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Neuntes Kapitel.

Der Festsaal der Stadt Lehrange ist von Didelod auf einem schönen, ihm gehörenden Grundstück im Zentrum der Stadt erbaut worden. Er dient zu öffentlichen und privaten Zusammenkünften; Bälle, Vorträge, Festessen und Theatervorstellungen werden hier abgehalten; auch die Wahlversammlungen und Preisverteilungen finden hier statt. In diesem Saale vereinigten sich nun zu dem angekündigten Meeting die Ausständigen der Didelodschen und Neumansschen Fabriken. Auf dem Podium stand ein von Lehnstühlen umgebener Tisch für das Bureau. Der Kronleuchter verbreitete eine blendende Helle über die Anwesenden, die seit acht Uhr, nach ihren verschiedenen Berufsarten und ihrer politischen Färbung gruppiert, warteten. In der dritten Reihe saßen Stylb, Grangel und Tournemarie, umgeben von ihren eifrigsten Anhängern. Schon war die Luft von Rauchwolken erfüllt, die langsam zur Decke emporstiegen und von den Ventilatoren abgesaugt wurden. Zurufe, Fragen, schlechte Witze wurden ausgetauscht und wechselten mit wilden revolutionären Liedern voll sinnlosester Drohungen ab. Als es halb neun Uhr schlug, erhob sich Stylb, und mit einer Geste Ruhe fordernd, begann er: »Bürger, es ist Zeit, das Bureau zu wählen. Ich brauche Sie wohl nicht zu bitten, durch Ihre Wahl den Beweis zu liefern, wie sehr Sie von der Wichtigkeit Ihres Vorhabens durchdrungen sind. Als Bürgschaft für die Freiheit der Diskussion schlage ich vor, den Bürger Grangel zum Vorsitzenden zu wählen. Seine Eigenschaft als Staatsbeamter wird für den Gegner eine sichere Gewähr seiner Unparteilichkeit sein.«

Ein langanhaltender Beifallssturm erhob sich. »Ja, ja, Grangel! Grangel soll Vorsitzender sein!«

Der Lehrer erhob sich und stieg die zum Podium führenden Stufen hinauf. Mit berufsmäßiger Sicherheit setzte er sich und trat sofort sein Amt an.

»Bürger, es erübrigt, zwei Beisitzer zu wählen, und ich schlage hiezu die Bürger Gorgeau und Terrasson vor. Wer mit ihrer Wahl einverstanden ist, möge die Hand erheben ... Die Bürger Terrasson und Gorgeau sind also einmütig zu Beisitzern gewählt.«

Die beiden Gewählten, Arbeiter im Sonntagsstaat, die recht harmlos aussahen, traten vor, um ihre Plätze neben Grangel einzunehmen. Und als wollte die Versammlung ihre Befriedigung über diese Einleitung ausdrücken, stimmte sie die »Internationale« an. Allein der Vorsitzende, der seine Rolle sehr ernst nahm, klopfte schon nach dem ersten Vers auf den Tisch und sagte, einen strengen Blick über seine Zuhörer werfend: »Bürger, wir sind zu ernster Arbeit zusammengekommen. Gesinnungstüchtige Lieder haben gelegentlich zwar auch ihr Gutes, heute abend aber handelt es sich darum, die hochwichtige Frage des Verhältnisses der Arbeiter zu ihren Chefs zu erörtern, und zwar speziell die des Arbeitsvertrages. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß das Wohl des ganzen Proletariats in dem Spruch enthalten ist: Wie man sich bettet, so liegt man. Sie müssen also Mittel und Wege finden, Ihre Existenz gegenüber den Arbeitgebern sicherzustellen. In Zukunft wird ja die kollektivistische Regierung es übernehmen, Sie zufriedenzustellen, vorläufig jedoch, da der soziale Fortschritt noch nicht so weit gediehen ist, müssen Sie ihre Interessen selbst verfechten.«

Lebhaftes Beifallklatschen begrüßte diese Worte. Vom ersten Augenblick an machte es den Eindruck, als verfüge der Vorsitzende über genügende Autorität, um die Diskussion zu beherrschen, und beifällig nickte Stylb von weitem dem Lehrer zu, der fortfuhr: »Nachdem Sie nun wissen, um was es sich handelt, frage ich: wünscht jemand das Wort?«

»Ich!« rief Tournemarie, aufs Podium zugehend. Hortenses Vater schien binnen weniger Tage um zehn Jahre gealtert zu sein. Seine rundlichen Züge sahen eingefallen aus, und sein sonst so jovialer Ausdruck war hart geworden. Er warf seine Mütze auf den Tisch, trat an den Rand des Podiums vor und war schon im Begriff zu sprechen, als eine lebhafte, von Ausrufen begleitete Bewegung sich unter der Versammlung bemerkbar machte. Dann trat wieder tiefe Stille ein. Didelod hatte nämlich soeben mit seinem Sohne und Gaudin den Saal betreten. Ohne einen Blick auf die Leute um ihn her zu werfen, ging er bis zu den ersten Reihen vor. Mehrere Arbeiter standen sofort auf, denn das Ansehen des Chefs übte noch immer seine Wirkung aus, und sagten dienstfertig: »Kommen Sie hierher, Herr Didelod, auf unsern Platz!«

Ruhig nahm der Abgeordnete von Lehrange dieses Zeichen der Ergebenheit hin und setzte sich, von Moritz und Gaudin gleichsam eingerahmt, in die entstandene Lücke. Der Zufall wollte es, daß er sich dadurch in gleicher Reihe, aber auf der entgegengesetzten Seite des Saales befand, wo Stylb thronte. Nun warf Didelod einen Blick auf das Bureau, drehte dann den Kopf, um die Versammlung zu mustern, äußerte aber weder ein Zeichen der Verwunderung, als er Grangel auf dem Podium bemerkte, noch als er Stylb entdeckte, der doch gar nichts in der Versammlung zu suchen hatte, da er weder Arbeiter noch überhaupt in Lehrange wahlberechtigt war. Als er dann sah, daß Tournemarie noch immer stumm und unbeweglich dastand, sagte er mit lauter Stimme, als gebe er den Befehl zum Beginnen: »Wir hören!«

Grangel errötete vor Zorn über diesen anmaßenden Eingriff in seine Rechte. Er klopfte auf den Tisch, und sich an den Redner wendend, sagte er: »Der Bürger Tournemarie hat das Wort.«

»Na, dann soll er doch endlich loslegen!« ließ sich eine höhnische Stimme vernehmen. »Nur nicht geniert, Alterchen!«

