Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Hauptstück: Völker und Vaterländer.

240.

Ich hörte, wieder einmal zum ersten Male – Richard Wagner's Ouverture zu den Meistersingern: das ist eine prachtvolle, überladene, schwere und späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Verständniss zwei Jahrhunderte Musik als noch lebendig vorauszusetzen: – es ehrt die Deutschen, dass sich ein solcher Stolz nicht verrechnete! Was für Säfte und Kräfte, was für Jahreszeiten und Himmelsstriche sind hier nicht gemischt! Das muthet uns bald alterthümlich, bald fremd, herb und überjung an, das ist ebenso willkürlich als pomphaft-herkömmlich, das ist nicht selten schelmisch, noch öfter derb und grob, – das hat Feuer und Muth und zugleich die schlaffe falbe Haut von Früchten, welche zu spät reif werden. Das strömt breit und voll: und plötzlich ein Augenblick unerklärlichen Zögerns, gleichsam eine Lücke, die zwischen Ursache und Wirkung aufspringt, ein Druck, der uns träumen macht, beinahe ein Alpdruck –, aber schon breitet und weitet sich wieder der alte Strom von Behagen aus, von vielfältigstem Behagen, von altem und neuem Glück, sehr eingerechnet das Glück des Künstlers an sich selber, dessen er nicht Hehl haben will, sein erstauntes glückliches Mitwissen um die Meisterschaft seiner hier verwendeten Mittel, neuer neuerworbener unausgeprobter Kunstmittel, wie er uns zu verrathen scheint. Alles in Allem keine Schönheit, kein Süden, Nichts von südlicher feiner Helligkeit des Himmels, Nichts von Grazie, kein Tanz, kaum ein Wille zur Logik; eine gewisse Plumpheit sogar, die noch unterstrichen wird, wie als ob der Künstler uns sagen wollte: »sie gehört zu meiner Absicht«; eine schwerfällige Gewandung, etwas Willkürlich-Barbarisches und Feierliches, ein Geflirr von gelehrten und ehrwürdigen Kostbarkeiten und Spitzen; etwas Deutsches, im besten und schlimmsten Sinn des Wortes, etwas auf deutsche Art Vielfaches, Unförmliches und Unausschöpfliches; eine gewisse deutsche Mächtigkeit und Überfülle der Seele, welche keine Furcht hat, sich unter die Raffinements des Verfalls zu verstecken, – die sich dort vielleicht erst am wohlsten fühlt; ein rechtes ächtes Wahrzeichen der deutschen Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und überreich noch an Zukunft ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich von den Deutschen halte: sie sind von Vorgestern und von Übermorgen, – sie haben noch kein Heute.

 

241.

Wir »guten Europäer«: auch wir haben Stunden, wo wir uns eine herzhafte Vaterländerei, einen Plumps und Rückfall in alte Lieben und Engen gestatten – ich gab eben eine Probe davon –, Stunden nationaler Wallungen, patriotischer Beklemmungen und allerhand anderer alterthümlicher Gefühls-Überschwemmungen. Schwerfälligere Geister, als wir sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf Stunden beschränkt und in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeiträumen fertig werden, in halben Jahren die Einen, in halben Menschenleben die Anderen, je nach der Schnelligkeit und Kraft, mit der sie verdauen und ihre »Stoffe wechseln«. Ja, ich könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken, welche auch in unserm geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig hätten, um solche atavistische Anfälle von Vaterländerei und Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur Vernunft, will sagen zum »guten Europäerthum« zurückzukehren. Und indem ich über diese Möglichkeit ausschweife, begegnet mir's, dass ich Ohrenzeuge eines Gesprächs von zwei alten »Patrioten« werde, – sie hörten beide offenbar schlecht und sprachen darum um so lauter. »Der hält und weiss von Philosophie so viel als ein Bauer oder Corpsstudent – sagte der Eine –: der ist noch unschuldig. Aber was liegt heute daran! Es ist das Zeitalter der Massen: die liegen vor allem Massenhaften auf dem Bauche. Und so auch in politicis. Ein Staatsmann, der ihnen einen neuen Thurm von Babel, irgend ein Ungeheuer von Reich und Macht aufthürmt, heisst ihnen »gross«: – was liegt daran, dass wir Vorsichtigeren und Zurückhaltenderen einstweilen noch nicht vom alten Glauben lassen, es sei allein der grosse Gedanke, der einer That und Sache Grösse giebt. Gesetzt, ein Staatsmann brächte sein Volk in die Lage, fürderhin »grosse Politik« treiben zu müssen, für welche es von Natur schlecht angelegt und vorbereitet ist: so dass es nöthig hätte, einer neuen zweifelhaften Mittelmässigkeit zu Liebe seine alten und sicheren Tugenden zu opfern, – gesetzt, ein Staatsmann verurtheilte sein Volk zum »Politisiren« überhaupt, während dasselbe bisher Besseres zu thun und zu denken hatte und im Grunde seiner Seele einen vorsichtigen Ekel vor der Unruhe, Leere und lärmenden Zankteufelei der eigentlich politisirenden Völker nicht los wurde: – gesetzt, ein solcher Staatsmann stachle die eingeschlafnen Leidenschaften und Begehrlichkeiten seines Volkes auf, mache ihm aus seiner bisherigen Schüchternheit und Lust am Danebenstehn einen Flecken, aus seiner Ausländerei und heimlichen Unendlichkeit eine Verschuldung, entwerthe ihm seine herzlichsten Hänge, drehe sein Gewissen um, mache seinen Geist eng, seinen Geschmack »national«, – wie! ein Staatsmann, der dies Alles thäte, den sein Volk in alle Zukunft hinein, falls es Zukunft hat, abbüssen müsste, ein solcher Staatsmann wäre gross?« »Unzweifelhaft! antwortete ihm der andere alte Patriot heftig: sonst hätte er es nicht gekonnt! Es war toll vielleicht, so etwas zu wollen? Aber vielleicht war alles Grosse im Anfang nur toll!« – »Missbrauch der Worte! schrie sein Unterredner dagegen: – stark! stark! stark und toll! Nicht gross!« – Die alten Männer hatten sich ersichtlich erhitzt, als sie sich dergestalt ihre »Wahrheiten« in's Gesicht schrieen; ich aber, in meinem Glück und Jenseits, erwog, wie bald über den Starken ein Stärkerer Herr werden wird; auch dass es für die geistige Verflachung eines Volkes eine Ausgleichung giebt, nämlich durch die Vertiefung eines anderen. –

