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Waffen – Waffen

Die Kämpfe, die Mitteleuropa im Jahre 1919 erschütterten, waren die Wehen vor der Geburt einer neuen Zeit.

In der bescheidenen Kammer, wo Toni in Untermiete wohnte, schlief in seinem Bett etwa zehn Tage ein Flüchtling der ungarischen Revolution bis zu der Zeit, wo ihm die Genossen falsche Papiere und eine Stellung als Zeitungsverkäufer besorgten. Er war schwer lungenkrank, hatte glühende schwarze Augen und einen eigenartigen Mund, in dem es nur drei Schneidezähne gab, zwei oben und einen unten. Drei weiße und gesunde Zähne in der schwarzen Leere der Mundhöhle. Der Flüchtling hieß Kerekes Sandor und war Eisendreher.

Gegen Ende August kam er in das »Volkshaus«, ins Sekretariat des Metallarbeiterverbandes, ausgehungert wie ein Wolf, abgerissen, ohne Dokumente und ohne Geld. In dieser Zeit kamen viele falsche Revolutionäre zu den Arbeiterorganisationen und baten um Unterstützung. Die kleinen Betrüger sind in der Erschließung von Quellen sehr erfinderisch. Sie kamen mit Legitimationen von der ungarischen sozialistischen Partei. Auch Polizeikonfidenten kamen mit Legitimationen der ungarischen Partei. Aber Kerekes Sandor genoß Vertrauen, und Toni nahm ihn bei sich auf.

Sie verständigten sich ganz gut. Mehr durch Zeichensprache, Blicke und durch Zeichnungen, die sie auf dem Rande ihrer Zeitung aufzeichneten, als mit Hilfe der 30 deutschen Worte, die Kerekes kannte. Es dauerte oft lange Viertelstunden, bevor sie einander begriffen, aber sie waren Arbeiter, denen ihre Arbeit die Ungeduld abgewöhnt hatte. Sie hatte sie gelehrt, alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, und sie verstanden einander am Ende stets.

»Verstehst du? Einsperren, fesseln, Kriminal, so klein.« Kerekes Sandor erklärte die Größe am Umfang des Zimmers, und dann berührte er die einzelnen Einrichtungsgegenstände.

»Nix Bett, nix Tisch, nix Stuhl. Ich da zehn, zwanzig und noch drei Tage, jeden Tag, heute, gestern, morgen öffnet sich die Türe und es kommt ein Honved-Oberleutnant, ein Honved-Kadett und zwei Soldaten. Der Oberleutnant Graf Belaffy Imre und der Kadett Baron Czengery Taszilo. Kleider herunter, weg, weg, weg, alles von mir weg, bin ganz nackt. Sie legen mich auf die Erde, Mund zur Erde so – und halten fest. Der Kadett hat eine Flasche, so wie die, die auf dem Koffer steht, Säure! Weißt du, was das ist, kennst du H zwei SO vier?«

»So, wie ich es dir auf den Rand der Zeitung schreibe.«

»Aha, du kennst das. In der Säure steckt ein Gänsekiel. Das muß ich dir aufmalen. Siehst du, eine Gans und da zupf aus einem Flügel heraus, – so, eine Feder. Und der Kadett taucht diese Feder in die Flasche mit der Säure H zwei SO vier und steckt sie mir dann in den Hintern. Ich brülle – ah – ich brülle schrecklich vor Schmerz. Jeden Tag, weißt du, heute, gestern, morgen, zehn, zwanzig und noch drei Tage. Der Oberleutnant und der Kadett stehen über mir und rollen die Augen: ›Sprich.‹ Ich: ›Nein.‹ Sie: ›Sprich Bestie.‹ Ich: ›Nein.‹ Sie: ›Wo ist Acz Aladar, wo ist Feher, wo ist Szabo?‹ Ich: ›Nein.‹ Sie haben Peitschen, sie peitschen mich, bis ich die Besinnung verliere, dann bringen sie einen Eimer und begießen mich, bis ich die Augen öffne. ›Sprich.‹

Ich: ›Nein.‹

Sie rauchen Zigaretten. Legen sie mir mit dem glühenden Ende auf die Brust. Ich brülle entsetzlich, ich schüttle mich.

Sie: ›Wo ist Szabo, wo ist Acz, wo ist Guttmann Wilmos, wo ist Lakatos?‹

Ich: ›Nein.‹ Sie ohrfeigen mich – klatsch – klatsch – klatsch – siehst du?«

Sandor zeigt die ausgeschlagenen Zähne. Er zieht Rock und Hemd aus. Sein Rücken ist eine einzige Narbe und seine Brust besät mit verheilten Brandwunden.

»Den Koracs Pal haben sie erschlagen mit einem Sandsack. Das muß ich dir aufzeichnen. – Siehst du, ein Sack. Den füllen sie mit Sand, verstehst du? Damit schlagen sie auf den Kopf. Man fällt um und stirbt. Das ist sehr gut. Es kommt der Arzt, untersucht, klopft ab, zuckt die Achseln, findet nichts. Das Gesicht ist hübsch und glatt, auf dem ganzen Körper nichts, keine Wunde, kein Blut. ›Na, was‹, sagt der Arzt, ›der ist gestorben, tragt ihn weg.‹ Der Oberleutnant und der Kadett lachen und reiben sich die Hände. Er hat nichts erkannt. So haben sie viele erschlagen. Hundert, hundert, hundert, viele hundert, und niemand hat etwas gesehen. Mit dem Sandsack ist sehr gut. Ich werde auch sterben, mich werden sie auch erschlagen. Ich sitze und denke nach. Immer sitze ich und denke nach. Was soll ich tun? Es ist der dreiundzwanzigste Tag. Der Kerkermeister kommt! Nein – nicht der Oberleutnant, nicht der Kadett, verstehst du? Der, der hier am Gürtel die klirrenden Schlüssel trägt, auf- und zuschließt und das Essen bringt. Er war schon älter und ganz anständig. Ich war schon sehr schwach. Die Knie verbogen, fiel immer wieder hin! Aber hier ermannte ich mich. Ich richtete mich auf und spannte die Muskeln und los auf ihn. Ich habe ihm die Kehle durchgebissen. Wir wälzten uns auf der Erde, aber ich hielt die Zähne zu und ließ nicht locker. Siehst du – hier, mit den drei Schneidezähnen, die mir nach den Schlägen ins Gesicht noch übrigblieben. Du hast doch beobachtet, daß sie wie die Sägezähne des Eichhörnchens aussehen. Tot! – Hier aus den Mundwinkeln rann mir das Blut. Es war mir entsetzlich zumute. – – Weg mit der Erinnerung, es wird mir jetzt noch schlecht, wenn ich daran denke. Der Kerkermeister war unschuldig. Das war der Graf Belaffy Imre und der Baron Taszilo. – Diese Bestien, diese blutigen Hyänen. Ich erschlage sie, wenn ich ihnen jemals im Leben begegne.« Und er begann ungarisch zu fluchen: »Az anya bitang kapcabetyar Mariajat!« Dann fuhr er fort: »Was ich dir jetzt, Genosse, von meinem Schmerz und meiner Rache erzähle, und wie ich jetzt auch brülle mit brennenden Augen, das ist alles zu wenig. Ich muß das alles ungarisch schreien, denn nur meine Muttersprache kennt die entsetzlichen Worte, die den Schoß der Mutter und den Samen des Vaters verfluchen, die diesen beiden Hunden Hortys das Leben gaben. Ich erschlage sie. – Gott, habe ich Husten – ich bin lungenkrank, ich weiß – aber ich erschlage sie. – – – Verzeih – – ich werde fortfahren.

Ich nahm dem toten Kerkermeister die Kleider und zog sie an und weg, schnell weg, weg, weg, weg. Leere Taschen, immer zu Fuß. Ich mußte mich verstecken, ich aß, was ich auf den Feldern fand, oder wenn ich ein Huhn fing und ihm den Hals umdrehte. Ich habe nur wenig gebettelt, das war gefährlich. Einmal verneigte ich mich vor einem Herrn und bat ihn um Streichhölzer. Er gab sie mir. Das Huhn, – – Feuer, – – warm, – – ein Feuerchen angemacht, das Huhn über Feuer gehalten. – – Und dann bei euch. Die Brust frei, Organisation, Proletariat, – Genossen, – gute Kameraden. Begreifst du, Genosse, daß ich ›danke‹ zu dir sagen will, wenn ich mit beiden Fäusten deine Hand drücke und dir mit einem hellen Blick in die Augen sehe?! Verstehst du mich?«

Das war im Jahre 1919. Noch waren die Erschütterungen nach dem Entstehen der neuen mitteleuropäischen Staaten nicht verklungen, als schon wieder neue Schatten am Horizont aufstiegen.

Die Menschen zogen in Riesenmassen durch die Straßen. Sie hatten aber nicht diese fröhlichen Augen und den Tanzschritt, mit dem sie, beglückt vom Ende des Krieges und bezaubert vom Anblick der Freiheit, dem Tag ihren Gruß zuriefen. Es waren dieselben dunklen und finsteren Gesichter wie vor einem Jahr, als noch auf vier Teilen der Welt der Schrei der Kanonen und Gräber gellte; dieselben Gestalten, die damals die Straßen entlangzogen und »Nieder mit dem Krieg!« brüllten.

Heute kamen sie wieder. Sie trafen sich auf den Versammlungsplätzen zum Marsche in die Stadt. Die demobilisierten Soldaten, die in dem halben Jahr der »Freiheit« gelernt hatten, daß der Hunger in den Vorstadthäusern um nichts erträglicher sei, als der im Schützengraben und im Gefangenenlager, wo man wenigstens die schlechtgelaunten Frauen und die hungrigen Kinder nicht sehen mußte, und wo niemand Schinken, Pökelzungen und Rauchfleisch und Pyramiden von Weinflaschen ins Schaufenster gestellt hatte.

