Max Nordau
Französische Staatsmänner
Max Nordau

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Jules Simon

Es gibt vielleicht ganz einheitliche, ganz eindeutige Naturen, aber sie stehen außerhalb der uns bekannten Menschheit, und wir glauben nicht an sie. Es entspricht nicht der Arbeitsmethode des Gattungsgenius, Individuen bloß aus Gemeinheit oder bloß aus Tugend und Heldentum herzustellen. Im Paradiese Mohammeds hat das Bein eines Verbrechers Platz gefunden, der einmal einem angebundenen Esel mit dem Fuß ein Heubündel näherschob, wonach das hungernde Tier vergebens den Hals reckte. Der Bösewicht hatte einmal im Leben auch eine gute Regung. Die katholische Kirche wartet mit der Heiligsprechung grundsätzlich bis zum Tode des letzten Zeitgenossen der Person, der sie den Strahlenkranz um das Haupt flechten will. Der Heilige hatte auch einmal einen Augenblick der Menschenschwäche, und die es bezeugen können, müssen erst verschwinden, ehe ihm Altäre geweiht werden. Wahr, begreiflich und darum fesselnd erscheinen uns nur die gemischten Naturen, die Licht und Schatten in richtigem Verhältnis vereinigen. Den Schatten begrüßen wir als das Erwartete, das Selbstverständliche, worin wir die uns bekannte Menschlichkeit wiederfinden, das Licht geben wir um der Schatten willen leichter zu. Diese und ähnliche Gedanken weckt der Anblick des Hauses Nummer 10 an der Place de la Madeleine, wo Jules Simon 51 Jahre lang gewohnt hat. Nicht in derselben Wohnung, das sei sofort hinzugefügt. Als kleiner Dozent mietete er einige enge Hofzimmer eine Treppe hoch. Als außerordentlicher Professor erhob er sich auf den zweiten Stock. Als berühmter Abgeordneter, Redekünstler, Schriftsteller, Minister erklomm er das oberste Stockwerk und erlangte das formale Recht, von der Dachkammer zu reden, in der er hauste. Ganz richtig: es war eine Dachkammer fünf Treppen hoch, unmittelbar unter dem Speicher. Aber die »Mansarde« umfaßte zehn Zimmer, sie hatte Raum für eine Bücherei von 25 000 Bänden, einen Balkon von dreißig Schritt Länge, die märchenhafte Aussicht auf die Madeleinekirche und die Flucht der Boulevards bis zum Knick etwa an der Oper auf der einen und bis zur St. Augustinkirche auf der anderen Seite, sie kostete 5000 Fr. jährlich und war nur darum so billig, weil der kluge Mieter einen langjährigen Vertrag zu einer Zeit geschlossen hatte, als der Mietzins niedrig stand, und sie war um ihrer Bequemlichkeit und unvergleichlichen Lage willen der Gegenstand des Neides all seiner Besucher. Diese Dachkammer war ein Sinnbild des Charakters und Lebens ihres vieljährigen Bewohners. Sie schien dürftig und war reich bis zur Üppigkeit. Sie tat demütig proletarisch und war raffiniert patrizisch. Diese Pose der Bescheidenheit, der Verkleidung in das Mäntelchen eines irreführenden gefälligen Wortes finden wir fortwährend bei Jules Simon. Er war eben eine gemischte Natur, und das macht ihn unterhaltlich.

Er hat in seinem langen Leben viele und große Erfolge gehabt. Das ist immer ein Beweis von Begabung und Kraft. Nur der oberflächlichsten Betrachtung wird der Erfolg sich als reine Glückssache darstellen. Auch der günstigste Zufall will benutzt sein, und die richtige Benutzung setzt mindestens Raschheit des Urteils, Gewandtheit im Zugreifen, Entschlossenheit im Festhalten voraus, und das sind Vorzüge. Es sind die Vorzüge, mit denen Jules Simon für den Kampf ums Dasein ausgerüstet war.

