei die Straße absperrte. Die Schutzpolizei belächelte den Bau der Barrikaden und zwang sich, angesichts der Übermacht nicht feindlich zu erscheinen. Nachdem der Polizeioffizier alle Reserven aufgebraucht hatte, entsandte er einen Zivilbeamten, der um Verstärkung telephonieren sollte.

Dann kam die Parole. Auf dem Balkon erschien die Silhouette eines Mannes, der den Massen, die sofort verstummten, folgendes zurief:

»Genossen, Vertrauensleute! Kommt sofort in den Gartensaal, wo die Beratungen stattfinden werden. Aber nur die Vertrauensleute.«

Das Holzgebäude mit den Glaswänden war sofort überfüllt. Toni war anwesend.

Der Saal leuchtete wie immer, einer Laterne gleich, in die Nacht.

Im Garten waren unter der Menge viele Neugierige, die mitgerissen worden waren, und nun in den Saal blickten. Die Versammlung der Vertrauensleute war die erste organisierte Tat des heutigen Tages. Sie sollte Führung und Parole bringen.

Der Vorsitzende der Fabrikvertrauensleute, Dominik Hanlin, Arbeiter in einer Chemikalienfabrik, betrat die Bühne. Er eröffnete die Beratung und gab einen kurzen Überblick über die Ereignisse des heutigen Tages.

Dann ergriff der Direktor der Druckerei das Wort.

Kaum hatte er den ersten Satz beendet, öffnete sich die Tür und ein Häufchen Menschen mit einem dicken glatzköpfigen Mann an der Spitze betrat den Saal.

Toni wandte unwillkürlich den Kopf, und sein Blick ruhte auf dem kleinen, dicken Mann mit einer Brille, der den Eindruck eines schlecht bezahlten Schreibers machte.

Woher kenne ich diesen Menschen, blitzte es durch Tonis Kopf. Das war der Spitzel, der sich damals, als er mit Anna und Plecety hier gewesen war, so auffällig angeboten hatte, Bomben und Minenwerfer aus Hamburg über die Grenze zu schaffen. In dem Augenblick, als er sich das klarmachte, schrie auch schon von der rechten Seite des Saales jemand anders:

»Achtung! Acht-Groschen-Jungs sind da!«

Alles wandte die Augen zu den Ankömmlingen. Noch ein Ruf:

»Den Dicken mit der Glatze kenne ich.«

Die Detektive versuchten zu verschwinden. Sie wurden aufgehalten, bekamen mächtige Hiebe und wurden durch die Türe in den Garten gejagt.

Dieser Zwischenfall, der sonst kurz erledigt und mit einem Lachen abgeschlossen worden wäre, griff diesmal die Nerven heftig an. Es dauerte lange, bevor sich der Saal wieder beruhigte und der Direktor des Unternehmens sprechen konnte.

Er sagte etwa zwanzig Sätze.

Von draußen, irgendwo vom ersten Hof her, kam ein erstickter Schrei.

Die Köpfe flogen herum, die Körper stemmten sich nach. Das Geschrei klang verdächtig. Gendarmerie hatte die Barrikaden durchbrochen, die in der Einfahrt aufgestellt waren, und stürmte in den Hof.

Die Vertrauensleute erhoben sich von ihren Sitzen. Die Sessel und Stühle knarrten. Ein neuer Aufschrei ertönte aus der Menge im Garten. Ein kurzer, hoher und warnender Schrei. Toni sprang auf und lief zur Tür. Da erklang ein seltsamer Schlag gegen Holz und Glas. Die Glasscheiben, welche die Gartenwände des Saales bildeten, fielen mit kurzem betäubenden Klirren in den Raum. Die Gendarmerie war in einer Schützenkette vom Garten aus gegen den Saal vorgestürmt und hatte mit einem einzigen disziplinierten Stoß von 50 Gewehrkolben das Glas und die dünnen Holzverbindungen zertrümmert. Die Gendarmen sprangen in den Saal. Gleichzeitig drang die Polizei durch die Tür ein. Die ersten Schläge ihrer Knüppel fielen auf die Köpfe der Nächststehenden. Die Versammlung brüllte auf. Toni warf sich mit einem Sprung den Gendarmen entgegen. Er erfaßte einen von ihnen, wich dem Bajonett aus, faßte den Gendarmen an der Kehle und warf ihn gegen die zertrümmerte Glaswand. Der Gendarm stieß mit der Wade gegen die Verschalung, kippte um und blieb mit dem Oberkörper in den Splittern im Garten, mit den Beinen im Saal liegen. Jemand traf Toni mit einem dumpfen Schlag in die Seite. Irgendeiner warf ihn zurück. Er erfaßte den Stuhl, drang von neuem vor und schlug zu. Der Stuhl zerbrach, wie es schien, an irgendeinem Gewehrschaft, vielleicht auch an einem Gewehrlauf, vielleicht an beiden.