 

242.

Nenne man es nun »Civilisation« oder »Vermenschlichung« oder »Fortschritt«, worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht wird; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel die demokratische Bewegung Europa's: hinter all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche mit solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer physiologischer Prozess, der immer mehr in Fluss geräth, – der Prozess einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte, – also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt. Dieser Prozess des werdenden Europäers, welcher durch grosse Rückfälle im Tempo verzögert werden kann, aber vielleicht gerade damit an Vehemenz und Tiefe gewinnt und wächst – der jetzt noch wüthende Sturm und Drang des »National-Gefühls« gehört hierher, insgleichen der eben heraufkommende Anarchismus –: dieser Prozess läuft wahrscheinlich auf Resultate hinaus, auf welche seine naiven Beförderer und Lobredner, die Apostel der »modernen Ideen«, am wenigsten rechnen möchten. Die selben neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmässigung des Menschen sich herausbilden wird – ein nützliches arbeitsames, vielfach brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch –, sind im höchsten Grade dazu angethan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobirt und mit jedem Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehend, eine neue Arbeit beginnt, die Mächtigkeit des Typus gar nicht möglich macht; während der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer wahrscheinlich der von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äusserst anstellbaren Arbeitern sein wird, die des Herrn, des Befehlenden bedürfen wie des täglichen Brodes; während also die Demokratisirung Europa's auf die Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus hinausläuft: wird, im Einzel- und Ausnahmefall, der starke Mensch stärker und reicher gerathen müssen, als er vielleicht jemals bisher gerathen ist, – Dank der Vorurtheilslosigkeit seiner Schulung, Dank der ungeheuren Vielfältigkeit von Übung, Kunst und Maske. Ich wollte sagen: die Demokratisirung Europa's ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen,– das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten.

 

243.

Ich höre mit Vergnügen, dass unsre Sonne in rascher Bewegung gegen das Sternbild des Herkules hin begriffen ist: und ich hoffe, dass der Mensch auf dieser Erde es darin der Sonne gleich thut. Und wir voran, wir guten Europäer! –

 

244.

