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Sechzehntes Kapitel.

Das Blutbad am Boulevard Maillot wurde den Eifersuchtstragödien beigezählt. Eine Frau, die zwei Männer einander streitig gemacht und an deren Leiche einer den anderen getötet hatte, das wurde als Leitmotiv für die Zeitungen ausgegeben. Die Phantasie der Verfasser Vermischter Nachrichten durfte das übrige thun, und ganz Paris erhitzte sich zwölf Stunden lang über diese großartige Schlachterei, die um so eingehender beschrieben wurde, als niemand sie mit angesehen hatte. Niemand erhielt auch jetzt Zutritt zu dem Haus, das amtlich versiegelt wurde und in dessen Winkeln nur der traurig enttäuschte Mayeur herumstöbern konnte. Er entdeckte nichts, was ihn über die Persönlichkeit des »Hans« genannten Mannes aufgeklärt hätte. Weder die Sektion, noch die ältesten Polizeiakten lieferten irgend welchen Aufschluß, wer dieser unheimliche Schurke eigentlich gewesen war. Daß es derselbe war, der mit Sophia in Vanves erschienen und dort um einen Arm gekommen, stand ja fest. Aber wer war er ursprünglich? Die Polizei des Auslandes wußte es ebensowenig, oder wollte es nicht sagen.

Sophias und Agostinis Persönlichkeiten waren ohne Schwierigkeiten festzustellen. Die Fürsten von Briviesca gaben der Behörde bereitwillig Auskunft über den Taugenichts, von dem man sie befreit hatte. Der Baron Grodsko konnte nicht mehr sagen, als er schon dem nach Nizza gesandten Agenten anvertraut hatte. Wütend, daß er keine größeren Überraschungen ans Licht bringen konnte, dachte Mayeur, daran, Lichtenbach zur Verantwortung zu ziehen. Er ließ ihn vorladen, verhörte ihn und versuchte dann, bei Baradier & Graff Material zu einer Anklage zu erhalten, allein diese waren wider Erwarten nicht geneigt, als Belastungszeugen gegen den alten Feind aufzutreten. Man sprach von geschäftlichen Schikanen, Konkurrenzneid, aber nicht von strafbaren Handlungen. Mayeur hätte schon die Börse umstellen lassen und von Mittag bis drei Uhr alle verhören müssen, die schimpfend und stöhnend in dem Säulenumgang erschienen! Überdies hatte man sich höchsten Ortes sofort für Lichtenbach verwendet und dem Untersuchungsrichter zu verstehen gegeben, daß er auf dem Holzweg sei. Der Fall von Vanves blieb also für alle Zeiten ein unlösbares Rätsel.

Wenn diese tragischen Vorgänge Lichtenbach auch äußerlich nicht zu Grund richteten, so hatten sie um so schwerere moralische Folgen für ihn. Acht Tage nach Sophias und Agostinis Tod trat seine einzige Tochter ins Kloster der Augustinerinnen in der St. Johannesstraße.

Vater und Kind hatten eine zwei Stunden währende Auseinandersetzung gehabt; leichenbleich, aber festen Schrittes hatte Marianne das Arbeitszimmer des Bankiers verlassen. Gebeugt, zitternd, die Wangen von Thränen überströmt, war ihr Lichtenbach nachgeeilt, noch auf dem Treppenabsatz wollte er sie mit flehend erhobenen Händen aufhalten.

»Mein Kind!« stammelte er. »Sei nicht unerbittlich!«

Marianne senkte die Stirn.

»Ich wollte es so gerne nicht sein, aber wie soll ich vergessen?«

Ohne sich umzuwenden, stieg sie die steinerne Treppe hinab nach der Einfahrt, wo der Wagen wartete, um sie nach dem Kloster zu fahren. Stöhnend beugte sich Elias über das eiserne Geländer. Einen Augenblick sah es aus, als ob er sich hinabstürzen wolle, und mit herzzerreißender Stimme rief er: »Marianne! ... Marianne ...!«

Sie hob unterm Hauseingang den Kopf. Schluchzend streckte er die Arme nach ihr aus.

»Ich habe ja nur dich! Willst du deinen Vater vergessen?«

Das junge Mädchen schüttelte traurig den Kopf, aber ihr Widerstand war nicht gebrochen. Welch entsetzliche Klarheit mußte ihr geworden sein? Was mußte Lichtenbach zugegeben haben, daß Marianne so unversöhnlich sein konnte? Sie machte das Zeichen des Kreuzes, gleich als wolle sie ihren Mut stärken, und noch bleicher als vorher, aber mit fester Stimme entgegnete sie: »Vergessen werde ich dich nicht, Vater. Ich werde für dich beten!«

Dann stieg sie ein, der Wagen rollte dröhnend durch die gewölbte Einfahrt und Lichtenbach blieb allein zurück.