Ein Stück Lehne blieb in Tonis Hand. Mit dem schlug er weiter. Er sah verschwommen die Gendarmen, er sah wütende Augen, geöffnete Münder. Er sah Bajonette blitzen und schlug wild und ohne jede Besinnung zu. Er hörte Brüllen. Er hatte das unbestimmte Gefühl, Körper von Genossen zu sehen, die ihm zur Seite standen. Dann sah er für den Bruchteil einer Sekunde einen riesigen Gewehrschaft und verspürte einen schweren Schlag auf den Kopf. Er wankte, und es wurde ihm schwarz vor den Augen. Die Hand sank ihm herab, und er rollte mitten unter umgeworfene Stühle auf das Gestell eines umgefallenen Tisches. Der Kampf jagte über ihn hinweg. Die Gendarmen schlugen mit den Gewehrschäften, die Polizeimannschaften mit den Knüppeln. Im Saal herrschte größte Verwirrung. Ein Strom von Flüchtenden trieb dem engen Eingang des Restaurants zu. Ein zweiter zur Bühnentür. Einzelne sprangen durch die zerschlagenen Glaswände hindurch und zerschnitten sich Hände und Gesichter. Verwundete lagen auf dem Boden, und neben der umgeworfenen Einrichtung waren viele Blutlachen. Zwei Genossen, die sich durch das Gewirr durchzwängten, retteten einige Verwundete vor dem Zertretenwerden und trugen sie auf die Bühne. Aber zuviel Menschen scharten sich auf diesem sicheren Inselchen zusammen, und die Bühne stürzte ein. Die Gendarmen und die Polizisten, welche über die umgeworfenen Einrichtungsgegenstände wegsprangen, schlugen, wen sie erreichten, mitten auf den Kopf. Jeder floh, wohin er konnte. Der schmale Gang zum Restaurant war überfüllt. Eine zweite Abteilung von Gendarmerie führte die Befehle des Innenministeriums in den Höfen des Volkshauses aus. Die Hyberner- und Havlitschekgasse wurden geräumt. Überall sausten Gewehrkolben und Knüppel nieder, überall waren Gebrüll und verzweifelte Aufschreie von geschlagenen und getretenen Frauen, und überall floß Blut.

Die Ohnmacht Tonis dauerte nicht lange. Als er wieder zu sich kam, lag er quer über dem Gestell eines umgefallenen Tisches und hatte einen umgeworfenen Stuhl auf den Knien. Das erste, was er erblickte, war das verschwommene Bild einer Glühlampe. Er konnte sich lange nicht besinnen und noch länger nicht sehen. Erst nach einer Weile begriff er, warum. Er hatte die Augenhöhlen voll Blut.

Er erhob sich mit Mühe, indem er sich mit den Fäusten auf das Gestell stützte. Ringsherum war Verwüstung. Verwundete lagen auf der Erde. Ein paar Menschen liefen herum. Toni sah alles in einem leichten Nebel. Irgendwo von fern her, wahrscheinlich von der Straße, drang ein gedämpfter Lärm, und er erschien in diesem plötzlichen Schweigen hier ganz sonderbar. Im Garten und auf den Höfen war es ruhig. Wir sind geschlagen! Das war der erste Gedanke, der langsam sein Gehirn durchzog, und hier ringsherum das sind tote Genossen. Er wollte die Augen aufs neue schließen, aber da kam ihm ein Gedanke, klarer als der vorherige. Was nun? Unter der Schärfe dieses Gedankens richtete er sich auf. Das tat entsetzlich weh, aber er stand. Jemand stützte ihn.

»Toni, ich such dich.«

Das war der junge Jandak. Toni sah, daß sein Antlitz fahl war. Er führte Toni durch den Garten und die Höfe, die leer und öde waren. Einige Schutzleute standen an der Wand.

»Welcher Verrat!« sagte der junge Jandak. »Welch' ein unerhörter Verrat. Die Regierung fordert die Vertrauensleute der Arbeiterschaft auf, sich zu versammeln und zu beraten, und dann werden sie überfallen.«

Er führte Toni in die Setzerei. Irgend jemand verband den Verwundeten dort über einem Waschtisch, der voll Blut war. Drei andere standen daneben und warteten gleichfalls auf den Verband. Einer von ihnen hielt ein Tuch vor dem Auge, er war ganz mit Blut befleckt. Der Mann, der die Verbände machte, schien ein Arzt zu sein, denn er verrichtete seine Arbeit fachmännisch. Irgendein Setzer leuchtete ihm mit einer Glühbirne.

»Na, Sie sind ja ganz schön zerfetzt«, sagte der Fachmann zu Toni, und nähte ihm die Haut auf dem Kopf.

»Sie müssen noch zum Arzt gehen!«

Toni vergrub die Zähne in den Lippen.

Neue Verwundete kamen in die Setzerei. Die Schärfe des Schmerzes machte Tonis Kopf klar.

»Ist jemand vom Vollzugsausschuß hier?« fragte der junge Jandak.

»Ja, sie sind in der Redaktion.«

»Wie ist dir, Toni?«

»Gut, wie du siehst. Was wird morgen sein?«

Der junge Jandak zuckte die Achseln.

Sie gingen drei Treppen hoch in die Redaktion. Bei dem Gang tat Toni das Bein sehr weh, aber er ließ es nicht erkennen, denn er fürchtete, daß der junge Jandak ihn stützen würde. Er ärgerte sich, daß er sich so gehen ließ.

Auf dem Flur begegneten sie dem Abgeordneten Schmeral, dem Führer der Opposition. Als er den Verwundeten sah, blieb er stehen, und seine Augen nahmen einen gütigen Ausdruck an.

»Was wird morgen sein, Schmeral?« fragte Toni.

»Du bist doch der Genosse Krousky, nicht? Was haben sie dir getan?«

»Ach nichts, was ist morgen?«

»Ja«, sagte Schmeral zum Studenten und blickte dabei nach dem bleichen Gesicht Tonis. »Führ den Genossen Krousky gleich nach Hause, den Verband muß er unter der Mütze verstecken, damit sie ihn beim Verlassen des Hauses nicht verhaften.«

»Was ist morgen?« wiederholte Toni nachdrücklich.

»Kümmere dich nicht darum, was morgen sein wird. Leg dich ins Bett«, sagte Schmeral streng. »Und geh mir hier nicht auf den Treppen herum. Du hörst doch, was ich sage. Du mußt sofort nach Hause gehen!«

Die Worte sollten hart klingen, aber Schmerals Augen waren fast mütterlich weich, und dieser mitleidige Blick erfüllte Toni mit Wut und trieb ihm das Blut in die Wangen.

»Red keinen Blödsinn«, schrie er auf. »Was ist morgen? Ich bin der Vertrauensmann der Kolbenfabrik.«

Das wurde mit dem gleichen Stolz gesagt, wie man früher zu sagen pflegte: »Ich bin Kommandeur des zweiten Bataillons.«

Dieser stolzen Berufung auf das Recht des Kämpfers mußte der andere nachgeben.