Jules Simon war 1814 in Lorient geboren und starb 1896 in Paris. Seine Anfänge waren rührend. Er war ein Bettelstudent. Als Gymnasiast in der bretonischen Stadt Vannes gab er Stunden, die ihm mit 3 Fr. monatlich bezahlt wurden. Freilich konnte er vier Schüler zugleich unterrichten, und so brachte ihm die Stunde tatsächlich 12 Fr. monatlich. Er hatte ihrer zwei, also 24 Fr. Einkommen. Für Wohnung und Kost mußte er aber einer alten Witwe 25 Fr. bezahlen, und der eine fehlende Frank erlangte für ihn beinahe eine tragische Bedeutung, bei der er in seiner Lebensgeschichte sehr wirksam verweilt. Die Bedrängnis dauerte indes nicht lange. Er erhielt vom Departement ein Stipendium von 200 Fr. und konnte nicht nur den Fehlbetrag decken, sondern sich auch den Luxus flotter Kleider und Schuhe genehmigen.

Seine erste starke Tat war, daß er sich einen Gönner gewann. Das war Victor Cousin, ein großer Mann in seinen Tagen. Jules Simon kam mit 39 Fr. und einigen lauen Empfehlungen nach Paris, wo er keine Seele kannte. Cousin nahm ihn wohlwollend auf, machte ihn zu seinem Sekretär und Mitarbeiter, erleichterte ihm den Eintritt in die Ecole Normale, verschaffte ihm die ersten Gymnasiallehreranstellungen, erwirkte dann seine Ernennung zum Professor der Philosophiegeschichte an der Sorbonne, öffnete ihm die vornehmsten Zeitschriften und hinterließ ihm bei seinem Tode seine wertvolle Büchersammlung von 20 000 Bänden. Er ebnete ihm also die amtliche und schriftstellerische Laufbahn auf ihrer schwierigsten Strecke. Er förderte ihn wie keinen andern seiner Jünger und Höflinge. Er schenkte ihm sogar einen Namen.

Denn Jules Simon war der Sohn eines lothringischen Juden, der ursprünglich Simon Schweizer geheißen hatte, dann von den Bauern seines Wohnorts Loudrefing Suisse genannt worden war und diesen Namen beibehielt, als er nach Lorient zog und dort, in der kleinen bretonischen Hafenstadt, einen Kramladen auftat. Die Nachbarn nannten ihn nur den Vater Simon, und sein Sohn Jules François unterzeichnete seine erste schriftstellerische Arbeit mit dem Namen Jules Simon-Suisse. Victor Cousin sah diese Unterschrift und strich mit entschlossenem Zuge das Wort Suisse. »Niemals«, rief er, »werden Sie mit dem Namen Simon-Suisse berühmt werden. Das ist kein Name, der geeignet ist, hominum volitare per ora« (von Mund zu Mund der Menschen zu fliegen). Und er veranlaßte ihn, sich nur Jules Simon zu nennen.