Es kamen die Männer, die sich im Krieg in den Wäldern verborgen hatten. Das Waldversteck, der Hunger und die Aufopferung hatten sie klug gemacht. »Schütze dich selbst! Willst du nicht getötet werden, so töte selbst!«

Es kamen die Kriegsfreiwilligen von einstmals, und unter die Massen, die sich gesammelt hatten, mischten sich kleine Haufen, ein paar Dutzend Leute, die im Feuer der russischen Revolution gehärtet waren, die keiner Phantasterei nachgingen, die wußten, worum es geht, und ihre Pflichten kannten.

Es kamen die gemarterten Frauen, die noch nicht Gelegenheit gefunden hatten, ihren rasenden Racheschwur gegen die Mehlschieber zu erfüllen, denen sie für eine Handvoll Mehlabfälle das Letzte hergegeben hatten.

Und es kamen die Mütter der gefallenen Söhne und die Witwen der getöteten Männer; jene Frauen, die das Vaterland nicht bedauerte, weil es keine Zeit dazu hatte, und weil es ihrer zu viele gab. Ihnen liefen schon lange keine Tränen mehr über die Wangen, weil sie im Innern versteinten.

Und es kamen die Frauen der Kriegskrüppel, für die der Frieden nur einen Bauch mehr bedeutete, der gesättigt werden mußte …

Und es schlossen sich die alten Diebe und Gauner und Zuhälter an, die sich an diesem Maitag entschieden und ein für allemal klarmachten, daß es sich unter einem republikanischen Regime ebensogut stehlen lasse wie unter dem Kaiseradler. Sie schnupperten mit geblähten Nüstern die angenehme Atmosphäre und begrüßten sich:

»Tag, Franz! Heute gibt's, glaube ich, billige Blusen und Strümpfe für dein Mädel.«

Es waren auch sozialdemokratische Ordner mit roten Binden am Arm anwesend, die von ihrem Exekutivausschuß über den politischen Zweck dieser Demonstration belehrt worden waren und genaue Befehle hatten, wie weit man die Leidenschaft der Massen treiben dürfte, die genau wußten, durch welche Straßen man den Zug führen mußte, und um welche Zeit sie auf dem Hauptplatz eintreffen sollten, wo die sozialdemokratischen Minister eine große Volksversammlung abhalten wollten.

In den Seitenstraßen war die Polizei versammelt zur Unterstützung der Ordnerschaft – – – und auch für den Fall, daß die roten Streifen am Arm versagen sollten.

Die Massen, in der Vergangenheit verraten und um die Zukunft betrogen, wälzten sich durch die Straßen der Hauptstadt und der anderen Städte und Städtchen des Landes. In den Straßen schallte es: »Fort mit den Tyrannen und allen Verrätern!« Wenn die Jugend dabei war, sang man Spottlieder auf die Schieber und Ausbeuter.

Manche Abteilungen trugen einen funkelnagelneuen Galgen mit einer festen Rahe, von dem ein Hanfseil, das eine Schlinge hatte, herunterbaumelte. Vor dem Galgen wurde ein Plakat getragen, auf dem war eine große, rote Aufschrift: »Letzte Warnung für die Schieber!«

Man machte vor den Kaufläden der bekanntesten Preistreiber Halt, jagte sie durch die Büros und holte sie – fahl und mit schweißbedeckter Stirn – aus den Verstecken, hinter den Kisten und Säcken hervor. Man stellte sie auf der Straße unter die Rahe des Galgens und legte ihnen die Hanfschlinge um den Hals. Dann befahl man ihnen, feierlich zu schwören, daß sie die Preise nie mehr in die Höhe treiben, nie mehr die Armen ausplündern, kurz, daß sie anständige Bürger der jungen Republik werden würden. Und die Schlächter, die Müller, die Bäcker, die Bierbrauer, die Kolonialwarenhändler, die Schnittwarenhändler, die Schuhmacher schwuren unter dem Galgen, bibbernd und zitternd, was ihnen befohlen wurde, und die Massen schwiegen drohend dazu. Dann wurden die Geschäftsleute wie Gefangene inmitten der Massen geführt, und die Frauen mit harten Augen pflasterten ihnen den Kopf mit ihren Schimpfworten, die Jugend sang ihnen Spottlieder in die Ohren, und sie dachten verzweifelt an die Verschlimmerung ihrer Zuckerkrankheit, ihres Nierenleidens und ihrer Herzfehler und an die hysterischen Wutanfälle ihrer Frauen und Kinder. Sie wurden durch die Straßen geschleift und zur Freude aller Augen bis zu den Rathäusern geschleppt, vor denen die Versammlungen stattfanden, und wo die Volksredner ihnen noch manches in die Seele donnerten von Ehrbarkeit, von demokratischer Republik und von letzter Warnung.

In den Provinzstädten ging alles nach den Weisungen des Exekutivausschusses, aber in der Hauptstadt wurde an jenem Maitag zum ersten Male darüber entschieden, ob es im neuen Staate zulässig sei, die bewaffnete Macht gegen die befreite Nation antreten zu lassen und ihr Blut zu vergießen oder nicht.

Die sozialdemokratischen Minister erregten sich mächtig bei dem bloßen Gedanken daran. Diese Demonstrationen waren zur Unterstützung ihrer Politik veranstaltet worden, sie sollten einen Druck auf die unnachgiebigen bürgerlichen Minister ausüben.

Die bürgerlichen Minister waren jedoch anderer Ansicht. Galgen eignen sich nicht als Spielzeug für das Volk. Besitz und Sicherheit ehrbarer Kaufleute und Handwerker mußten um jeden Preis geschützt werden.

Die sozialdemokratischen Minister verloren ihre Ruhe erst am Nachmittag. Vom Polizeipräsidenten und den Deputationen kamen Nachrichten, daß das vorgesehene Programm nicht eingehalten würde. Die Massen gingen nach den Versammlungen auf den Hauptplätzen nicht auseinander. Es rotteten sich Haufen und Häufchen zusammen. Der Polizeipräsident hing am Telephon in ständiger Verbindung mit dem Ministerrat, und seine Mitteilungen waren alarmierend. Die demobilisierten Soldaten stellten sich hinter die Verkaufspulte der Schuh- und Lebensmittelgeschäfte, bestimmten selbst den Preis und verkauften vor den Augen der ohnmächtigen Kaufleute in einigen Minuten den ganzen Laden aus. Hier wurde noch irgendwie die Ordnung gewahrt. Die Soldaten schritten gegen jeden Plünderungsversuch energisch ein und führten das gelöste Geld an die Geschäftsleute ab. Aber es seien Elemente am Werk, berichtete der Polizeipräsident, die schrien, daß die Preistreiber schon tausendmal mehr aus dem Volk geschunden hätten, als sie heute verlören. Diese Elemente drangen in die Wäsche- und Tuchgeschäfte ein, erkletterten die Regale, warfen die Ballen herunter, die unten von zehn Händen aufgefangen und über die Köpfe der Menge hinweg auf die Straße weitergeworfen wurden. Sie fielen denjenigen zur Beute, die sie brauchten oder wollten. In den Kneipen der Vorstädte könne man für eine halbe Mark Seidenstrümpfe, Halbschuhe und Lackschuhe kaufen. In den Straßen werde agitiert. Der Abgeordnete Jandak fahre im Auto herum und halte Reden. Der Polizeipräsident wage nicht, die Ausführungen des Abgeordneten zu qualifizieren, aber er halte sich verpflichtet, mitzuteilen, daß sie im Hinblick auf die Situation äußerst gefährlich seien und ein böses Beispiel geben müßten. Dem Abgeordneten folgten eine Reihe von Individuen, die man direkt als Bolschewiken bezeichnen könnte. Sie sprängen auf die Wagen und Denkmäler hinauf und hielten von da aufrührerische, das Volk verhetzende Reden. Sie forderten zur Bewaffnung auf, sprächen vom russischen Beispiel und behaupteten, daß es in der Macht des Volkes liege, die Galgenkomödie in Wirklichkeit zu verwandeln. Das Volk verjage sie nicht, sondern höre ihnen aufmerksam zu. Stellenweise komme es geradezu zu gefährlichen Zustimmungskundgebungen und Hochrufen auf die russische Revolution. Die Polizei, der die Waffenbenutzung verboten war, sei ohnmächtig und der Polizeipräsident bitte um Widerrufung des Waffenverbotes. Einige Schutzleute seien geschlagen worden, eine Anzahl von ihnen entwaffnet, die Gefahr sei groß und schnelles Einschreiten notwendig.

Am Nachmittag ließen sich auch die sozialdemokratischen Minister davon überzeugen, daß es notwendig war, die staatliche Ordnung zu erhalten, ebenso wie die Sicherheit des Besitzes und Lebens. Militär wurde in die Straßen der Hauptstadt entsandt; nicht gegen das Volk, denn dieses hatte sich nach der Beendigung der Versammlung gemäß dem aufgestellten Programm in Ruhe entfernt, aber gegen die »unverantwortlichen Elemente«.

Jener Freitag im Mai vernichtete die Illusionen. Die »letzte Warnung allen Schiebern« verfehlte ihren Zweck, die Kaufleute schwuren unter der Hanfschlinge, was man von ihnen wollte, aber der Laib Brot und der Liter Milch wurden nicht billiger. Es stieg der Verdacht auf, daß nicht bloß die Habgier der Geschäftsleute im Spiele sei, daß es vielmehr noch anderes geben müsse.