»Du weißt, daß wir die Befehle keine Minute früher erlassen können als notwendig ist. Sie werden ernst sein. Du wirst sie morgen in der Zeitung lesen. Wir treffen uns morgen vor dem Parlament. Jetzt geh nach Hause, verstanden?«

»Jawohl.«

Sie kamen unbehindert an den Schutzleuten am Tor vorbei und schritten durch die Dezembernacht. Die Straße war kalt, und über der Stadt hing ein unfreundlicher, sternenloser Himmel. Die Umgebung des Volkshauses war öde. Gendarmeriepatrouillen kamen vorbei. Toni und der junge Jandak gingen der Vorstadt zu. Sie wollten die Straßenbahn nicht benutzen, wo Tonis Verband gefährlich werden konnte. Toni schwieg. Sein Gesicht war finster. Er verwendete viel Willenskraft darauf, seinem Schritt nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm die Hüfte wehtat. Im Kopf des jungen Jandak jagten zwei Worte durcheinander, die vom eben vergossenen Blut gerötet waren. »Verrat, Verrat« und »Der Vater, der Vater, Verräter!«

In dieser Stunde, als sie sich der hellerleuchteten Jesseniusgasse näherten, um 11½ Uhr nachts, zogen die Führer der Partei durch die Toreinfahrt des Volkshauses in die eroberte Festung ein. Die Polizeimannschaft trat zur Seite und nahm Achtungstellung ein, um ihnen die vorschriftsmäßige Ehrung zu erweisen. Als erster kam Franz Soukups, dann der alte Anton Deutsch, Habrmann, Stivin, Binowetz und Koudelka. Sie gingen durch die öden und schweigsamen Höfe und über das Pflaster, das mit Arbeiterblut getränkt war, ein wenig unschlüssig, ein wenig verwirrt durch die neue Situation, ein wenig erregt und ein wenig stolz, daß sie es schon so weit gebracht hatten, Geschichte zu machen. Trotz jenes unvermeidlichen Anteils, den das Menschenblut daran hat.

Hinter den Führern schritt ein Häufchen von Redakteuren und Vertrauensleuten und hinter diesen fünfzehn Detektive, darunter fünf von jenen, die vor vier Stunden im Gartensaal geprügelt worden waren. Sie wurden wiederum von jenem dicken Mann mit der Glatze und dem mageren mit der Brille angeführt. Die Fünfzehn spielten heute nacht die Komparsenrolle erregter Arbeiter. Sie spielten sie gut. Eine Viertelstunde nach dem Einzug ins Volkshaus gingen sie gemeinsam mit ihrem Führer in die Redaktion, warfen die Redakteure hinaus, warfen den ausgehöhlten Körper des alten Dichters Anton Mazek gegen die Wand und schleiften Schmeral über die Stiegen, wobei sie ihm Weste und Hemd zerfetzten. Am ärgsten betätigte sich der Kleine mit der Brille, den Toni einmal im Gartensaal kennengelernt hatte.

Um Mitternacht war das Volkshaus wieder im Besitz seiner »gesetzlichen Eigentümer«.

Der Ministerpräsident und der Ministerialdirektor Podhradsky weilten noch im Arbeitszimmer des Innenministeriums. Sie tranken schwarzen Kaffee und rauchten Zigarren. Jetzt, nachdem ihnen telephonisch das Endresultat bekanntgegeben worden war, nickte der Ministerpräsident zufrieden mit dem Kopf und ließ sich mit dem Präsidenten der Republik verbinden.

Als er sein kurzes Referat gehalten hatte, legte er den Hörer ab, erhob sich und richtete sich im Kreuz auf.

»Und morgen?« fragte er, indem er den Ministerialdirektor Podhradsky anblickte.

»Wahrscheinlich ein heißer Tag. Sind noch irgendwelche Befehle zu erteilen?«

»Ich glaube nicht.«

»Erwarten Sie den Generalstreik?«

»Jawohl.«

Darauf ließen sich die beiden Herren ihre Wintermäntel bringen und gingen die Treppe hinunter zu ihren Automobilen.

Auch ihre Arbeit war für den heutigen Tag beendet.

*

Toni kleidete sich in der dunklen Wohnung vorsichtig aus, um Anna nicht zu wecken. Aber sie fühlte ihn.

»Bist du's, Toni?« sagte sie im Halbschlaf.

»Ja, schlaf nur.«

»Es riecht hier so nach Krankenhaus.«

»Es ist nichts, Anna, ich war in der Redaktion. Schlaf, ich bin auch müde.«

Er legte sich auf das Sofa, wo sein Bett gemacht war. Er konnte aber nicht einschlafen. Morgen, morgen, morgen … die Kolbenfabrik … vor dem Parlament.

Was wird sein?

Wird der Kampf losgehen?

Jetzt, beim Liegen, verspürte er Schmerz in der Hüfte. Der Schmerz wurde heftiger, wenn er sich bewegte.

Auf dem Bett atmet die schlafende Anna ruhig.

Auf dem Boden neben ihr im Waschkorb schläft sein Sohn. Kein Kämpfer mehr wie der Vater, aber ein Baumeister, er heißt Wladimir, nach dem großen Führer Wladimir Iljitsch.

Fieber stellt sich ein. Tonis Wangen brennen, und er wälzt sich im Bett. Morgen, morgen, die Szenen des heutigen Tages hetzen an ihm vorbei, entsetzlich klar und scharf. »Arbeit einstellen!« ruft Edi Worrel auf den Höfen der Kolbenfabrik. Die Arbeiterkompanien marschieren auf das Volkshaus zu, und ihre Schritte klingen in den abendlichen Straßen wie wirkliche Schüsse. In der Einfahrt bauen die Genossen hinter dem Rücken der Polizei Barrikaden. Die Gendarmen haben mit einem Kolbenschlag die Glaswände des Gartensaales zertrümmert. Kling, wie scharf das klingt, sie springen in den Raum. Die Befehle werden ernst sein, sagt Schmeral. Du wirst es in der Zeitung lesen. Morgen, morgen gibt es Kampf.

