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Elftes Kapitel.

Im großen Empfangsaale des Palais Didelod im Faubourg Saint-Honoré erzählte nach dem Gabelfrühstück Julius Reismann, der kürzlich von der Kieler Woche zurückgekehrt war, mit übermäßiger Ausführlichkeit und germanischem Pathos von seiner Seereise, seinem Zusammentreffen mit den französischen Jachten und seinem Ringen mit der englischen Rennjacht Edinburg. Seine Zuhörer waren außer der Familie Didelod der Marquis und die Marquise von Berlier, die infolge einer Schwankung in der Politik wieder die vertrauten Freunde von ehedem geworden waren. Laurence, Maxime und Moritz, die in einer Fensternische beisammen standen und den der Rue Royale zufahrenden Automobilen nachschauten, hörten nur zerstreut der Erzählung zu.

»Um eine einzige Minute hat die englische Segeljacht mich geschlagen,« sagte Reismann. »Desto glücklicher ist mein Souverän am nächsten Tage beim Kampf um den Pokal gewesen. Und das hat mich mehr gefreut, als wenn ich selbst den Preis davongetragen hätte!«

»O, wer das glaubt!« murmelte Moritz. »Hunderttausend Franken hätte er gegeben, um seinen Kaiser zu schlagen!«

»Es ist unglaublich,« sagte Maxime von Berlier im selben Ton, »daß ein Mann seine Nationalität so von Grund aus wechseln kann, wie Herr Reismann. Er ist Deutscher geworden bis auf die Knochen. Weder in seinen Anschauungen, noch in seiner Ausdrucksweise ist noch etwas von einem Franzosen zu merken.«

»Er treibt diese Verwandlung wirklich ins Extrem,« fügte Laurence hinzu, »und sucht förmlich etwas darin, bei jeder Gelegenheit seine tiefe Verachtung für sein früheres Vaterland zu äußern. Wenn er nicht mein Onkel wäre, würde ich von ihm sagen, er sei das verkörperte Renegatentum, wie es im Buche steht.«

Die jungen Leute lachten.

»Wohl ihm, daß er unser Onkel ist,« antwortete Moritz.

Reismann, der durch diesen Heiterkeitsausbruch in seiner Erzählung unterbrochen worden war, hatte sich mit gekränkter Miene den jungen Leuten zugewandt.

»Ist das, was ich erzähle, denn so lächerlich?«

»O nein, durchaus nicht!« erwiderte Moritz mit dem Brustton der Überzeugung.

Herr Didelod, der die Ironie, die in den Worten seines Sohnes lag, wohl merkte, schnitt eine Debatte damit ab, daß er sagte: »Komm, bitte, in mein Arbeitszimmer, lieber Schwager; wir haben Wichtiges miteinander zu besprechen.«

Und er nahm Reismann mit sich hinaus. – –

Seit zwei Monaten, denn so lange war die Fabrik jetzt geschlossen, hatte sich in den Verhältnissen von Lehrange ein auffallender Umschwung vollzogen. Zuerst hatten die Arbeiter in ihrer Begeisterung für die begonnene Empörung bei den tumultuarischen Meetings erklärt, die Arbeit nur unter den von ihnen gestellten Bedingungen wieder aufzunehmen. Ein heftiger Preßfeldzug war in den sozialistischen Blättern gegen den »Prussien Didelod« eröffnet worden. Und als der »Tocsin« von Verdun einen für den Abgeordneten von Lehrange ganz besonders beleidigenden Artikel brachte, war Moritz ungesäumt auf das Redaktionsbureau dieser Zeitung gegangen, hatte den Chefredakteur geohrfeigt und ihm am nächsten Tage mit einem Degenstoß die Schulter durchbohrt. Durch diese Kraftleistung war die Polemik der andern Blätter um mehrere Töne heruntergegangen, und Didelod hatte sich von da an nur noch gegen die gewohnten Angriffe seiner politischen Gegner zu wehren. Stylb, der wütend war und Lehrange jetzt nicht mehr verließ, schürte nach Kräften den Haß, feuerte den Widerstand an, verteilte spärliche Geldunterstützungen unter die Führer und überschüttete das Gros der Ausständigen mit schönen Worten und Versprechungen. Das Ministerium, das sich über einen Zustand ängstigte, der die Ruhe einer ganzen Provinz gefährden konnte, hatte Verhandlungen mit dem Abgeordneten von Lehrange einzuleiten versucht. Didelod aber, der gegen seine politischen Freunde, die ihn schmählich hatten sitzen lassen, im höchsten Grade erbost war, hatte die Abgesandten der Regierung mit eisiger Kälte empfangen und ihnen unverblümt erklärt, daß, wenn die leitende Macht nicht imstande sei, die Ordnung im Bezirk Lehrange zu sichern, er es allein auf sich nehmen werde, die Unruhestifter zur Vernunft zu bringen.

Der betreffende, von Didelod so schlecht aufgenommene Minister hatte sich hierauf an den Präsidenten der Republik gewandt, der den Großindustriellen ins Elysée berufen und ihn mit höchster Zuvorkommenheit behandelt hatte.

Aber alles umsonst. Der Abgeordnete von Lehrange blieb unerschütterlich. Er wolle seinen Arbeitern gegenüber das letzte Wort behalten, und nichts und niemand werde ihn daran hindern, sich auch ferner selbst zu wehren. Aber so aufgebracht Didelod auch gegen seine Parteigenossen war, so über alle Maßen stolz war er jetzt auf seinen Sohn. Dieser junge Mann, den er für eitel und unbrauchbar gehalten hatte, war turmhoch in seinen Augen gestiegen. Sein beherztes Vorgehen bei dem Krawall in der Fabrik, sein Mut bei der öffentlichen Versammlung, wo er zweifellos Gaudin das Leben gerettet und seinen Vater mit großer Energie verteidigt hatte, das Duell mit dem Redakteur des »Tocsin« und die vernünftige, kluge und liebevolle Art, wie er sich jetzt aussprach, hatte Didelod die günstigste Meinung über Moritz' Charakter eingeflößt. Häufig holte er jetzt dessen Rat ein und beauftragte ihn mit allerlei heikeln Missionen. »Er ist ein echter Didelod,« versicherte er immer wieder. Ein ungeheures Lob im Munde eines Mannes, der fest davon durchdrungen war, daß die Didelods dazu geschaffen seien, über ihre Zeitgenossen zu herrschen und Frankreich zu regieren.