Es gab eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit Auszeichnung »tief« zu nennen: jetzt, wo der erfolgreichste Typus des neuen Deutschthums nach ganz andern Ehren geizt und an Allem, was Tiefe hat, vielleicht die »Schneidigkeit« vermisst, ist der Zweifel beinahe zeitgemäss und patriotisch, ob man sich ehemals mit jenem Lobe nicht betrogen hat: genug, ob die deutsche Tiefe nicht im Grunde etwas Anderes und Schlimmeres ist – und Etwas, das man, Gott sei Dank, mit Erfolg loszuwerden im Begriff steht. Machen wir also den Versuch, über die deutsche Tiefe umzulernen: man hat Nichts dazu nöthig, als ein wenig Vivisektion der deutschen Seele. – Die deutsche Seele ist vor Allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und übereinandergesetzt, als wirklich gebaut: das liegt an ihrer Herkunft. Ein Deutscher, der sich erdreisten wollte, zu behaupten »zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust« würde sich an der Wahrheit arg vergreifen, richtiger, hinter der Wahrheit um viele Seelen zurückbleiben. Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht des vor-arischen Elementes, als »Volk der Mitte« in jedem Verstande, sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker sich selber sind: – sie entschlüpfen der Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen. Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage »was ist deutsch?« niemals ausstirbt. Kotzebue kannte seine Deutschen gewiss gut genug: »Wir sind erkannt« jubelten sie ihm zu, – aber auch Sand glaubte sie zu kennen. Jean Paul wusste, was er that, als er sich ergrimmt gegen Fichte's verlogne, aber patriotische Schmeicheleien und Übertreibungen erklärte, – aber es ist wahrscheinlich, dass Goethe anders über die Deutschen dachte, als Jean Paul, wenn er ihm auch in Betreff Fichtens Recht gab. Was Goethe eigentlich über die Deutschen gedacht hat? – Aber er hat über viele Dinge um sich herum nie deutlich geredet und verstand sich zeitlebens auf das feine Schweigen: – wahrscheinlich hatte er gute Gründe dazu. Gewiss ist, dass es nicht »die Freiheitskriege« waren, die ihn freudiger aufblicken liessen, so wenig als die französische Revolution, – das Ereigniss, um dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem »Mensch« umgedacht hat, war das Erscheinen Napoleon's. Es giebt Worte Goethe's, in denen er, wie vom Auslande her, mit einer ungeduldigen Härte über Das abspricht, was die Deutschen sich zu ihrem Stolze rechnen: das berühmte deutsche Gemüth definirt er einmal als »Nachsicht mit fremden und eignen Schwächen«. Hat er damit Unrecht? – es kennzeichnet die Deutschen, dass man über sie selten völlig Unrecht hat. Die deutsche Seele hat Gänge und Zwischengänge in sich, es giebt in ihr Höhlen, Verstecke, Burgverliesse; ihre Unordnung hat viel vom Reize des Geheimnissvollen; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos. Und wie jeglich Ding sein Gleichniss liebt, so liebt der Deutsche die Wolken und Alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht und verhängt ist: das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende, Wachsende jeder Art fühlt er als »tief«. Der Deutsche selbst ist nicht, er wird, er »entwickelt sich«. »Entwicklung« ist deshalb der eigentlich deutsche Fund und Wurf im grossen Reich philosophischer Formeln: – ein regierender Begriff, der, im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa zu verdeutschen. Die Ausländer stehen erstaunt und angezogen vor den Räthseln, die ihnen die Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele aufgiebt (welche Hegel in System gebracht, Richard Wagner zuletzt noch in Musik gesetzt hat). »Gutmüthig und tückisch« – ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben! Die Schwerfälligkeit des deutschen Gelehrten, seine gesellschaftliche Abgeschmacktheit verträgt sich zum Erschrecken gut mit einer innewendigen Seiltänzerei und leichten Kühnheit, vor der bereits alle Götter das Fürchten gelernt haben. Will man die »deutsche Seele« ad oculos demonstrirt, so sehe man nur in den deutschen Geschmack, in deutsche Künste und Sitten hinein: welche bäurische Gleichgültigkeit gegen »Geschmack«! Wie steht da das Edelste und Gemeinste neben einander! Wie unordentlich und reich ist dieser ganze Seelen-Haushalt! Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an Allem, was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit »fertig«; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde »Verdauung«. Und wie alle Gewohnheits-Kranken, alle Dyspeptiker den Hang zum Bequemen haben, so liebt der Deutsche die »Offenheit« und »Biederkeit«: wie bequem ist es, offen und bieder zu sein! – Es ist heute vielleicht die gefährlichste und glücklichste Verkleidung, auf die sich der Deutsche versteht, dies Zutrauliche, Entgegenkommende, die-Karten-Aufdeckende der deutschen Redlichkeit: sie ist seine eigentliche Mephistopheles-Kunst, mit ihr kann er es »noch weit bringen«! Der Deutsche lässt sich gehen, blickt dazu mit treuen blauen leeren deutschen Augen – und sofort verwechselt das Ausland ihn mit seinem Schlafrocke! – Ich wollte sagen: mag die »deutsche Tiefe« sein, was sie will, – ganz unter uns erlauben wir uns vielleicht über sie zu lachen? – wir thun gut, ihren Anschein und guten Namen auch fürderhin in Ehren zu halten und unsern alten Ruf, als Volk der Tiefe, nicht zu billig gegen preussische »Schneidigkeit« und Berliner Witz und Sand zu veräussern. Es ist für ein Volk klug, sich für tief, für ungeschickt, für gutmüthig, für redlich, für unklug gelten zu machen, gelten zu lassen: es könnte sogar – tief sein! Zuletzt: man soll seinem Namen Ehre machen, – man heisst nicht umsonst das »tiusche« Volk, das Täusche-Volk ...

 

245.

Die »gute alte« Zeit ist dahin, in Mozart hat sie sich ausgesungen: – wie glücklich wir, dass zu uns sein Rokoko noch redet, dass seine »gute Gesellschaft«, sein zärtliches Schwärmen, seine Kinderlust am Chinesischen und Geschnörkelten, seine Höflichkeit des Herzens, sein Verlangen nach Zierlichem, Verliebtem, Tanzendem, Thränenseligem, sein Glaube an den Süden noch an irgend einen Rest in uns appelliren darf! Ach, irgend wann wird es einmal damit vorbei sein! – aber wer darf zweifeln, dass es noch früher mit dem Verstehen und Schmecken Beethoven's vorbei sein wird! – der ja nur der Ausklang eines Stil-Übergangs und Stil-Bruchs war und nicht, wie Mozart, der Ausklang eines grossen Jahrhunderte langen europäischen Geschmacks. Beethoven ist das Zwischen-Begebniss einer alten mürben Seele, die beständig zerbricht, und einer zukünftigen überjungen Seele, welche beständig kommt; auf seiner Musik liegt jenes Zwielicht von ewigem Verlieren und ewigem ausschweifendem Hoffen, – das selbe Licht, in welchem Europa gebadet lag, als es mit Rousseau geträumt, als es um den Freiheitsbaum der Revolution getanzt und endlich vor Napoleon beinahe angebetet hatte. Aber wie schnell verbleicht jetzt gerade dies Gefühl, wie schwer ist heute schon das Wissen um dies Gefühl, – wie fremd klingt die Sprache jener Rousseau, Schiller, Shelley, Byron an unser Ohr, in denen zusammen das selbe Schicksal Europa's den Weg zum Wort gefunden hat, das in Beethoven zu singen wusste! – Was von deutscher Musik nachher gekommen ist, gehört in die Romantik, das heisst in eine, historisch gerechnet, noch kürzere, noch flüchtigere, noch oberflächlichere Bewegung, als es jener grosse Zwischenakt, jener Übergang Europa's von Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der Demokratie war. Weber: aber was ist uns heute Freischütz und Oberon! Oder Marschner's Hans Heiling und Vampyr! Oder selbst noch Wagner's Tannhäuser! Das ist verklungene, wenn auch noch nicht vergessene Musik. Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, nicht Musik genug, um auch anderswo Recht zu behalten, als im Theater und vor der Menge; sie war von vornherein Musik zweiten Ranges, die unter wirklichen Musikern wenig in Betracht kam. Anders stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um seiner leichteren reineren beglückteren Seele willen schnell verehrt und ebenso schnell vergessen wurde: als der schöne Zwischenfall der deutschen Musik. Was aber Robert Schumann angeht, der es schwer nahm und von Anfang an auch schwer genommen worden ist – es ist der Letzte, der eine Schule gegründet hat –: gilt es heute unter uns nicht als ein Glück, als ein Aufathmen, als eine Befreiung, dass gerade diese Schumann'sche Romantik überwunden ist? Schumann, in die »sächsische Schweiz« seiner Seele flüchtend, halb Wertherisch, halb Jean-Paulisch geartet, gewiss nicht Beethovenisch! gewiss nicht Byronisch! – seine Manfred-Musik ist ein Missgriff und Missverständniss bis zum Unrechte –, Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein kleiner Geschmack war, (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), beständig bei Seite gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler Zärtling, der in lauter anonymem Glück und Weh schwelgte, eine Art Mädchen und noli me tangere von Anbeginn: dieser Schumann war bereits nur noch ein deutsches Ereigniss in der Musik, kein europäisches mehr, wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem Maasse, Mozart es gewesen ist, – mit ihm drohte der deutschen Musik ihre grösste Gefahr, die Stimme für die Seele Europa's zu verlieren und zu einer blossen Vaterländerei herabzusinken. –