Die Nacht fliegt.

»Toni!« In irgendeinem seiner verwirrten Träume klingt eine entsetzte Stimme.

Er erwachte jählings, öffnete die Augen. Es war Tag. Anna stand über ihn gebeugt, und ihre blauen Augen waren erschrocken.

»Was ist dir, Toni?«

Er sprang auf, die Hüfte tat ihm weh, er schrie:

»Wie spät ist es?«

»Was ist dir geschehen, Toni?«

Das Kind weinte, eigensinnig und ausdauernd.

»Wie spät ist es?«

»Noch früh, du hast noch genug Zeit, sprich, ich bitte dich.«

Annas Hände faßten ihn.

»Nichts, ein Gendarm hat mich gestern im Volkshaus geschlagen. Irgendein Doktor hat mich verbunden. Siehst doch selbst, daß es nichts ist. Es gibt Kampf, Anna!«

Toni zog sich schnell an. Es schmerzte.

»Was für einen Kampf, Toni?«

Das Kind weinte. Er sah sie erstaunt an.

»Weißt du denn nicht?«

»Nein, Toni«, sagte sie entsetzt. Er kleidete sich an. Er erzählte ihr, was gestern geschehen war.

»Es gibt Kampf, Anna!«

Doch welch ein Wunder, Tonis innere Glut übertrug sich nicht auf Anna. Das Kind im Korb schrie mit jener wilden Ausdauer, die nur hungrige Säuglinge haben, und Annas entsetzte Augen bewegten sich unschlüssig zwischen ihm und Tonis Verband.

»Du gehst doch zum Arzt, nicht? Ich habe noch nichts hergerichtet. Du hast noch Zeit. Ich mache gleich das Frühstück, sobald ich das Kind genährt habe.«

Er blickte sie wieder ganz erstaunt an. Zum Arzt? Ihre Augen wechselten zwei Fragen. Vielleicht nicht? fragten die blauen ängstlichen und die stahlharten: Wie meinst du das?

»Du wirst doch nicht in die Fabrik gehen«, brach sie aus, als sie endlich begriffen hatte. »Du gehst nicht.«

Die Energie in ihr erwachte. Sie trat an seine Seite.

»Du glaubst doch nicht, daß ich dich in die Fabrik gehen lasse!«

»Du hast mich nicht verstanden. Der Kampf beginnt, wir stehen mitten in der Revolution.«

Sie umfing ihn mit beiden Armen, und ihre Augen saugten sich an seinem Gesicht fest.

»Und du, du willst auf die Straße gehen?«

»Das ist doch selbstverständlich«, antwortete er ruhig.

Sie ließ ihn los, trat zur Tür und deckte sie mit dem Rücken. Sie sagte nur ein Wort:

»Nein!«

Aber dieses Wort war die Entschlossenheit einer Frau, die den Geliebten schützt, und die Leidenschaft einer Mutter, die ihr Junges schirmt. Ihr Wort war hart wie Tonis »Ja« und »Nein«. Hart wie Kolbenstahl.

»Mach keine Dummheiten, Anna.«

Es klang noch sehr sanft.

»Wenn du kein Kind hättest, wäre es deine Pflicht, mit mir zu gehen.«

»Nein!«, auch ihre Augen wurden hart.

»Bist du verrückt geworden? Hältst du mich für einen Feigling?«

Dieses Wort trieb ihm ein böses Feuer in die Augen und färbte seine Rede scharf. Er trat zu ihr.

»Laß mich durch!«

»Nein!« rief sie leidenschaftlich, und ihr Aufschrei übertönte das Weinen des hungrigen Kindes.

Er nahm sie mit seiner Metallarbeiterhand am Gelenk, drückte zu, und es bedurfte keiner großen Anstrengung, sie von der Türe wegzureißen. Aber sie hatte sich in ihrem Eifer doch genug Frauenklugheit bewahrt und noch vorher den Schlüssel aus dem Schloß gezogen.

»Wo ist der Schlüssel?« schrie er, als er vergeblich an der Klinke gezerrt hatte.

»Ich weiß nicht.«

In ihm kochte helle Wut.

»Gib den Schlüssel her!«

»Ich gebe ihn nicht«, flüsterte sie.

Er faßte ihre Bluse, zerknüllte den Stoff in der Faust und zog die Frau bis auf zwei Zoll an sich heran. Seine Augen waren glühend vor Wut. Anna hatte solche Augen niemals bei Toni gesehen. Sie merkte entsetzt, daß er sie nicht kannte, daß ein fremder Mensch vor ihr stand. Daß er mit ihr umgehen würde wie mit einem Feind. Daß er sie zu Boden werfen, daß er sie gegen die Wand schmettern würde. Je nachdem, was er für seine Sache für richtiger halten würde.

»Jetzt, jetzt wird er es tun«, dachte sie.

»Treib mich nicht zum äußersten; weißt du, was Verrat heißt?«

Von diesen furchtbaren Worten aufs neue aufgepeitscht, brüllte er:

»Den Schlüssel.«

»Nein«, flüsterte sie. Sie war entschlossen, sich nicht zu ergeben.

»Jetzt, jetzt erschlägt er mich bestimmt«, dachte sie und blickte ihm in die Augen.

Er tat es nicht.

Er ließ sie los. Setzte die Mütze auf den Kopf und sprang zur Türe. Er faßte die Klinke mit beiden Händen und stemmte sich mit gespreizten Beinen gegen die Tür. Er riß einmal vergeblich. Die Tür knackte. Er riß zum zweitenmal, und die Tür wich mit Krachen, so daß er zurücktaumelte. Er lief hinaus.

Sie stand einen Augenblick wie versteinert. Dann lief sie in den Flur:

»Liebling«, schrie sie verzweifelt. Tonis schnelle Schritte verhallten schon unten im ersten Stock. Sie eilte ihm nach.