Langsam schleppte er sich in sein Arbeitszimmer, wo er in Gedanken versunken vor sich hinstarrte. Er zog sich aber nicht vom Geschäft zurück, sondern betrieb es im Gegenteil mit erhöhter Thatkraft. Nach der schweren Niederlage, die ihm die Sprengstoffaktien eingetragen, kehrte sein Glück zurück. Er erholte sich vollständig durch eine glänzend verlaufende Spekulation in Goldminen und war als Geschäftsmann nie erfolgreicher und glücklicher gewesen als in den sechs Monaten nach der Abreise seiner Tochter. Freude aber schien er keine dabei zu empfinden, und körperlich verfiel er zusehends. Er mußte jetzt oft stillstehen und nach Luft ringen, wenn er die Treppe zum Börsensaal hinaufstieg: in Gesellschaft erschien er gar nicht mehr.

»Was ist denn mit unserem lieben Elias?« fragte die kleine Herzogin von Bernay eines Tages. »Ich höre, er sei leidend. Sollte er den Kummer erleben müssen, sich zu verlieren?«

Das leicht hingeworfene Wort war ein prophetisches. An einem Winterabend fand der eintretende Bediente seinen Herrn tief über den Schreibtisch gebeugt, dem Anschein nach eingeschlafen. Er sprach ihn an, erhielt aber keine Antwort.

Aengstlich werdend, trat er näher und berührte ihn an der Schulter, aber der Bankier blieb regungslos. In der schlaff herabhängenden Hand hielt er einen Brief der Tochter, der noch feucht war von seinen Thränen. Er war tot. Das Schicksal hatte ihn an der einzigen Stelle getroffen, wo er verwundbar war, an seiner väterlichen Liebe. –

Sechs Monate später saßen der Onkel Graff und Marcel zur Dämmerstunde beisammen. Die Abendpost war erledigt, Baradier schon hinaufgegangen.

Die Dunkelheit sank mehr und mehr herein, die Gestalten von Onkel und Neffe, die sich schweigend in ihren Lehnstühlen gegenübersaßen, waren kaum mehr zu unterscheiden. Alle Angestellten waren fortgegangen, die Geschäftsräume verödet.

»Schläfst du eigentlich, Onkel?« fragte Marcel mit einemmal.

»Nein, mein Junge, ich hänge so meinen Gedanken nach.«

»Und womit beschäftigen sich die?«

»Mit allem, was wir im Lauf des verflossenen Jahres erlebt haben, und das ist viel.«

»Allerdings. Und das Ergebnis deiner Gedanken?«

»Daß wir verteufelt viel Glück hatten! Unsere Feinde waren uns ja hundertfach überlegen. Daß sie nicht über uns triumphierten, verdanken wir so recht eigentlich dem Schutz der Vorsehung!«

»Sehr logisch denkst du gerade nicht, Onkel ... verteufeltes Glück und Schutz der Vorsehung, wie reimt sich das?«

»Ach, du bist ein Skeptiker wie all deine Zeitgenossen. Ihr wollt an nichts mehr glauben.«

»An den Zufall glaube ich allerdings nicht,« versetzte Marcel lächelnd, um dann mit plötzlichem Ernst fortzufahren, »aber an die menschliche Willenskraft glaube ich. Und wenn wir, wie du meinst, und wie es ja auch richtig ist, einen besonderen Schutz genossen, so danken wir das einem festen Willen ... ohne den ...«

Wieder trat Stille ein; es war jetzt vollständig dunkel im Zimmer.

»Einem festen Willen,« wiederholte Graff. »Du meinst doch nicht den jener Frau?«

»Doch, Onkel. Jene Frau ist's, die den Plan ihrer Spießgesellen zum Scheitern gebracht und mich gerettet hat.«

»Weil sie dich liebte?«

»Weil sie mich liebte.«

Der Onkel Graff stieß einen Seufzer aus, stopfte sich seine Pfeife und steckte sie an.

»Es ist heute das erste Mal,« begann er, »daß wir auf sie zu sprechen kommen, das erste Mal seit jenem Tag ... es ist dir doch nicht peinlich?«

»Nicht die Spur!«

»Nun denn, so erkläre mir endlich, was zwischen dir und ihr vorgegangen ist.... Daß eine Person dieser Art sich für einen jungen Menschen, den sie an sich lockte, um ihn zu berauben, geopfert haben soll, ist doch ein bißchen merkwürdig. Du wirst doch wenigstens zugeben, daß sie mit solchen Absichten in deinen Gesichtskreis trat?«