Ausrufe der Entrüstung waren die Antwort auf diese Bemerkung. Und Tournemarie begann: »Bürger, wenn die Versprechungen, die man uns gemacht hat, gehalten worden wären, würden wir uns jetzt nicht hier befinden, und niemand könnte das lieber sein als mir. Schöne Worte kosten freilich nichts, Reformen aber schmälern den Profit. Deshalb ist es unsern sogenannten Beschützern auch nicht gelungen, unsre Chefs zu einem Arbeitsvertrag zu bewegen, trotzdem sie uns diese Versicherung mit großer Bestimmtheit gegeben hatten. Es ist allerdings richtig, daß derselbe Eigennutz, der Herrn Neumans' guten Willen lähmte, auch das Bemühen des Herrn Didelod vereitelt hat. Und nachdem diese beiden Chefs dann glücklich beieinander waren, haben sie wahrscheinlich, anstatt zu beraten, wie man uns zufriedenstellen könnte, sich nur den Kopf zerbrochen, wie man uns am besten blauen Dunst vormacht.«

Donnerndes Beifallklatschen folgte auf diese unverblümt ausgesprochene Beschuldigung, und verschiedene Ausrufe ermutigten den Redner. Dieser, der nun einen starken Rückhalt fühlte, fuhr fort: »Ich selbst habe nämlich der Arbeiterdelegation angehört, die zu Herrn Didelod geschickt worden ist, und bin Zeuge gewesen, daß er sich als Schiedsrichter zwischen Herrn Neumans und mir angeboten hat. Ich weiß, was für glänzende Versprechungen er uns gemacht hat. Wenn man ihn hörte, war er der Beschützer der kleinen Leute, der Freund der Schwachen, der Anwalt des Proletariats. Den ganzen Wahlschwindel, den Sie ja zur Genüge kennen, da Sie schon zu häufig darauf hineingefallen sind, hat er uns in glatten Worten wieder aufgetischt. Wir seien die Zukunft der Demokratie, die gesunde Kraft des französischen Volkes und wie der Quark von Schmeicheleien heißt, die man an den Wähler zu richten pflegt. Aber was ist auf diesen ganzen Wortschwall gefolgt? Nichts. Gar nichts haben wir erreicht. Herr Neumans hat sich nicht mehr blicken lassen, sondern schweigt wie das Grab. Und wir, wir sind wieder Hans Dudeldei wie zuvor und verdienen nichts, um Weib und Kinder zu ernähren. Es ist ja eine schöne Sache, für die Zukunft der Demokratie zu kämpfen, aber damit werden die Bedürfnisse der Gegenwart nicht befriedigt. Jeder Tag aber will sein Brot haben, und mit leeren Worten kann man den Bäcker nicht bezahlen!«

»Nein! Nein! Er hat recht! Es lebe Tournemarie!«

»Glauben Sie mir, Bürger, wenn ich heute das Wort ergreife, so tue ich es nicht, um Gegenbeschuldigungen vorzubringen. Ich bin nur deshalb auf dieses Podium gestiegen, um Ihnen Rechenschaft über das mir anvertraute Mandat abzulegen. Denn Sie haben mich doch nicht deshalb als Delegierten zum Abgeordneten von Lehrange geschickt, damit ich das Vergnügen habe, mich mit ihm zu unterhalten, sondern um für die Arbeiter Vorteile von ihm zu erwirken, die ihnen schon häufig versprochen worden sind, und auf die Sie noch immer warten. Da wir von Herrn Neumans nicht auf friedlichem Wege die Annahme unsres Programms erlangen konnten, hatten wir den Auftrag, dieses durch ein Schiedsrichteramt durchzusetzen. Vorher aber wären wir in den Ausstand getreten. Denn wir wissen längst, daß Forderungen, die nicht durch ein energisches Vorgehen unterstützt werden, für unsre Ausbeuter ein Gegenstand des Gespöttes sind. Eine rasche Lösung herbeizuführen, war also von höchster Wichtigkeit für uns, da wir während der Verhandlungen ja ohne Lohn sind. Auch hatten wir auf die Vermittlung des Herrn Didelod, des Bürgermeisters unsrer Stadt und sozialistischen Abgeordneten, die gerechtesten Hoffnungen gesetzt. Sie werden gleich sehen, wie diese Hoffnungen getäuscht worden sind!«

»Ich werde Ihnen antworten,« ließ sich klar und fest Didelods Stimme vernehmen.

»Das will ich hoffen,« entgegnete Tournemarie, »denn es ist unbedingt notwendig, daß sowohl die Wähler von Lehrange, als Ihre eigenen Arbeiter erfahren, was Sie unter Protektion des Proletariats verstehen. Ich komme jetzt auf die Unterhandlungen zurück, die vermittels eines Schiedsrichters mit Herrn Neumans eingeleitet worden waren. Man verlangte gleich zu Anfang von ihm, seine Arbeiter wieder anzustellen, die entlassen worden waren, weil sie die Interessen ihrer Kameraden verfochten hatten. Dabei ist wohl zu beachten, daß die Chefs ihre Arbeiter, sobald diese ihnen Widerstand leisten, als ihre Feinde ansehen, die man sich vom Halse schaffen muß. Wer die Interessen der Arbeiterklasse, das heißt seine eigenen, verficht, wird für einen Verbrecher gehalten. Man könnte glauben, die Arbeiter seien nur dazu da, damit die Chefs ihre Launen an ihnen auslassen, so wie die Schafe zur Ernährung der Menschen da sind. Sind wir etwa Sklaven? Müssen wir uns ohne Widerstand dem Willen des Arbeitgebers fügen und können wir unsre Interessen nicht wahren, ohne von den Chefs aufs schärfste verurteilt zu werden? Das aber ist tatsächlich der Fall. Der Mann, der in diesem Augenblick mit Ihnen redet, ist, weil er sich der Sache seiner Kameraden angenommen hat, von Neumans als ein Rädelsführer erklärt worden, und als solcher ist er ein Geächteter. Die Türen der Fabrik sind ihm für immer verschlossen, selbst wenn der Streik vorüber ist und seine Kameraden die Arbeit wieder aufgenommen haben. Der Rädelsführer ist das schwarze Schaf; er bleibt verbannt. Und weil seine Kameraden im Gefühl ihrer Solidarität nicht dulden wollten, daß er so behandelt werde, ist der Streik fortgesetzt worden. Gibt es tatsächlich eine tyrannischere, barbarischere Maßregel, als eine solche Achterklärung, die auf gleicher Stufe steht mit den duckmäuserischen Einrichtungen des Klerikalismus? Dem davon betroffenen Arbeiter ist nicht nur seine eigene Werkstätte verschlossen, sondern auch alle andern. Ein Schandmal ist ihm aufgedrückt. Er ist ein Rädelsführer! Glauben Sie, der Sozialist Didelod habe darum Mitleid mit ihm gehabt? Glauben Sie, er habe den nötigen Druck auf Herrn Neumans ausgeübt, um dessen Widerstand zu brechen? O nein, mit haltlosen Gründen und honigsüßen Worten hat er sich aus der Klemme gezogen. Er könne Herrn Neumans nicht zwingen, er finde dessen Verhalten allerdings nicht richtig, er bedaure es sogar schmerzlich, aber sein persönlicher Einfluß sei Herrn Neumans' Willen gegenüber machtlos. Das Resultat kennen Sie. Der Streik, der einen Teil der Bevölkerung an den Bettelstab bringt, dauert fort. Aus Solidarität schlossen sich dann die Arbeiter der Didelodschen Werke der Ausstandsbewegung an, um ihren Chef zu zwingen, daß er endlich zeige, ob er nicht nur mit dem Munde Sozialist sei, sondern ob er seine Handlungen mit seinen Worten in Einklang bringen wolle. Und dann haben Sie das schreckliche Schauspiel erlebt: Das Militär ist von einem Sozialisten requiriert und auf Proletarier gehetzt worden. Trotz all seiner philanthropischen Versicherungen hat Herr Didelod die Arbeiter von den Söldnern des Kapitalismus zu Paaren treiben und diesen friedlichen Erdenfleck durch eine abscheuliche Schlächterei beflecken lassen.«