Für all die Liebe, die er von Cousin erfahren, hat Jules Simon sich dankbar erwiesen. Er hat seine Werke herausgegeben, die ein Denkmal der Nichtigkeit, Flachheit und Geistesöde dieses sogenannten Philosophen sind, und er hat in seinen Erinnerungen liebevoll verzeichnet, wie eitel, wie hochmütig, wie knickerig, wie gewissenlos, wie unehrlich er war. Schon als Victor Cousin auf der Höhe seines Ruhmes stand, als er Pair von Frankreich war, im Unterrichtsministerium unbegrenzten Einfluß hatte, die Universität und die Akademie beherrschte, sagte man ihm nach, daß er von erhabener Unwissenheit sei und alle jungen Talente für sich arbeiten lasse. »Die Werke des Herrn Cousin«, spottete Heinrich Heine 1835, »sind so kolossal, so erstaunlich, daß das Volk nie begriff, wie ein einziger Mensch dergleichen vollbringen konnte, und es entstand die Sage, daß die Werke, die unter dem Namen dieses Herrn erschienen sind, von mehreren seiner Zeitgenossen herrühren.« In demselben Aufsatze stellt Heine fest, daß Cousin, der Ausleger der Werke Kants, die Barni erst später ins Französische übersetzen sollte, kein Wort Deutsch verstand, und fährt fort: »Ich will dies beileibe nicht in tadelnder Absicht gesagt haben. Die Größe des Herrn Cousin tritt um so greller ins Licht, wenn man sieht, daß er die deutsche Philosophie erlernt hat, ohne die Sprache zu verstehen, worin sie gelehrt wird. Dieser Genius, wie überragt er dadurch uns gewöhnliche Menschen, die wir nur mit großer Mühe diese Philosophie verstehen, obgleich wir mit der deutschen Sprache von Kind auf ganz vertraut sind.« Jules Simon bestätigt jedes Wort der Heineschen Ironie. Er zeigt, daß Cousin die deutschen Philosophen nicht lesen konnte, über die er bändereiche Werke schrieb, daß die meisten seiner Bücher die Arbeit seiner Sekretäre sind und daß er diesen Mitarbeitern für täglich zehnstündige Rackerei niemals einen Centime bezahlte. Ohne Zweifel hat ihm das Herz geblutet, als er das Andenken seines Lehrers und Wohltäters so unerbittlich dem Abscheu oder dem Spotte der Nachgeborenen preisgab. Aber seine Hand zeichnete das abschreckende Bildnis ohne Schwäche. Er fühlte, daß er seinen Lesern geschichtliche Wahrheit schuldete, und er gestattete seiner Dankbarkeit nicht, sich der Erfüllung dieser heiligen Pflicht zu widersetzen.

In seiner Pflichterfüllung war er überhaupt von unerschütterlicher Festigkeit. Als am 4. September 1870 das Volk in die gesetzgebende Versammlung eindrang und sie sprengte, da behielt Jules Simon, der damals Abgeordneter war, die Gruppe Gambetta, Jules Favre, Crémieux scharf im Auge. Besonders Gambetta verließ er mit keinem Blick. Denn er war damals der volkstümlichste Regierungsgegner und der natürliche Führer einer Bewegung gegen das Kaiserreich. Mit einem Male sah Jules Simon Gambetta, umgeben von seinen nächsten Freunden, den Sitzungssaal verlassen und auf den Platz vor dem Palais Bourbon hinauseilen. Er begriff sofort, daß der Zug nach dem Stadthaus ging und die Einsetzung einer einstweiligen Regierung im Werk war. Jules Simon zögerte nicht. Über Bänke, Schultern, Köpfe hinweg stürzte er den Abziehenden nach. Wem diese Turnerei unwahrscheinlich dünkt, dem sei gesagt, daß Jules Simon sieben Jahre später als Hauptredakteur des »Siècle« seine Mitarbeiter häufig verblüffte, indem er vor ihnen über die Redaktionstische hinwegsprang, um ihnen die Kraft und Gelenkigkeit seiner damals bald 63jährigen Beine zu zeigen. Als er hinausgelangte, waren Gambetta und seine Genossen bereits davongefahren. Mit größter Mühe gelang es ihm, einer Droschke habhaft zu werden. Rücksichtslos hohes Trinkgeld beschleunigte die Gangart des Fuhrwerks. Er kam fast gleichzeitig mit den anderen zum Stadthaus, drang durch alle Hindernisse in den Saal, wo eben die Regierung der Landesverteidigung ausgerufen wurde, und bestand darauf, daß sein Name der bereits abgeschlossenen Ministerliste angefügt werde. So verhütete sein entschlossenes Auftreten in entscheidender Stunde eine Vergeßlichkeit seiner politischen Freunde, die offenbar ein Undank gewesen wäre und der ganzen republikanischen Partei zur Unehre gereicht hätte.