 

246.

– Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für Den, der das dritte Ohr hat! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein »Buch« genannt wird! Und gar der Deutsche, der Bücher liest! Wie faul, wie widerwillig, wie schlecht liest er! Wie viele Deutsche wissen es und fordern es von sich zu wissen, dass Kunst in jedem guten Satze steckt, – Kunst, die errathen sein will, sofern der Satz verstanden sein will! Ein Missverständniss über sein Tempo zum Beispiel: und der Satz selbst ist missverstanden! Dass man über die rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz fühlt, dass man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr hinhält, dass man den Sinn in der Folge der Vocale und Diphthongen räth, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben und umfärben können: wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig genug, solchergestalt Pflichten und Forderungen anzuerkennen und auf so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen? Man hat zuletzt eben »das Ohr nicht dafür«: und so werden die stärksten Gegensätze des Stils nicht gehört, und die feinste Künstlerschaft ist wie vor Tauben verschwendet. – Dies waren meine Gedanken, als ich merkte, wie man plump und ahnungslos zwei Meister in der Kunst der Prosa mit einander verwechselte, Einen, dem die Worte zögernd und kalt herabtropfen, wie von der Decke einer feuchten Höhle – er rechnet auf ihren dumpfen Klang und Wiederklang – und einen Anderen, der seine Sprache wie einen biegsamen Degen handhabt und vom Arme bis zur Zehe hinab das gefährliche Glück der zitternden überscharfen Klinge fühlt, welche beissen, zischen, schneiden will. –

 

247.

Wie wenig der deutsche Stil mit dem Klange und mit den Ohren zu thun hat, zeigt die Thatsache, dass gerade unsre guten Musiker schlecht schreiben. Der Deutsche liest nicht laut, nicht für's Ohr, sondern bloss mit den Augen: er hat seine Ohren dabei in's Schubfach gelegt. Der antike Mensch las, wenn er las – es geschah selten genug – sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme; man wunderte sich, wenn jemand leise las und fragte sich insgeheim nach Gründen. Mit lauter Stimme: das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen, Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempo's, an denen die antike öffentliche Welt ihre Freude hatte. Damals waren die Gesetze des Schrift-Stils die selben, wie die des Rede-Stils; und dessen Gesetze hiengen zum Theil von der erstaunlichen Ausbildung, den raffinirten Bedürfnissen des Ohrs und Kehlkopfs ab, zum andern Theil von der Stärke, Dauer und Macht der antiken Lunge. Eine Periode ist, im Sinne der Alten, vor Allem ein physiologisches Ganzes, insofern sie von Einem Athem zusammengefasst wird. Solche Perioden, wie sie bei Demosthenes, bei Cicero vorkommen, zwei Mal schwellend und zwei Mal absinkend und Alles innerhalb Eines Athemzugs: das sind Genüsse für antike Menschen, welche die Tugend daran, das Seltene und Schwierige im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eignen Schulung zu schätzen wussten: – wir haben eigentlich kein Recht auf die grosse Periode, wir Modernen, wir Kurzathmigen in jedem Sinne! Diese Alten waren ja insgesammt in der Rede selbst Dilettanten, folglich Kenner, folglich Kritiker, – damit trieben sie ihre Redner zum Äussersten; in gleicher Weise, wie im vorigen Jahrhundert, als alle Italiäner und Italiänerinnen zu singen verstanden, bei ihnen das Gesangs-Virtuosenthum (und damit auch die Kunst der Melodik –) auf die Höhe kam. In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo eine Art Tribünen-Beredtsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen Schwingen regt) eigentlich nur Eine Gattung öffentlicher und ungefähr kunstmässiger Rede: das ist die von der Kanzel herab. Der Prediger allein wusste in Deutschland, was eine Silbe, was ein Wort wiegt, inwiefern ein Satz schlägt, springt, stürzt, läuft, ausläuft, er allein hatte Gewissen in seinen Ohren, oft genug ein böses Gewissen: denn es fehlt nicht an Gründen dafür, dass gerade von einem Deutschen Tüchtigkeit in der Rede selten, fast immer zu spät erreicht wird. Das Meisterstück der deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das Meisterstück ihres grössten Predigers: die Bibel war bisher das beste deutsche Buch. Gegen Luther's Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur »Litteratur« – ein Ding, das nicht in Deutschland gewachsen ist und darum auch nicht in deutsche Herzen hinein wuchs und wächst: wie es die Bibel gethan hat.