»Toni.«

Sie kam nur bis zur fünften Stufe. Dann blieb sie stehen, schwankte nach vorne, nach rückwärts. Da unten ging ihr Geliebter fort, und sie mußte ihm nach. Hinter ihr schrie das hungrige Kind, und sie mußte zu ihm.

Sie konnte sich in dieser Sekunde des Leidens nicht entscheiden. Sie tat weder das eine noch das andere. Die Knie wankten ihr. Sie setzte sich auf die dritte Stufe, legte den Kopf auf die erste und weinte. Die Brust hob und senkte sich, die Stufe kühlte ihr die Stirne.

Da erklang hinter ihr eine verächtliche Stimme:

»Na, na, Gräfin, schämen Sie sich!«

Sie ermannte sich und stand auf. Über ihr standen die kalten Augen der Genossin Tinschmann und die Genossin Tinschmann selbst, die Arme bis zum Ellenbogen entblößt und in die Hüften gestemmt. Die Hände und Arme waren vom ewigen Waschen ausgebleicht wie Papier.

»Pfui, schämen Sie sich«, sagte sie, und in diesen Worten war ein Eimer kalten Spülichts.

Anna lief heim.

Sie nahm das Kind aus dem Körbchen, setzte sich an den Rand des Bettes und reichte ihm die Brust. Das Kind ergriff sie hungrig, sein wildes Geschrei brach sich und verwandelte sich in Schmatzen. Aber schon im nächsten Augenblick vergaß Anna, daß sie den Sohn im Arm hielt. Ihre Augen stierten ins Leere.

»Toni, Toni.« Sie begriff, daß sie zu ihm gehörte, und daß sie ihm nachgehen müßte. Daß sie ihn niemanden überlassen dürfte und daß sie ihn für sich und für ihr Kind erhalten mußte. Das Dorf mit den Feldern und den Pappeln sprach aus ihr, wo jeder leidenschaftlich festzuhalten verstand, was er erworben hatte.

»Toni, Toni.«

Ihr Körper folgte ihm nicht auf die Straße, denn er war durch den saugenden Mund und die warme strömende Milch an die Stube gefesselt, aber ihr ganzes übriges Wesen folgte ihm. Anna wurde durch diesen Marsch in den Straßen unruhig, und ihre Unruhe übertrug sich auf das Kind.

Die Tür öffnete sich ohne vorheriges Klopfen, und wieder stand die Genossin Tinschmann vor ihr. Sie stemmte wieder die Arme in die Hüften, ihre Augen waren kalt wie immer, und ihre Stimme klang böse wie nie zuvor.

»Schämen Sie sich denn gar nicht? Es tut Ihnen wohl leid, daß die Jungens auf die Straße gegangen sind, um sich ein bißchen herumzuschlagen, damit wir und die Kinder ein größeres Stück Brot bekommen?! Meiner ist auch gegangen. Ich habe ihn selbst geschickt. Ich würde ihm die Augen auskratzen, wenn er nicht ginge. Was haben Sie denn das ganze Leben hindurch getan? Nichts. Wir haben uns geschunden wie die Pferde. Wir! … Sie allerdings nicht allzuviel!« setzte sie böse hinzu. »Aber was haben denn die Männer getan? Der meinige hat ein bißchen im Lehm gewühlt, und Ihrer hat mit seinen Gußformen gespielt. Jetzt sollen sie sich nur ein bißchen mit der Polizei herumflachsen. Das hat immer ein wenig geholfen und wird auch diesmal helfen. Und Sie, Frau Krousky, Sie können sich schämen, ja, schämen.«

Anna sah sie verstört an.

»Warum weinen Sie denn?« sagte die Tinschmann hart.

»Ich weine nicht mehr, Frau Tinschmann.«

Die Nachbarin ging.

Anna nährte das Kind und ging mit ihm in der Stube auf und ab, um es einzuschläfern. In dieser Stunde wuchs in ihr ein fester Entschluß. Er reifte unter dem Eindruck der harten Augen und der weißen Ellenbogen von Frau Tinschmann. Sie legte das schlafende Kind ins Körbchen, kleidete sich schnell an und ging zur Nachbarin.

»Frau Tinschmann«, sagte sie, »der Junge schläft. Falls er weinen sollte, schauen Sie doch bitte einmal nach.«

»Wohin gehen Sie?«

»Zu Toni!« antwortete Anna sanft und fest.

Die Nachbarin blickte sie an. Nicht unfreundlich. Anna wußte nicht, wohin sie gehen sollte. Sie fragte:

»Wo sind sie hin?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht zum Rathaus. Wird wohl in der Zeitung stehen. Was wollen Sie denn dort?«

Anna ging.

*

»An die Arbeiterschaft der Republik!«

Das war die Schlagzeile des Flugblattes, das das »Rote Volks-Recht« herausgegeben hatte, und schon diese großen und schwarzen Buchstaben erfüllten Anna mit dem Bewußtsein von dem Ernst der Stunde.

»Gestern hat die Regierung mit bewaffneter Macht das Volkshaus besetzt und unter dem Vorwand versiegelt, daß die Druckerei die Gewerbeordnung verletzt hätte. Bei der Versiegelung der Druckerei, die unter Assistenz von einigen hundert Schutzleuten und Gendarmen durchgeführt wurde, ist Arbeiterblut geflossen.

Nach furchtbaren Ausfällen haben die Gendarmen die Arbeiter durch Bajonettstiche verletzt, die Polizei hat mit dem Gummiknüppel gewütet. Aller Arbeiter, die gestern Zeugen des Vorfalls waren, hat sich eine ungeheure Erregung bemächtigt, und wie aus einem Munde wurde die leidenschaftliche Aufforderung vorgebracht:

»Wir antworten mit dem Generalstreik!«

Schon gestern hat die Arbeiterschaft des mittelböhmischen Kohlenreviers, als die Nachricht ins Revier kam, den Generalstreik für das ganze Revier und den ganzen Bezirk proklamiert.«

 

Anna schlug das Herz. Auch Tonis Blut war geflossen, als Arbeiterblut vergossen wurde. Ihre fiebrigen Augen überflogen den Aufruf des Aktionsausschusses bis ans Ende.

