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Sechzehntes Kapitel

Als Fräulein von Croix-Mort nach sechswöchentlicher Krankheit wieder zum Bewußtsein gelangte, sah sie an ihrem Lager ihre Mutter in tiefer Trauer und die alte Rosalie gleichfalls in Schwarz gekleidet. Man teilte ihr mit, daß sie eine Gehirnentzündung gehabt habe; als sie aber noch weitere Fragen stellen wollte, legte man ihr Schweigen auf. Sie sollte nicht denken, nur ruhen und ein bloß animalisches Leben führen, weil sonst ein Rückfall eintreten könnte.

Während einiger Tage blieb sie in einer Art von Schlafsucht versunken und bemühte sich, die Schlaffheit zu besiegen, die sie niederdrückte, was ihr indes nicht gelingen wollte, da es ihr schwer fiel, auch nur die abgemagerten Arme in die Höhe zu heben. Sie suchte ihre Gedanken aus ihrem leeren Kopfe wie aus dem Grunde eines Brunnens heraufzuholen, und da fand sie denn eine einzige Sorge, welche sie unausgesetzt quälte: es war die, zu wissen, was aus Billet geworden.

Jedesmal, wenn sie seinen Namen aussprach, fing ihre Mutter zu weinen und zu seufzen an. Rosalie nahm dann eine ernste Miene an und sagte: »Gnädiges Fräulein, Sie betrüben Ihre liebe Frau Mutter mit Ihren Fragen.«

Hierauf schwieg Edmee und dachte: Warum wollen sie mir nicht antworten? Was verheimlicht man mir?

Ein einziges Bild schwebte unablässig vor ihren Augen. Es war Billet, wie er, dunkelblau, halb erwürgt, dem Tode nahe, im Schnee mit Ferdinand rang, als der Knall einer Schußwaffe ertönte ... Sie vernahm den Schuß, sah das Feuer, das war alles ... Und dann ... Nichts! ... Sie strengte sich vergebens an, zu ergründen, was später geschehen, aber sie konnte sich aus dem undurchdringlichen Dunkel nicht herauswinden. Der schlechte Mann mußte tot sein; für ihn trug man wohl Trauer. Was aber war aus Billet geworden?

Der beginnende März brachte wieder warmen Sonnenschein, die Luft war mild und der Arzt erlaubte, daß die Kranke aufstehe. Sie wurde an das Fenster getragen und erblickte voll Freude die Terrasse und den Teich, auf welchem die schönen Schwäne ruderten, sowie die dunklen Baumgruppen des Parkes. Ihre Mutter saß, ein Zeitungsblatt lesend, neben ihr. Plötzlich entfuhr ihr ein halberstickter Klageton, sie erbleichte, schleuderte das Blatt voll Entsetzen weit fort und eilte, das Gesicht in ihr Taschentuch vergrabend, davon.

Erstaunt sah Edmee auf die Zeitung, die etliche Schritte von ihr entfernt zu Boden gefallen war. Sie ahnte, daß dieselbe die von ihr gesuchte Erklärung enthielt. Mit vieler Mühe erhob sie sich, that schwankend einige Schritte, nahm das Blatt zur Hand, kehrte zu dem Ruhebett zurück und fing zu lesen an.

Plötzlich wurden ihre Augen von dem Namen Billet unwiderstehlich angezogen. In der Rubrik: »Aus dem Gerichtssaale« las sie folgende Zellen: »Nächste Woche gelangt der Prozeß des Forsthegers Jean Billet, welcher angeklagt ist, seinen Herrn, den Baron Ayères, getötet zu haben, vor die Geschworenen ...«

Edmee erhob sich ungestüm und stieß einen Schrei aus, der die Baronin und Rosalie herbeirief. Mit blitzenden Augen wies sie auf das Zeitungsblatt: »Hast du gelesen, was hier steht?« fragte sie, sich an ihre Mutter wendend.

Und als diese stöhnend und klagend zurückwich, fuhr sie fort: »Man soll mir augenblicklich einen Polizeibeamten holen. Ich werde einen Unschuldigen nicht verurteilen lassen ... Nein! Nein! Jean Billet ist an dieser Mordthat unschuldig ... Dies ist die Hand, die getötet hat!«

Mit düsterer Miene schüttelte sie die Hand, als sähe sie dieselbe voll Entsetzen von Blut triefen.