»Die Soldaten haben aber doch die Zeche bezahlen müssen!« ließ sich eine Stimme aus der Menge vernehmen.

Wütendes Geschrei antwortete: »Hinaus mit dem Kerl! 's ist ein Spitzel!«

Die Hälfte der Anwesenden hatte sich erhoben und brüllte mit drohend geballten Fäusten: »Nieder mit dem Militär!« Grangel, dem das Blut ins Gesicht stieg, klopfte auf den Tisch, um sich Ruhe zu verschaffen, und rief mit schneidender Stimme: »Hört ruhig an, was noch weiter zu sagen ist; man muß jedem Gelegenheit geben, sich frei auszusprechen.«

»Ja! Ja!«

Stehend, aber von seinem Platze aus sagte Didelod: »Der Bürger Tournemarie ist durchaus nicht in Acht und Bann, denn ich bin bereit, ihn von morgen an in meinen Werkstätten anzustellen, falls er seine Stelle bei Neumans nicht wieder bekommt.«

»Hört! Hört! Bravo, Didelod!« rief die wankelmütige Menge.

Tournemarie erblaßte vor Zorn bei dieser Entgegnung. Heftig schlug er sich auf die Brust, und dem Abgeordneten einen entrüsteten Blick zuwerfend, sagte er: »Das ist auch wieder so eine tönende Phrase! Ich bin Kunstschreiner. Sie wissen wohl, daß es bei Ihnen keine Beschäftigung für mich gibt.«

»Warum denn nicht? In meinem Betrieb braucht man auch Schreiner. Es hieße für Sie ja vielleicht etwas herabsteigen, wenn Sie keine Möbel mehr verfertigten, aber verdienen würden Sie ebensoviel. Werfen Sie mir also nicht vor, ich ließe die Leute verhungern, und hüten Sie sich, Männer auf die Proskriptionsliste zu setzen, die ihr Lebtag für die Freiheit des Volkes gekämpft haben. So weit geht mein Liberalismus, Bürger Tournemarie, daß ich Ihnen trotz der Schmeicheleien, mit denen Sie mich soeben beehrt haben, bereit bin, Ihnen meine Tore zu öffnen, und zwar ohne Hintergedanken.«

Diese Worte, die Didelod donnernden Beifall eintrugen, schienen ihre Wirkung auf Tournemarie nun doch nicht zu verfehlen. Auf einen solchen Vorschlag, der den ganzen Eindruck seiner Schmährede aufhob, war er nicht gefaßt. Verwirrt, wütend, mit rollenden Augen stand er da, aber einen Ausweg, um zur Offensive zurückzukehren, fand er nicht. Stylb war es, der ihm schließlich aus der Verlegenheit half.

»Kein Zweifel, es ist rührend, daß Herr Didelod einen Arbeiter des Herrn Neumans bei sich aufnehmen will. Aber interessanter wäre es zu erfahren, was Herr Didelod für seine eigenen Arbeiter zu tun gedenkt.«

Damit war die Situation im Nu gerettet, und sofort wandten sich die Anwesenden, denen ihre eigenen Beschwerden plötzlich wieder zum Bewußtsein kamen, von Didelod ab und klatschten Stylb lebhaft Beifall zu.

»Machen Sie sich über mein Personal keine Sorgen,« entgegnete Didelod. »Ich werde ihm auch fernerhin alle Vorteile gewähren, die sich mit dem Gang der Geschäfte vereinbaren lassen. Jedermann weiß, daß die Arbeiter in Lehrange nicht zu kurz kommen, und daß der Nutzen nicht allein auf seiten des Chefs ist.«

»Wie kann Herr Didelod denn aber seine sozialistischen Ansichten mit seiner Eigenschaft als Arbeitgeber vereinigen? Wie kann überhaupt von einer Teilung des Ertrages zwischen den Arbeitern und dem Arbeitgeber die Rede sein, da die erste Forderung des Sozialismus doch darin besteht, den Chef überhaupt abzuschaffen und die Leitung der Produktion, sowie den Betriebsgewinn dem Arbeiter zu überlassen?«

»Ah, darauf läuft die Sache jetzt hinaus!« entgegnete Didelod mit einem Lächeln. »Ich brauche keine Erklärungen mehr zu geben über die Rolle, die ich als Schiedsrichter bei der Neumansschen Angelegenheit gespielt habe, sondern soll mein Privateigentum gegen die ausdrücklichen Forderungen des Kollektivismus verteidigen? Der Bürger Stylb hat zwar Sozialismus gesagt, aber Kollektivismus gemeint. Die Organisation der kollektivistischen Gesellschaftsverjüngung soll also zur Sprache kommen. Nun denn, obwohl ich behaupte, daß man sehr wohl Sozialist sein kann, ohne sich den kollektivistischen Hirngespinsten hinzugeben, so bin ich doch bereit, das Programm mit Ihnen zu erörtern, von dem man Ihnen sagt, daß es der Menschheit zu neuem Aufschwung verhelfe, das aber, wenn es wirklich durchgeführt würde, nur Enttäuschung und Jammer für Sie alle im Gefolge hätte.«

»Das muß erst abgewartet werden!« rief Stylb mit drohender Gebärde.

