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Achtes Kapitel

Zwei Tage nach diesem Vorfalle trafen Herr und Frau von Ayères in dem Wagen, welcher sie auf dem Bahnhofe erwartet hatte, gegen Abend auf Schloß Croix-Mort ein. Auf der Freitreppe stand Edmee und sah mit heftig pochendem Herzen und umflorten Augen die Kutsche durch die lange Lindenallee in raschem Trabe heranrollen. Während diese im Bogen vorfuhr, suchte das junge Mädchen in der anbrechenden Dunkelheit ihre Mutter zu erkennen, konnte jedoch nur zwei regungslose schwarze Gestalten unterscheiden. Jetzt hielt das Gefährt vor den Steinstufen still; eine Frau in langem Reisemantel und einer Spitzenkapuze um den Kopf stieg aus, und peinlich betroffen erblickte Edmee das bleiche, eingefallene Gesicht ihrer Mutter. Sie stürzte ihr entgegen, umfaßte sie im Fluge auf dem Trittbrett, hob sie, die so leicht wie ein Kind war, in die Höhe und ließ sie erst auf der Treppe los. Hier fiel sie ihr in die Arme und flüsterte, von Rührung überwältigt, mit zitternder Stimme: »Mama ... Mama! ...«

Frau von Ayères erwiderte die Liebkosungen ihrer Tochter mit gleicher Zärtlichkeit und sagte dann, sie mit sich fortziehend: »Komm, mein Herzchen, du hinderst Herrn von Ayères am Aussteigen.«

Diese wenigen Worte verscheuchten den Taumel, der sich Edmees bemächtigt hatte, und rasch trat sie zurück, um den Platz frei zu lassen. In einem tadellos eleganten Anzug von weiß und schwarz gewürfeltem Stoffe sprang der schöne Ferdinand aus dem Wagen. Er nahm die kleinen, auf den Sitzen umherliegenden Pakete heraus, der Schlag klappte zu und die Gebieter von Croix-Mort traten ins Haus, indes die Diener das Gepäck abluden.

In der hohen, gewölbten, mit dem Familienwappen geschmückten Vorhalle hielt Regine einen Augenblick still. Sie blickte bewegt umher, wie um dem alten Gebäude, in welchem sie so viele friedliche Jahre verlebt hatte, einen Willkommensgruß zu bieten. Alles war noch ebenso wie an dem Tage ihrer Abreise: die großen, geschnitzten Truhen aus Birnbaumholz bauchten sich längs der Wände, die Jagdtrophäen erinnerten noch immer an die Heldenthaten des Herrn von Croix-Mort und die breite Treppe eröffnete sich den Ankommenden, wie um sie gastlich zu empfangen.

Edmee, die, neben ihrer Mutter einhergehend, Herrn von Ayères hinter sich wußte, wagte es nicht, sich umzudrehen. Während der letzten Tage hatte sie sich wohl zwanzigmal die Frage gestellt: Welche Haltung soll ich ihm gegenüber einnehmen? Sie hatte sich ein ganzes Ceremoniell von kalter Zurückhaltung und strenger Höflichkeit ersonnen. Und nun waren alle ihre Vorsätze an der Aufregung des ersten Zusammentreffens gescheitert. Sie befand sich ihm gegenüber nicht mehr in derselben Lage wie früher, wo sie in seiner Anwesenheit schweigend im Salon saß und sich bloß zu einer halben Verbeugung zu erheben brauchte. Zudem gebrach es ihr im entscheidenden Augenblicke völlig an Geistesgegenwart, die Erregung hatte ihr die Sprache benommen und den Blick getrübt. Da sie ihm hartnäckig den Rücken kehrte, hatte sie kaum mit einem Seitenblicke bemerkt, daß der Feind einen Schritt gemacht, um sie zu begrüßen und sich vor ihr zu verbeugen. Aber sie vernahm den falschen, süßlichen Ton seiner Stimme, als er zu ihr sagte: »Wenn ich Sie nicht hier in Ihrem Hause gesehen hätte, glaube ich kaum, daß ich Sie wiedererkannt hätte. Ihre Mutter und ich haben ein Kind zurückgelassen und finden eine junge Dame wieder ...«

Dabei sah er sie mit einem Lächeln an, das ihr ungemein mißfiel, und wiederholte: »Eine reizende junge Dame!«