Das erste Ergebnis dieser Harmonie zwischen Vater und Sohn war, daß Maxime von Berlier wieder in Gnaden ausgenommen wurde. Didelod hatte seinem Sohn die Bitte, den Verbannten zurückzurufen, nicht abzuschlagen vermocht. Damit war die schweigende Zustimmung zu dem von Frau Didelod und der Familie von Berlier gefaßten Plane gegeben. Der Marquis hatte sich mit seiner Berechnung nicht geirrt. In dem Augenblick nämlich, als die Ausstandsbewegung auf ihrem Höhepunkt angelangt war, hatte er dem Freunde in warmen Worten seine Teilnahme ausgesprochen, was denn auch aufs freundlichste aufgenommen worden war. Überhaupt hatte sich Didelod, dem die Sozialisten gründlich verleidet waren, wieder mehr den Reaktionären zugeneigt.

»Diesmal kommt die Gefahr von der Linken!« hatte Moritz scherzend bemerkt.

Reismann aber hatte seinem Schwager aufgeregt zugerufen: »Hoffentlich hörst du jetzt auf, deinen falschen Brüdern als Milchkuh zu dienen!«

Didelod hielt indes tatsächlich seine Kasse fest verschlossen, und wenn Stylb ihm auch in Lehrange selbst noch immer Opposition machte, so geschah das wenigstens nicht mehr mit Didelods Geld. Im übrigen gingen die Geschäfte vortrefflich. Steingel verdoppelte seine Produktion und kam allen Bestellungen nach. Die französische Zollverwaltung machte durch die gesteigerte Einfuhr gute Geschäfte. Dagegen stellte sich bei den Ausständigen allmählich recht merklich der Hunger ein, so daß sie mit immer geringerem Vertrauen die ihnen im Übermaß wiederholte Versicherung aufnahmen, Didelod werde über kurz oder lang nachgeben müssen, und wenn er es nicht tue, so werde der Staat ihm zu Gunsten der Arbeiter den Betrieb seiner Fabrik untersagen. In den Arbeiterversammlungen tauchten ab und zu arme Teufel auf, denen die Not die Augen geöffnet hatte, und die entgegneten: »Was sollen wir denn aber mit der Fabrik anfangen, wenn man sie uns überließe? Wir könnten sie ja doch nicht leiten.«

»Der Staat würde euch Ingenieure stellen,« entgegnete Stylb.

»Was für ein Unterschied wäre dann zwischen den Ingenieuren des Staats und denen des Herrn Didelod? Wer weiß, ob die vom Staat nicht weniger wohlwollend und weniger freundlich gegen uns wären. Wir kennen die Art der Staatsangestellten, die oft recht hart, anmaßend und dabei auch noch faul sind.«

»Aber der Gewinn würde unter euch verteilt werden!«

»Wenn es überhaupt einen gäbe! Man weiß, wie der Staat sich aufs Ausbeuten versteht. Alles liefert er zu einem höheren Preis als die Privatindustrie.«

»Ihr wäret doch wenigstens eure eigenen Herren. Ist das denn nicht auch etwas wert?«

»Lohnarbeiter des Staates wären wir anstatt Lohnarbeiter des Herrn Didelod. Immer werden wir bei jemand im Dienst stehen, dem wir gehorchen müssen. Für uns gibt es keine Unabhängigkeit!«

»Vor dem Streik ist es uns viel besser gegangen,« sagte ein andrer. »Wir haben unsre schönen Taglöhne gehabt und die sichere Aussicht auf eine Altersversorgung, zu der Herr Didelod den Beitrag bezahlte. Jetzt nagen wir am Hungertuch und versumpfen im Müßiggang.«

»Und wozu das?« rief ein dritter Arbeiter. »Damit der Bürger Stylb Abgeordneter wird!«

»Wird der besser sein als Didelod?«

»Das ist höchst zweifelhaft!«

»Sobald der eine einträgliche Stelle hat, wird er reaktionär!«

»Und läßt uns in der Patsche sitzen!« – –

Grangel verließ seit jenem harmlosen Marsch auf Steingel, bei dem der deutsche Militarismus seine Probe bestanden hatte, das Schulgebäude nicht mehr. Sein Inspektor hatte ihn nämlich zu sich kommen lassen und ihm trotz seiner Unantastbarkeit als Freimaurer so gründlich den Kopf gewaschen, daß der Fanatiker, dem vor Zorn die Galle überlief, ganz gelb geworden war und an Leberanschwellung litt. Tournemarie aber war vors Schwurgericht gestellt und von einem jungen, gewandten Advokaten verteidigt worden, den Didelod, dem Versprechen getreu, das er der armen Hortense gegeben, aus Paris geschickt hatte. So war der Mörder des Leutnant Maubrun mit fünf Jahren Zuchthaus davongekommen. Um das Maß voll zu machen, hatten die Ausständigen der Fabrik Neumans' die Arbeit wieder aufgenommen, während die Arbeiter von Lehrange, die doch nur aus sozialer Solidarität in den Ausstand getreten waren, noch immer feierten.