»Bürger Didelod aufs Podium!« brüllte die Menge.

Ein heftiger Tumult brach im Saale aus. Ein Teil der Anwesenden, hauptsächlich Neumanssche Arbeiter, wollten, daß die auf den Streik bezügliche Diskussion fortgesetzt werde, allein die Überzahl, die darauf brannte, die Auseinandersetzungen des Abgeordneten von Lehrange zu hören, zwang die Tischler zum Schweigen. Tournemarie, dem man den Ärger ansah, verlangte vom Ausschuß, ihm das Recht zu verschaffen, seinen Bericht zu vollenden, während Grangel unter Stylbs Einfluß unentschieden blieb.

Unter all diesem Geschrei bestieg Didelod das Podium, und Tournemarie mußte abziehen. Sofort trat Stille ein. Der Abgeordnete von Lehrange, ein gewiegter Volksredner, verstand sich darauf, ein Thema richtig anzufassen, es zu entwickeln und die Unterbrechungen vorteilhaft auszunützen. Vollständig ruhig und Herr seiner selbst begann er: »Ich glaube nicht, daß man die Forderung des Bürgers Stylb, die Chefs abzuschaffen und die Betriebsleitung den Arbeitern in die Hände zu geben, ernst zu nehmen braucht. Viel wichtiger wäre es, ehrlich und einmütig über die Vergünstigungen zu beraten, die den Arbeitern gemacht werden könnten, um ihnen einerseits die Arbeit weniger beschwerlich und anderseits das Leben besser und leichter zu gestalten. Diese Fragen, die ich trotz Stylbs gegenteiliger Behauptung soziale Fragen nenne, habe ich aufs ernsteste und angelegentlichste zu lösen gesucht. Sie alle hier sind mit den Arbeitsbedingungen im allgemeinen zu sehr vertraut, um die Vorteile nicht einräumen zu müssen, die Sie hier genießen, und die sonst nirgends zu finden sind. Ich will gewiß nicht behaupten, daß das Wohlwollen, womit Sie hier behandelt werden, Ihre Forderungen beschränken sollte, denn niemals habe ich die Absicht gehabt, Sie durch Dankbarkeit zu fesseln. Ich bin der Ansicht, daß ich mit dem, was ich für Sie tue, nur meine Pflicht erfülle, die von Ihrer Seite keine Gegenleistung verlangt. Aber zwischen dieser Auffassung und Ihren übertriebenen Forderungen, die die Weiterführung meines industriellen Betriebs unmöglich machen würden, liegt ein Abgrund, in den unvorsichtige oder blinde Ratgeber uns alle miteinander hineinstürzen möchten, und den ich Ihnen vor Augen führen will, damit Sie sich aus freien Stücken davon abwenden. Was wird Ihnen denn eigentlich vorgeschwatzt? Der Chef, der selbst die Hände in den Schoß lege, der sich darauf beschränke, die Arbeit seiner Angestellten zu leiten, nehme den größten Teil des durch die Arbeit erzielten Ertrages für sich in Anspruch, und während der Arbeiter einen kargen Taglohn bekomme, stopfe der Chef seine Taschen mit Kapitalien voll. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir jetzt mal dieses Verhältnis zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeitern näher untersuchen und sehen, wie die Teilung des Ertrages dieser gemeinsamen Arbeit vor sich geht. In Lehrange sind sechstausend Arbeiter, deren Taglohn im Durchschnitt fünf Franken beträgt. Es werden somit täglich dreißigtausend Franken aus der Fabrikkasse herausgenommen, was am Schluß eines Monats neunmalhunderttausend Franken und am Schluß des Jahres mehr als zehn Millionen macht. Rechnet man dazu die Gehälter der Beamten, der Ingenieure, der Aufseher, so haben wir eine Totalsumme von ungefähr elf Millionen, die aufgebracht werden muß, ehe das im Geschäft steckende Kapital Zinsen tragen, die Mühe des Leiters belohnt und die verschiedenen Steuern, die der Staat uns auferlegt und die riesenhaft sind, bezahlt werden können. Merken Sie sich also die Zahl elf Millionen, die in Ihre Tasche wandern, ehe irgend etwas vorweggenommen ist, und die Ihren Teil am Hauptertrag des Unternehmens bilden. Eine solche Vorwegnahme ist ja nun unbestreitbar berechtigt, denn Sie haben das ganze Jahr hindurch um diesen Lohn gearbeitet. Aber der Ertrag ist doch nicht lediglich durch Ihre Arbeit erzeugt worden. Noch andre Kräfte, die wir nicht übersehen dürfen, haben mitgewirkt. Untersuchen wir sie einmal näher. Selbstverständlich, meine Freunde, habe ich weder die Absicht, Ihnen hier einen volkswirtschaftlichen Vortrag zu halten, noch mich in eine gelehrte Abhandlung über das Verhältnis zwischen Kapital und Lohnarbeit einzulassen. O nein. Ich will Ihnen nur einfach und so klar als möglich darlegen, wie sehr die Fabrik mit allen ihren Maschinen, ihrem Betriebsmaterial, ihren Verwaltungsbeamten und Direktoren mithilft, den Ertrag hervorzubringen, und daß sie es deshalb auch verdient, daß ihr ein Teil davon zufällt. Außerdem gibt es in Lehrange nicht nur Arbeiter, sondern auch Gebäude, Handwerkszeug, Kohlen, Metall, Dinge, die von drei Generationen, die den Ertrag ihrer Arbeit hineingesteckt haben, angehäuft worden sind, und die das Betriebskapital repräsentieren. Dieses Kapital war zuerst ganz bescheiden. Die ersten Didelods sind kleine Fabrikanten gewesen, die selbst mit Hand angelegt haben, fast ebenso wie ein Arbeiter. Anstatt nun aber ihren Gewinn zu vergeuden, haben sie ihn sparsam beiseite gelegt, und anstatt herrlich und in Freuden zu leben, haben sie Grund und Boden gekauft, Gebäude errichtet, Maschinen aufgestellt, Schächte gegraben, ihr Anwesen vergrößert und sich damit immer mehr Mühen und Sorgen aufgeladen. Aber auch ihr Gewinn hat zugenommen, denn es gibt ein natürliches Gesetz der Produktivität, das nicht übertreten werden kann, und das Kapital muß ebenso honoriert werden wie die Arbeit.«

»Hier stimmen wir nicht mehr überein,« unterbrach ihn Stylb. »Das Kapital ist ein Wucherer, der die Arbeit zermalmt. Das Kapital muß der Arbeit zufallen, sonst ist es eine Ungerechtigkeit.«

»Dann soll die Arbeit doch ein Kapital herbeischaffen. Kein Mensch wird es ihr nehmen.«