In den Fabriken war lebhafte Bewegung. Die Arbeiter kamen bereits wohl informiert zur Arbeit. Schon beim Frühstück hatten ihre Augen in den Zeitungen gesucht, und während die Rechte abwechselnd nach der Kaffeetasse und nach der Brotschnitte griff, hielt die Linke die Zeitung fest. »Mach doch, du kommst zu spät«, sagten die Frauen ärgerlich, und die Männer steckten die Zeitung in die Tasche und liefen auf die Straße, wo sie in die überfüllte Straßenbahn sprangen. Sie versuchten noch hier zwischen drängenden Schultern, mit dem Kinn die Zeitung festhaltend, zu lesen.

Die Welt war in Bewegung.

Diese Bewegung bestimmten nicht irgendwelche rätselhaften Diplomaten und Generale mit goldenen Kragen, sondern die Arbeitermassen. Ungarn, München, ganz Deutschland, Finnland, Estland, Italien, Rußland, hauptsächlich Rußland!

Man debattierte im Gedränge der Straßenbahn und der Morgenzüge, man tauschte die Nachrichten auf dem kurzen Wege von der Haltestelle bis zum Fabriktor aus, den man im leichten Laufschritt zurücklegte, man debattierte beim Umziehen vor den Schränken, in denen die Arbeitskleider hingen. Und zwischen den Gießereiformen, Fabriksälen und ihren Ambossen, zwischen den Siemensöfen und den Kohlenlagern gingen die Meinungen der Begeisterten und der Zweifler, ging Belehrung und Unwissenheit hin und her. An den Drehbänken, Sägen, an den Färbereitischen, an den Bohrern, an den Öfen, an den Bottichen besuchten sich die Arbeiter, um zu debattieren, zu verspotten und zuzustimmen. Ingenieure und Meister blieben stehen, um ein paar Worte mitzureden. Die Weber schrien sich beim Gebrüll der Webstühle neue Nachrichten ins Ohr, und die Mädchen in den Expeditionen und Packräumen, die mit flinken Fingern Papier und Stanniol ballten, kümmerten sich mehr darum, welcher Partei Rosas neuer Freund angehörte und fragten weniger danach, ob er brünett oder blond war.

Die Revolution ging durch die Welt.

Die Versammlungen waren in dieser Zeit lebhaft und voll Bewegtheit. Toni war bei allen bedeutenderen Versammlungen. Bei vielen war auch Anna mit, denn sie verließ zum Monatsersten ihre Stellung nicht und erkämpfte sich in einem harten Wortgefecht das Recht, an jedem Abend auszugehen.

Sie saßen miteinander in den Vorstadtkneipen an Tischen mit karierten Tischtüchern und blickten gespannt auf den Mund des Redners, der sich vom Strom treiben ließ, von dem die Arbeiterschaft ständig vorwärtsgetrieben wurde. Ihre Hände ruhten nicht ineinander wie in ruhigen Stunden, denn Toni war zu sehr beschäftigt mit dem Pulsschlag der Welt, um den Pulsschlag Annas fühlen zu können. Es gab nur wenig Versammlungen, in denen Toni nicht selbst eingriff:

»Genossen …!«

Wie war er in solchen Stunden schön, wie war Anna auf ihn stolz, seine Gestalt richtete sich auf, und die Bläue seiner Augen zog mit einem Male wie ein Magnet alle Augen auf sich, und der Klang des Wortes »Genossen« ertönte wie ein Schlag gegen den Amboß, von welchem der Hammer noch zweimal abspringt. Es war ein anderer als der, den Anna in der Beleuchtung des Werktags kannte, ein Wesen, das nur in feierlichen Augenblicken aus dem Innern Tonis aufstieg, ein Etwas, das seine Augen befeuerte und seine Wangen wie in den Augenblicken der Umarmungen färbte.

»Genossen …!«

Im Volkshause erklangen jetzt die drei Silben dieses Wortes von der Bühne des Sommersaales. Der Saal mit den Glaswänden war bis nachts erleuchtet, und vom Garten konnte man hineinsehen wie in eine Laterne. Er war überfüllt von Zuhörern, von Genossen und Genossinnen. Sie saßen hier an runden Tischen, Schulter gegen Schulter gedrängt, und Knie gegen Knie. Sie standen an die Wände gelehnt, füllten den freien Raum vor der Bühne, und in ihren Köpfen zeichneten sich im Tabakrauch Fetzen der Ereignisse und Hoffnungen.

»Genossen, wir wurden betrogen. Wir haben gekämpft, sind gestorben und haben gehungert; während das Bürgertum sich verdrückte, durch Schiebungen reich wurde und für einen Korb Kartoffeln unseren Frauen das letzte Hemd wegnahm. Und wer regiert jetzt in der Republik? Sie, – und wir sind alle Sklaven. Was hat sich geändert? Schaut eure Hände an, Metallarbeiter, sind sie weicher als in der Monarchie? Und in eurer Brust, Textilarbeiter, ist da weniger Baumwollstaub als während der Kaiserzeit? Und ihr, Erdarbeiter, sind eure Rücken weniger gekrümmt? Gibt's weniger Bettler auf der Straße? Sterben weniger an Lungenschwindsucht? Arbeiterfrauen, schaut euch eure Kinder an, sind sie satter und weniger mager als im alten Staat?«

»Auf dem ›Graben‹ Graben heißt die Hauptstraße Prags. gibt's genug dicke Kinder!« schrie eine Frau haßerfüllt aus dem hinteren Teil des Saales.

Toni fuhr leidenschaftlich fort:

»Sie versprechen uns goldene Berge, aber auch die Kaiser verstanden es, zu versprechen und nicht zu halten. Früher hieß das kaiserliche Verordnung, jetzt hat es einen anderen Namen. Wo ist die versprochene Sozialisierung der Kohle und der Schwerindustrie?«

»Sie haben uns betrogen!« erscholl es scharf in die Stille des Saales. Der Sekretär der Landarbeiter, ein magerer, aristokratisch aussehender Mann, hatte es ausgerufen. Seine schwarzen Augen erglühten wie Feuer, und der Steinmetz Ober, dessen scharfe Gesichtszüge wie von Säure gezeichnet waren, legte die Faust auf den Tisch, und sprach langsam in die Stille:

»Sie wollen uns einschläfern und Zeit gewinnen, um sich die Republik nach ihren Vorstellungen auszubauen!«

»Wo bleibt die Aufteilung des Großgrundbesitzes, wo bleibt die Einziehung der Kriegsgewinne?«

Toni warf diese kurzen Sätze in die Versammlung wie Feuerbrände. Dann fuhr er fort:

»Wo ist die Trennung von Kirche und Staat?«

Der Saal brach in Lachen aus.

»Vergangene Woche«, schrie eine Frau, aber weil sie den Sturm nicht übertönen konnte, wartete sie zwei Sekunden, und dann rief sie von neuem: »Vergangene Woche verhafteten sie in der Vorstadt einen Bankdiener, weil er den Hut nicht abnahm, als der Pfarrer die Hostie vorbeitrug!«

»Wir wurden getäuscht«, fuhr Toni fort, »von allen; man sagt uns immer, wir sollen warten, so wie sie es uns auch im Kriege vier Jahre lang gesagt haben. Wie lange denn noch? Ich will euch sagen, wie lange. Bis das Bürgertum die Wirtschaft wieder in Gang gebracht hat, bis es sein Heer, seine Gendarmen, seine Polizei, seine Spitzel organisiert hat, solange sollen wir warten. Wenn sie soweit sind, springen sie uns an den Hals und drücken zu. Genug, Arbeiter, vorbei die Komödie, vorbei die Freiheitsspielerei und die Demokratie, her mit den höheren Löhnen, her mit dem Achtstundentag! Her damit, jetzt werdet ihr tanzen, wie wir pfeifen!«

Anna ließ Toni nicht aus den Augen. Er stand schön und stark da. Seine Wangen hatten sich gefärbt, und das stahlblaue Augenpaar fing die Blicke der Massen auf wie eine Zielscheibe. Tonis Augen zogen die Augen der Genossen an und mit ihnen den Zorn, den Schmerz und die Sehnsucht.

Wie ist er doch schön, dachte Anna, so schön, als ob er mich küßte.

Sie trachtete danach, seinen Blick zu erhaschen, umsonst, seine Augen waren zu sehr damit beschäftigt, die Blicke der anderen aufzufangen, als daß sie sich einem Augenpaar hätten widmen können. Sie verstand Tonis Worte nicht mehr, sie vernahm nur seine Stimme, die ihr Entzücken verursachte.

Sie fühlte, wie aus seinen emporgehobenen Händen ihr und den anderen Kraft zuströmte und noch etwas Unnennbares, das die Glieder mit einem feinen Zittern erfüllte und Tränen in die Augen trieb. Sie liebte ihn, oh, wie liebte sie ihn, und wie war sie auf ihn stolz.

Toni endete. Er spannte die Hand wie zum Kugelstoß, und die Augen brannten:

»In Rußland kämpfen sie einen ungeheuren Kampf für uns – in Rußland fließt Proletarierblut für uns – in Rußland baut man eine neue Welt für die Arbeiter der ganzen Erde. Können wir bloße Zuschauer bleiben? Zeigen wir uns diesem Kampf gewachsen.«

Toni schloß:

»Es lebe die russische Revolution!«

Der Gartensaal erbebte in begeistertem und leidenschaftlichem Beifall. Toni drang bis an die Rampe vor:

»Es lebe die Weltrevolution!«

Im Saale tobten sie:

»Es lebe die Weltrevolution!«

Und in diesem Sturm bewegten sich schwielige Fäuste, rauhe Stimmen, Tabakqualm, rote Fahnen, brennende Augen.