Mittlerweile hatten die Kammerverhandlungen wieder begonnen, und von dem Führer der sozialistischen Partei war eine Interpellation an die Regierung über die Lage der Arbeiter im Verveilletale eingebracht worden. Zwei Stunden lang hatte ein berühmter Volksredner in feurigen Tiraden seine Stimme erschallen lassen, sich über die reaktionären Gesinnungen des Klerikalismus ergangen und Didelod als einen tyrannischen Arbeitgeber an den Pranger gestellt. Mit ziemlich verlegener Miene hatte der Minister geantwortet. Die Kammer zeigte sich unschlüssig – da hatte Didelod die Rednerbühne bestiegen und in sehr sicherem Tone die Arbeitsfreiheit zurückgefordert, die Sache der Industrie verteidigt, die Umsturzpartei der Einmischung in den Streik von Lehrange denunziert, die kollektivistischen Umtriebe enthüllt und so klar und nachdrücklich gesprochen, daß er die Majorität zum Beifall mit fortriß. Gehoben von dem Gefühl, der Zustimmung des größten Teiles seiner Zuhörer sicher sein zu dürfen, war Didelod dann rückhaltlos über seine Gegner hergefallen und hatte über die geeinigten Sozialisten, die sich den Antimilitaristen und Anarchisten angeschlossen hätten, den Stab gebrochen. Mitten unter den wütenden Zwischenrufen von seiten der äußersten Linken hatte Didelod, getragen von dem Gegenstand seiner Ausführungen, sich zu einer Erhabenheit der Anschauungen aufgeschwungen, die geradezu verblüffte. Seine Beredsamkeit war stellenweise wirklich groß gewesen, und indem er die Eigenliebe der Radikalen geißelte, die im geheimen über die Umtriebe der Sozialisten außer sich waren, hatte er ein Vertrauensvotum für die Regierung durchgesetzt, die über diesen vollständigen Sieg tatsächlich etwas verblüfft war. Beim Verlassen der Rednertribüne hatte Didelod die Größe seines Triumphes sowohl an dem zuvorkommenden Benehmen seiner Freunde, als auch an der Kälte der Minister abmessen können. Zum ersten Male hatte er den Eindruck hinterlassen, als könne er noch einmal eine Macht werden. Wie ein Angeklagter hatte er die Tribüne bestiegen, als ein »Ministrable« verließ er sie. Am nächsten Tage hatte der Figaro folgende Notiz gebracht: »Herr Didelod hat gestern sozusagen seine Kandidatur als Minister der öffentlichen Arbeiten für das nächste Kabinett aufgestellt. Er ist ein bedeutender Redner, der sich klar und bündig auszudrücken versteht, und ein Industrieller von hoher Tüchtigkeit. Kommt er ans Ruder, dann werden wir wenigstens keinen Advokaten zum Marineminister, und keinen Börsenjobber zum Kriegsminister mehr bekommen.« – Den Sieg des Abgeordneten von Lehrange benützend, hatte der Ministerpräsident Didelod zu sich rufen lassen und folgendes zu ihm gesagt: »Mein lieber Freund, Sie haben zwar gegen jedermann recht behalten, trotzdem aber dürfen Sie mit Ihrem Siege keinen Mißbrauch treiben. Seit zwei Monaten halten Sie an der Aussperrung fest, und zwar in einer Gegend, wo es von Syndikaten wimmelt. Das grenzt ans Unglaubliche, und es wäre höchst fatal, wenn diese Sitte einrisse, denn was würde dann aus dem Proletariat?«

»Pflichttreue Arbeiter würden daraus werden, erfüllt von Dankbarkeit gegen ihre Wohltäter und infolgedessen weit glücklichere Menschen als jetzt.«

»Also das goldene Zeitalter! Aber werfen wir eine weitere Frage auf. Was würde in diesem Falle aus den Leuten, die von der politischen Agitation leben?«

»Die würden Ihnen und mir die Stiefel putzen.«

»Glauben Sie, daß sie dazu fähig wären?« entgegnete der unverbesserliche Spötter. »Davon bin ich nämlich noch gar nicht überzeugt. Doch, Scherz beiseite, mein Lieber, was gedenken Sie für die Arbeiter in Lehrange zu tun?«

»Nichts, ehe sie sich nicht auf Gnade und Ungnade ergeben haben.«

»Sie sind wirklich schrecklich!«

»Ich halte die Sache am richtigen Zipfel und lasse ihn nicht los.«

»Treten wir der Frage nochmal näher. Stylb ist gestern bei mir gewesen. Er läßt Sie bitten, mit Ihren Arbeitern Frieden zu schließen.«

»Zuerst soll mal er aus Lehrange verschwinden.«

»Selbstverständlich. Er wird nicht mehr dorthin zurückkehren.«

»Den Streikführern soll er die Beisteuer entziehen.«

»Das ist bereits geschehen, und zwar aus einem guten Grunde: die Kasse ist nämlich leer.«

»Die Tröpfe! Natürlich; weil die meinige ihnen verschlossen ist.«

»Sie haben die Leute eben verwöhnt.«

»Diese Mode will ich ihnen schon abgewöhnen.«

»Was verlangen Sie vom Streikausschuß?«

»Eine feierliche Bekanntmachung, die das Ende des Streiks und die Wiederaufnahme der Arbeit ausspricht.«

»Also eine öffentliche Abbitte.«

»In sehr milder Form.«

»Sie bestehen darauf?«

»Unbedingt. Am darauffolgenden Tage wird die Fabrik ihre Tore wieder öffnen.«

»Und die Rädelsführer sollen nicht in Bann getan werden?«

»Ich habe nichts mehr von ihnen zu befürchten und kann sie ignorieren.«

»Also Milde soll auf Unterdrückung folgen. Didelod, Sie haben das Zeug zum Diktator.«

»Spotten Sie nicht, sondern folgen Sie gegenüber der Arbeitervereinigung meinem Beispiel.«

»Donnerwetter! Das würde ich nicht wagen! Wenn Sie erst Minister sind, dann können Sie das ja tun. falls das Herz Sie dazu treibt.«

»Ei, mein lieber Präsident, Sie haben also nur solchen Leuten gegenüber Mut, die sich nicht wehren können ...«

»Pst! Das ist ganz richtig, aber sagen Sie es nicht weiter, denn man würde es Ihnen glauben. Also nicht wahr, Didelod, es ist abgemacht, ich darf das Ende der Aussperrung in Lehrange bekannt geben?«

»Meinetwegen. Aber ich verlange das Kommenturkreuz der Ehrenlegion für meinen Schwager Reismann.«

»Die Ernennung wird binnen acht Tagen im ›Officiel‹ veröffentlicht werden.«

»Ich verlange für Gaudin, meinen Sekretär, der bei meiner Verteidigung verwundet worden ist, die Ehrenverdienstmedaille.«

»Das ist nur zu berechtigt.«

»Ferner verlange ich die Versetzung eines Schandkerls von Lehrer namens Grangel, der an der Grenze für den Antimilitarismus Propaganda macht. Schicken Sie ihn nur nach dem Süden. Dort ist er an seinem Platz.«

»Ich werde mit dem Unterrichtsminister darüber reden. Ist das alles?«

»Ja, das ist alles.«

»Und für Ihren Sohn wollen Sie nichts?«

»Man könnte ihm nur das Kreuz der Ehrenlegion geben, und dazu ist er noch zu jung. Später können wir wieder davon reden.«

Auf diese Weise wurde über das Ende des Lehranger Streiks verhandelt, auf den die revolutionäre Partei gerechnet hatte, um, daran anschließend, die ganze Arbeiterschaft der Fabriken des östlichen Frankreich zum Aufruhr zu bewegen. Ein denkwürdiges Fiasko, das den Arbeitgebern zeigte, wieviel durch einen kraftvoll durchgeführten Widerstand gegen künstlich aufgewiegelte Volksmassen ausgerichtet werden kann. – Eine Überraschung stand übrigens Didelod noch bevor, die etwas stark war, obwohl man in der politischen Welt auf alles gefaßt sein muß. Stylb ließ sich nämlich eines Morgens bei seinem Gegner melden und wurde auch sofort im Privatzimmer des Abgeordneten empfangen, wo er mit lachendem Gesicht und ausgestreckter Hand auf Didelod zueilte.