Frau von Ayères stieß einen Angstschrei aus und entfloh. Rosalie bemühte sich vergeblich, Fräulein von Croix-Mort zu beruhigen. Statt eines Beamten verlangte sie jetzt nach dem Abbé und bestand mit solcher Heftigkeit auf ihrem Wunsch, daß man ihr nachgeben und denselben holen mußte.

Als der Pfarrer gegen Abend erschien, traf er das junge Mädchen in einem Zustande furchtbarer Aufregung. Er mußte ihr alles, was vorgefallen, erzählen: sein Zusammentreffen mit Billet, der die Ohnmächtige in seinen Armen nach dem Schlosse getragen, das freiwillige Geständnis des Alten, welcher erklärte, daß er soeben Herrn von Ayères erschossen habe, seine Gefangennahme, und wie er dann während der Untersuchung beharrlich sich zu der That bekannt habe.

Das Verbrechen hatte keinen Zeugen gehabt, da die Anwesenheit des Fräuleins von Croix-Mort von Billet verheimlicht wurde. Holzknechte sagten aus, daß sie den Leichnam des Barons auf dem Wege nach Clairefont gefunden und neben ihm die Flinte des Hegers, aus welcher bloß ein einziger Schuß abgefeuert worden war.

Der Geistliche hatte die Verschwiegenheit des angeblichen Mörders nachgeahmt. Er wußte, daß der treue Diener entschlossen war, selbst um den Preis seines Lebens jeden schimpflichen Verdacht von Fräulein von Croix-Mort abzuwenden. So oft er auch, von Gewissensbissen gefoltert, auf dem Punkte gewesen war, die Wahrheit zu offenbaren, hatte er doch geschwiegen.

Edmee hatte den Pfarrer angehört, ohne ihn mit einem einzigen Worte zu unterbrechen. Als er zu Ende war, schüttelte sie das Haupt und Thränen entströmten ihren Augen: »Und Sie konnten eine solche Ungerechtigkeit zugeben?« klagte sie. »Sie hielten es für möglich, daß ich dies billigen und ein derartiges Opfer annehmen würde? Armer Billet! So gut und so treu! Jetzt ist's an mir, das Uebel gutzumachen, das er freiwillig auf sich genommen. Rufen Sie meine Mutter ... Man soll anspannen ... Sie selbst, Herr Pfarrer, werden mich zum Staatsanwalt geleiten ...«

»Aber, liebes Kind, in dem Zustande, in welchem Sie sich befinden, heißt das, Ihre Gesundheit aufs Spiel setzen ...«

»Billet setzte seinen Kopf aufs Spiel ...«

»Sie haben noch nicht die Kraft zu einer solch langen Fahrt ...«

»Gott wird mir sie verleihen.«

Und in Gegenwart ihrer vor Schrecken stumm und regungslos dastehenden Mutter bestiegen Edmee und der Pfarrer den Wagen und fuhren davon.

In der folgenden Woche wurde Billet von dem Schwurgericht freigesprochen. Das Verfahren gegen Fräulein von Croix-Mort wurde auf Befehl des Justizministers nicht eingeleitet. Die Umstände, unter welchen der Tod des Herrn von Ayères erfolgte, wurden in richterlichen Kreisen bekannt, aber die Energie und Aufrichtigkeit, welche Edmee an den Tag gelegt, erwarben ihr die Sympathieen aller.

Das junge Mädchen, das moralisch und physisch so sehr gelitten, konnte sich nur schwer erholen. Sie siechte, schwach und bleich, lange Zeit dahin. Es war, als sei die Quelle ihrer Kräfte erschöpft.

Als man sie in der Umgegend wiedersah, war ihr Haar gebleicht; zwischen ihr und ihrer Mutter war auf den ersten Blick kaum mehr ein Unterschied.

Die beiden Frauen lebten nach wie vor auf Schloß Croix-Mort, das sie nur an Sonntagen, wenn sie zur Kirche gingen, verließen; sie blieben traurig, kalt und schweigsam, für immer einander entfremdet, denn zwischen ihnen stand trennend der Schatten des schönen Mannes mit dem goldblonden Bart.

Ende.


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