 

»Beantwortet diesen Gewaltstreich durch einen Protest von außergewöhnlicher Stärke.

Proklamiert einen allgemeinen Proteststreik in allen Teilen der Republik!«

 

Anna wußte, was das bedeutete: »Generalstreik«.

Sie sprang in einen Wagen der Straßenbahn und fuhr nach dem »Altstädter Ring«. Die Menschen im Wagen lasen die Zeitung. Sie sprachen weniger als sonst, und ihr Schweigen und ihre Stirnen, die über das Papier gebeugt waren, zeigten die Spannung des Tages. Vor dem Altstädter Ring beugte sich Anna vergeblich aus dem Wagen, um Arbeitermassen zu suchen. Sie stieg aus. Die Menschen, die vorbeigingen, waren ihr fremd und feindlich. Dann lief sie zum Parlament. Der Freiplatz vor ihm war leer. In dem kleinen Park lag der Schnee in Haufen, die von Tannenzweigen bedeckt waren.

Es war öde, still und kalt.

»Wo ist Toni?« Die Frage war ebenso düster wie der heutige Tag. Wo soll sie ihn suchen? Unruhe bemächtigte sich ihrer. Es schien ihr, daß sie schon einmal im Leben irgendwann vor sehr langer Zeit so auf der Straße gestanden hatte, ratlos und unwissend, wohin sie gehen sollte.

Eine fröhliche Frauenstimme überraschte sie.

»Das ist doch die Anna!«

Eine schöne, schlanke Dame im Sealskinpelz stand vor ihr und lächelte freundlich.

»Fräulein Dadla!« sagte Anna überrascht.

In diesem Augenblick wußte sie, wann sie vor langer, langer Zeit so ratlos auf der Straße gestanden hatte.

»Holen Sie Rudi«, hatte ihr das Fräulein damals gesagt. »Falls er nicht da ist, gehen Sie dorthin, und dann noch dahin und dorthin.«

Wo wird Anna heute Toni suchen?

»Wie geht es Ihnen, Anna?«

»Danke, Fräulein, gut.«

»Ich bin kein Fräulein mehr. Haben Sie es nicht in der Zeitung gelesen?«

»Nein.«

»Mein Mann ist der Doktor Urban, Direktor der Gewerbebank.« Frau Dadla lachte, und in ihren Augen saß Fröhlichkeit. Als ob sie im nächsten Augenblick sagen würde: »Willst du ein Stückchen Schokolade, Anna?«

»Er kennt Ihren Mann. Ihr Mann ist einer von den Bolschewiken, wie?«

»Ja.«

»Na ja, ich weiß ja«, lachte Dadla.

Sie blickte Anna eine Weile an und betrachtete sie mit einem freundlichen Interesse, das Anna unangenehm war.

»Sie sehen nicht gut aus. Bei uns haben Sie besser ausgesehen. Haben Sie Familie?«

»Ja.«

»Na, jetzt gehen Sie aber nach Hause, Anna«, sagte Dadla mit jener befehlshaberischen Selbstverständlichkeit, die Anna so gut kannte.

In Annas Augen war eine Frage.

»Gehen Sie nur!« befahl die Frau Direktor, ohne ihr Lächeln zu unterbrechen, »und achten Sie auf Ihren Mann. Heute wollen sie auf euch schießen.«

»Jesus Christus!«

Das Dorf schrie in Anna auf. Wo wird sie Toni finden?

Anna blickte ängstlich in die Augen der schönen Dame, und als der ausdauernde und tiefe Blick sich nicht abwandte, da veränderte sich die schöne Frau mit einemmal. Fräulein Dadla mit den befehlenden Gesten, dem Lächeln auf den Lippen, mit der Tafel Schokolade in der Hand, war verschwunden. Das war einmal vor langer Zeit. Die liebenswürdige Dame, die Anna auch um den Preis des Verrats am eigenen Lager gewarnt hatte, war verschwunden. In der scharfen Luft des Dezembertages sah Anna das böse Gesicht eines Feindes vor sich. Er war zu verwöhnt, um das Gewehr zu nehmen und selbst zu schießen; zu feige, um nicht noch jetzt den wohlmeinenden Freund und Berater zu spielen – aber eben wegen jenes leichten Sealskinpelzes mit dem kirschfarbenen Seidenfutter werden sie heute auf Toni schießen.

Eben wegen dieser champagnerfarbigen Schuhe und wegen der seidenen Strümpfe wird man heute morden. Eben wegen dieser herrlichen Mütze, wegen der amerikanischen Handschuhe und der wunderbaren Seidenblume, welche die Frau Bankdirektor im Knopfloch trägt, ist gestern Arbeiterblut geflossen. Jene längst vergessene Vorstellung von der gehetzten Maurersfrau, die der Frau Architekt die Liebesgabe des Vereins »Weißes Herz« vor die Füße warf, huschte durch Annas Kopf.

Anna sah, daß Frau Dadlas Augen böse waren und ihr Lächeln verlogen.

Da veränderten sich auch Annas blaue Augen. Die Angst schwand aus ihnen, auch sie wurden hart. Und Annas Mund sprach streng und feindlich:

»Ihr werdet auf uns schießen? Wir auf euch auch.«

Sie wandte sich um und ging.

Alle Angst fiel von ihr ab. Sie wußte nun, wohin sie gehen mußte. Sie ging nicht Toni suchen, – sie ging zu ihresgleichen. Dort würde auch Toni sein, gleichgültig, ob an ihrer Seite oder irgendwo hinter Mauern und Häuserblöcken. Sie wollte zu denen gehen, die ihr Toni gegeben hatten, die ihr Heim und Kind gegeben hatten, die immer mit ihr waren, wenn es ihr schlecht ging.