Schweigend verneigte sie sich. Frau von Ayères, deren Organ verändert und schrill klang wie ein altes Spinett, sagte: »Wir haben vor Tisch noch fast eine Stunde Zeit, die wir auf unsern Zimmern verbringen wollen.«

Während Regine langsam, sich auf das Eisengeländer stützend, schwer atmend die breite Treppe zum ersten Stockwerk hinaufstieg, eilte ihr kräftiger, munterer Gatte, eine Operettenmelodie trällernd, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Edmee öffnete die Thür, und die Baronin rief beim Eintreten, hocherfreut, die alten, lieben Möbel wiederzusehen: »Ah! Endlich wieder in meinem Zimmer ...«

Und nun begann sie hin und her zu gehen und strich mit der Hand über die Gegenstände hin, als wolle sie dieselben liebkosen.

Fräulein von Croix-Mort betrachtete sinnend, voll schmerzlicher Betroffenheit, ihre Mutter. War das dieselbe Frau, die vor kaum einem Jahre frisch, heiter, in Gesundheit strahlend, ausgegangen war, um ein neues Dasein zu beginnen? Ein Vierteljahrhundert schien über ihrem Haupte dahingegangen zu sein und ihrem Auge seinen Glanz benommen, ihre Schläfen mit Falten bedeckt, ihre Lippen farblos gemacht und ihr Haar gebleicht zu haben, denn es war matt und glanzlos und mußte gefärbt sein. Ihre schöne Gestalt hatte sich gebeugt, sie erschien kleiner und war heute nur noch der Schatten der ehemaligen Regine. Diese Frau, die sich in den friedlichen, stillen zwölf Jahren ihrer Witwenschaft ein so glänzendes, frisches Aussehen bewahrt, hatte binnen kurzem den jugendlichen Schein, der ihrer Reife so viel Reiz verliehen, völlig verloren. Heute würde man sie für viel älter gehalten haben, als sie in der That war.

Während die Baronin Handschuhe, Kopfbedeckung und Mantel ablegte, fühlte sich Edmee, die schweigend vor dem Kamin stand, von innigstem Mitleid ergriffen. Dahin also brachte ein Leben voll Vergnügungen und Festlichkeiten diejenigen, welche sich ihm leidenschaftlich Hingaben! Sie wurden arme, verwelkte, gebrechliche Wesen, die mit ihrer Gesundheit und ihrer Schönheit die aufreibenden Anforderungen eines Daseins bezahlten, das härter ist als irgend eine Berufsart, weil jene Müßiggänger größere Anstrengungen machen müssen, um sich umzubringen, als die Arbeitsamen, um zu leben.

Betroffen über das Schweigen ihrer Tochter, wendete sich Frau von Ayères ihr zu und sagte, als sie deren Augen starr auf sich gerichtet sah, mit erzwungenem Lächeln: »Du findest mich ein wenig verändert, nicht wahr? Ich war in der letzten Zeit leidend, die Seeluft bekam mir schlecht. Die Ruhe des Landlebens wird mich wiederherstellen ... Komm doch ein wenig her zu mir, mein Kind ... Wie groß und stark du geworden bist! ... Der Baron hat recht: du bist kein kleines Mädchen mehr, du bist schon ein Fräulein ... Freut es dich, mich wiederzusehen? Komm, gib mir einen Kuß! ...«

Bei diesen liebevollen Worten strömte Edmees von Thränen geschwelltes Herz über, die schmerzliche Spannung der Nerven löste sich, sie warf sich mit einem leisen Ausruf in die Arme ihrer Mutter, lehnte den Kopf an deren Schulter und begann zu weinen.