»Als Sieger wirst du wohl keinen Groll gegen mich hegen, und so komme ich zu dir, um mich offen und ehrlich mit dir auszusprechen. Ich erkenne deine Überlegenheit rückhaltlos an und werde dich nicht mehr bekämpfen, da wertlose Kundgebungen nicht meine Sache sind.«

Didelod hatte ihm mit frostiger Miene zwei Finger gereicht. Aber seine Eigenliebe vermochte der Schmeichelei Stylbs doch nicht zu widerstehen. Ruhig schaute er den Agitator an.

»Du kommst zu mir, mein lieber Stylb, weil du mich brauchst. Ich kenne dich; auf wertlose Kundgebungen gibst du nichts, wie du zu sagen pflegst. Nun traue ich dir aber nicht zu, daß du mir nur deshalb Komplimente machst, um mir etwas Angenehmes zu sagen. Also, was kann ich für dich tun?«

»Höre mich an. Jeantier, der Senator deines Departements, ist schwer krank und dürfte wohl nicht mehr aufkommen. Es wird also ein Sitz frei werden. Willst du ihn?«

»In wessen Namen sprichst du?«

»Im Namen unsrer sämtlichen Freunde. Kommt Jeantier nicht mehr in Frage, dann hast du keinen Konkurrenten, und ich lege die Hand ins Feuer, daß du gewählt wirst. Du trittst mir dann deinen Abgeordnetensitz ab.«

»Ah so!«

»Später wirst du dann Minister. Wir werden dir die Stange halten, und du vertrittst unser sozialistisches Programm mit all den Milderungen, die notwendig sind, damit es durchgeht. Beim Abgang aus dem Ministerium wirst du Senatspräsident ... das weitere kannst du dir selber ausdenken. Paßt dir das?«

»Du verfügst ja recht kategorisch über die Zukunft!« sagte Didelod mit einer Erregung, die er kaum zu verbergen vermochte.

»Du weißt ganz gut, daß die geeinigten Sozialisten in dem begonnenen Kampfe gegen die Sozialistisch-Radikalen die Oberhand gewinnen werden. Die Gewalttätigeren tragen ja immer den Sieg davon. Seit dreißig Jahren hat das linke Zentrum über das rechte Zentrum den Sieg davongetragen. Die Opportunisten haben dann ihrerseits das linke Zentrum vernichtet, die Radikalen die Opportunisten verdrängt. Zu der Stunde, wo wir reden, sind die Radikalen der Spielball der Sozialisten, und wir sind es, die den Ton angeben. Sei es um fünf Jahre, dann sind wir die Herren. Und da Ordnung sein muß, um ein großes Land wie Frankreich zu regieren, werden wir Männer deines Schlages brauchen, die so fortschrittlich gesinnt sind, um uns zufriedenzustellen, und dabei doch maßvoll, um dem großen Haufen Vertrauen einzuflößen. Nun weißt du, was ich dir anbieten wollte: einer unsrer obersten Führer sollst du sein.«

Didelod schwieg einen Augenblick nachdenklich. Eine Stimme flüsterte ihm ins Ohr: Du wirst der Beherrscher Frankreichs sein! Er mit seiner politischen Stellung, seinem ungeheuren Vermögen, seinen industriellen Fähigkeiten und seinem Ruf als echter Bürger – er war wirklich einer von denen, die zu den höchsten Ämtern der Republik berufen schienen. Allein er wollte sich nicht den Anschein geben, als gehe er sofort auf Stylbs Vorschlag ein, und so fragte er ihn lächelnd: »Ihr habt also nicht die Absicht, nach errungenem Siege das Gleichheitsregime einzuführen?«

»Doch; das Proletariat wird sich des Kollektivismus erfreuen. Aber es ist eine Herde, die Hirten braucht. Die absolute Gleichheit ist eine Mythe. Wir verlangen die Befreiung der Arbeiterpartei, so wie unsre Vorfahren vom Jahr 1789 die Befreiung des Bürgertums verlangt haben. Aber wir sind keine Anarchisten, und eine Regierung muß sein. Wenn du mich unterstützen willst, werde ich mich an dein Schicksal ketten. Wir haben unsre Kräfte gemessen und wissen, was wir voneinander zu halten haben. Ich bürge dir für den Erfolg.«

Didelod zog nun mildere Saiten auf: »Immerhin wollen wir das Bärenfell nicht verkaufen, ehe wir den Bären erlegt haben. Am Tage, nachdem Jeantiers Sitz vakant geworden ist, komm wieder zu mir, dann wollen wir uns einigen.«

»Habe ich dein Wort, daß du keine andere Kandidatur begünstigen wirst?«

»Du hast mein Wort.«

»Gut. Du wirst sehen, was für Vorteile diese Abmachung für dich haben wird. Inzwischen werden sämtliche Blätter sich klug und vorsichtig mit dir beschäftigen, um deinen Eintritt ins Ministerium vorzubereiten.«

Seltsame Tatsache! Sobald Didelod im Vollbesitz seines politischen Erfolges war, erwies er sich, wenigstens in der Form, viel nachgiebiger als früher. Es machte ihm offenbar ein heimliches Vergnügen, sich selbst den notorischsten Reaktionären gegenüber entgegenkommend zu zeigen. Es schien, als habe er keine Rücksichten mehr zu nehmen, als beherrsche er die öffentliche Meinung. Zugleich aber verschärfte sich seine sozialistische Färbung, und er wurde einer der einflußreichsten Führer der demokratischen Linken.