Toni, hochrot im Gesicht, rief von der Rampe:

»Es lebe die Revolution!«

Die Glaswand des Gartensaales drohte zu zerspringen. Alles war im Wirbel der Bewegung, die Waldkulissen der Bühne, der Vorstandstisch, die Gläser, die überfüllten Aschbecher, die gewürfelten Tischtücher, die Birnen an der Decke:

»Allem zum Trotz, es lebe die Weltrevolution!«

Es war die Leidenschaft alten Hasses und die Sehnsucht nach der freudigen Zukunft, die Hoffnung auf Befreiung. Es war das Getöse der zukünftigen Straßenkämpfe, der Rache und des Sieges.

Die Menschen erhoben sich von den Tischen, und über ihren Köpfen bewegten sich Hände:

»Es lebe die Internationale, es lebe die Internationale!«

Toni kam hochrot über die Treppe von der Bühne herunter. Er bahnte sich seinen Weg zwischen den Tischen, und während der Saal noch donnerte und brüllte, setzte er sich zu Anna. Er begrüßte sie mit einem Blick und einem leisen, kaum merkbaren Lächeln.

Sie gab sich ihm ganz, mit Leib und Seele. Wie sie ihn liebte.

Der Rotarmist Plecity sprang auf die Bühne zum Vorstandstisch. Anna erbleichte. Sie haßte diesen Menschen.

»Genossen!«

Seine Stimme war anders als die Tonis, scharf und häßlich wie ein geschliffenes Messer. Sie jagte Anna Furcht und Haß ein.

»Beifall und Geschrei werden's nicht schaffen«, sagte Plecity.

Anna fühlte, daß ein Messer auch eiskalt ist.

»Durch Reden auch nicht, das überlaßt den Quatschköpfen.«

Vom Vorstandstisch erhob sich der Vorsitzende, ein alter Holzarbeiter.

»Genosse«, sagte er maßvoll und zupfte den Redner am Ärmel.

»Geh zum Teufel!« sagte der Rotarmist zu ihm, und er rief:

»Das Reden laßt den Quatschköpfen. Ihr aber handelt! Verschafft euch Waffen, Waffen, Waffen!«

Der Vorsitzende erhob sich:

»Genosse«, sagte er ernst und streng. Aber er konnte nicht zu Ende sprechen. Das Geschrei übertönte seine Stimme:

»Er soll sprechen – sprechen – sprechen –, laßt ihn reden.«

Es entstand Verwirrung. Die Zuhörer erhoben sich von den Plätzen, der Vorsitzende rief irgend etwas. Vom Tisch bei der Bühne, wo eine Anzahl Abgeordneter saß, stand einer auf und betrachtete die Menge mit kalten Blicken, offensichtlich, um die Stärke der Opposition abzuwägen.

»Ruhe«, brüllte irgendwer mit ungeheurer Stimme aus der Mitte des Saales, aber niemand hörte ihm zu.

»Er soll reden, er hat recht, er soll reden!« schrie eine Arbeiterin mit grauen Haaren, und auf ihren Wangen bildeten sich rote Flecke.

»Reden – reden«, brüllte es wild im Saal. Die Mehrzahl der Zuhörer war bereits aufgestanden. Aus dem Tumult kristallisierten sich Gruppen. Es war klar, daß es hier zwei Lager gab, Faust gegen Faust, daß die Einheit der Partei, um die sie alle so besorgt waren, nicht mehr bestand, und das erfüllte die einen gegen die anderen mit Wut.

Sie standen gegeneinander – Köpfe und Augen. Sie schrien gegeneinander von Tisch zu Tisch und versuchten, näher aneinander heranzukommen.

Auf der linken Seite des Saales sprang ein junger Mann auf einen Stuhl und schrie, gelb im Gesicht:

»Ruhe, Ruhe!« Aber er verstärkte den Lärm nur. Sie zogen ihn vom Stuhl und die Frauen beschimpften ihn.

Der Tisch der Abgeordneten war von einer Mauer von Leibern umgeben. Man schrie und schob sich durcheinander. An der Bühnenrampe zwängten sich einige Männer durch. Hier war das dichteste Gedränge, Leib an Leib, und immer neue drängten heran, welche die in der Nähe sitzenden Menschen gegen die Tische schoben, ohne deren Proteste und das Geschrei der Weiber zu beachten. Der Haufen fuchtelte mit den Händen zum Vorstandstisch herauf und schrie:

»Laßt ihn reden. Wir erlauben nicht, daß ihr ihm das Wort entzieht. Wir wollen nur ihn hören, euch haben wir schon hundertmal gehört.«

Der Vorsitzende sagte Plecity irgend etwas, aber der winkte bloß mit der Hand ab, als ob es gar nicht lohnte, zu antworten.

Anna verfolgte dies alles, sie war unsagbar erregt. Auch sie wollte sich für eine Partei entscheiden, für die, zu der auch Toni sich bekannt hatte. Andererseits aber auch für die Partei, die gegen Plecity war. Sie haßte ihn. Warum stiftete er überall Unfrieden, wo er hinkam.

Hinten, ganz im Winkel, saß Kerekes Sandor. Der Schweiß des Lungenkranken perlte ihm von der Stirn, und seine Augen leuchteten.

An der rechten Wand stand der junge Jandak und vergaß ganz, Annas Augen zu suchen, die er vorher schon für eine Sekunde gefunden hatte.

Toni war vorne beim Haufen an der Rampe. Der Saal brüllte und tobte.

Jetzt kam Plecity an den Rand der Rampe. Er rief irgend etwas. Man sah nur den sich bewegenden Mund, von den Worten war nichts zu verstehen. Er hatte die Arme ausgebreitet, und dirigierte die Menge vor der Bühne mit seinen Handbewegungen in den hinteren Teil des Saales. Der Haufen strömte zurück und verzog sich.

Man konnte also annehmen, daß die Versammlungsleitung gezwungen sein würde, zurückzutreten, und daß der Redner sprechen würde. Ein Siegeslachen erscholl.

Ein paar junge Menschen klatschten, und dann begann der ganze Saal zu klatschen und zu jubeln. Auf der Bühne stand der Rotarmist und gab mit erhobener Hand das Zeichen, daß er fortfahren wolle. Der Sturm ebbte ab, und die Tische an der Bühne wurden zurechtgerückt. Eine Frau, deren Kleider man begossen hatte, trocknete sie mit einem Taschentuch ab und warf wütende Blicke auf die Menge.

Plecity sprach:

»Wenn ihr keine Waffen habt, müßt ihr zugrunde gehen. Die Bourgeoisie hat auch Waffen. Wenn ihr dem Bürgertum gestattet, früher zu kommen als ihr, ist euer Schicksal besiegelt. Es ist möglich, daß ihr umkommt, auch wenn ein jeder bewaffnet ist. Bleibt ihr mit bloßen Händen und unbewaffnet, sterbt ihr sicher. Das Bürgertum kennt keine Sentimentalität.«

Die weiße Narbe in Plecitys schwarzem Schnurrbart zuckte.

»Denkt ihr wirklich, daß es in diesem Lande ohne Sterben gehen wird? Glaubt das nicht. Humanität ist bürgerlicher Betrug. Vielleicht ohne Blut, ohne Sterben bestimmt nicht. Vielleicht gebt ihr dem Tod durch Lungenschwindsucht den Vorzug vor dem Kampf auf der Straße. Es ist möglich, daß ihr eure Kinder lieber an Skrofulose oder englischer Krankheit sterben laßt, als daß ihr sie der Gefahr aussetzt, den Vater zu verlieren. Aber vergeßt eines nicht, dieses Land kann uns bei dem heutigen System der Erzeugung und Verteilung nicht alle ernähren, und ihr habt keine Möglichkeit zur Auswanderung. Ihr seht selbst, wie Arbeitslosigkeit und Not wachsen. Ihr werdet vor Hunger sterben.«

Der rote Soldat bückte sich wie zum Sprunge. Seine Augen leuchteten:

»Versteht ihr, was das für die ganze Welt, für die Arbeiterklasse und für jeden einzelnen von uns bedeuten würde, wenn die Zehntausende, die schon heute zum Tode verurteilt sind, aber noch leben, wenn diese Zehntausende begreifen wollten, wenn sie sich erheben und zuschlagen würden? Wenn ein Bürger mit durchlöchertem Kopf an der Mauer liegt, sieht dies die ganze Welt, und die Zeitungen in allen Teilen der Erde heulen vor Schreck. Euer Sterben interessiert keinen Menschen. Ihr könnt zu Millionen auf den Schlachtfeldern, zu Tausenden in den Bergwerken, in den Eisenwerken, auf Operationstischen in den Krankenhäusern sterben, und kein Hahn kräht danach. Den toten Arbeiter bemerkt man nur, wenn er im Straßenkampf vom Polizeirevolver niedergeknallt wurde, aber nicht, weil er gestorben ist, sondern weil er kämpfte. Dann ist das Bürgertum voll gerechten Zorns gegen die unverantwortlichen Hetzer, die das arme, verführte Volk gegen die Polizeirevolver jagten. Ach, dieses gute bürgerliche Herz! Sie ertragen den Anblick nicht, weil er den Auslandskredit stört, und weil ihnen viel lieber ist, wenn ihr unauffällig sterbt und man euch in Holzsärgen auf die Friedhöfe hinausschafft. Aber gerade diese paar Revolutionäre, die in den Straßen fallen, eben diese befreiten das Leben von Millionen.«

»Waffen«, schrie er leidenschaftlich, »wenn ihr Waffen habt, ist es möglich, daß ihr nicht siegt? Seht euch an, wie viele ihr seid, und wie wenige sie sind. Ein Tigersprung, und ihr habt die Macht in den Händen. Ihr enteignet die Reichen, bestraft die Verräter und richtet euch Leben und Wirtschaft so ein, wie es euch, nur euch gefällt. Dann wird, wer arbeitet, der Herr sein, und wer nicht arbeitet, wird auch nicht essen. Noch ist es Zeit, aber nicht mehr lange. Die Bourgeoisie baut sich mit Hilfe eurer Führer neue Positionen. Der Bau ist noch nicht zu Ende, und noch ist es Zeit; wenn ihr ihnen Zeit laßt, sich zu befestigen, werden sie euch umbringen.«

Im Saal war gespannte Stimmung, eine andere Stille als während der Rede Tonis. Es war nicht der einige, kraftvolle Strom menschlicher Blicke, die im Auge des Redners zusammenliefen und in einem neuen Strom von Kraft wegstrebten. Das waren Ausbrüche, Blitze, die von Auge zu Auge gingen, sich kreuzten und schlugen. Es war eine neue Kraft, ein neuer Mensch, der nicht einer von ihnen war. Er zeichnete Bilder, die durch ihre Schönheit und ihre Schrecklichkeit furchterweckend waren.