»Das ist eben, was wir wollen.«

»Indem man es beschafft ...«

»Bei der uns aufgedrängten sozialen Lage ist das unmöglich. Eine Kapitalansammlung sollte als ein gegen den Kollektivismus verübtes Verbrechen gesetzlich verboten werden. Es sollte niemals zugelassen werden, daß sich das Kapital zu Gunsten eines einzelnen anhäuft. Es ist nicht bloß leeres Geschwätz, wenn wir sagen, daß wir das persönliche Eigentum nicht dulden und danach trachten, es aufzuheben.«

»Indem Sie es an sich reißen?«

»Ja, gewiß.«

»Das ist Raub.«

»Nein; einfach die Zurücknahme der Kapitalien, die durch eine betrügerische Ausbeutung der Lohnarbeit angehäuft worden sind.«

»Auf Grund welches Rechtes?«

»Auf Grund eines Rechtes, das wir aufstellen werden. Denn es ist keineswegs rechtswidrig, etwas für das Volk anzusprechen, was vom Volke hervorgebracht worden ist. Alles rührt von den Leistungen der Arbeiter her, folglich muß alles an sie zurückfallen. Nichts darf von dem Ertrag ihrer Arbeit zum Besten andrer abgezogen werden. Keine Chefs darf es mehr in der menschlichen Gesellschaft geben, so wie es für uns keine Herrscher und keine Gottheit mehr gibt. Wir leben auf der Erde, sind an die Erde gebunden, die wir mit unserm Schweiße tränken, ehe wir uns darin schlafen legen. Die Erde muß uns also alle materiellen Freuden gewähren, die es gibt. Unsre Arbeit muß auf das beschränkt werden, was zur Sicherstellung unsres Lebens absolut notwendig ist. Es gibt nur ein Ideal für den Arbeiter ...«

»Das Nichtstun!«

Bei dieser Entgegnung, die Didelod im Ärger entschlüpft war, erhob sich ein furchtbarer Tumult im Saale. Wildes Geschrei, Schmähworte, Drohungen drangen zum Abgeordneten von Lehrange hinauf. Stylb, der blaß vor Wut war, gestikulierte lebhaft an seinem Platze und sprach erregt mit seinen Nachbarn, während Grangel heftig auf den Tisch schlug, um die Ruhe wiederherzustellen. Didelod gelang es als erstem, sich Gehör zu verschaffen. Laut schrie er in das Getöse hinein: »Ihr könnt keinen Widerspruch ertragen! Nur Spektakel machen könnt ihr. Ihr verdient es nicht, daß man mit euch diskutiert ...«

Er erreichte es, daß Stille eintrat, und seine Rede wieder aufnehmend, sagte er: »Was Sie da soeben gehört haben, sind Banditengrundsätze. Seinem Nachbar Beutel und Uhr aus der Tasche reißen, ist kein Kunststück für den Stärkeren. Den Besitzer aus seinem Hause vertreiben und sich an dessen Stelle hineinsetzen ist leicht und rascher getan, als sich selbst ein Haus bauen. Es handelt sich nur darum, ob das Rechtsgefühl solche Handlungen zuläßt. Bis jetzt hat das Gesetz Anspruch dagegen erhoben. Die Freunde des Bürgers Stylb und er selbst, die nach Lebensgenuß lechzen, möchten allerdings Geldbeutel, Uhren und Häuser an sich reißen, aber solange es Gendarmen gibt, wird dieser schöne Traum sich nicht verwirklichen.«

»Die bewaffnete Macht! Endlich ist das so lange zurückgehaltene Wort gefallen. Die bewaffnete Macht, der einzige Schutz des Kapitalismus!« brüllte Stylb.

»Der einzige Schutz der anständigen Leute gegen Räuber!« entgegnete Didelod.

»Die schlimmsten Räuber sind die Ausbeuter. Während ein ganzes Volk Entbehrungen ertragen, sogar Not leiden muß, hat eine kleine Anzahl Reicher, eine verachtungswürdige Plutokratie, das in Besitz, was dem ganzen Volke gehören sollte, und treibt damit einen schmachvollen Luxus. Die einen, wenige Bevorzugte, besitzen alles, die andern, eine ganze Schar Unglücklicher, hat nichts. Ist das gerecht? Und wenn schließlich Männer, die in dieser höheren Klasse geboren sind, eine solche Ungleichheit entschuldbar finden, wenn hochmütige, gewalttätige Müßiggänger sich an ihre Vorrechte klammern, so will ich nichts dagegen sagen. Aber Herr Didelod, der Sozialist, der immer nur von Umwälzung, von Fortschritt, von bürgerlicher Gleichstellung spricht? Das ist himmelschreiend, der reinste Hohn! Einem solchen Skandal muß ein Ende gemacht werden. Es geht nun einmal nicht, daß man behauptet, ein Freund des Volkes zu sein, und es dabei doch ausbeutet. Entweder man ist für oder gegen das Volk. Fort mit dieser Heuchelei! Entweder Sie bewilligen bis aufs kleinste hinaus die Forderungen Ihrer Arbeiter, oder wir schließen Sie aus unsrer Partei aus. Dann können Sie sich Ihrer Clique wieder anschließen, die samt und sonders reaktionär ist.«

Tobende Hurrarufe erschollen, und mit solcher Wucht wurde auf den Boden gestampft, daß durch den aufsteigenden Staub die krampfhaft verzerrten Gesichter der Anwesenden nur wie durch eine Wolke sichtbar waren.

Didelod rief: »Sprechen Sie sich klar aus ohne Umschweife. Was verlangen Sie denn?«

»Einen Arbeitsvertrag.«

»Und was soll der enthalten?«

»Den Achtstundentag und die Wahl von zwölf Arbeiterdelegierten, die mit der Überwachung der Werkstätten beauftragt werden; ferner die Aufhebung der Stückarbeit und das Schließen der Konsumvereine.«

»Der Achtstundentag läßt sich unmöglich einführen, ehe ein Abkommen mit sämtlichen Etablissements zur Regelung der Konkurrenz getroffen ist. Gegen die Wahl von zwölf Delegierten habe ich nichts; die kann, wenn Sie wollen, gleich morgen stattfinden. Unter der Aufhebung des Konsumvereins werden Sie selbst am meisten zu leiden haben, denn er ist nur deshalb eingeführt worden, damit Sie Ihren Lebensunterhalt billiger beschaffen können. Er macht aber allerdings den Geschäften in der Stadt eine gewisse Konkurrenz. Sein Verschwinden ist jedoch eine rein kaufmännische Frage. Gehen wir also darüber hinweg. Was nun die Aufhebung der Stückarbeit betrifft, so ist das gleichbedeutend mit einem einheitlichen Lohn, so daß also der schlechte, träge Arbeiter den gleichen Lohn bekommen würde wie der geschickte und fleißige. Das ist eine Ungerechtigkeit, zu der ich mich nicht verstehen könnte.«