Die bisher angeführten Züge scheinen das Bild eines reinen Strebers zu geben. Aber man muß daran festhalten, daß Jules Simon eine gemischte Natur war. Er hatte auch seine vorbildlichen Augenblicke, in denen er für sein künftiges Denkmal und die Geschichte saß. Am 9. Dezember 1851, eine Woche nach dem Staatsstreich, unmittelbar vor dem Plebiszit, begann er seine Vorlesung in der Sorbonne mit diesen Worten: »Sie erwarten von mir einen Vortrag über Moral, doch auch ein Beispiel der Moral. Dem öffentlichen Recht ist Gewalt angetan worden. Und wenn es in den Urnen nur einen einzigen Stimmzettel der Verurteilung geben sollte, so wird es der meine sein.« Es war seine letzte Vorlesung in der Sorbonne. Tags darauf war er abgesetzt. In der Folge hat ihm diese tapfere Tat nicht geschadet. Doch zu ihrer Stunde erforderte sie eine gewisse Kühnheit. Am 31. Oktober 1870, als Flourens und Millière die meuternden Bataillone von Belleville und La Villette nach dem Stadthaus führten und die Kommune ausrufen wollten, geriet Jules Simon in die Gewalt der Aufrührer und war mehrere Stunden lang ihr Gefangener, zugleich mit den anderen Jules der Regierung, mit Jules Favre, Jules Ferry, Jules Trochu. Die Lage war nicht ungefährlich. Die Ermordung der Geiseln, die sechs Monate später die Rue Haxo berühmt machen sollte, warf bereits ihre Schatten voraus. Doch Jules Simon hielt sich gut. Er deklamierte nicht wie Jules Ferry, er ballte nicht die Faust und rollte nicht die Augen wie Jules Favre, er murmelte keine Vaterunser wie Jules Trochu, er saß ruhig in seinem Lehnstuhl und erinnerte an die römischen Senatoren, die in ihren kurulischen Stühlen das Eindringen der Gallier des Brennus und den Todesstreich von den Bronzeschwertern erwarteten. Nach dem Zeugnis der Empörer selbst war er der würdigste der vier Jules. Wahrscheinlich war es die Erinnerung an diesen 31. Oktober, die am folgenden 1. Februar die Pariser Regierung bestimmte, ihn zur Delegation nach Bordeaux zu schicken, mit dem Auftrag, die Verordnung zu vernichten, durch die Gambetta die führenden Bonapartisten von der Wählbarkeit in die Nationalversammlung ausgeschlossen hatte. Die Sendung war nicht bequem. Gambetta hatte gute Lust, Jules Simon im Fort Blaye einzusperren, ja ihn, wenn er Umstände machte, erschießen zu lassen. Doch Jules Simon forcht sich nit. Zwar unternahm er nichts, bis drei andere Mitglieder der Pariser Regierung, Pelletan, Garnier-Pagès und Arago, zu seiner Unterstützung herbeigeeilt waren und Fourichon, Glais-Bizoin und Crémieux zum Abfall von Gambetta bestimmt hatten. Doch hielt er während schwieriger acht Tage mutig aus und verhinderte durch seine bloße Anwesenheit in Bordeaux Gewaltstreiche der Delegation. Das war der eine, der einzige Augenblick seiner politischen Laufbahn, wo er über sich selbst hinausgewachsen war.