»Kampf, nur im Kampf liegt euer Hoffen. Dazu braucht es zweierlei, zuerst Waffen und dann die verjagen, die euch zurückhalten und den Kampf unterbinden, die euch einschläfern. Jagt sie davon.«

Und er nannte einige Namen von Arbeiterführern:

»Das sind eure schlimmsten Feinde.«

Der Vorsitzende sprang auf, er war blaß.

»Ich kann nicht gestatten, daß du die Partei und verdiente Arbeiterführer beleidigst. Ich entziehe dir das Wort.« Er schrie dies, und seine Stimme überschlug sich vor Erregung. Es entstand ein ungeheurer Sturm. Die Masse sprang auf, die Gläser und Kaffeetassen klirrten, aber Plecity legte die Hände an den Mund und brüllte, daß es den Sturm übertönte:

»Ich bin zu Ende, ich habe nichts mehr zu sagen. Zwei Dinge sind nötig: Die Führer wegjagen und sich bewaffnen.«

Er lief die Treppe von der Bühne hinunter und bahnte sich durch die Haufen der Menschen seinen Weg. Im Saal erscholl Beifall. Am Abgeordnetentisch, der von Menschen umringt war, stiegen die Leidenschaften wieder auf. Die alten Führerautoritäten wankten. Der Vorsitzende der Versammlung stand tiefgebeugt am Rande der Bühne, fuchtelte mit den Händen und versuchte denen unten irgend etwas zu beweisen.

Plecity suchte einen Platz, um sich niederzusetzen. Sein Blick fiel auf die beiden Stühle an Tonis Tisch, und er nahm seinen Weg dorthin. Anna erbleichte vor Haß, aber Plecity begrüßte sie schon mit einem Lächeln:

»Ach, die Liebenden.«

Er sagte das heiter, als ob er von einem Spaziergang käme. Zu gleicher Zeit setzte sich ein Mann auf den zweiten Stuhl, den Toni vorher nie gesehen hatte. Klein, mager, im ganzen schäbig, mit einer Brille. Er sah aus wie ein Geschäftsdiener oder ein armer, untergeordneter Beamter.

»Ausgezeichnet, Genosse«, sagte er mit schmeichlerischem Lächeln, »das haben Sie ihnen sehr gut gesagt.«

Der Rotarmist warf einen Seitenblick auf ihn. Toni blickte den Mann mit der Brille mißtrauisch an. Der Mann lachte. Er lachte irgendwie anders als sonst die Genossen lachten.

Der Saal war noch in heller Bewegung.

»Die Versammlung dauert fort«, schrie der Vorsitzende.

»Das Wort hat der Genosse Ouhrabek.«

Nur die vorderen Tische hörten es. Der Zorn hatte sich noch nicht gelegt, aber der Knäuel an der Bühne entwirrte sich wieder und schob sich nach rückwärts. Der bleiche Vorsitzende wartete. Aber auch der alte Ouhrabek wartete, ein Veteran der Partei, ein 70jähriger Textilarbeiter. Er stand auf der Bühne an der Waldkulisse, und von ihrem schreienden Grün stach seine Gesichtsfarbe merklich ab, die gelb war wie ungebleichtes Baumwollgewebe.

Seine Beine hatten O-Form. Er hatte in den Textilfabriken der Firma Porges das Licht der Welt erblickt; auf rohen Baumwollballen wurde er geboren. Vom siebenten Lebensjahre hatte er dort gearbeitet, indem er für 25 Pfg. täglich Spulen einfädelte. Die Fenster waren blind von Baumwollstaub, man konnte nicht durchblicken. Baumwollgeruch setzte sich auch ein für allemal auf dem alten Ouhrabek fest.

Jetzt stand er auf der Bühne und bemühte sich auch nicht mit einer Bewegung, der Versammlung seine Existenz zum Bewußtsein zu bringen. Er wartete geduldig, bis sich alle gesetzt hatten.

»Ruhe, das Wort hat Genosse Ouhrabek«, rief der Vorsitzende, und der Saal beruhigte sich. Dieser Pionier des Sozialismus schwankte auf runden Beinen an die Rampe.

»Genossen und Genossinnen. Ich will euch nicht lange aufhalten, aber eines muß ich konstatieren.« Seine Stimme war trocken und farblos, auch sie war gesättigt vom Baumwollstaub, aber trotzdem fest und verriet keineswegs die 70 Jahre. Sie war in tausend Versammlungen und Polemiken mit nationalsozialistischen Arbeitern, Klerikalen, Anarchisten und Agrariern geschult.

»Ich muß euch soviel sagen. Es ist schmerzlich, daß es auf unseren Versammlungen zu so traurigen Kundgebungen kommt wie zu der heutigen, und daß wir sozialistischen Arbeiter uns untereinander nicht verständigen können. Ich muß euch aufs neue sagen, daß es nur die Solidarität war, die den Arbeitern zum mindesten ein bißchen menschliches Leben erkämpfte. Ihr seid jünger als ich, und kaum einer von euch erinnert sich an die schweren Anfänge.«

Die Hörer wappneten sich mit Geduld. Ihre Augen nahmen einen Schein von Teilnahme an, und sie zwangen ihre Körper, sich nicht von der Bühne abzuwenden. Sie wußten wortwörtlich, was kommen würde. Wie oft hatten sie das alles schon von dem alten Ouhrabek, diesem Märtyrer des Sozialistengesetzes, gehört.

Der Mann mit der Brille, der aussah wie ein Bürodiener, neigte sich an Tonis Tisch noch einmal zu Plecity:

»Du hast das sehr schön gesagt, ausgezeichnet.«

»Meinst du«, lachte der Rotarmist.

»Bestimmt. Es ist auch meine Ansicht, daß wir Waffen haben müssen. Anders können wir es nicht schaffen.«

»Glaubst du, daß ich welche besorgen soll?«

Toni, der neben Plecity saß, stieß ihn mit dem Knie an, aber der schob die Hand unter den Tisch und Tonis Knie beiseite.

»Selbstverständlich, glaube ich, das wäre wunderbar«, sagte der Mann mit der Brille.

»Na gut, ich werde also welche besorgen.«

Da mischte sich Toni, entsetzt über die Unerfahrenheit des Genossen, in das Gespräch:

»Es ist bloß, Genosse, daß wir dich nicht kennen. Ich habe dich hier noch nie gesehen.«

»Mißtraust du mir vielleicht?« sagte der Unbekannte schnell, und er sagte dies so laut, daß sich jemand am Nachbartisch mit einem wütenden »Psst« umdrehte.

Und ebenso schnell zog er ein Mitgliedsbuch aus der Tasche und reichte es Toni.

Auf der Bühne entrollte der alte Ouhrabek das düstere Bild des Arbeiterlebens vor fünfzig Jahren. Es gäbe Säle, wo man sieben Tage in der Woche dreizehn und vierzehn Stunden täglich für 25 bis 50 Pfg. arbeiten mußte, wo man aß und auch manchmal schlief, gebar und oft starb. Wo die Meister alte Männer schlugen und die Kinder mit Seilen bearbeiteten und die Polizei häufig Gast war und immer nur wegen eines Stückchens gestohlenen Stoffes oder wegen eines Wortes der Verteidigung. Wo unaufhörlich der Aufschrei der Weberinnen ertönte, die der Meister mit einem Griff unter die Röcke beehrte, oder die der Herr Buchhalter ins Büro, auf das mit Wachstuch bezogene Sofa eingeladen hatte. Und der stumpfe, lange Zug, der in der Abenddämmerung die Fabrik verließ, und dem die Bevölkerung in großem Halbkreis auswich, weil er nach Maschinenöl, Jute und Branntwein stank und Beschimpfungen ausstieß.

Der Saal im Volkshause hörte dem alten Veteran mit undankbarer Gleichgültigkeit zu, die sich nur schwer hinter geheucheltem Interesse verbarg. Was halfen ihnen heute die Erzählungen, die schon längst nicht mehr wahr waren. Die trockene Stimme des alten Ouhrabek würde sich in einigen Minuten ein wenig färben, in die glanzlosen Augen würde ein Fünkchen Licht treten, er würde von den ersten Versammlungen der sozialistischen Pioniere erzählen, von den ersten Geheimorganisationen und Zeitungen, von der ersten Morgenröte der Freiheit. Wie gern hätten sie ihm alle gesagt: »Wir schätzen dich, alter Pionier, und wenn dir jemand nur mit einem einzigen Wort zu nahe treten sollte, würden wir ihn zermalmen, aber begreife doch, daß dies nicht hierher gehört und komm von dieser Bühne herunter. Wir haben dich lieb; wenn du stirbst, werden wir deinen Sarg mit roten Blumen überschütten, wir werden dich nie vergessen, aber wir bitten dich, laß das, du bist die Vergangenheit, und vor uns öffnet sich heute die Zukunft.«

Aber die Vergangenheit ließ sich nicht verjagen.