Sie wird zur Kolbenfabrik gehen.

Sie ging mit festen Schritten zur Haltestelle der Straßenbahn und achtete nicht auf die elegante Frau, die, rot vor Zorn, auf dem Gehsteig stand.

»Luder!« spie Frau Dadla hinter ihr her.

Anna fuhr zur Kolbenfabrik. In den ersten Vorstadtstraßen sah sie einen Arbeiterzug. Sie sah von weitem, wie sich die Straße verfinsterte. Ja, das waren sie, die Genossen.

Anna sprang aus der fahrenden Bahn, in der die Kleinbürger sich von den Bänken erhoben, um aus dem Fenster zu sehen.

»Sie kommen!«

Hinter einer roten Fahne marschieren die proletarischen Bezirke der Hauptstadt. Eine tausendköpfige Menge wälzt sich durch die Stadt. Streng und schweigsam. Eine schwarze, kämpferische Masse, aus den Webereien und Spinnereien, den Mühlen und Bäckereien, den Holzfabriken, Sägen, den Kohlenlagern, den Gießereien, den Waggonfabriken, den chemischen Fabriken, den Bahnhöfen, Speditionshäusern.

Die Masse zieht über die ganze Straßenbreite, und die Straße dröhnt unter ihren Füßen.

Der Tag und die Welt haben ein neues Gesicht.

Eine Frau läuft der Masse entgegen.

»Ist das die Kolbenfabrik?« ruft sie.

Irgend jemand antwortet: »Ja.«

Anna tritt zur Häusermauer zurück. Die Menge quillt an ihr vorbei. Tausend Köpfe sieht sie, und sie sucht den einen.

Ein junger Bursche springt zu ihr:

»Anna«, ruft er und drückt ihr freudig die Hand.

»Jandak!«

Es ist der junge Jandak. Er nennt sie heute zum erstenmal beim Vornamen und sagt ihr »Du«.

Sie schließen sich den Marschierenden an, und die Menge nimmt sie auf.

»Wo ist Toni?«

»Wir haben ihn mit einigen Genossen vorgeschickt. Das Zentralkomitee der Partei tagt seit heute morgen im Parlament. Wir ziehen zum Parlament.«

Die tausendköpfige Menge marschiert durch die Straßen, die Schritte stampfen, und es ist nichts anderes auf der Welt als diese Masse und die rote Fahne an ihrer Spitze, deren Tuch dort weit vorne über ihren Köpfen weht. Sie sind alle sicher und selbstbewußt. Auf den Dächern der Häuser liegt Schnee. Die Kaufleute lassen die Jalousien herunter.

Die Menge erreicht den »Altstädter Ring«.

Die Nähe des Zieles erhitzt das Blut, ihr Blut, das ein einziger Fluß ist. Die Nähe des Ziels läßt die Pulse höher schlagen. Aus tausend Kehlen quillt ein Lied. Die Arbeiterhymne klingt wie ein furchtbar drohender Choral. Das fünfhundert Jahre alte Gemäuer des Rathauses auf dem Altstädter Ring erzittert. Von den gotischen Türmen des Rathauses und den Quadern der Teynkirche hallt das Lied zurück, steigt an den Türmen empor zur Höhe und dröhnt gen Himmel.

»Genossin«, irgend jemand zupfte Anna vorsichtig am Ärmel. »Dein Mann ist nicht hier, wo ist er denn?«

Anna erkannte dieses magere Männchen mit der Brille sofort. Er sah aus wie ein schlecht bezahlter Schreiber. Ein Spitzel! Sie wollte den jungen Jandak auf ihn aufmerksam machen, aber das Männchen hatte dies gewittert und verschwand. Eine Viertelstunde später sah ihn Anna aus der Menge hervorkommen und mit schnellen Schritten in einer Seitenstraße verschwinden.

Die Masse marschiert singend weiter.

Vor dem Parlament, auf dem Platz mit dem kleinen verschneiten Park, wo Anna heute morgen mit Frau Dadla gesprochen hatte, sammeln sich die Massen. Der Park ist halbvoll, der Hauptkader marschiert erst aus den Arbeitervierteln heran und ist fünfhundert Schritt von hier angelangt.

Die Redner sprechen von der Stiege des Parlaments herab. Eben spricht ein weißhaariger Greis. Er ist durch alle Arbeiterkämpfe und alle Gefängnisse hindurchgegangen, er ist mit 62 Jahren ein ebenso feuriger Revolutionär, wie er mit 20 war.

»Generalstreik, – das muß die einzige Antwort auf das gestrige Blutvergießen sein.«

Aus der Versammlung dröhnt ihm Beifall entgegen.

Dann beginnt ein Eisenbahner zu reden. Auch die bewaffnete Macht ist hier vertreten. In der Durchfahrt des Parlaments, unter dem Säulengang mit den zwei Steinlöwen, steht eine Gendarmeriekompanie in voller Ausrüstung. Auf der Ostseite des Platzes hat sich die Polizei formiert und wartet in ruhiger Haltung.

Der Mann mit der Brille tritt zum Polizeikommandeur hin, meldet irgend etwas und verschwindet wieder.

Eine Welle der Bewegung geht durch die Versammlung auf dem Platz. Eine leise, kaum merkliche Welle. Sie bedeutet Erwartung, sie bedeutet gespanntes Aufhorchen. Vom »Altstädter Ring« her klingt Gesang. Der Redner spricht bedeutsame Worte. Aber sie fallen in die spitze Luft und verlieren sich, ohne die Ohren der Menschen zu erreichen. Alle Köpfe wenden sich nach der Richtung, aus welcher der Gesang, die Arbeiterhymne, ertönt.

Und jetzt verfinstert sich die Straße, die vom »Ring« herführt in ihrer ganzen Breite. Das Proletariat der Großstadt marschiert. Es ist ein großer Augenblick. Der Fahnenträger faßt die Fahnenstange fester und hebt die Fahne höher. Das Fahnentuch ist in seiner ganzen Breite gespannt und schlägt gegen den Wind.