»So beruhige dich doch, Kind!« sagte die Baronin, auf die Edmees Aufregung einen tiefen Eindruck machte. »Wunderliche Kleine! Sie weint, wenn ich abreise, und auch, wenn ich zurückkehre!«

Edmee schüttelte das Haupt und sagte, unter Thränen zu ihrer Mutter aufblickend: »Heute sind es andre Thränen.«

Liebkosend strich die Baronin mit ihren abgemagerten Fingern über den schwarzen Scheitel ihrer Tochter, trocknete ihr die Augen mit ihrem Spitzentuch, und wahrend sie dieselbe noch immer umschlungen hielt, fragte sie: »Da wirst also jetzt vernünftig sein? Wirst mir keinen Kummer mehr bereiten? Du weißt doch, was ich sagen will, nicht wahr?«

Und als das junge Mädchen den Mund öffnete, um zu antworten, verschloß sie ihr diesen mit der Hand und fuhr mit bittendem Blicke fort: »O, nur keine Auseinandersetzungen, keine Rückblicke! ... Ich bitte dich! ... Ich bin nicht sehr stark ... verschone mich ... und komme meinen Wünschen entgegen, ohne mir den Schmerz aufzuerlegen, es von dir fordern zu müssen ... Ich werde dir dafür sehr dankbar sein und dich sehr lieb haben! ... Es war dies meine einzige Sorge, als ich hierherkam, mein Herzchen! Ich sehnte mich, wieder in Croix-Mort zu sein, dich wiederzusehen, aber ich fürchtete ... Nun denn, sage mir jetzt, daß ich mit meiner Besorgnis unrecht hatte, und daß derjenige, der heute mit mir hierherkam, dir willkommen ist, und daß du ihm ein freundliches Gesicht zeigen wirst ... Mehr verlange ich nicht von dir ... Bloß eine einfache Neutralität ... Du hast einen starken Charakter, lege dir daher diese Pflicht auf ... Du wirst damit für meine Gesundheit und meine Ruhe alles gethan haben, was ich von einem so lieben Kinde, wie du es bist, erwarten darf.«

Die Baronin war während des Sprechens in Erregung geraten. Eine leise Röte bedeckte ihre Wangen, ihre Augen glänzten, sie hielt die Hände ihrer Tochter krampfhaft fest und mehr als ihre Worte flehten ihre Blicke; sie lag moralisch auf den Knieen vor ihr. Edmee fühlte, wie die arme Frau heftig zitterte; sie las die Angst aus ihren Zügen und ahnte, daß dies klopfende Herz einen Abgrund von uneingestandenem Weh in sich berge. In diesem Augenblicke schwand all ihr Groll dahin, und nur ein unendliches Mitleid und liebevolles Erbarmen verblieb in ihrer Seele für ihre Mutter, von der sie nun wußte, daß sie wirklich unglücklich sei. Ihr männlicher Geist faßte den Entschluß, sie zu trösten, zu verteidigen. In ernstem Tone erklärte sie: »Fürchte nichts, ich bin bereit zu allem, was du wünschest. Wenn du in Zukunft Kummer haben solltest, so wird er nicht von mir kommen, und du kannst sicher sein, in mir stets ein ergebenes, folgsames Kind zu finden.«

»O, mein Kind,« rief Frau von Ayères, »wie danke ich dir! Welche Last nimmst du von meinem Herzen! ... Sage auch, daß du mich lieben wirst; ich bedarf dieser Liebe ...«

Edmee warf ihr einen Blick zu, der ihr bis in die Seele drang, und da sie sie unruhig die Blicke wegwenden sah, wie um ein Geheimnis zu verbergen, sagte sie: »Ja, Mama, ich werde dich lieben.«

Aber schon fing die Baronin, vielleicht der Leichtfertigkeit ihres Geistes folgend, vielleicht von dem Wunsche erfüllt, den Verdacht ihrer Tochter abzulenken, lebhaft zu plaudern an: »Wir erwarten morgen Gäste, wie ich dir in meinem Briefe angezeigt. Amüsante Menschen, die mehrere Tage bei uns bleiben werden ... Man braucht auf dem Lande ein wenig Anregung ... Jetzt ist die Jagdsaison, und ganz Paris weilt auf den Schlössern ... Vor Januar kehrt man nicht zurück ... Wir werden demnach Zeit haben, uns auszuruhen ... Ich bin gewiß, daß unsre Freunde dir gefallen werden! O, die lassen keinen Trübsinn zu; du sollst sehen, da werden die Pferde nicht zur Ruhe kommen, die Klaviere nie schweigen, die Tafeln stets besetzt sein! ... Reiten, essen, tanzen, und mit welchem Eifer, welchem Feuer, welcher Hingabe! ... Es wird reizend sein! ...«