In seiner Familie hatte man längst aufgehört, sich über ihn lustig zu machen. Frau und Kinder sahen sich jetzt zu ihrer höchsten Verwunderung einem Didelod gegenüber, von dem sie bisher nichts geahnt hatten, und der ihnen fast ein wenig Furcht einflößte. Julius Reismann aber sagte nun von seinem Schwager: »Didelod ist ein hervorragender Mann!« Und doch hatte er ihn früher für einen Einfaltspinsel gehalten, dessen einziges Verdienst darin bestehe, Inhaber des Namens und Vermögens seines Vaters zu sein. Der deutsche Kaiser, der sich etwas darauf zu gute tut, über alles in Europa auf dem laufenden zu sein, hatte an einem offiziellen Empfangsabend mit Julius Reismann über dessen Schwager gesprochen, worauf sofort ein vier Seiten langer begeisterter Bericht des Reichstagsabgeordneten an Didelod abgegangen war.

Diesem beneidenswerten Manne hatte sich die Gelegenheit geboten, das Glück beim Schopfe zu ergreifen, und er hatte sie nicht verpaßt. Kein Zweifel mehr, von jetzt an würde ihm alles glücken. Nun er einmal den Weg des Erfolges betreten hatte, brauchte er nur darauf weiterzuschreiten, und das tat er denn auch. Die Werke von Lehrange waren wieder geöffnet und in voller Tätigkeit, als das Ministerium wegen einer Frage der auswärtigen Politik plötzlich gestürzt wurde. Sofort wurde Didelods Namen sowohl in den gemäßigsten, als auch in den extrem sozialistischen Zeitungen genannt. Der Abgeordnete von Lehrange prangte auf allen Listen. Man schlug ihn sowohl für den Handel als auch für die öffentlichen Arbeiten vor. Er ließ sich bitten, erklärte, daß er nichts andres als das Portefeuille für die öffentlichen Arbeiten annehmen werde, warf damit um ein Haar die ganze Zusammensetzung des neuen Ministeriums um und zwang den Präsidenten des künftigen Kabinetts, sich vierundzwanzig Stunden länger mit dessen Neubildung abzumühen. Schließlich erreichte er aber doch eine Entscheidung zu seinen Gunsten. Auf der Rückkehr vom Elysée, wohin er und seine Kollegen sich begeben hatten, begann er mit Moritz eine Unterredung, die ihm noch weit mehr am Herzen lag, als die vielen andern, die er seit einer Woche mit sämtlichen offiziellen Persönlichkeiten geführt hatte. Es handelte sich nämlich darum, seinen Sohn dazu zu bewegen, als sein Kabinettsekretär beim Ministerium einzutreten. Didelod zitterte davor, eine abschlägige Antwort zu bekommen. In dem Coupé, das ihn nach Hause brachte, setzte er dem jungen Manne die Sache auseinander: »Mein lieber Junge, wie du siehst, ist meine politische Stellung zu einer ganz neuen Bedeutung gelangt. Und da werde ich zuverlässige Mitarbeiter brauchen. Wohl kann ich ja auch Fremde durch den Köder, ihnen Vorteile zu verschaffen, an mich fesseln; rückhaltlos aber darf man sich doch niemals auf Fremde verlassen. Deshalb möchte ich dich ins Ministerium ziehen. Es handelt sich nicht darum, dir politische Funktionen zuzuweisen, vielmehr wärst du einfach der Chef meines Privatsekretariats. Es würde mich sehr beglücken, wenn du darauf eingingest ... Du würdest mir sogar einen persönlichen Gefallen damit erweisen, und ich wäre dir zu großem Danke verpflichtet.«

»Papa, du kennst meine Ansichten. Die Leute, mit denen du dich einläßt, sind mir ein Greuel. Ich halte sie für die schlimmsten Feinde Frankreichs.«

»Aber ich bitte dich, du kannst dir doch denken, daß ich Umsturzbestrebungen nicht aufkommen lasse. Wenn die, die den Kopf auf dem rechten Fleck haben, sich von der Regierung fernhalten, dann wird es den Tollköpfen um so leichter, ihre Narrheiten auszuführen.«

»Das Unglück liegt eben nur leider darin, daß die vernünftigen Leute die Tollköpfe niemals zurückhalten, sondern sich darauf beschränken, laut seufzend auszurufen: Man hat nicht auf mich hören wollen!«

»Ich bin nicht der Mann, der so handeln könnte. Ich werde ihnen schon zeigen, wo Bartel den Most holt.«

»Es wird alles nichts helfen. Wir gehen ernsten Katastrophen entgegen. Es ist indes undenkbar, daß Frankreich in Zerfall gerät, ohne dadurch aufgerüttelt zu werden. Eine gewaltige Bewegung nach rückwärts wird sich anbahnen. Übrigens bin ich ganz beruhigt, denn gerade durch dich und deinesgleichen wird sie herbeigeführt werden.«

»Was wagst du da zu sagen? Ich wäre imstande, mein Vaterland zu verraten? Alle meine Überzeugungen fahren zu lassen?«

»Nein! Du wirst es so machen wie ein Kapitän in Seenot, wenn es gilt, zwischen den Menschenleben und der Ladung zu wählen: alles Gefährliche wirst du über Bord werfen. Das wird eine Notwendigkeit werden, der man sich fügen muß. Von diesem Tage an stehe ich dann ganz zu deiner Verfügung. Ein Kampf wird ausgefochten werden müssen gegen die Umstürzler, die auf ihre Vernichtungspläne nicht werden verzichten wollen. Du darfst sicher sein, daß ich im Augenblick der Gefahr an deiner Seite stehen werde.«

»Das hast du ja bereits bewiesen,« antwortete der Vater, liebevoll die Hand des Sohnes drückend.

»Heute aber, wo alles noch ruhig ist, wo dir und deinen Parteigenossen niemand Widerstand entgegensetzt, heute meine Ansichten aufgeben, in den Dienst der Regierung treten, mich der Gefahr aussetzen, für ehrgeizig gehalten zu werden – das erscheint mir unmöglich. Erlasse es mir also, mich deiner Partei anzuschließen. Du hast mir häufig mein untätiges Leben vorgeworfen. In dieser Hinsicht will ich nun gerne deinen Wünschen nachkommen. Ich werde in die Verwaltung der Lehranger Werke eintreten und mich ganz den Geschäften widmen. Mehr aber wirst du nicht von mir erreichen.«

»Das ist schon sehr viel,« entgegnete Didelod mit einem befriedigten Lächeln. »Ich werde also nicht der Letzte der Dynastie sein; nach mir wird es wieder einen Didelod geben, der in Lehrange das Zepter führt! Ich werde dich unter Cottereaus Leitung stellen; der wird dich bald eingeleitet haben, und noch vor Ablauf von zwei Jahren bist du Subdirektor.«

Moritz schaute seinen Vater an.