 

248.

Es giebt zwei Arten des Genie's: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein andres, welches sich gern befruchten lässt und gebiert. Und ebenso giebt es unter den genialen Völkern solche, denen das Weibsproblem der Schwangerschaft und die geheime Aufgabe des Gestaltens, Ausreifens, Vollendens zugefallen ist – die Griechen zum Beispiel waren ein Volk dieser Art, insgleichen die Franzosen –; und andre, welche befruchten müssen und die Ursache neuer Ordnungen des Lebens werden, – gleich den Juden, den Römern und, in aller Bescheidenheit gefragt, den Deutschen? – Völker gequält und entzückt von unbekannten Fiebern und unwiderstehlich aus sich herausgedrängt, verliebt und lüstern nach fremden Rassen (nach solchen, welche sich »befruchten lassen« –) und dabei herrschsüchtig wie Alles, was sich voller Zeugekräfte und folglich »von Gottes Gnaden« weiss. Diese zwei Arten des Genie's suchen sich, wie Mann und Weib; aber sie missverstehen auch einander, – wie Mann und Weib.

 

249.

Jedes Volk hat seine eigne Tartüfferie, und heisst sie seine Tugenden. – Das Beste, was man ist, kennt man nicht, – kann man nicht kennen.

 

250.

Was Europa den Juden verdankt? – Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den grossen Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten – und folglich gerade den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Theil jener Farbenspiele und Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht, – vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden – dankbar.

 

251.

Man muss es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden will –, mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von Heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische (man sehe sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitzschke und ihre dick verbundenen Köpfe an –), und wie sie Alle heissen mögen, diese kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens. Möge man mir verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum Beispiel über die Juden: man höre. – Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre; und so unbedingt auch die Ablehnung der eigentlichen Antisemiterei von Seiten aller Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet sich doch auch diese Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung des Gefühls selber, sondern nur gegen seine gefährliche Unmässigkeit, insbesondere gegen den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck dieses unmässigen Gefühls, – darüber darf man sich nicht täuschen. Dass Deutschland reichlich genug Juden hat, dass der deutsche Magen, das deutsche Blut Noth hat (und noch auf lange Noth haben wird), um auch nur mit diesem Quantum »Jude« fertig zu werden – so wie der Italiäner, der Franzose, der Engländer fertig geworden sind, in Folge einer kräftigeren Verdauung –: das ist die deutliche Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes, auf welchen man hören, nach welchem man handeln muss. »Keine neuen Juden mehr hinein lassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Östreich) zu die Thore zusperren!« also gebietet der Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist, so dass sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse ausgelöscht werden könnte. Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen (besser sogar, als unter günstigen), vermöge irgend welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln möchte, – Dank, vor Allem, einem resoluten Glauben, der sich vor den »modernen Ideen« nicht zu schämen braucht; sie verändern sich, wenn sie sich verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht, – als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist –: nämlich nach dem Grundsatze »so langsam als möglich!« Ein Denker, der die Zukunft Europa's auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel und Kampf der Kräfte. Das, was heute in Europa »Nation« genannt wird und eigentlich mehr eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum Verwechseln ähnlich sieht –), ist in jedem Falle etwas Werdendes, Junges, Leicht-Verschiebbares, noch keine Rasse, geschweige denn ein solches aere perennius, wie es die Juden-Art ist: diese »Nationen« sollten sich doch vor jeder hitzköpfigen Concurrenz und Feindseligkeit sorgfältig in Acht nehmen! Dass die Juden, wenn sie wollten – oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen –, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben könnten, steht fest; dass sie nicht darauf hin arbeiten und Pläne machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wünschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem »ewigen Juden« ein Ziel zu setzen –; und man sollte diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen. Mit aller Vorsicht entgegenkommen, mit Auswahl; ungefähr so wie der englische Adel es thut. Es liegt auf der Hand, dass am unbedenklichsten noch sich die stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschthums mit ihnen einlassen könnten, zum Beispiel der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens – in Beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch – das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt –) hinzuthun, hinzuzüchten liesse. Doch hier ziemt es sich, meine heitere Deutschthümelei und Festrede abzubrechen: denn ich rühre bereits an meinen Ernst, an das »europäische Problem«, wie ich es verstehe, an die Züchtung einer neuen über Europa, regierenden Kaste. –

 

252.