Toni gab dem Unbekannten das Mitgliedsbuch zurück.

»Genosse Marek, zwölfter Bezirk.«

»Daß wir uns nicht kennen!«

»Ich habe im Ausland gelebt, bin erst einen Monat hier.«

Plecity lachte.

»Hier sind sie zu vorsichtig, sie haben Angst. Na und du, Genosse Marek, wärst du bereit, Waffen hierher zu schaffen?«

»Ohne weiteres!«

»Na, dann gut!«

»Wo wohnst du, Genosse?«

Toni stieß den Rotarmisten verzweifelt an die Knöchel, aber der schob seinen Fuß wieder beiseite.

»In der Königstraße sechs, zwei Treppen, bei Frau Schlager. Aber dort würdest du mich wahrscheinlich nicht erreichen, ich fahre in drei Tagen nach Hamburg. Dort sind die Waffen auf einem Schiff im Hafen. Würdest du hinkommen?«

»Ohne weiteres!«

»Sicher?«

»Ehrenwort!«

»Fahre ich nicht umsonst?«

»Nein, Ehrenwort. Wann?«

»Von heute in einer Woche. Hamburg St. Pauli, Alter Damm siebenundzwanzig, in Westermanns Kneipe. Ich gebe dir ein Kistchen Handgranaten und ein Maschinengewehr. Den Grenzübergang sichern wir dir. Topp?«

»Topp«, sagte der Mann mit der Brille ein wenig verdutzt und reichte dem Rotarmisten die Hand.

»Und jetzt wollen wir zuhören. Sie schauen schon alle nach uns her«, beendete Plecity die Unterhaltung.

Aber doch wandte er sich noch einmal zu Toni:

»Dieser Mummelgreis auf der Bühne, ist das ein Zufall, oder hat ihn der Vorstand hingestellt?«

»Nein«, sagte Toni, und Anna war wütend, daß er mit diesem ekelhaften Menschen überhaupt sprach.

»Der Genosse Ouhrabek ist bei jeder wichtigeren Versammlung.«

»Mir hat diese Verbindung mit dem Bürgertum auch nie behagt«, klang von der Bühne die verstaubte Stimme, »und ich erinnere mich stets an den Genossen Bebel, der sagte: solange uns die Bürger beschimpfen, sind wir auf dem richtigen Weg. Wenn sie anfangen, uns zu loben, ist es schon vorbei.«

Der Redner war bereits bei der Gegenwart.

Der Fremde mit der Brille zog ein Notizbuch hervor, ein dickes und ganz neues Notizbuch, und trug sich dort die Privatadresse Plecitys ein und fragte nochmals nach der Hamburger Adresse.

»Ich komme bestimmt«, sagte er.

»Komm nur, verlaß dich auf mich, ich werde dich erwarten.«

Der alte Ouhrabek sprach noch lange. Er erzählte von der Solidarität. Sie hatte die Arbeiterschaft aus der Not der Vergangenheit geführt, und sie allein vermochte, sie zu einer besseren Zukunft zu führen.

»Die Partei muß stark und einig sein, jeder innere Hader kommt nur den Feinden zugute.« Der alte Pionier schloß: »Ja, Genossen, wir müssen uns von den Bürgerlichen trennen, das ist auch meine Meinung. Unsere Führer müssen sich dem Willen der Arbeiterschaft unterordnen. Zur Spaltung der Partei darf es nicht kommen. Das wäre das Schlimmste, was geschehen könnte. Wenn wir auseinandergehen, wenn die Versammlungen beendet sind, wollen wir die Arbeiterschaft belehren, und wenn unsere Führer nicht selbst einsehen, wie notwendig es ist, sich von den Bürgerlichen zu trennen, werden sie sich sicherlich dem Befehl der ganzen Arbeiterschaft fügen. Damit beende ich meine Rede.« Sie klatschten ihm Beifall aus Pflichtgefühl, und Ouhrabek stieg klein und farblos wie ungebleichtes Leinen die Treppe von der Bühne hinunter.

»Der Alte irrt«, sagte Plecity zu Toni, »er erfaßt die Situation nicht, es kommt zur Spaltung, und die Führer werden sich nicht unterordnen. Sie können das gar nicht.«

Er wandte sich an den Mann mit der Brille.

»Was denkst du darüber?«

»Was soll ich sagen?« antwortete Marek, von der Frage überrascht, hastig.

Die Bühne betrat Anton Deutsch, Abgeordneter und Vorsitzender des Exekutivausschusses der Partei. Ein ruhiger Sechziger, mit einer rosigen Glatze und einer goldenen Brille. Er wurde mit größter Stille empfangen. Von einer ein wenig zornigen und ein bißchen gespannten, erwartungsvollen Stille:

»Genossen und Genossinnen«, begann er langsam, »die Vorredner haben uns viel Wahres gesagt. Es sieht bei uns lange nicht so aus, daß wir Arbeiter zufrieden sein können.« Der Redner wiederholte nun gemessen und würdevoll Punkt für Punkt die Anklagen, die Toni und der schwarze Genosse gegen das System erhoben hatten, und stimmte ihnen zu.

»Ich meinerseits werde der Kritik meiner Vorredner noch weitere und nicht minder wichtige Punkte hinzufügen. In der Industrie beginnt eine neue Krise, und die Kapitalisten sind verantwortungslos genug, ihre Last auf uns Arbeiter abwälzen zu wollen. Sie weigern sich, etwas von ihrem Verdienst abzugeben. Sie wehren sich dagegen, einen Teil der unangemessenen Kriegsgewinne abzuführen.«

Der Rotarmist schaute den Redner lächelnd an. Plötzlich rief er ihm zu:

»Du machst das ausgezeichnet, ich warte nur, wann dein ›Aber‹ und dein ›Trotzdem‹ kommt.«

Gelächter wurde laut. Dann erklang es »Ruhe«, »Psst« und »Ruhe!«

Der Zwischenruf brachte den erfahrenen Redner nicht aus dem Gleichgewicht. Er faßte mit den Fingern nach dem Rand seiner goldenen Brille und blickte eine Zeitlang würdig nach dem Platz, wo der rote Soldat saß.

»Verzeihung, Bürger«, sagte er dann mit erhöhter Ruhe, und Wort für Wort betonend, »ich glaube, ich habe Sie nicht unterbrochen, und ich will hoffen, daß Sie auch mich zu Worte kommen lassen werden. Ich nenne Sie bloß Bürger, denn ob Sie Genosse sind, müßte erst festgestellt werden.«

»Du kennst dich gut in Versammlungskunststücken aus«, lachte der Rotarmist, »kein Wunder nach so vieljähriger Praxis!«

»Wir kennen ihn«, klang es von der linken Seite des Saales, »wir kennen ihn alle«, riefen sie, »das ist der Genosse Plecity. Wir kannten ihn schon vor dem Kriege.«

»Aber der Herr Abgeordnete kennt mich doch auch«, lachte der Rotarmist.

»Ich glaube euch, daß ihr ihn kennt«, fuhr der Abgeordnete Deutsch unverdrossen fort, »aber wir kannten vor dem Kriege viele Leute, die wir dann aus den Augen verloren, und die als andere zurückkehrten. Ich tue ungern Unrecht, und wenn ihr ihm vertraut, werdet ihr sicher allen Grund dazu haben, aber ich« – und er klopfte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust – »ich für meine Person habe wenig Vertrauen zu Leuten, die in öffentlichen Versammlungen von Dynamit und Höllenmaschinen sprechen.«

Anna freute sich. Ihre Freude war so groß, daß sie gern gelacht hätte, und es drängte sie, zumindest mit fröhlichen Augen Toni anzusehen.

Toni sagte:

»Selbstverständlich ist das nicht wahr.«

Plecity lächelte:

»Aber wenn du das dem Abgeordneten sagst, wird er antworten, er habe doch nicht behauptet, daß auf der heutigen Sitzung davon die Rede war.«

Marek, sichtlich unerfahren, brach in herzliches Lachen aus. »Psst«, schrien sie ihm zu, und er hörte augenblicklich auf.

»Wir wollen fortfahren«, sprach Anton Deutsch, »ja, unserer Republik droht eine schwere wirtschaftliche Krise.«

Das »Aber« des Abgeordneten kam nicht so bald, wie Plecity erwartet hatte. Die Situation war in dieser Versammlung für die Parteileitung gefährlich, und es war notwendig, daß nach Anton Deutsch keiner der Oppositionellen mehr zu Worte kam. Die Arbeiterversammlungen dauern selten länger als bis zehn Uhr abends, und wenn es einmal später wird, verdrückt sich die Mehrzahl noch vor dem Ende. Jetzt war es neun Uhr, und man mußte mit der Zeit sparen. Das »Aber« des Redners kam erst nach einer Viertelstunde. Anton Deutsch unterbrach sich. Er blickte mit ruhigem Selbstbewußtsein wieder durch die goldene Brille auf den Platz, wo der rote Soldat saß, und er sagte:

»Jetzt kommt Ihr ›Aber‹, Bürger Plecity. Bitte, geben Sie freundlichst acht: Aber – man muß sich fragen, wie sind diese schweren Verhältnisse zu überwinden?« – und jetzt erhob der Redner die Stimme am heutigen Abend zum erstenmal und donnerte dann: »Damit, Bürger Plecity, daß Sie die Arbeiter gegen Bajonette, Maschinengewehre und Kanonen treiben, damit, Bürger Plecity, daß Sie die hauptstädtischen Straßen mit edlem Proletarierblut überschwemmen, damit, Bürger Plecity, daß Sie tausend neue Witwen und zehntausend neue Waisen schaffen?«

Von verschiedenen Plätzen des Saales erklang Beifall, stürmisch und provozierend. War es ein Fünftel der Versammlung, war es ein Sechstel? Das interessierte alle, und die Köpfe wandten sich den applaudierenden Inseln zu. Am meisten interessierte es den Redner selbst, und seine Augen glitten durch den Saal. Als sich der Sturm gelegt hatte, stand Plecity auf und schrie mit mächtiger, aber ruhiger Stimme:

»Wir gehen nicht auf die Straße, um zu sterben, wir werden gehen, um zu siegen!«

Eine Beifallssalve antwortete ihm. Es donnerte im ganzen Saal. Auf der Bühne stand der Abgeordnete Deutsch völlig ruhig. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln, und der Zeigefinger seiner rechten Hand pendelte vor dem Kinn nach rechts und links. Mit dieser Geste erweckte er Neugierde.