»Das gebe ich unbedingt zu.«

»Es war eine durchtriebene Dirne, die so ziemlich alles im Leben kennen gelernt hatte und in der Liebe ungefähr so weit sein mochte, wie in ihrer Art die Trunkenbolde, deren ausgebrannte Kehlen nur noch Vitriol reizt! Und trotzdem ...«

»Und trotzdem hat sie sich in einen harmlosen jungen Menschen wie mich verliebt! Vielleicht gerade weil ich jung und harmlos war, eine Abwechslung nach all ihren Schurken. Eine Tasse Milch für einen Trunkenbold, um bei deinem Bild zu bleiben ...«

»Und sie hat sich vor deinen Augen um deinetwillen das Leben genommen?«

»Ja, Onkel Graff, weil ich ihr gesagt hatte, daß ich sie nie wiedersehen wolle.«

»Und doch hast du sie geliebt?«

»Ich habe sie geliebt, doch mir graute zugleich vor ihr. Wenn ich sie wiedergesehen hätte, würde sie mich wieder erobert und an sich gerissen, mich zu einem verlorenen Menschen gemacht haben! Zu einem verlorenen Menschen, sage ich dir ... das ist mir aufgegangen in jenem entscheidenden Augenblick! Ich, der ich ein anständiger Kerl, der Sohn anständiger Leute bin, ich wäre unterm Einfluß dieses verabscheuungswürdigen und ach so wonnigen Weibes selbst ein Schurke geworden, und das wollte ich nicht.«

Wieder trat Stille ein.

»Sie muß sehr schön und sehr verführerisch gewesen sein,« bemerkte Graff nach einer Weile.

»Die Schönheit, die Verlockung in Person! Herrliche Naturanlagen, ein Weib, das nur Königin oder Dirne sein konnte!«

»Und glaubst du, daß sie noch hätte entfliehen können?«

»Dessen bin ich gewiß. Du erinnerst dich doch, daß man bei der nachherigen Durchsuchung des Hauses im Keller auf die Thüre zu einem gewölbten unterirdischen Gang nach einem Haus in der Neuillystraße gestoßen ist, durch den sich auch die drei Gehilfen, die damals entkamen, gerettet haben müssen? Sie brauchte nur eine Wendeltreppe hinunter zu gehen, um sofort in Sicherheit zu sein. Die Polizei hat mehr als zwei Stunden gebraucht, um die Thüre im Keller einzudrücken.«

»Hervorragend gut und umsichtig hat diese Bande ihr Handwerk betrieben. Welch ein Verlust sind solche Köpfe für die Gesellschaft, denn es hilft alles nichts, aber die braven Leute sind nun einmal in der Regel ein wenig beschränkt.«

»Da sollte man also die öffentlichen Angelegenheiten in die Hände von Banditen legen, weil sie gewitzter sind!«

»Und denkst du immer noch an diese Person?« fragte Graff mit einem Seufzer.

»Unaufhörlich.«

»Und betrauerst sie?«

»Hat sie nicht ihr Leben für mich gelassen?«

»Darum bist du also seit der Zeit so ernsthaft geworden?«

»Ja, Onkel.«

»Du warst immer traurig?«

»Ich bin es noch.«

»Nun, und dann warst du ja auch sehr beschäftigt mit all den Anlagen zur Sprengstofffabrikation ...«

»Ja, das kam auch dazu.«

»Weißt du, was du jetzt vernünftigerweise thun solltest?«

»Ich weiß es, und der Vater hat auch gestern darüber gesprochen. Das ist dir gewiß nicht unbekannt, und weil ich seinen Vorschlag etwas kühl aufnahm, willst du heute bei mir anbohren!«

»Allerdings, mein Kind. Du wirst zugeben, daß es sehr vernünftig wäre, jetzt zu heiraten, wo du gerade keine Liebschaft angebändelt hast und ein ernsthafter Mann bist!«

»Und zwar Genoveva von Trémont?«

»Die haben dir deine Eltern bestimmt. Es wäre eine große Freude für sie, wenn du ihnen diesen Wunsch erfülltest.«

Marcel schwieg und saß unbeweglich in seinem Lehnstuhl. Des Onkels Pfeife glühte nicht mehr durch das Dunkel, sie war ausgegangen. Die beiden saßen in Nacht und Schweigen. Nach einer Weile begann Marcel bedächtig: »Onkel ... als Fräulein Lichtenbach damals herkam, um uns vor der mir drohenden Gefahr zu warnen, sagtest du doch, sie sei voll Angst gewesen ...«

»Ganz außer sich ... fassungslos!«

»Und du hattest den Eindruck, daß ihre Sorge um mich besonderem Interesse an meiner Person entspringe? Du sagtest doch so etwas?«