Sie setzte sich ganz außer Atem nieder, als habe sie eben alle Vergnügungen genossen, die sie aufgezählt, und wiederholte: »Reizend! ... Reizend! ...«

Edmee fand kein Wort der Erwiderung, sie war völlig fassungslos über diesen unvermittelten Uebergang von tiefer Betrübnis zu solchem Frohsinn, der ihr den Eindruck machte, als ob die Gedanken ihrer Mutter in buntem Durcheinander umherwirbelten, wie die bunten Glasstücke eines Kaleidoskops. Sie fragte sich, ob die arme Frau vielleicht den Verstand verloren habe, oder ob sie bloß, von den bei der Rückkehr in ihr Haus empfundenen Gemütsbewegungen überwältigt, sich zu zerstreuen suche.

»Ich finde, daß du recht ärmlich gekleidet bist,« hub Frau von Ayères mit großer Zungengeläufigkeit wieder an. »Hast du nichts Hübscheres zum Anziehen? Ach, ich hätte diesem Mangel vorbeugen müssen, mein Liebling, und dir vor meiner Abreise aus Paris einige Toiletten bestellen sollen ... Ich habe gar nicht daran gedacht ... Glücklicherweise sind wir von gleichem Wuchse ... Du wirst in meinen Koffern etwas Passendes finden ... Ich habe Anzüge, die ich noch nicht getragen und welche dich gewiß vorzüglich kleiden werden ... Ich wünsche, daß du möglichst hübsch aussiehst.«

Während des Gespräches hatte die Baronin ihren Anzug gewechselt und ein schwarzes, kostbares Kleid angelegt. Den Busenausschnitt sollte ein Strauß natürlicher Blumen schmücken, den die Kammerjungfer eben gebracht hatte. Sie nahm eine Rose aus demselben, trat auf ihre Tochter zu und wollte sie ihr ins Haar stecken.

Edmee wies sie zurück.

»Nein, ich bitte dich ... Lasse mich so, wie ich bin. Ich würde herausgeputzt aussehen und könnte dadurch nur verlieren.«

Die Tischglocke ertönte. Das junge Mädchen ergriff den Arm ihrer Mutter und beide stiegen in den Salon hinab. Herr von Ayères erwartete sie bereits, festlich gekleidet, wie für eine Abendgesellschaft: schwarzer Anzug und Lackschuhe, nur die schwarze Halsbinde deutete den intimen Charakter an. Die Thür des Speisesaals öffnete sich jetzt und ein Haushofmeister, der mit dem Gepäck aus Paris eingetroffen war, meldete in stolzer, feierlicher Haltung, voll ernster Würde, daß angerichtet sei.

Der Baron reichte Regine ceremoniös den Arm, Edmee folgte allein. Sie war von dem Lichterglanz, dem Funkeln der Silbergeräte, der Blumenpracht völlig befangen und fragte sich, ob sie nicht etwa träume. War dieser Saal derselbe, in welchem sie seit fast einem Jahre ihre Mahlzeiten einnahm, bloß von einer alten Magd bedient? Würde all dieser schimmernde Zierat nicht plötzlich verschwinden und sie wieder ihrer Ruhe und ihrer liebgewordenen Einsamkeit von gestern überlassen? Nichts rührte sich. Das Wunder war Wirklichkeit, und Edmee mußte sich gewöhnen, fortan in dieser Weise zu leben.

Ihre Mutter und der schöne Ferdinand saßen einander gegenüber, plauderten lebhaft und gaben sich den Anschein großer Heiterkeit, als wünschten sie damit ihre Gemütsruhe und Zufriedenheit an den Tag zu legen. Man fühlte indes den Zwang heraus, den sie sich auferlegten. Edmee dachte: Wenn sie allein sind, wechseln sie kein Wort miteinander. Diese gemachte Fröhlichkeit soll mir beweisen, daß liebevolle Vertraulichkeit zwischen ihnen herrscht. Bedauernswerte Schauspieler, die selbst hier am Familientisch vor einem Kinde ihre Rolle spielen!

Die Mahlzeit zog sich langsam hin, als wären zwanzig Gäste zugegen gewesen. Fräulein von Croix-Mort bemerkte, daß der Baron ungemein viel aß und trank. Den Kaffee lehnte er ab, weil man, wie er lachend sagte, auf dem Lande sei und frühzeitig zu Bette gehen und schlafen müsse. Er bestritt jetzt ganz allein die Unterhaltung. Frau von Ayères fühlte sich sehr matt, ihre Nerven hielten sie nicht mehr aufrecht und ihre erzwungene Laune verging wie Champagnerschaum.