In die Politik trat er nach der Februar-Umwälzung ein. Er bewarb sich mit Erfolg um einen Sitz in der Nationalversammlung, in der er jedoch nicht hervortrat, sondern vorsichtig abwartete, woher der Wind wehte. Wie er es 1851 mit dem Kaiserreich verdarb, haben wir gesehen. Seiner damaligen Haltung verdankte er es, daß er 1863 in die gesetzgebende Körperschaft gewählt wurde, in der er sich dem winzigen, doch ruhmreichen Häuflein der unversöhnlichen Gegner des triumphierenden Kaiserreichs anschloß. Ich habe erzählt, wie er sich am 4. September selbst zum Mitglied der Regierung ernannte. Sein Auftreten gegen Gambetta in der Frage der Wählbarkeit der Stützen des Kaiserreichs rechnete Thiers ihm so hoch an, daß er ihn in sein erstes Ministerium berief. Die Nationalversammlung duldete ihn jedoch nicht lange. Als er im Herbst 1871 in einer Rede vor dem Kongreß der Gelehrtengesellschaften ausrief: »Thiers allein ist der Befreier des Staatsgebiets!«, forderte die Rechte seinen Rücktritt, da er die Nationalversammlung durch Herabsetzung ihres Verdienstes beleidigt habe. Thiers opferte ihn unbedenklich, und Jules Simon war klug genug, weder zu schmollen noch sich rächen zu wollen. Er war im Gegenteil so musterhaft gemäßigt, so entgegenkommend für die Rechte, so verständnisvoll für alle Formen des Rückschritts, insbesondere für den Klerikalismus, daß Bischof Dupanloup gelegentlich mit einem maliziösen Lächeln äußerte: »Dieser Mann wird früher als ich Kardinal werden.« So weit hat er es nun allerdings nicht gebracht, aber Mac Mahon – oder Broglie – gewann genug Vertrauen zu ihm, um ihm am 13. September 1876 den Auftrag zur Bildung eines Ministeriums zu erteilen, als ihm klar wurde, daß nicht länger um ein ausgesprochen republikanisches Ministerium herumzukommen sei. Sein Antrittsprogramm war bester Jules Simon. Ein verständnisvolles Augenblinzeln zu Mac Mahon und seinem Hintermann: »Ich bin tief konservativ!« Ein bedeutungsvolles Lächeln zur republikanischen Kammermehrheit: »Und ich bin tief republikanisch.« Diesmal war er indes zu geschickt gewesen und hatte den Schmerz, sich von beiden Parteien durchschaut zu sehen. Als ihm Mac Mahon am 16. Mai 1877 im Unteroffizierston die unverlangte Entlassung ankündigte, dankte er gehorsam für die gnädige Strafe, wie es für wohlgedrillte Militärs vorgeschrieben ist. Bischof Dupanloup wird seine Freude an ihm gehabt haben, als er christlich die linke Wange reichte, nachdem die rechte den Backenstreich erhalten hatte. Damit war seine Rolle ausgespielt. Er blieb Senator, gelangte jedoch nie wieder zur Regierung. Nur einmal trat er noch, wenn auch nicht gerade aktiv politisch, hervor. Er vertrat Frankreich auf der Konferenz für die Arbeitergesetzgebung, die Kaiser Wilhelm 1890 nach Berlin einberief. Der Kaiser fand an ihm großes Wohlgefallen. Das ist verständlich. Ihn bestachen an Jules Simon die französischen Nationaleigenschaften der gesellschaftlichen Sicherheit und Gewandtheit, der liebenswürdigen Glätte, des anmutigen und geistvollen Geplauders, und er rechnete sie ihm an, als wären sie seine persönlichen Vorzüge. Bis zur Kenntnis des Individuellen unter dem Generellen konnte der Kaiser bei der Kürze und der Art seines Verkehrs mit dem fremden Gast unmöglich vordringen.