»Der schlechte Arbeiter muß ebenso essen wie der gute.«

»Aber der gute wird sich dann nicht mehr anstrengen, wenn er nicht besser bezahlt wird als der schlechte.«

»Das geht Sie nichts an! Das ist unsre Sache.«

»Die Qualität der Arbeit wird abnehmen, und das ist meine Sache.«

»Sie sind ein Ausbeuter.«

»Und ihr seid Narren!«

»Der Achtstundentag und keine Stückarbeit mehr.«

»Die nationale Produktion wird dadurch verringert.«

»Zuerst kommen wir. Antworten Sie. Eine Antwort wollen wir haben!«

»Es ist unmöglich!«

»Dann also Streik! Streik bis aufs äußerste!«

»Hütet euch!« rief Didelod, der mutig den Blick über die drohende Versammlung schweifen ließ.

»Er bedroht uns! Nieder mit Didelod! Nieder mit ihm!«

»Wenn ihr mich zwingt, die Fabrik zu schließen, wird sie geschlossen bleiben!«

»Und deine Bestellungen, die willst du dann wohl in Steingel ausführen lassen?«

»In Deutschland? Schurke! Im Ausland?«

»Ah, wir sollen vor Hunger krepieren, du Schuft! Jenseits der Grenze willst du arbeiten lassen, du Dieb! Vorher aber wirst du selbst dran glauben müssen, und nachher reißen wir deine Fabrik an uns!«

Vom Saale herauf wurden jetzt unter fürchterlichem Lärm Stühle aufs Podium geschleudert. Grangel, der entsetzt aufgefahren war, schrie den Leuten etwas zu, das niemand verstand, während Gaudin und Moritz sich durch die tobende, erbitterte Menge mit Gewalt Bahn brachen, um zur Podiumstreppe zu gelangen. Tournemarie, der mit einem Knüttel bewaffnet war, versetzte Gaudin einen solch heftigen Schlag, daß dem Lehrer das Blut von der Stirne herablief. Als Moritz, der auf den ersten Treppenstufen stand, das sah, schlug er nun seinerseits Tournemarie so heftig mit der Faust ins Gesicht, daß der Tischler in die Arme seiner Freunde stürzte. Ein förmlicher Ansturm wurde gegen das Podium gemacht. Schon hatten sich Grangel und seine Beisitzer auf Didelod losgestürzt. Ein Handgemenge entstand, Arme fuchtelten herum, wildes Gebrüll erscholl. Gaudin und Moritz stürzten, den Abgeordneten von Lehrange mit ihren Körpern deckend, wie rasend dem Ausgang zu, indem sie sich durch die Mitte des Saales hindurchkämpften. Zerschunden, grün und blau geschlagen, mit eingedrücktem Hut und ohne Krawatte gelangte Didelod schließlich, von Moritz halb getragen, zum Ausgang.

Allein nun drang plötzlich eine Gruppe Ausständiger, die sich hier angesammelt hatte, auf die beiden ein, und ein furchtbares Handgemenge entstand. Didelod, der an die Mauer gedrängt worden war, fühlte, wie ihm der Atem ausging. »Mörder!« rief er keuchend, und er wäre zu Boden gestürzt, wenn sein Sohn ihn nicht gestützt hätte. Sich dicht neben ihm haltend, schlug Moritz unermüdlich mit Händen und Füßen um sich. In dieser Verwirrung erlosch plötzlich das Licht, und Dunkelheit senkte sich auf die Kämpfenden herab. Zugleich fühlte Didelod, wie jemand ihn aus der Menge hinausschleppte. Nach einigen raschen Schritten bemerkte er einen matten Lichtschimmer und sah nun, daß er sich in einem Untergeschoß zwischen seinem Sohn und dem Pächter des Festsaales befand.

»Gott sei Dank!« sagte dieser. »Nun sind wir gerettet!«

»O, diese Halunken!« rief der Abgeordnete, schwer atmend. »Aber wo sind wir denn?«

»Unter dem Saale, wohin ich Sie durch eine kleine Tür habe schieben können, nachdem ich das elektrische Licht ausgedreht hatte. Ach, es gibt kein besseres Beruhigungsmittel als die Dunkelheit! Ich habe noch nie eine Versammlung gesehen, und wenn sie noch so stürmisch war, die diesem Trick widerstanden hätte.«

»Aber wo ist denn Gaudin?« rief der Abgeordnete von Lehrange. »In den Händen dieser Kannibalen ist er zurückgeblieben. Denen sähe es gleich, daß sie ihn umgebracht haben!«

»Ich will sofort nachsehen.« Der Pächter entfernte sich und ließ die beiden Didelods allein. In diesem kellerartigen Raum, wohin noch immer das Brüllen der Menge drang, schauten sie sich an.

»Bist du nicht verletzt?« fragte der Vater seinen Sohn, indem er ihm die Hand drückte.

»Nein, Papa, gar nicht. Und du?«

»O, nur ein paar Quetschungen ... aber mein Herz, das ist am schwersten getroffen worden! Die Undankbaren! Die Elenden! Abtrünnig sind sie mir geworden, geschlagen haben sie nach mir!«

Tränen liefen dem Schwergekränkten, in seinem Vertrauen tief verletzten Abgeordneten aus den Augen. Inbrünstig schloß sein Sohn ihn in die Arme und versuchte, ihn zu trösten.

»Sie sind nur irregeleitet. Es ist ihnen gar nicht ernst mit ihrem sinnlosen Geschwätz. Sie werden bereuen, was sie getan haben!«

»Ja, bereuen werden sie, aber zu spät! Ich habe sie durchschaut: sie sind nicht reif für den Fortschritt. Sobald es sich nicht um ihren unmittelbaren Vorteil handelt, geht ihnen jegliches Verständnis ab. Sie sind ein Spielball in den Händen ihrer Führer, auch wenn diese, wie wir heute gesehen haben, grundschlecht sind. Ach, die Volksseele ist grausam geworden, nachdem man sie der Ideale beraubt hat! Was haben wir getan, als wir diese Leute mit dem matten Licht der Vernunft erleuchten wollten? Jetzt ist das Tier im Menschen losgelassen. Wer wird es bändigen?«

Der Saalpächter kehrte jetzt zurück, aber allein.