Mit wahrer Erleichterung erhob man sich endlich. Die Fensterthüren des Salons standen offen. Es war eine milde, sternenglänzende Nacht. Traurig blickte Edmee zum Himmel empor. Alles war verändert in ihrem Leben, doch am Firmamente herrschte dieselbe Ordnung; dieselben Sterne, die während ihrer freundschaftlichen, friedlichen Unterhaltungen mit dem Pfarrer gefunkelt hatten, gossen auch heute milden Schein auf ihre Stirne herab.

Herr von Ayères hatte eine Cigarre angezündet und durchmaß die Terrasse mit regelmäßigen Schritten. Regine ging im Salon umher, ordnete die zierlichen Nippesgegenstände auf den Etageren und die Blumen in den Vasen, welche die Pfeilertischchen schmückten. Nach einer kurzen Weile schritt sie auf die Freitreppe hinaus und winkte ihren Gatten mit einer Handbewegung zu sich. Dieser kam ohne sonderliche Eile herbei, blieb auf der untersten Stufe stehen und hörte hier mit ziemlich verdrießlicher Miene, was Regine ihm sagte, nickte schließlich mit dem Kopfe als Zeichen der Einwilligung und warf seine Cigarre weg. Frau von Ayères begab sich hierauf in das angrenzende Gemach und setzte dort ihre Musterung fort, indes der schöne Ferdinand sich im Salon an einem Tische niederließ, ein Album zur Hand nahm und zerstreut in demselben blätterte. Edmee arbeitete mit niedergeschlagenen Augen an einer Häkelei, beobachtete aber trotzdem sehr genau das Gebaren des Barons, dank der kostbaren Gabe, welche die Frauen besitzen, nie besser zu sehen, als wenn sie gar nichts zu bemerken scheinen.

Herr von Ayères musterte aus der Ferne das Mädchen, wie ein Feldherr die feindliche Stellung, ehe er zum Angriff schreitet. Er fand Edmee in den wenigen Monaten sehr zu ihrem Vorteile verändert. Ihre magere Gestalt war voller geworden, die Schultern zeigten eine schöne Rundung und auf dem schlanken, feinen Halse saß ein kleines, stolzes Köpfchen, von einem Paar schimmernder Samtaugen erhellt. Unter ihrem schwarzen Haar blinkten allerliebste, rosige, wohlgeformte Ohren hervor, wahre Bijoux, die kein Goldreif entstellte. Ihre ein wenig von der Luft gebräunten Hände waren zart und fein, und ein schön geschweifter Fuß trat unter dem Rande ihres Kleides hervor. Mit einem Funken von Koketterie wäre sie bezaubernd gewesen; in ihrer Schlichtheit war sie anbetungswürdig.

Ihre Züge hatten noch immer denselben entschlossenen, fast drohenden Ausdruck, den er vor seiner Verheiratung an ihr wahrgenommen hatte. Er war sich bewußt, daß sie ihm eine stumme, aber hartnäckige Feindseligkeit entgegenbrachte, die sehr schwer zu besiegen sein würde. Doch schrak er keineswegs davor zurück, so leicht war er nicht einzuschüchtern.

Er erhob sich, als habe er einen Entschluß gefaßt, und ging auf das junge Mädchen zu. Sie sah ihn den Salon durchschreiten und herankommen. Eine heftige Erregung ergriff sie, indes er lächelnd sein Auge auf ihr ruhen ließ. Nun machte sie eine rasche Bewegung, um aufzustehen und zu entfliehen. Aber schon war er an ihrer Seite und verbeugte sich mit achtungsvoller Ehrerbietung, sie blieb auf ihrem Platze, bleich, mit beklommenem Atem.

»Wollen Sie mir einige Augenblicke gewähren,« begann er, »und ohne Scheu mit mir plaudern?«

Er nahm auf einem Sofa an ihrer Seite Platz.