»Und was soll aus Laurence werden? Die kannst du doch nicht im Geschäft anstellen! Was willst du für sie tun?«

»Ich werde sie Maxime von Berlier geben, da sie nun mal durchaus seine Frau werden will.«

Moritz fiel seinem Vater um den Hals und küßte ihn stürmisch.

»Ach, du glaubst nicht, was für eine Freude du mir damit machst! Und wie glückselig wird erst sie sein!«

»Das kann ich mir denken. Denn sonst ... daß ich meine Tochter einem Offizier, einem Klerikalen und einem künftigen Marquis gebe  ... mit meinen Ansichten! ... Ja, ja!«

»Du weißt wohl, daß du dir jetzt alles erlauben darfst. Man wird sagen: Herr Didelod ist sehr kühn. Er setzt sich über die öffentliche Meinung hinweg – ein Mann, der selbst seiner Partei gegenüber keine Konzessionen macht – ungeniert läßt er seine Tochter in der Kirche trauen. Das ist etwas ganz Außergewöhnliches.«

»Ja, da hast du recht. Es gibt in der Tat schwerlich einen zweiten, der wie ich einen solchen Eklat riskieren würde.«

Didelod, den die Versicherung – die er sich selbst gab – daß er allein fähig sei, so zu handeln, wie er es vorhatte, im Grunde hoch befriedigte, setzte das Gespräch nicht weiter fort. Übrigens hielt der Wagen jetzt vor der Freitreppe seines Palais. Mit fortgerissen von der politischen Strömung, der er sich während der Vorfälle in Lehrange eine Zeitlang entzogen hatte, und überzeugt, daß es ihm durch irgend eine Zauberformel gelingen werde, die Gelüste des Proletariats mit dem Widerstand der Arbeitgeber, die man aus ihrem Besitz zu verdrängen drohte, zu vereinigen, hatte er Hand in Hand mit den Revolutionären seinen Weg nach vorwärts wieder aufgenommen. Er zweifelte nicht daran, wenn der richtige Augenblick gekommen war, der Volksmasse eine Nase drehen zu können und dabei doch einer ihrer Führer zu bleiben, so wie er jetzt seinen Platz unter den Abgeordneten und Ministern behauptete. Die eine Vorsichtsmaßregel hatte er aber doch getroffen, nämlich sein ganzes bewegliches Vermögen in englischen und belgischen Banken zu deponieren. Mit seinen Immobilien und den Werken von Lehrange, die ein Riesenkapital repräsentierten, war er immer noch genügend engagiert. Allein für den Fall eines sozialen Umsturzes wollte er doch nicht Gefahr laufen, aller Mittel entblößt zu werden. Nachdem er so etwa fünfzig Millionen in Banken solcher Länder angelegt hatte, die vernünftiger sind als Frankreich, hatte er sich dann von neuem und rückhaltlos in den Sozialismus gestürzt.

Nach Schluß der Session war er von Paris nach Badonviller zurückgekehrt. Er hielt es in jeder Beziehung für angemessener, die Hochzeit seiner Tochter in Lehrange zu halten. Da, wie er wohl wußte, eine kirchliche Trauung nicht zu umgehen sein würde, zog er es vor, das Schauspiel, wie ein Minister der öffentlichen Arbeiten seine Tochter zum Altar führt, lieber nicht in Paris zu geben. Wohl war er fest entschlossen, seiner Partei Trotz zu bieten – er tat dies sogar mit einer gewissen Ostentation – immerhin aber wollte er seine Logenbrüder nicht dazu zwingen, eine Stunde in der Kirche Saint-Philippe-du-Roule zu verbringen. Nach Lehrange aber würde nur kommen, wer Lust hatte. Dort beabsichtigte Didelod mit dieser Feier eine Art Volksfest zu verbinden und seinen sämtlichen Arbeitern ein Bankett zu geben.

Am Tage vor der Trauung auf dem Standesamt ging Laurence mit ihrem Bräutigam zwischen den Gartenbeeten auf und ab, die bei jener Kundgebung der Ausständigen vollständig verwüstet, jetzt aber von den Gärtnern wieder hergestellt worden waren, als Didelod die Stufen jener Freitreppe herabkam, von wo aus Bouillaud seine Rede an die Menge gehalten hatte. Moritz, der vor kurzem in die Fabrik eingetreten war und seine Arbeit sehr ernst nahm, begleitete ihn. Der Abgeordnete von Lehrange und sein Sohn gingen auf das junge Paar zu und trafen an der Biegung eines Weges mit ihm zusammen. Einen Umschlag mit der Adresse des jungen Offiziers aus der Tasche ziehend, sagte Didelod lächelnd zu seinem künftigen Schwiegersohn: »Hier, mein lieber Freund, überreiche ich dir das Hochzeitsgeschenk des Gouverneurs von Paris.«

Maxime öffnete das Schreiben, und tiefe Röte stieg ihm ins Gesicht.

»Meine Ernennung zum Ordonnanzoffizier!«

»Ja,« sagte Didelod, »und damit die Versetzung nach Paris. Eigentlich hatte ich den Kriegsminister bitten wollen, dich in seine Nähe zu ziehen, aber er ist Zivilist, und da hättest du nicht so viel Ellbogenfreiheit gehabt wie bei deinem künftigen Chef, einem alten Soldaten. Nun brauchst du nur noch von Stufe zu Stufe weiterzusteigen. In zwei Jahren bist du Rittmeister. Dann trittst du in die Kriegsakademie ein und ...«

Höchst respektswidrig schnitt Moritz seinem Vater das Wort ab: »Und wenn dann noch eine Armee existiert, bist du mit fünfunddreißig Jahren Stabsoffizier. Aber wir werden bis dahin wahrscheinlich nur noch eine Miliz haben, dann kannst du mit uns in Lehrange Lokomotiven bauen.«

Ihrem Vater zulächelnd, sagte Laurence: »Lieber Papa, Maxime und ich danken dir herzlich. Aber das Leben in Paris wird viel teurer sein als in einer Grenzgarnison. Da wirst du uns schon ein hübsches Sümmchen aussetzen müssen. Maxime bekommt dreimalhunderttausend Franken Mitgift. Und wie viel bekomme ich denn?«

»Der Heiratskontrakt soll heute abend unterzeichnet werden. Es gibt eine Überraschung für dich.«

»Ach,« rief Moritz lachend, »den kannst du mit geschlossenen Augen unterschreiben. Not wirst du jedenfalls nicht zu leiden brauchen.«

»Weißt du denn, wie viel Papa mir geben will?« fragte das junge Mädchen.