»Beunruhigen Sie sich nicht wegen Herrn Gaudin, Herr Abgeordneter. Er ist in meiner Wohnung, wo er sich nach und nach erholt.«

»Ist er denn verwundet?«

»Ja, ziemlich schwer, aber nicht gefährlich. Ich werde ihn verbinden lassen. Ein Stück Kopfhaut hängt ihm übers Ohr.«

»Der Arme!«

»Seine Sorge gilt nur Ihnen. Er läßt Sie inständigst bitten, sich mit Herrn Moritz zu entfernen. Aber ich muß Ihnen leider sagen, daß Ihr Wagen, der vor der Tür gewartet hat, total zertrümmert und Ihr Kutscher mit den Pferden in die Stadt getrieben worden ist.«

Ein trauriges Lächeln verzog Didelods Gesicht.

»Das ist das geringste Übel, das heute angerichtet worden ist,« sagte er. »Also, Moritz, sobald die Straße frei ist, wollen wir zu Fuß nach Hause gehen.«

»Wenn Sie erlauben, Herr Abgeordneter, dann werde ich Sie in meinem Einspänner zurückbringen. Das ist doch sicherer.«

»Gut. Ich danke Ihnen sehr.«

»Ich werde rasch anspannen. Durch die Hintertür können Sie ohne Gefahr hinauskommen.«

Während Vater und Sohn sich auf diese Weise in Sicherheit brachten, zogen die wütendsten Manifestanten unter der Führung von Stylb, Tournemarie und Grangel johlend und singend durch die Stadt zum großen Schrecken der aus dem ersten Schlafe auffahrenden Bürger. Fenster öffneten sich, undeutlich beleuchtete Gestalten tauchten auf, nach denen unter Schmähworten mit Steinen geworfen wurde. Plötzlich kommandierte Tournemarie, dessen Gesicht von den Faustschlägen, die Moritz Didelod ihm versetzt hatte, dick geschwollen war: »Zum ›Tannenzapfen‹!«

Ein Zug, der sich aus mehr als hundert der tollsten Schreier zusammensetzte, kam vor dem Gasthaus an, sprengte die Tür, weckte den Wirt, ließ die Lichter im Saal anzünden und rief nach Getränken, unter der Androhung, sonst alles kurz und klein zu schlagen. Sofort stieg Stylb auf einen Tisch und ergriff das Wort: »Bürger, ich nehme an, daß ihr nun von euren Ansichten über den Sozialismus eures Chefs geheilt seid!«

»Er ist gar nicht mehr unser Chef.«

»Das wird die Zukunft lehren. Schon häufig hat die Arbeiterpartei einen derartigen endgültigen Bruch mit ihren Chefs beschlossen gehabt, und ihn dann doch widerrufen. Ihr faßt ja wohl mal schöne Vorsätze, aber an der nötigen Ausdauer fehlt es euch. Nach kurzer Zeit schläft euer Widerstand ein, und schließlich gebt ihr nach. Dadurch haben die Besitzenden stets den Sieg über euch davongetragen. Diesmal aber bietet sich euch eine unvergleichliche Gelegenheit, euch standhaft zu zeigen. Denn euer Chef ist zugleich auch euer Abgeordneter und ein Mann von glühendem Ehrgeiz. Ihr bildet seine Wählerschaft und habt sein Schicksal in der Hand, und zwar nicht nur in industrieller, sondern auch in politischer Hinsicht. Die Ereignisse in Lehrange werden somit von ganz besonders eingreifender Bedeutung sein. Das gesamte Proletariat wird eure Handlungen mit Spannung verfolgen. Durch seinen Ehrgeiz hat Didelod euch selbst die beste Waffe gegen sich in die Hand gespielt. Als Arbeitgeber wird er nachgeben müssen, um seine Popularität als Abgeordneter nicht auf immer einzubüßen. Bedenkt, was für eine Macht ihr dadurch habt. Versäumt es also nicht, sie auszunützen.«

»Wenn er nun aber seine Fabrik schließt, wie er uns gedroht hat?«

»Dann fordert ihr die Regierung auf, daß sie ihm befiehlt, sie wieder zu öffnen.«

»Es sind ja jetzt Kammerferien, eine Interpellation kann also nicht erfolgen.«

»Um so besser, dann handeln wir als Revolutionäre. Eine Propaganda der Tat. Ohne Didelod nehmen wir die Arbeit wieder auf und warten, bis die Regierung einschreitet.«

»Didelod ist aber imstande, seine Drohung wahr zu machen und während dieser Zeit in Steingel arbeiten zu lassen.«

Nun erhob Grangel sich flammenden Blickes und rief mit durchdringender Stimme: »Dann gehen wir zu unsern Brüdern, den deutschen Arbeitern, und bitten sie, ein verbrecherisches Unternehmen nicht zu unterstützen, sondern gemeinsame Sache mit uns zu machen gegen die Ausbeuter der Menschheit. Mit friedlichen Absichten wollen wir nach Steingel ziehen, den Brüdern die Hände zum Gruß entgegenstrecken und das große Werk der Solidarität vollbringen.«

»Wenn man uns nun aber an der Grenze aufhält?«

»Wer denn? Die Grenzaufseher von Elsaß-Lothringen? Die werden unsrer ruhigen, freundschaftlichen Übermacht weichen müssen. In einer halben Stunde sind wir dort. Die Frauen und Kinder nehmen wir mit; dadurch bekommt die Kundgebung von selbst den richtigen Charakter. Und wenn es uns gelingt, unsre Arbeitsgenossen jenseits der Grenze von der Mithilfe an einem schmachvollen Vorhaben abzuhalten, dann wird unsre Sache einen ungeheuren Fortschritt auf dem Wege des Internationalismus gemacht haben.«

»Aber liegt es denn im Interesse der Deutschen, uns zu helfen?«

»Wären sie denn Sozialisten, wenn sie uns den Beistand versagten?«

»Wenn sie nun aber in erster Linie Deutsche sind?«

»Ihr tut ihnen unrecht.«

»Habt ihr denn vergessen, was die deutschen sozialistischen Führer stets betont haben? Ausdrücklich haben sie, was den Krieg betrifft, den Internationalismus zurückgewiesen und erklärt, vor allem Deutsche zu sein. Und bei ihrem letzten Kongreß haben sie ganz gefährliche Wünsche für die Größe, die Macht und das Gedeihen Deutschlands ausgesprochen und damit einen recht bedenklichen Partikularismus bekundet. Befürchten Sie nicht, daß wir mit unserer erhabenen Aufopferung für ein Weltbürgertum schließlich die Geprellten sind? Und ist es nicht ein furchtbares Wagnis, bei einer Sache, in die die französische Industrie so stark verwickelt ist, auf die Selbstlosigkeit der Deutschen zu rechnen? Ihre Idee, an die Solidarität der Arbeiter zu appellieren, ist entschieden etwas naiv. Sie lassen sich von einer Gefühlsduselei leiten, während es sich doch darum handelt, unsre Interessen zu wahren. Hüten Sie sich ...«