»Nein, nein, Bürger Plecity«, – und der dicke Finger Deutschs bewegte sich wie ein Pendel:

»Wir sind uns zu sehr unserer Verantwortung gegenüber dem Proletariat und unserem Gewissen gegenüber bewußt, und wir werden nicht nur ein ähnliches Verbrechen« – und dieses Wort schrie Deutsch mit lauter Stimme und beugte den Körper dabei stark nach vorn – »niemals zulassen, wir werden auch alle unsere Kräfte darauf konzentrieren, um ein solches Verbrechen unverantwortlicher, leichtsinniger oder abenteuerlicher Menschen zu verhindern. Sie sehen, Bürger Plecity, daß ich maßvolle Worte gebrauche, denn auch ich will an Ihre ehrliche, wenn auch irrige und gefährliche Überzeugung glauben, und ich bin weit davon entfernt, Sie einen Provokateur zu nennen. Auch uns, Genosse, ist die russische Revolution heilig, auch uns ist der heroische Kampf unserer russischen Brüder heilig, aber die Verhältnisse sind bei uns anders als in Rußland. Und darum müssen wir auch einen anderen Weg gehen!«

»Mit den Bürgerlichen sich verbinden«, schrie jemand.

»Wir verbinden uns nicht mit der Bourgeoisie, und wenn wir mit ihr in der Regierung sitzen, geschieht dies aus ganz anderen Gründen. Die Teilnahme an der Regierung gibt den Arbeitern nicht nur die Möglichkeit der Kontrolle …«

Es erscholl lautes Lachen: »Ja, wäre es euch denn lieber, wenn die Bourgeoisie allein regierte?«

»Nein, aber wir wollen allein regieren!« Aus der Mitte des Saales erscholl eine feste und energische Stimme:

»Wir wollen die Diktatur des Proletariats.«

»Sicher« – der Abgeordnete nickte gutmütig, »sicher, Genosse, die Regierung der Arbeiter und die Diktatur des Proletariats ist ein altes Programm der Partei, sie muß unser Ziel sein, und ich habe nie daran gezweifelt, daß wir es erreichen.« Er lachte liebevoll: »Aber ich befürchte in Wahrheit«, sagte er in nettem Ton der Unterhaltung, »daß wir uns mit diesem gegenseitigen Zurufen kaum verständigen werden. Laßt mich, Genossen, eine Weile ruhig reden, wer anderer Meinung ist, erhält nachher das Wort.«

»Also« – Plecity lief zum Vorstandstisch und sah sich die Rednerliste an. Er kehrte zu Toni zurück:

»Nach ihm ist der Abgeordnete Havel und dann der Direktor des Konsumvereins, Hummelhans, gemeldet. Aber die kommen nicht mehr zu Worte, die stehen bloß als Reserve da. Ich gehe. Na, und ihr, ihr Liebenden, bleibt noch?«

»Wir gehen auch«, sagte Toni, »Anna muß nach Hause.«

»Na, und du, Genosse Marek, du bleibst wohl noch?« wandte sich Plecity an den Mann mit der Brille. Der Mann wand sich.

»Nein, nein, bleib nur, es würde auffallen, wenn wir alle auf einmal gingen. Du kommst bestimmt? Ich werde dir alles vorbereiten. Kann ich mich darauf verlassen?«

»Ganz bestimmt.«

Sie gingen. – Anna, der Rotarmist und Toni. Anna ungern und entschlossen, Plecity nicht anzusehen. Sie kamen in den nächtlichen Garten. Durch die Glaswand drang das Licht des Saales bis zu dem Kastanienbaum, und in den Saal sah man hinein wie in eine erleuchtete Laterne. Sie gingen durch das Tor in den Vorderhof. Dort holte sie der Student Jandak ein. Er rannte.

»Warum gehst du denn schon, ich wollte mit dir sprechen«, sagte er zu Plecity. Aber Anna wußte, daß der Student ihr nachgekommen war.

»Mein Zug geht um zehn Uhr dreißig, und ich muß noch zu Hause vorbeigehen. Der alte Deutsch wird die Versammlung fertigmachen, das geht in einer Viertelstunde auseinander und – vorbei. Ihr macht das ja entsetzlich falsch. Welche Eselei, den anderen den Vorsitz zu überlassen.«

Sie durchschritten die beiden Höfe des Volkshauses und kamen zum rückwärtigen Ausgang. In der Druckerei begannen eben die Rotationsmaschinen zu laufen, im dritten Stock waren die Fenster der Redaktion erleuchtet.

»Wohin fährst du?« fragte Jandak.

»Nach Wien. Die hiesige Polizei ist schon hinter mir her, und ich habe jetzt keine Zeit, im Kühlen zu faulenzen. Was soll ich denn hier? Wenn es hier etwas zu tun gäbe, bliebe ich, aber ihr seid ja erst im reinen Anfang. Bei euch wird ja bloß debattiert.«

»Genosse Plecity, hast du diesem Marek vertraut?« erinnerte sich Toni. Der Rotarmist lachte.

»Es ist unglaublich, was ihr für blöde Spitzel hier habt«, sagte er, »ein funkelnagelneues Notizbuch, eine Mitgliedskarte und gleich bereit, Bomben und Minenwerfer über die Grenze zu bringen. Aber ich bin in einer Woche wirklich in Hamburg.«

»Warum hast du ihn dann hinbestellt?«

»Ich wäre froh, wenn er käme, aber er kommt nicht. Der Polizeipräsident wird das mit der Hamburger Polizei schriftlich erledigen. Wir haben dort im Hafen einen sehr schönen Ozeandampfer, wo es gute Kameraden gibt. Und so eine Bestie wird unter Deck geführt in die Mannschaftskajüte. Dort kriegt sie eins über den Schädel und dann wirft man sie ins fette Hafenwasser. Das blunkert nochmal, und der Mond blinzelt ein bißchen. Dann ist's vorbei. Wenn wir solche Nattern nicht unschädlich machen, vernichten sie Hunderte unserer Genossen.«

Anna, das Mädchen vom Lande, erschauerte.

Sie kamen aus dem Hof des Volkshauses in das Licht und den Lärm der Wagen und Menschen, der hauptstädtischen Straßen. Plecity sah sich um, ob er verfolgt würde. Dann reichte er beiden Männern die Hand. Sein Händedruck war kurz und kräftig. Er sprang auf die Straßenbahn.

Jandak, der vorher behauptet hatte, daß er noch mit ihm sprechen wollte, begleitete Anna und Toni bis zum Wenzelsplatz. Anna entging dies nicht, aber es war ihr nicht unangenehm, als sie Toni vor dem Hause zum Abschied umarmte und küßte. Ihr Kuß war noch inniger als sonst, und dann reichte sie, hochrot im Gesicht, dem verdatterten Studenten die Hand. Ihre Blicke wichen einander aus, aber ihr Händedruck sagte ihm freundschaftlich, warm und mitleidvoll: »Lieber Freund, ich habe schon einen Geliebten.«

Der Student und Toni blieben allein vor dem Hause.

»Ich hätte noch gern mit dir gesprochen«, sagte der Student, seine Erschütterung überwindend, »gehen wir noch ein bißchen ins Kaffeehaus.«

»Gern.«

Das Kaffeehaus »Passage« ist gleich nebenan; ein schönes Gebäude mit goldenen Lüstern und Marmorsäulen.

Die Lichter des Cafés blickten auf den erleuchteten Platz. Sentimentale Musik klang gedämpft. Der Student ging auf das Haus zu.

»Da hinein?« fragte Toni, »da gehe ich nicht hin.«

»Warum?«

»Ich gehe nicht.«

»Warum?« wunderte sich der Student, »fürchtest du dich vor sauberem Geschirr und vor Silberlöffeln? Auch das Proletariat wird einmal von Porzellantellern essen.«

»Ach, das sind Redensarten«, sagte Toni wütend, »ich gehe nicht in bürgerliche Lokale. Wenn du willst, komm in eine Vorstadtkneipe, sonst gehe ich heim.«

»Na, gehen wir.«

Sie gingen der Vorstadt zu, durch die Heinrichsgasse und über den Heuwagsplatz. Sie schwiegen. Tonis Verstimmung ging vorbei, und er dachte an die heutige Versammlung. Er erlebte aufs neue ihre Bewegung, stellte die Fehler fest, schätzte die taktischen Möglichkeiten ab. Plecity war hart wie eine Hacke, aber er hatte immer recht. Tatsächlich, welche Dummheit, den anderen die Leitung zu überlassen und zuzugeben, daß sie die Versammlung versanden ließen. Der alte Ouhrabek war in Wirklichkeit, ohne es zu wissen, vorgeschoben, um die Stimmung vorzubereiten.