»Natürlich. Ich bin ja jetzt ein gesetzter Mann und werde bei allen Familienangelegenheiten zu Rate gezogen. Überdies bekomme ich doch einmal dieselbe Mitgift wie du; die Sache hat also ein doppeltes Interesse für mich gehabt. Geschäft bleibt immer Geschäft.«

»Was für ein Redestrom! Schwatzst du im Verwaltungsrat auch so viel?«

»O nein, da tue ich den Mund nicht auf, aus Angst, eine Dummheit zu sagen. Aber hier ...«

»Hier kommt es nicht daraus an, meinst du? Nun, sprich, was habt ihr beide, du und Papa, für mich im hohen Rat beschlossen?«

»Daß du sechs Millionen Mitgift bekommen sollst, die in zwei im Faubourg Saint-Honoré gelegenen Grundstücken und in zwanzig Aktien von Lehrange bestehen, was im ganzen eine Rente von dreimalhunderttausend Franken abwirft. Na, damit verhungert man nicht.«

»Ich danke dir, lieber Bruder,« sagte Laurence.

Und Didelod um den Hals fallend, rief sie unter stürmischen Küssen: »Ich danke dir tausendmal, mein lieber Papa!«

Am nächsten Tage um zwölf Uhr drängten sich in der Schloßkapelle von Badonviller, wo der Pfarrer von Lehrange zelebrierte, die Freunde der Familien Didelod und von Berlier, sowie die mit einem Extrazuge von Paris eingetroffenen offiziellen Gäste. Der Ministerpräsident und fünf Mitglieder des Kabinetts waren anwesend. Der Präsident der Republik ließ sich durch seinen Kabinettschef vertreten. Sämtliche Gruppen der Linken hatten Deputationen abgeschickt, um Didelod ihre Sympathieen zu bezeugen.

Abgeordnete und Senatoren waren miteinander vom Ostbahnhof aus abgefahren, und vom ersten Augenblick an hatte diese Reise den Charakter einer Vergnügungsfahrt angenommen. Bouillaud, der mit Didelod zugleich ins Ministerium eingetreten war, fiel durch seine angeregte, heitere Stimmung auf. Er sprach Laurence mit formvollendeter Liebenswürdigkeit seine Glückwünsche aus und sträubte sich nicht, die Kapelle zu betreten. Seinen Ministerpräsidenten unterfassend, sagte er in jovialem Tone zu ihm: »Mein lieber Präsident, nun werden wir gleich sehen, wie sich die Teufel im Weihwasserkessel ausnehmen!«

»Na, hören Sie mal, lieber Freund, Didelod scheint mir ja recht klerikal zu werden.«

»Seine Mittel erlauben es ihm! Arme Schlucker von Ministern wie wir müssen Rücksicht auf die Wählerschaft nehmen, nicht aber ein Multimillionär wie Didelod. Der darf sich alles erlauben, selbst die fünfzehntausend Franken Diäten einzustecken; man wird sie ihm nicht vorhalten, weil man weiß, daß er sie nicht braucht.«

»Glauben Sie, Bouillaud, daß ihm eine große politische Zukunft bevorsteht?«

»Ich halte ihn für unentbehrlich bei jeder Bildung eines Ministeriums, das etwas auf sich hält und vor allem eines solchen, das Achtung einflößen möchte. Gehört Didelod dem Kabinett an, so beruhigt das den Bourgeois, und der Geschäftswelt flößt er Vertrauen ein. Durch ihn werden die Kurse steigen. Kein Jahr vergeht, so wird Didelod, durchdrungen von seiner politischen Unentbehrlichkeit, sich bitten lassen, ein Portefeuille anzunehmen. Er wird der Drahtzieher aller geheimen Intrigen in den Wandelgängen des Parlaments sein.«

»Halten Sie ihn denn für einen Mann von persönlicher Bedeutung?«

»Er hat es wenigstens verstanden, den Leuten den Glauben beizubringen, als sei er es, was ebensoviel Wert hat, als wenn er es wirklich wäre. Er ist ein Mann, der sich niemals aufbrauchen wird, weil er nichts riskiert, und der keine Partie verlieren wird, weil er niemals eine spielt.«

»Das ist ja aber das richtige Bild einer vollständigen Null, das Sie da zeichnen.«

»Gibt es etwas Gefährlicheres als eine triumphierende Null? Man weiß nicht, wo man einen solchen Menschen angreifen soll, und es ist fast unmöglich, sich mit ihm in einen Kampf einzulassen. Er kann nur an sich selbst zu Grunde gehen. Doch einem Didelod passiert das nicht. Sie und ich, wir sind verwundbar. Wir wandeln auf dem schwanken Seile unsrer Wahlprogramme. Ein Fehltritt, und wir liegen auf der Erde – vielleicht auf lange hinaus verletzt und zerschunden. Als Hilfsquelle für die Tage des Unglücks haben wir nichts als unsre Fähigkeiten. Und was helfen die uns in einem solchen Falle? Didelod dagegen, der hat nichts zu verlieren. Ohne Gefahr kann er auf die weiche Matratze seines Reichtums und seiner industriellen und gesellschaftlichen Stellung hinabstürzen. Was sage ich stürzen? Nein, mit offenen Armen wird er von allen seinen Freunden aufgefangen werden, die ihn nicht fürchten, und die ihn auf irgend einem Ehrenpöstchen wie das eines Kammerpräsidenten absetzen werden, wo er dann eine neue Gelegenheit abpassen kann, um wieder ein Portefeuille anzunehmen. Und einen solchen Mann nennen Sie unbedeutend? Er ist im Gegenteil der schönste Typ eines modernen Parlamentariers. Unterschätzen Sie ihn nicht, mein Lieber, denn er wird immer noch etwas Großes sein, wenn wir nur noch Staub und Asche sind.«