»Wir sind nun zurückgekehrt, Ihre Mutter und ich, zu Ihnen, in dieses Haus, dessen Namen Sie tragen ... Ich wäre glücklich, wollten Sie mich als Freund betrachten ... Sie haben mir viel zu verzeihen. Ich weiß, daß ich in ein zartfühlendes, kindliches Herz, wie das Ihre, unwillkürlich Unruhe und Verwirrung brachte. Es würde mir sehr lieb sein, könnte ich dieses mein Verschulden wieder gut machen und Sie durch meine Anhänglichkeit vergessen lassen, daß mein Eintritt in Ihre Familie Ihnen Schmerz verursachte.«

Er sprach mit halbgeschlossenen Augen, als ob er befürchte, Edmee zu erschrecken, wenn er ihr voll ins Gesicht sähe. Sie hingegen ließ ihren Blick mutig auf ihm ruhen.

»Hat meine Mutter Sie bewogen, in dieser Weise mit mir zu sprechen?« fragte sie rund heraus.

Wohl fühlte er sich von der Schroffheit dieses Angriffs betroffen, doch geriet er keineswegs außer Fassung.

»Jawohl,« entgegnete er, »es ist in der That Ihre Mutter, die es ebenso lebhaft wünscht als ich selbst, ein gutes Einvernehmen zwischen uns walten zu sehen.«

»Sie hat an mich die gleiche Bitte gerichtet,« erklärte Edmee, »und ich habe mich aus Liebe zu ihr zu allem verpflichtet. Hat sie Ihnen das nicht gesagt?«

»Sie sagte mir, daß Sie sich ihr gegenüber gut und liebevoll erwiesen, und ich wollte Ihnen dafür danken.«

»Gut, das ist nun geschehen!«

Diese Worte klangen so scharf, daß er ein wenig errötete.

»Wollen Sie mir nicht,« fügte er hinzu, »die Hand reichen, als Zeichen unsrer Einigkeit?«

Fräulein von Croix-Mort zauderte einen Augenblick. Der ganze Widerwille, den sie gegen Ferdinand hegte, stieg ihr wie eine bittere Flut zu den Lippen empor. Sie hätte ihm am liebsten ein »Nein« ins Gesicht geschleudert, so beleidigend wie ein Schlag, aber sie sah, daß ihre Mutter sie bleich und angstvoll beobachtete. Sie gedachte ihres Vorsatzes, der armen Frau keinen Kummer zu bereiten; so wendete sie denn die düstere Stirn zur Seite und reichte ihm die Fingerspitzen. Er murmelte ein »Danke« und lächelte aus der Ferne Regine zu, wie um zu sagen: Du siehst, daß ich mich deiner Laune gefügt habe. Hierauf zündete er sich eine Cigarre an und begab sich wieder auf die Terrasse hinaus.

Regine umfaßte ihre Tochter, drückte sie zärtlich an sich, ohne durch ein Wort die Innigkeit dieser Danksagung zu verringern; dann stieg sie, auf Edmees Arm gestützt, nach ihrem Zimmer hinauf.

Als das junge Mädchen zögernd an der Schwelle stillhielt, sagte Frau von Ayères: »O, du kannst immerhin eintreten, du genierst mich nicht ... Der Baron wird im Turm wohnen.«

Die bezeichnete Wohnung lag auf der andern Seite des Schlosses. So hatte sich Edmee also nicht getäuscht, als sie eine Uneinigkeit zwischen den Gatten zu erraten glaubte. Sie waren in der That getrennt. Sie empfand darüber eine Erleichterung; der Gedanke, daß die beiden in diesem Hause ein gemeinschaftliches Leben führen sollten, hatte sie empört. Nun fühlte sie sich mehr geneigt, ihre Mutter zu lieben. Sie plauderte noch eine Weile, gab verschiedene Aufschlüsse über den Stand der Wirtschaftsangelegenheiten, schützte hierauf Müdigkeit vor und zog sich zurück.

In ihrem Zimmer angelangt, öffnete Fräulein von Croix-Mort, anstatt zu Bett zu gehen, das Fenster und blieb sinnend vor demselben stehen. Ein Sturm hatte sich erhoben und brauste mit großer Heftigkeit in dem Dickicht des Parkes. Sie vermochte jetzt nicht mehr den regelmäßigen Schritt des Barons zu vernehmen, der auf der Terrasse unter ihr immer noch auf und nieder wandelte; deutlich unterschied sie jedoch das glühende Ende der Cigarre, das wie ein roter Punkt erschien, und allmählich lösten sich ihre Gedanken los von allem, was sie umgab, und ihre Einbildungskraft trug sie aus dem Schlosse hinweg in weite Fernen.