Der Student war von Sehnsucht nach Anna erfüllt, – und voll Trauer. Der Kuß auf dem Wenzelsplatz hatte ihn tief geschmerzt. Er fühlte noch jetzt Annas warme Hand, und er begriff die Aussichtslosigkeit seiner Wünsche. Es war ihm traurig zumute, und er schämte sich. Er überlegte: dieser gereizte Ton vor dem Kaffeehaus »Passage« – war der zwischen einem Arbeiter und einem Intellektuellen oder zwischen zwei Männern ausgebrochen?

Die nächtlichen Straßen waren öde. Toni fragte plötzlich: »Glaubst du, daß es zur Spaltung der Partei kommt?«

Der Student hatte vergessen, daß irgendeine Partei existierte, aber er erinnerte sich in dieser Sekunde daran. In seinem Gehirn entstand das Bild des Volkshaussaales, die Glühbirnen über den Köpfen, der Rauch, in dem sich Waffen, Parolen und rote Fahnen mengten. Er begann von der Revolution zu reden, er betäubte sich mit Worten, er fühlte eine Erleichterung darüber, daß er die Glut, die in ihm war, und die einer Frau galt, nun auf andere Dinge richten konnte. Er sprach von der russischen Revolution, von Lenin, von der Eroberung der Macht, vom Tigersprung. Er erhitzte sich:

»Es ist gleichgültig, ob es zur Spaltung kommt, das ist nicht wichtig. Die Revolution ist da und niemand kann sie aufhalten. Das ist elementar, eine Feuersbrunst, eine Überschwemmung.«

»Ich weiß nicht«, sagte Toni, und seine kalte Stimme stach merklich von der Glut des Studenten ab, »möglich, aber eine Revolution muß man führen und dazu muß man Waffen haben. Plecity hat recht.«

Der Student sprach von seinem Vater und Kameraden, dem Abgeordneten Jandak. Er entwickelte dessen Ansichten über die Einheit der Partei. Ein Teil der Führer würde die Revolution nicht mitmachen. Sie waren schon zu sehr am Gängelband der Bourgeoisie. Es werde auch nicht gelingen, die ganze Partei herüberzuführen. Der Riß ist unabwendbar, die Arbeiterschaft muß eine neue Partei gründen, eine eigene Partei. Man muß das gleich und um jeden Preis tun.

Sie näherten sich der Vorstadt. Toni schwieg. Der Student wiederholte die Ansichten seines Vaters. »Der Vater steht auf der äußersten Linken. Er hat Verbindung mit Wien, Berlin und durch deren Vermittlung mit Moskau. Heute hat er eine Versammlung im Kohlenrevier. Das Revier ist revolutionärer als die Hauptstadt. Dort werden die ersten Flammen hochschlagen.« Der Student sprach mit Begeisterung. Toni antwortete nicht.

»Mein Vater geht sicher mit, und wenn niemand mitginge, er geht, und sein Wort gilt in den Organisationen.«

Da merkte der Student, daß das Schweigen des Arbeiters kalt und absichtlich war.

»Warum schweigst du?« fragte er ungehalten.

Toni zuckte die Achseln.

»Warum schweigst du?« fragte der Student gereizt.

»Dein Vater geht nicht mit«, sagte Toni, und man merkte, daß er es ungern sagte.

Sie waren zu einem Eisenbahnviadukt gelangt. Der Student versperrte Toni den Weg, und beide standen. Drei Meter über ihren Häuptern dröhnte ein Zug, an der Wand hing ein schreiendes Filmplakat: Chaplin. Der Student faßte den Arbeiter an der Schulter.

»Bist du verrückt?«

Toni blickte ihm gerade in die Augen und schüttelte den Kopf.

»Weißt du etwas Ehrenrühriges von meinem Vater?«

»Nein, nichts.«

»Mit welchem Recht sprichst du dann so?«

Toni antwortete nicht.

»Das läßt sich nicht mit Schweigen erledigen. Es ist deine Pflicht als Genosse, mir zu antworten.«

»Laß das, Jandak, ich sag's nicht gern.«

»Du mußt«, schrie der Student.

»Na gut, dann will ich dir's sagen,« meinte Toni ruhig. »Ich sah deine Mutter mit weißen Handschuhen und Lackschuhen, und deine Schwester trägt Seidenkleider.«

Der Student ließ Tonis Schulter los und faßte sich an den Kopf.

»Bist du verrückt?«

»Nein.«

»Und deswegen kann mein Vater kein Kommunist sein?«

»Eben deswegen …«

Der Student lachte halb wütend, halb schmerzlich. Sie gingen durch die nächtlichen Vorstadtstraßen und sprachen kein Wort mehr. Dann betraten sie irgendein Kaffeehaus dritten Ranges. Es saßen ein paar Handwerker da und eine magere Frau. An einem Tisch spielten sie Karten. Zwei Zuhälter, kaum der Schule entwachsen, warteten auf das Geld ihrer Geliebten, und weil sie sich langweilten, warfen sie ein Geldstück in den Musikapparat und ließen sich den Toreromarsch aus Carmen vorspielen. Das Orchestrion trug das Bild einer alten Landschaft mit einer Mühle. Toni und der Student ließen sich an einem Blechtisch nieder, dessen Zeichnungen Marmor vortäuschen sollten. Die Besitzerin brachte ihnen zwei Tassen Kaffee. Der Student saß mit aufgestütztem Arm da und blickte Toni unverwandt an. Toni wich seinem Blick nicht aus. Das Schweigen dauerte lange. Der Toreromarsch dröhnte, und die Karten der Spieler klatschten auf den Tisch.

»Es ist entsetzlich,« sagte der Student traurig, »es ist furchtbar, dieses Mißtrauen zwischen Arbeitern und Intelligenz.«

Toni schluckte den Kaffee.

»Also – weiße Handschuhe, Lackschuhe und seidene Kleider. Ich verstehe – das stinkt zu sehr nach Bourgeoisie, wie das saubere Geschirr und die Silberlöffel im ›Passage‹. Wenn sich Anna ein Seidenfähnchen kaufen würde, hättest du sie nicht mehr lieb?«

»Ich würde ihr selbst eins kaufen, wenn ich das Geld hätte.«

»Na, siehst du.«

»Bloß, – daß ich es nie haben werde.«

»Ach so, also wer das Geld hat, der darf kein Revolutionär sein. Oder glaubst du denn, daß …« Das Gesicht des Studenten verfinsterte sich … »daß mein Vater, das Geld von der Bourgeoisie gekriegt hat?«

»Ach, lassen wir das. Ich sagte dir doch, daß ich von deinem Vater nichts weiß. Aber er wird doch nicht mit uns gehen!«

»Mir vertraust du wohl auch nicht? Ich habe doch ein goldenes Kettchen. Würde dir das Freude machen, wenn ich es den beiden Louis da drüben schenkte?«

»Unsinn!«

»Morgen verkaufe ich es und gebe das der Organisation.«

»Unsinn, ich glaube dir auch schon heute. Aber wenn du vor der Entscheidung zwischen uns und deinem Vater stündest, würdest du dich für deinen Vater entscheiden. Was sollst du denn auch anderes machen? Du mußt studieren, Arbeiter kannst du nicht sein, und wenn du dich auch auf diesen Standpunkt stelltest und die Hacke nähmst, das wäre der größte Unsinn, wem würdest du damit dienen? Wir sprechen uns in einem Jahr, vielleicht schon früher.«

Der Student hielt den Kopf mit beiden Händen fest und bewegte ihn hin und her. War dies eine Diskussion zwischen einem Arbeiter und einem Intellektuellen? Seine Stellung war schwach. War es vielleicht doch der Streit zwischen zwei eifersüchtigen Männern? Wie unvorteilhaft war seine Lage in diesem Falle! – Seine Augen waren traurig.

»Es ist entsetzlich, Toni, und es ist das furchtbarste Unrecht. Dreißig Jahre hat der Vater für euch gearbeitet. Er hat keine anderen Gedanken als euch, und wie er euch dienen könnte, und ihr könnt ihm nicht verzeihen, daß er ein Intellektueller ist! Wir sind im Sozialismus erzogen worden, sind unter euch aufgewachsen, und ihr habt uns noch nicht in eure Arbeiterfamilie aufgenommen. Das ist furchtbar.«

»Worin, – worin?« fragte der Student leidenschaftlich.

»Weiß ich es denn? Es ist eine Dummheit mit dem Kaffeehaus. Aber schau mal, du quatschst da etwas von Silberlöffeln und sauberem Geschirr. Es fällt dir gar nicht ein, daran zu denken, was der Arbeiter für eine Wut haben muß, wenn er die alle beisammensieht, die ihn aussaugen. Wenn er anders gekleidet ist als sie, wenn er sich nicht zu benehmen versteht, und wenn er nicht weiß, wie man all die Sachen in die Hand nimmt. Du bist in allem anders. So bist du. Und jetzt sieh dir mal alle Parteiführer, Abgeordneten, Direktoren, Sekretäre und Redakteure an. Vergiß keinen und zeig mir einen, dessen Sohn oder Tochter du bei uns gesehen hättest. Wunderst du dich da über unser Mißtrauen? Das war doch schon in ›Friedenszeiten‹ so, und jetzt geht's in den Krieg.«

Der Student sah ihn lange mit traurigen Augen an, und es schien, als ob sie sich bald mit Tränen füllen würden.

»Wie stellst du dir denn sonst die Zusammenarbeit zwischen Arbeitern und Intellektuellen vor?« fragte er.

»Ich habe keine Vorstellung davon. Wer mit uns kämpfen geht, wird zu uns gehören. Die Intelligenz allein macht's nicht aus. Die Sache auf dem Hamburger Schiff, dieser Schlag auf den Kopf, das gehört dazu, aber das allein schafft's auch nicht. Die Arbeitermassen müssen es selber schaffen.«


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