Diese vernünftigen Worte, die ein Werkführer von Lehrange geäußert hatte, riefen die stürmischsten Widersprüche von seiten der Ausständigen der Neumansschen Fabrik hervor, die auf den Widerstand erpicht und zum Äußersten entschlossen waren. Mit einer Heftigkeit, die sich durch sein schmerzendes, aufgeschwollenes Gesicht noch steigerte, stieg Tournemarie nun seinerseits auf den Tisch und rief: »Seid ihr Männer? Ihr wißt, was ich vollbracht habe! Und ich bin zu neuen Taten bereit. Wie sollen wir den Widerstand, den man uns entgegensetzt, brechen, wenn wir vor dem ersten Hindernis zurückschrecken? Friedliche Umwälzungen gibt es nun mal nicht. Man muß niederreißen, ehe man neu aufbaut. Mit Mäßigung werdet ihr niemals eine Änderung der sozialen Ordnung erreichen. Also Mut! Ein jeder erfülle getreulich seine Pflicht, dann gehört uns die Zukunft!«

Wieder stimmten diese Rasenden die »Internationale« an und versetzten damit das ganze Stadtviertel in Schrecken. In der von Schnaps, Bier und Tabak geschwängerten Luft bot diese Menge mit den herumfuchtelnden Armen, den wutverzerrten Gesichtern und drohenden Blicken ein Bild grauenerregender Roheit. Es war die blinde, entfesselte Kraft, die zu jedem Gewaltakte fähig ist. Als der revolutionäre Hymnus zu Ende war, nahm Stylb wieder das Wort: »Ihr seid also entschlossen, mit aller Kraft gegen die freiheitsmörderischen Absichten anzukämpfen?«

»Ja! Ja!«

»Gut. Aber so wie ich euch zur Tatkraft ermahne, rate ich euch auch zur Besonnenheit. Jede unnütze Ausschreitung muß sorgfältig vermieden werden. Wacht darüber. Es hat keinen Sinn, die Bevölkerung der Stadt zu alarmieren, sie gegen euch einzunehmen. Also keine zwecklosen Kundgebungen, kein planloses Geschrei! Morgen wird die Leiche des Offiziers, der als Opfer des Ausstandes gefallen ist, von seinen Kameraden zur Bahn begleitet werden. Laßt sie ungehindert gewähren. Bleibt der Feierlichkeit fern. Dieser Tote hat nichts mehr von uns zu erwarten, weder Fluch noch Mitleid. Er ist einfach von der Bourgeoisie, die er verteidigt hat, geopfert worden. Er hat sich uns in den Weg gestellt, und wir haben ihn beseitigt. Damit ist die Sache erledigt. Stören wir seinen letzten Gang nicht. Während der Feierlichkeit wollen wir uns am andern Ende der Stadt versammeln, um vor der Didelodschen Fabrik eine Kundgebung ins Werk zu setzen. Dort wird sich zeigen, was weiter zu geschehen hat. Erweist es sich als zweckmäßig, nach Steingel zu gehen, so brauchen wir nur die Grenze zu überschreiten und sind dann in einer Stunde vor dem Reismannschen Etablissement. Nehmt ihr meinen Vorschlag an?«

»Ja.«

»Dann also morgen früh um zehn Uhr an der Vorstadtbrücke und von da zur Fabrik. Jetzt aber wollen wir alle in größter Ruhe und Ordnung nach Hause gehen.«

Gehorsam verließen die Manifestanten das Wirtshaus, und nur Stylb und Grangel blieben noch im Saale. Demütig kam der Wirt heran, um sich nach ihren weiteren Wünschen zu erkundigen. Die Zeche war nämlich nicht bezahlt worden, und er fürchtete, um sein Geld zu kommen. Stylb drückte ihm vierzig Franken in die Hand, dann ging er mit dem Lehrer auf die still gewordene Straße hinaus. Dort blieben sie einen Augenblick stehen, um nach der heißen, übelriechenden Atmosphäre im Saale die köstliche Nachtluft einzuatmen. Schweigend gingen sie nebeneinander her, während der dumpfe Schall der sich entfernenden Schritte ihrer Genossen zu ihnen drang. Bei einer Straßenbiegung bemerkten sie plötzlich eine auf sie zukommende schwarze Gestalt. Sie warteten und erkannten den Pfarrer von Lehrange in Begleitung eines kleinen Mädchens.

»Ei, Herr Abbé,« rief Grangel ihm mit einem sardonischen Lachen zu, »so spät gehen Sie noch durch die Stadt!«

»Mein Amt ist an keine Zeit gebunden, Herr Grangel,« antwortete der Priester, der den Lehrer an der Stimme erkannt hatte, in ernstem Tone.

»Wohin gehen Sie denn?«

»Einem armen Sterbenden will ich den Trost der Religion bringen.«

»Wohl bekomm's ihm, wenn er an Ihren Mumpitz glaubt!« entgegnete Stylb höhnisch.

Prüfend schaute der Priester den Sprecher an.

»Sie sind nach Ihren Worten zu urteilen, einer von denen, mein Herr, die mir meine Besoldung entzogen, meine Kirche geplündert und die Fabrik demoliert haben. Wohl bekomm's auch Ihnen! Aber was Sie mir nicht haben nehmen können, das ist das Vertrauen meiner Pfarrkinder, und was Sie nicht haben ausrotten können, das ist die Hoffnung auf einen hilfreichen Gott. Schauen Sie einmal da hinauf. Am Himmel stehen Lichter, die kein Arm, auch der mächtigste, jemals auslöschen kann!«

Und dem kleinen Mädchen, das neben ihm stehen geblieben war, mit dem Finger auf die Schulter tippend, fügte er hinzu: »Komm, mein Kind, dein Vater leidet, wir dürfen ihn nicht warten lassen. Guten Abend, meine Herren.«

Den Hut abnehmend, entblößte er vor den beiden Männern sein weißes Haupt und verschwand dann mit seiner Führerin in der Dunkelheit.

Grangel und Stylb, die allein zurückblieben, verharrten in tiefem Schweigen. Wie von einer höheren Macht angezogen, richteten sich ihre Augen auf die leuchtenden Sterne, die im unermeßlichen Weltenraum funkelten, und erschüttert von dieser Harmonie, dieser geheimnisvollen Größe, setzten sie beunruhigt und mißmutig ihren Weg fort.

 


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