Er hatte einen schlechten Abgang von der politischen Bühne. Er hatte einen besseren verdient. Denn er war ein guter Schauspieler. Er war es als Redner, als Politiker, als Professor, als Schriftsteller. Über diese letzteren Verkörperungen nur einige Worte. Als Schriftsteller war er gleichmäßig blühend, lau und nichtssagend. Er hat wahrscheinlich nie eine Zeile geschrieben, die unter die akademische Höhenlage herabsinkt, und ich habe nie eine Zeile behalten, wenn ich ein Buch von ihm zu Ende gelesen hatte. Seine »Arbeiterin « erregte in den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts Aufsehen. Glückliche Zeiten, wo ein Schriftsteller mit dergleichen Aufsehen erregen konnte! Er schilderte in dem Buche das Los der Frauen, die ihr Brot mit ihrer Hände Werk verdienen müssen, und verlangte eine Besserung ihrer Lage. Es war ein Gemisch von tränenfeuchter Empfindsamkeit, billiger Nächstenliebe und väterlicher Mahnung zu Tugend und Geduld, etwas wie Béranger in Prosa und Henri Murger mit Salbung. Ein Milligramm Sozialismus, mit sehr viel Zucker, Rosenwasser und etwas Weihrauch zu harmlosen Pillen verrieben. Als Professor erfreute er die Studenten, als Politiker das Parlament mit niedlichen Reden. Gelernt haben die einen und das andere nichts von ihm. Vor 1870 galt in den Lehrstühlen der Fakultäten wie auf der Rednerbühne der Kammern nur die Rhetorik. Seitdem ist das anders geworden, wenigstens was die Lehrstühle betrifft. Caro war das letzte Beispiel des Süßholzrasplers auf dem Katheder, und er verfiel bereits dem Spotte Paillerons. Heute würden die Studenten einen Drescher leeren Strohs von der Art der Jules Simon, Caro, Paul Janet die erste Vorlesung nicht beenden lassen. In der Politik geht es noch mit diesem alten Handwerksgerät. Aber auch da muß man es anders handhaben wie Jules Simon. Er gab sein Leben lang vor, ein Verteidiger der Freiheit zu sein. Aber was verstand er darunter? Das Recht, die Republik des Plato in einem Kinofilm vorzuführen. Sein Ideal war ein Zustand, in welchem seine Köpfe geistreiche Sticheleien gegen die Regierung vor diskret lächelnden Salonmenschen zum besten geben durften und Akademiker vom Staatsoberhaupt zur Mitarbeit an den öffentlichen Geschäften berufen wurden. Als er jedoch den Einbruch der Barbaren in die Politik erleben mußte, als er die struppigen Proletarierköpfe mit den unwissenden Stirnen, den furchtbar aufrichtigen Augen und den bittern Mündern vor sich auftauchen sah, da verhüllte er schaudernd sein Haupt und floh entsetzt von der Bühne. Diese Menschen würdigten keine gekräuselten Phrasen mehr! Ihnen waren Wahlen, Reden, Abstimmungen nicht mehr eine anregende Komödie! Sie meinten es ernst! Da war ein guter Komödiant seines Lebens nicht mehr sicher, und Jules Simon beeilte sich, in der Kulisse zu verschwinden. Auch der Redner wirkte durch den Vortrag, die Mimik, die Gesten, das Lächeln, die Kunstpausen, die Betonung der Treffworte. Wer heute den Mut hätte, eine Rede von ihm, wäre es auch die berühmteste, die gegen die antiklerikalen Märzdekrete Jules Ferrys, zu lesen, würde wahrscheinlich seinen Augen nicht trauen. Dieses flaue, armselige, fadenziehende Zeug hat einen Menschen berühmt machen können? Ja. Wegen der Triller und Orgelpunkte, die er dazu flötete und die in dem Texte nicht mitgedruckt sind.

Jules Simon war ein vortrefflicher Mime, und dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze. Auf Nachruhm hat er keinen Anspruch. Er hat kein dauerndes Werk geschaffen, das ihn vor den Nachgeborenen verteidigt. Das einzige, was ihm einen Platz in der französischen Geschichte sichert, ist, daß sein Name mit dem Gewaltstreich vom 16. Mai verknüpft ist, das heißt mit dem letzten Versuch einer französischen Staatsregierung, die Republik zu zertrümmern, den Gedanken der Volkssouveränität zu unterdrücken und die Umwälzung zu verleugnen.


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