In einem entsetzlichen Traumgebilde sah sie sich auf einer Barke und der rote Punkt schien ihr ein Leuchtfeuer zu sein. Voll Besorgnis fragte sie sich, was dieser Flammenschein zu bedeuten habe. Sollte sie ihn als Warnung gegen verborgene Klippen auffassen, an denen zu scheitern sie in Gefahr schwebte? Oder war im Gegenteil dieser bewegliche Feuerschimmer dazu bestimmt, sie irrezuführen und sie an gefährliche Felsen heranzulocken? In dem Rauschen der von der Windsbraut geschüttelten Baumkronen glaubte sie das Heulen des Meeres zu vernehmen. Die Täuschung nahm alsbald ihre Sinne völlig in Besitz, und mitten in der Finsternis, die, undurchdringlicher als das nächtliche Dunkel, ihre Seele umgab, war es ihr, als ob sie auf tiefen, dunklen Meereswogen ohne Mast und Steuer schwankend einhertriebe. Wo sollte sie landen? Wohin sich wenden? Auf wen durfte sie zählen, wer sollte sie verteidigen? Konnte etwa jene unglückliche Frau, ihre Mutter, die selber so schwach und wankelmütig war, ihr Hilfe leisten? Sie sah das hohnlachende Gesicht Ferdinands, beleuchtet von jenem roten Feuerschein, der sich hin und her bewegte, nach rechts und nach links, gleich jenen Feuerzeichen, welche die bretagnischen Strandräuber an den Köpfen der Rinder befestigen, die sie dann auf den Felsenklüften langsam hin und wieder führen, um die Schiffer irrezuleiten und an verborgenen Riffen scheitern zu lassen.

Sie ahnte, daß jener Mann einen unheilvollen Einfluß auf ihr Leben ausüben werde. In Todesangst bemühte sie sich, der Gefahr, die sie bedrohte, eine bestimmte Form zu geben. Umsonst; ein Dunkel, das sie nicht zu durchdringen vermochte, umnachtete ihr Denken; es blieb ihr alles unklar, verschlossen. Und so lag sie da, die Ohren von dem Brausen des Sturmes erfüllt, wachend und dennoch einem quälenden Traum machtlos anheimgefallen. Jetzt riß sie sich endlich los, strich mit der Hand über die Stirn, zwang sich, die Blicke auf eine bestimmte Stelle zu richten, um sich dem schmerzlichen Schreckbilde ihrer Phantasie zu entziehen, und es gelang ihr, das weiße, unbewegliche Steingeländer der Terrasse ins Auge zu fassen.

»Ich bin wahrhaftig nicht bei Sinnen, der Sturm muß mich betäubt haben,« murmelte sie. Dann schloß sie das Fenster, trat in die Stube zurück und begab sich zu Bette. Peinliche Gedanken hielten sie jedoch wach, sie konnte keinen Schlaf finden. Immer war es Ferdinand mit seinem heuchlerischen Lächeln, der nicht von ihr weichen wollte. Er sah sie von der Seite an, wie er es am Abend gethan. Und dieser Blick verdroß sie; es lag ein Ausdruck von Bewunderung darin, der ihr hassenswert dünkte. Er schien zu sagen: »Ich bin ja doch frei, es besteht kein Band mehr zwischen Ihrer Mutter und mir ...« Dann suchte sie zu ergründen, was wohl die beiden in so kurzer Zeit einander entfremdet hatte.

Was war während ihrer Abwesenheit zwischen ihnen vorgefallen? Das erschlaffte, gebrochene Wesen ihrer Mütter verriet die Spuren eines grausamen Kummers; sein Aussehen hingegen war sorglos, blühend, heiter. Er mußte mithin der Schuldige sein, aber ohne sich Vorwürfe zu machen.

Wie von Fieber gepeinigt, warf sich Edmee unruhig auf ihren Kissen umher, und erst als der anbrechende Morgen die Fenster erhellte, fand sie Ruhe.


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