»Bouillaud, Sie sind ein Skeptiker!«

»Ach, mein lieber Präsident, tun Sie mir doch die Ehre an und glauben Sie nicht, ich sei imstande, die Komödie, die wir spielen, ernst zu nehmen. Seien wir also wenigstens gute Schauspieler. Das ist alles, was man von uns verlangen kann! Et plaudite cives!«

Das Glöckchen des Offizianten, das die Wandlung verkündete, unterbrach das Gespräch der beiden Herren. Als der Ministerpräsident und Bouillaud bemerkten, wie Didelod sich unter dem Segen des Priesters neigte, schauten sie sich um. Alle ihre politischen Freunde, die sich in der Kapelle befanden, machten den Eindruck von Menschen, die unter dem Banne alter Erinnerungen stehen. Die gottesdienstlichen Gebräuche, an die sie von frühester Kindheit gewöhnt waren, verfehlten ihre Wirkung nicht, so daß diese Männer unwillkürlich, so wie ihnen einst gelehrt worden war, ehrfurchtsvoll die Kniee beugten. Tiefe Stille herrschte in der Kirche. Nichts war mehr zu hören als die eintönigen Gesänge des Priesters und die Responsorien der Chorknaben. Weihrauchdüfte durchzogen die Luft, während zu den bunten Fenstern der Kapelle ein violett- und orangefarbener Sonnenstrahl hereinfiel und auf dem mit weißen Blumen geschmückten Altare spielte. Ein unsichtbarer, von der Orgel begleiteter Chor ertönte in gedämpften Harmonieen, und ergriffen von dieser einschmeichelnden, feierlichen Musik, neigten sich die Anwesenden in geheimnisvoller Rührung.

»Wissen Sie was,« murmelte Bouillaud, »wir müssen bei der Organisation unsrer weltlichen Zeremonieen entschieden auch Musik, prächtige Gewänder und Blumenschmuck einführen. Denn dieser Gesang, dieser Duft, diese Lichter wirken stark aufs Gemüt und verleihen einer äußerlichen Formalität die Wichtigkeit eines Dogmas. Wenn wir pomphafte Ziviltrauungen hätten, kämen vielleicht weniger Ehescheidungen vor. Auf unsern Standesämtern aber könnte einem wahrhaftig das Gefühl kommen, man lasse sich vor dem Schenktisch einer Weinkneipe trauen.«

»Ja, ja, mein Lieber, Sie haben recht. Nachdem wir die Kirche niedergeworfen haben, wird uns nichts andres übrig bleiben, als deren äußere Formen bei unsern Einrichtungen wieder einzuführen, weil es in der Tat kein besseres Mittel gibt, die Massen zu lenken.«

»Amen!« sagte Bouillaud lachend.

Der Gottesdienst war beendet, und seine junge Gattin am Arme, schritt Leutnant von Berlier durch das Schiff der Kapelle, um sich in die Empfangsräume von Schloß Badonviller zu begeben, wo die Gratulationskur vor sich gehen sollte. Als das junge Paar auf die Terrasse hinaustrat, erhob sich plötzlich ein solch vielstimmiges, laut schallendes Freudengeschrei, daß die Tauben auf dem Schloßdache erschrocken davonflogen. Hoch erhobene Arme schwenkten Hüte über einer buntfarbenen Menge, die sich zu Füßen der Freitreppe geschart hatte und auch die Gartenwege überflutete. Es waren die Arbeiter der Hüttenwerke und die Bewohner von Lehrange, sowie Didelods sämtliche Angestellte, die gekommen waren, um ihren Chef, ihren Abgeordneten und ihren Bürgermeister an diesem festlichen Tage zu begrüßen und ihm Glück und Segen zu wünschen. Unter den hohen Bäumen intonierte eine schmetternde Blechmusik den Mendelssohnschen Hochzeitsmarsch und bildete damit das Vorspiel zu der Tanzbelustigung, die nach dem schon bereitstehenden Mittagsmahl auf der Parkwiese stattfinden sollte. An derselben Stelle, wo Bouillaud am Tage der Kundgebung der wutentbrannten Menge entgegengetreten war, richtete Didelod jetzt Worte des Dankes an all die Leute, die hierhergekommen waren, um der Hochzeitsfeier seiner Tochter anzuwohnen. Betäubende Vivatrufe ertönten bei jeder Kraftstelle. Von der Terrasse her aber konnte man nur undeutlich einzelne Worte verstehen wie: »Die Bande gemeinsamer Arbeit ... Das Vertrauen, das uns miteinander verbindet  ... Mein Bestreben, Ihr Interesse zu wahren ... Ihre Arbeit, die vom Vater auf den Sohn ... Die Zukunft gehört uns ... Die allgemeine Wohlfahrt ...« und dazwischen immer wieder die Rufe: »Hoch Didelod! ... Es lebe die Republik! ... Hoch Didelod!« ... Dann intonierte die Musik die Marseillaise und machte durch dröhnende Trompetenstöße und heftige Bearbeitung der großen Trommel allen weiteren Reden und Hurras ein Ende.

Und doch war es derselbe Garten, waren es dieselben Mauern, und nur sechs Monate lagen zwischen damals und jetzt. Die Blumen hatten neue Schößlinge getrieben, die Gefühle hatten sich verwandelt, und von den früheren Drohungen blieb kaum noch eine leise Spur im Gedächtnis der Leute zurück. Dieser Rest aber diente nur dazu, die frühere Auflehnung zu beklagen und vielleicht unbegreiflich zu finden. Und doch schliefen unter der Erde, kalt und stumm, der Leutnant Maubrun, dessen Familie noch in tiefer Trauer war, und die arme kleine Hortense, seine unglückliche Geliebte, deren Vater hinter Schloß und Riegel dick und fett wurde, hoffend und harrend, daß eine wohlwollende Amnestie ihn seinem Beruf und der Streikagitation zurückgebe.

Unter dem Lächeln und den Glückwünschen seiner Gäste folgte Didelod, der Marquise von Berlier den Arm reichend, seinen Kindern in den Salon. Er strahlte vor Befriedigung im Gefühl seiner Macht und im Bewußtsein, nun Herr seines Schicksals zu sein.

Plötzlich beugte sich Moritz vergnügt zu seinem Vater hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Papa, wenn du einmal Präsident der Republik bist ...«

Diesmal aber ärgerte sich Didelod nicht über die Prophezeiung, denn er glaubte daran.

 

Ende.

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