Die vordersten Reihen beschleunigen den Schritt. Auch Anna und der junge Jandak. Sie haben sich unterwegs bis zum Fahnenträger durchgedrängt.

Auf dem Platz verlassen die Zuhörer den Redner und laufen dem Zuge entgegen.

In diesem Augenblick stößt auch die Polizei vor. Sie kommt aus dem Versteck der Häuser und schwärmt aus. Sie stürmt im Laufschritt gegen den Zug, die Hände halten den Knüppel umspannt. Sie hat zweifellos im Sinn, die Vereinigung beider Züge zu verhindern. Die Polizei ist um fünf Sekunden zu spät vorgestoßen. Noch eine Sekunde, und sie ist von zwei Wänden aus menschlichen Körpern umschlossen. Die Massen wälzen sich vor. Die ersten Schreie ertönen. Die ersten Stöße von Ellenbogen und Fäusten. Die ersten Schläge fallen auf die Köpfe. Knüppel und Stöcke sausen. Ein Ziegelstein fliegt von irgendwoher, und ein Schutzmann faßt sich mit beiden Händen ins Gesicht.

Und auf einmal: peng, peng, und peng, peng peng … Die Polizei hat die Revolver gezogen und schießt.

Peng, peng, peng, peng und peng, peng. Es klingt nicht so, als ob man sich fürchten müßte. Viel eher, wie irgendein kleiner Scherz. Es jagt nicht einmal Anna Angst ein.

Peng, peng, peng.

Vielleicht schießen auch die unseren?

Peng, peng, peng, peng. Die rote Fahne schwankt irgendwie sonderbar, dann fällt sie schlaff zur Erde. Auch der Fahnenträger fällt zu Boden. Der junge Jandak springt heran und hebt die Fahne hoch.

Hurra!

Da schießt ihm ein Schutzmann auf einen halben Meter Entfernung mitten ins Gesicht. Die Masse hält den Erbleichenden noch einen Augenblick hoch. Dann fällt der Student nieder. Mit dem Gesicht in den tauenden Schnee. Anna wird von der Masse vorwärts getrieben, dann wieder zurückgezogen, irgendwohin gedrängt und wieder vorwärts getrieben.

In irgendeinem Augenblick sieht sie, wie die Gendarmerie aus dem Säulengang vorstößt und mit aufgepflanztem Bajonett über den Platz jagt. Sie will die Massen spalten und einen Teil zur Brücke abdrängen. Auch dort ist ein wilder Kampf. Die Genossen reißen die Bretterzäune im Park auf und schlagen zu. Auch dort wird geschossen. Die weiße Fläche des geräumten Platzes wird bald breiter, bald schmaler. Verwundete wälzen sich im Schnee. Anna fühlte keine Angst. Sie hat das Gefühl von irgend etwas Unwirklichem und Entferntem.

Sie wird wieder irgendwohin getrieben. Jetzt ist sie in der Enge einer Seitengasse mitten in einem Haufen von Menschen. Hier ist es ein bißchen freier. In ihrem Rücken tönt Lärm und Geschrei. Einige Schüsse fallen.

»Hier kommen wir nicht durch«, ruft jemand neben ihr, »über die Brücke nach der anderen Seite!«

Ein Haufen Menschen jagt durch die leeren Straßen. Anna mit ihnen. Dann verlangsamen die Ermüdeten den Schritt. Sie marschieren durch die unempfindliche Stadt und an Menschen vorbei, die noch nichts wissen. Sie passieren mit schnellen Schritten die Brücke und eilen am anderen Ufer entlang zum Parlament zurück. Die Straße ist versperrt. Durch eine Menschenmenge versperrt, die sich um drei Straßenbahnwagen drängt. Das sind die Genossen, die von der Gendarmerie zur Brücke abgedrängt worden sind. Sie haben die Führungen der Straßenbahn abgerissen und schleppen bleiche Schutzleute aus den Wagen, die auf diesem Wege in den Rücken der Arbeitermassen gelangen wollen. Sie reißen ihnen die Knüppel aus der Hand und schlagen kräftig zu. Die Polizisten versuchen nicht einmal, sich zu wehren. Sie schützen nur die Augen und laufen so schnell sie können. Und die Massen, die nun in vollem Galopp hierher eilen, und in deren Mitte sich auch Anna befindet, fangen die fliehenden Schutzleute ab und drängen sie gegen die Häuser ab.

Anna bleibt inmitten der Straße stehen.

»Toni, Genosse Toni!«

Sie breitet die Arme aus.

Da ist Toni! Er hält einen kleinen Mann an der Brust fest. Der kleine Mann sieht aus wie ein schlecht bezahlter Schreiber. Toni wirft ihn beiseite. Gleichgültig, als ob es ihm widerlich wäre, gegen diese Unsauberkeit seine Kräfte zu verschwenden.

»Genossin Anna.«

Er läuft ihr entgegen. Irgendwo aus der Vorstadt kommt der Schall von Schüssen. Stärker als die Schüsse der Polizeipistolen und konzentrierter. Es scheint, daß Militär eingegriffen hat.

Irgend jemand schreit: »Bei Ringhofer wird geschossen.«

Die Masse nimmt sofort die Richtung auf. An der Spitze Toni und Anna. Sie laufen, und ihre Schritte dröhnen durch die Straßen.

Vorwärts, vorwärts! – – –

Sie laufen, und ihre Schultern berühren sich.

Vorwärts, vorwärts! – – –

*

Weit, weit ist Annas Dorf mit den lieblichen Rainen und den Pappeln.

Weit weg ist die Küche der Frau Rubesch, das rosa Zimmerchen von Fräulein Dadla.

Und die Jesseniusgasse ist am anderen Ende der Stadt!

Vorwärts!

Vorwärts, vorwärts, Toni und Anna! – Immerzu vorwärts!

 


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