»Gewiß, und ich hatte ihr auch versprochen, dir zu sagen, welchen Anteil sie an dir nehme. Das Mädchen hatte mir gefallen ... keine Alltagsnatur ... und was sie nachher that, hat meine gute Meinung von ihr ja nur bestätigen können.«

»Du meinst ihren Eintritt ins Kloster?«

»Ja, namentlich die Trennung von dem alten Scheusal von einem Vater.«

»Er ist tot. Lassen wir ihn in Frieden ruhen, um so mehr, als die Verachtung und der Abscheu des eigenen Kindes ihm das Herz gebrochen haben.«

»Du hast recht.«

»Wenn man's recht überlegt, würde sie um meinetwillen aus der Welt scheiden. Das arme Kind hätte sein Gefühl für mich mit allem bezahlt, was das Leben liebenswert und freudig macht; sie würde arm, im grauen Wollkleid, mit geschorenem Haar, Kranke pflegend, leben und sterben ...«

»Freilich, so ist's.«

»Onkel, bist du der Ansicht, daß die Kinder für die Vergehen ihrer Eltern verantwortlich sind?«

Graff gab keine Antwort; er rückte unruhig in seinem Stuhl hin und her und machte sich mit seiner Pfeife zu schaffen, die er wieder in Brand steckte.

»Du antwortest mir nicht? Hat dich meine Frage in Verlegenheit gesetzt, Onkel?«

»Sogar sehr! In diesem Haus habe ich einmal einem Abgesandten Lichtenbachs zum Bescheid gegeben, daß alle Graffs sich im Grabe umdrehen würden, wenn ein Baradier eine Lichtenbach heiraten wollte.«

»Was?« rief Marcel erregt. »Dieser Plan ist je aufgetaucht, und man hat Schritte gethan, ohne mir etwas zu sagen?«

»Wozu? Du siehst ja, auf welchem Standpunkt wir damals standen, sonst hätte ich doch nicht diese prahlerische und, ehrlich gesagt, recht dumme Antwort gegeben! Und dein Vater erst! Ich will nicht sagen, daß er dich lieber tot, aber lieber ins Pfefferland gewünscht hätte, als mit Lichtenbach verwandt. Bedenke auch: damals war Trémont kaum tot, die Fabrik glostete noch – nein, nein, es war undenkbar!«

»Und heute. Onkel Graff, heute?«

»Ja, denkst du denn daran?« fragte der alte Schwärmer mit vor Bewegung zitternder Stimme.

»So fest, daß wenn Fräulein Lichtenbach nicht einwilligt, meine Frau zu werden, ich gar nicht heiraten werde.«

»Aber wie denn ... warum? Liebst du sie denn?«

»Ich hege Gefühle höchster Achtung und Dankbarkeit für das junge Mädchen. Sie hat mir alles geopfert, was sie in Gegenwart und Zukunft opfern konnte, ich bin also ihr Schuldner. Und wenn ihr mich wirklich lieb habt, so steht auch ihr in dieses Mädchens Schuld. Die Firma Baradier & Graff aber pflegt, so viel ich weiß, ihre Schulden zu bezahlen, selbst wenn ihre Eigenliebe darunter leidet.«

Ein leichtes Geräusch ließ sich vernehmen: die Thüre war auf und zu gegangen.

»Wer ist da?« fragte Grass erschrocken.

»Beruhige dich, ich bin's,« versetzte Baradiers Stimme.

»Du hast gehört ...«

»Nur die letzten Worte, – ich komme eben. Wollt ihr in dieser Finsternis bleiben?«

Er drehte das elektrische Licht auf und eine plötzliche Helle durchflutete das Zimmer, Die drei Männer sahen einander an; sie waren alle ernst, aber von einem freudigen Ernst. Baradier senkte nicht nach seiner sonstigen Gepflogenheit den Kopf, wie wenn er gegen ein Hindernis anrennen wollte, eine Bewegung, die Schwager und Sohn so genau an ihm kannten. Er sah ruhig, innerlich gesammelt aus, ging einmal durchs Zimmer, und setzte sich dann auf die Kante seines Schreibtisches.

»Was wären wir denn, wenn wir nicht dankbar sein wollten?« sagte er. »Vor der Welt für ehrenhaft gelten, damit ist's nicht gethan, man muß in seinen eigenen Augen makellos sein.«

Er blickte mit höchster Genugtuung auf den Sohn; das gerötete Gesicht verriet tiefe Erregung.

»Dieser Junge hat gesprochen, wie ein Angehöriger des Hauses Baradier & Graff sprechen soll. Was er will, muß geschehen.«

Dieses schlichte Wort, das den Sohn für würdig seiner Vorfahren erklärte, durchzuckte die Hörer. In Graffs Augen schimmerten Thronen stolzer Freude: Marcel aber warf sich schweigend in des Vaters Arme.

Ende.


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