Das ist keine philosophische Rasse – diese Engländer: Bacon bedeutet einen Angriff auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, Hume und Locke eine Erniedrigung und Werth-Minderung des Begriffs »Philosoph« für mehr als ein Jahrhundert. Gegen Hume erhob und hob sich Kant; Locke war es, von dem Schelling sagen durfte: je méprise Locke«; im Kampfe mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung waren Hegel und Schopenhauer (mit Goethe) einmüthig, jene beiden feindlichen Brüder-Genies in der Philosophie, welche nach den entgegengesetzten Polen des deutschen Geistes auseinander strebten und sich dabei Unrecht thaten, wie sich eben nur Brüder Unrecht thun. – Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wusste jener Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf Carlyle, welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen suchte, was er von sich selbst wusste: nämlich woran es in Carlyle fehlte – an eigentlicher Macht der Geistigkeit, an eigentlicher Tiefe des geistigen Blicks, kurz, an Philosophie. – Es kennzeichnet eine solche unphilosophische Rasse, dass sie streng zum Christenthume hält: sie braucht seine Zucht zur »Moralisirung« und Veranmenschlichung. Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler als der Deutsche – ist eben deshalb, als der Gemeinere von Beiden, auch frömmer als der Deutsche: er hat das Christenthum eben noch nöthiger. Für feinere Nüstern hat selbst dieses englische Christenthum noch einen ächt englischen Nebengeruch von Spleen und alkoholischer Ausschweifung, gegen welche es aus guten Gründen als Heilmittel gebraucht wird, – das feinere Gift nämlich gegen das gröbere: eine feinere Vergiftung ist in der That bei plumpen Völkern schon ein Fortschritt, eine Stufe zur Vergeistigung. Die englische Plumpheit und Bauern-Ernsthaftigkeit wird durch die christliche Gebärdensprache und durch Beten und Psalmensingen noch am erträglichsten verkleidet, richtiger: ausgelegt und umgedeutet; und für jenes Vieh von Trunkenbolden und Ausschweifenden, welches ehemals unter der Gewalt des Methodismus und neuerdings wieder als »Heilsarmee« moralisch grunzen lernt, mag wirklich ein Busskrampf die verhältnissmässig höchste Leistung von »Humanität« sein, zu der es gesteigert werden kann: so viel darf man billig zugestehn. Was aber auch noch am humansten Engländer beleidigt, das ist sein Mangel an Musik, im Gleichniss (und ohne Gleichniss –) zu reden: er hat in den Bewegungen seiner Seele und seines Leibes keinen Takt und Tanz, ja noch nicht einmal die Begierde nach Takt und Tanz, nach »Musik«. Man höre ihn sprechen; man sehe die schönsten Engländerinnen gehn – es giebt in keinem Lande der Erde schönere Tauben und Schwäne, – endlich: man höre sie singen! Aber ich verlange zu viel ...

 

253.

Es giebt Wahrheiten, die am besten von mittelmässigen Köpfen erkannt werden, weil sie ihnen am gemässesten sind, es giebt Wahrheiten, die nur für mittelmässige Geister Reize und Verführungskräfte besitzen – auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man gerade jetzt hingestossen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmässiger Engländer – ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer – in der mittleren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht zu gelangen anhebt. In der That, wer möchte die Nützlichkeit davon anzweifeln, dass zeitweilig solche Geister herrschen? Es wäre ein Irrthum, gerade die hochgearteten und abseits fliegenden Geister für besonders geschickt zu halten, viele kleine gemeine Thatsachen festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen: – sie sind vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen Stellung zu den »Regeln«. Zuletzt haben sie mehr zu thun, als nur zu erkennen – nämlich etwas Neues zu sein, etwas Neues zu bedeuten, neue Werthe darzustellen! Die Kluft zwischen Wissen und Können ist vielleicht grösser, auch unheimlicher als man denkt: der Könnende im grossen Stil, der Schaffende wird möglicherweise ein Unwissender sein müssen, – während andererseits zu wissenschaftlichen Entdeckungen nach der Art Darwin's eine gewisse Enge, Dürre und fleissige Sorglichkeit, kurz, etwas Englisches nicht übel disponiren mag. – Vergesse man es zuletzt den Engländern nicht, dass sie schon Ein Mal mit ihrer tiefen Durchschnittlichkeit eine Gesammt-Depression des europäischen Geistes verursacht haben: Das, was man »die modernen Ideen« oder »die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts« oder auch »die französischen Ideen« nennt – Das also, wogegen sich der deutsche Geist mit tiefem Ekel erhoben hat –, war englischen Ursprungs, daran ist nicht zu zweifeln. Die Franzosen sind nur die Affen und Schauspieler dieser Ideen gewesen, auch ihre besten Soldaten, insgleichen leider ihre ersten und gründlichsten Opfer: denn an der verdammlichen Anglomanie der »modernen Ideen« ist zuletzt die âme française so dünn geworden und abgemagert, dass man sich ihres sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts, ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft, ihrer erfinderischen Vornehmheit heute fast mit Unglauben erinnert. Man muss aber diesen Satz historischer Billigkeit mit den Zähnen festhalten und gegen den Augenblick und Augenschein vertheidigen: die europäische noblesse – des Gefühls, des Geschmacks, der Sitte, kurz, das Wort in jedem hohen Sinne genommen – ist Frankreich's Werk und Erfindung, die europäische Gemeinheit, der Plebejismus der modernen Ideen –Englands.-

 

254.

Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffinirtesten Cultur Europa's und die' hohe Schule des Geschmacks: aber man muss dies »Frankreich des Geschmacks« zu finden wissen. Wer zu ihm gehört, hält sich gut verborgen: – es mag eine kleine Zahl sein, in denen es leibt und lebt, dazu vielleicht Menschen, welche nicht auf den kräftigsten Beinen stehn, zum Theil Fatalisten, Verdüsterte, Kranke, zum Theil Verzärtelte und Verkünstelte, solche, welche den Ehrgeiz haben, sich zu verbergen. Etwas ist Allen gemein: sie halten sich die Ohren zu vor der rasenden Dummheit und dem lärmenden Maulwerk des demokratischen bourgeois. In der That wälzt sich heut im Vordergrunde ein verdummtes und vergröbertes Frankreich, – es hat neuerdings, bei dem Leichenbegängniss Victor Hugo's, eine wahre Orgie des Ungeschmacks und zugleich der Selbstbewunderung gefeiert. Auch etwas Anderes ist ihnen gemeinsam: ein guter Wille, sich der geistigen Germanisirung zu erwehren – und ein noch besseres Unvermögen dazu! Vielleicht ist jetzt schon Schopenhauer in diesem Frankreich des Geistes, welches auch ein Frankreich des Pessimismus ist, mehr zu Hause und heimischer geworden, als er es je in Deutschland war; nicht zu reden von Heinrich Heine, der den feineren und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, oder von Hegel, der heute in Gestalt Taine's – das heisst des ersten lebenden Historikers – einen beinahe tyrannischen Einfluss ausübt. Was aber Richard Wagner betrifft: je mehr sich die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der âme moderne gestalten lernt, um so mehr wird sie »wagnerisiren«, das darf man vorhersagen, – sie thut es jetzt schon genug! Es ist dennoch dreierlei, was auch heute noch die Franzosen mit Stolz als ihr Erb und Eigen und als unverlornes Merkmal einer alten Cultur-Überlegenheit über Europa aufweisen können, trotz aller freiwilligen oder unfreiwilligen Germanisirung und Verpöbelung des Geschmacks: einmal die Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften, zu Hingebungen an die »Form«, für welche das Wort l'art pour l'art, neben tausend anderen, erfunden ist: – dergleichen hat in Frankreich seit drei Jahrhunderten nicht gefehlt und immer wieder, Dank der Ehrfurcht vor der »kleinen Zahl«, eine Art Kammermusik der Litteratur ermöglicht, welche im übrigen Europa sich suchen lässt –. Das Zweite, worauf die Franzosen eine Überlegenheit über Europa begründen können, ist ihre alte vielfache moralistische Cultur, welche macht, dass man im Durchschnitt selbst bei kleinen romanciers der Zeitungen und zufälligen boulevardiers de Paris eine psychologische Reizbarkeit und Neugierde findet, von der man zum Beispiel in Deutschland keinen Begriff (geschweige denn die Sache!) hat. Den Deutschen fehlen dazu ein paar Jahrhunderte moralistischer Art, welche, wie gesagt, Frankreich sich nicht erspart hat; wer die Deutschen darum »naiv« nennt, macht ihnen aus einem Mangel ein Lob zurecht. (Als Gegensatz zu der deutschen Unerfahrenheit und Unschuld in voluptate psychologica, die mit der Langweiligkeit des deutschen Verkehrs nicht gar zu fern verwandt ist, – und als gelungenster Ausdruck einer ächt französischen Neugierde und Erfindungsgabe für dieses Reich zarter Schauder mag Henri Beyle gelten, jener merkwürdige vorwegnehmende und vorauslaufende Mensch, der mit einem Napoleonischen Tempo durch sein Europa, durch mehrere Jahrhunderte der europäischen Seele lief, als ein Ausspürer und Entdecker dieser Seele: – es hat zweier Geschlechter bedurft, um ihn irgendwie einzuholen, um einige der Räthsel nachzurathen, die ihn quälten und entzückten, diesen wunderlichen Epicureer und Fragezeichen-Menschen, der Frankreichs letzter grosser Psycholog war –). Es giebt noch einen dritten Anspruch auf Überlegenheit: im Wesen der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und Südens gegeben, welche sie viele Dinge begreifen macht und andre Dinge thun heisst, die ein Engländer nie begreifen wird; ihr dem Süden periodisch zugewandtes und abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu Zeit das provençalische und ligurische Blut überschäumt, bewahrt sie vor dem schauerlichen nordischen Grau in Grau und der sonnenlosen Begriffs-Gespensterei und Blutarmuth, – unsrer deutschen Krankheit des Geschmacks, gegen deren Übermaass man sich augenblicklich mit grosser Entschlossenheit Blut und Eisen, will sagen: die »grosse Politik« verordnet hat (gemäss einer gefährlichen Heilkunst, welche mich warten und warten, aber bis jetzt noch nicht hoffen lehrt –). Auch jetzt noch giebt es in Frankreich ein Vorverständniss und ein Entgegenkommen für jene seltneren und selten befriedigten Menschen, welche zu umfänglich sind, um in irgend einer Vaterländerei ihr Genüge zu finden und im Norden den Süden, im Süden den Norden zu lieben wissen, – für die geborenen Mittelländler, die »guten Europäer«. – Für sie hat Bizet Musik gemacht, dieses letzte Genie, welches eine neue Schönheit und Verführung gesehn, – der ein Stück Süden der Musik entdeckt hat.

 

255.

Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten. Gesetzt, dass Einer den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine grosse Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung, welche sich über ein selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein Solcher wird sich etwas vor der deutschen Musik in Acht nehmen lernen, weil sie, indem sie seinen Geschmack zurück verdirbt, ihm die Gesundheit mit zurück verdirbt. Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben nach, muss, falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren, vielleicht böseren und geheimnissvolleren Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick des blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen Himmels-Helle nicht verklingt, vergilbt, verblasst, wie es alle deutsche Musik thut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den braunen Sonnen-Untergängen der Wüste Recht behält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter grossen schönen einsamen Raubthieren heimisch zu sein und zu schweifen versteht ... Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber darin bestünde, dass sie von Gut und Böse nichts mehr wüsste, nur dass vielleicht irgend ein Schiffer-Heimweh, irgend welche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von grosser Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre. –

 

256.

Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn zwischen die Völker Europa's gelegt hat und noch legt, Dank ebenfalls den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute mit seiner Hülfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die auseinanderlösende Politik, welche sie treiben, nothwendig nur Zwischenakts-Politik sein kann, – Dank Alledem und manchem heute ganz Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen übersehn oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, dass Europa Eins werden will. Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung in der geheimnissvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen Synthesis vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen: nur mit ihren Vordergründen, oder in schwächeren Stunden, etwa im Alter, gehörten sie zu den »Vaterländern«, – sie ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie »Patrioten« wurden. Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer: man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard Wagner zu ihnen rechne, über den man sich nicht durch seine eignen Missverständnisse verführen lassen darf, – Genies seiner Art haben selten das Recht, sich selbst zu verstehen. Noch weniger freilich durch den ungesitteten Lärm, mit dem man sich jetzt in Frankreich gegen Richard Wagner sperrt und wehrt: – die Thatsache bleibt nichtsdestoweniger bestehen, dass die französische Spät-Romantik der Vierziger Jahre und Richard Wagner auf das Engste und Innigste zu einander, gehören. Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer Bedürfnisse verwandt, grundverwandt: Europa ist es, das Eine Europa, dessen Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus, hinauf drängt und sehnt – wohin? in ein neues Licht? nach einer neuen Sonne? Aber wer möchte genau aussprechen, was alle diese Meister neuer Sprachmittel nicht deutlich auszusprechen wussten? Gewiss ist, dass der gleiche Sturm und Drang sie quälte, dass sie auf gleiche Weise suchten, diese letzten grossen Suchenden! Allesammt beherrscht von der Litteratur bis in ihre Augen und Ohren – die ersten Künstler von weltlitterarischer Bildung – meistens sogar selber Schreibende, Dichtende, Vermittler und Vermischer der Künste und der Sinne (Wagner gehört als Musiker unter die Maler, als Dichter unter die Musiker, als Künstler überhaupt unter die Schauspieler); allesammt Fanatiker des Ausdrucks »um jeden Preis« – ich hebe Delacroix hervor, den Nächstverwandten Wagner's –, allesammt grosse Entdecker im Reiche des Erhabenen, auch des Hässlichen und Grässlichen, noch grössere Entdecker im Effekte, in der Schaustellung, in der Kunst der Schauläden, allesammt Talente weit über ihr Genie hinaus –, Virtuosen durch und durch, mit unheimlichen Zugängen zu Allem, was verführt, lockt, zwingt, umwirft, geborene Feinde der Logik und der geraden Linien, begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden; als Menschen Tantalusse des Willens, heraufgekommene Plebejer, welche sich im Leben und Schaffen eines vornehmen tempo, eines lento unfähig wussten, – man denke zum Beispiel an Balzac – zügellose Arbeiter, beinahe Selbst-Zerstörer durch Arbeit; Antinomisten und Aufrührer in den Sitten, Ehrgeizige und Unersättliche ohne Gleichgewicht und Genuss; allesammt zuletzt an dem christlichen Kreuze zerbrechend und niedersinkend (und das mit Fug und Recht: denn wer von ihnen wäre tief und ursprünglich genug zu einer Philosophie des Antichrist gewesen? –) im Ganzen eine verwegen-wagende, prachtvoll-gewaltsame, hochfliegende und hoch emporreissende Art höherer Menschen, welche ihrem Jahrhundert – und es ist das Jahrhundert der Menge! – den Begriff »höherer Mensch« erst zu lehren hatte Mögen die deutschen Freunde Richard Wagner's darüber mit sich zu Rathe gehn, ob es in der Wagnerischen Kunst etwas schlechthin Deutsches giebt, oder ob nicht gerade deren Auszeichnung ist, aus überdeutschen Quellen und Antrieben zu kommen: wobei nicht unterschätzt werden mag, wie zur Ausbildung seines Typus gerade Paris unentbehrlich war, nach dem ihn in der entscheidendsten Zeit die Tiefe seiner Instinkte verlangen hiess, und wie die ganze Art seines Auftretens, seines Selbst-Apostolats erst Angesichts des französischen Socialisten-Vorbilds sich vollenden konnte. Vielleicht wird man, bei einer feineren Vergleichung, zu Ehren der deutschen Natur Richard Wagner's finden, dass er es in Allem stärker, verwegener, härter, höher getrieben hat, als es ein Franzose des neunzehnten Jahrhunderts treiben könnte, – Dank dem Umstande, dass wir Deutschen der Barbarei noch näher stehen als die Franzosen –; vielleicht ist sogar das Merkwürdigste, was Richard Wagner geschaffen hat, der ganzen so späten lateinischen Rasse für immer und nicht nur für heute unzugänglich, unnachfühlbar, unnachahmbar: die Gestalt des Siegfried, jenes sehr freien Menschen, der in der That bei weitem zu frei, zu hart, zu wohlgemuth, zu gesund, zu antikatholisch für den Geschmack alter und mürber Culturvölker sein mag. Er mag sogar eine Sünde wider die Romantik gewesen sein, dieser antiromanische Siegfried: nun, Wagner hat diese Sünde reichlich quitt gemacht, in seinen alten trüben Tagen, als er – einen Geschmack vorwegnehmend, der inzwischen Politik geworden ist – mit der ihm eignen religiösen Vehemenz den Weg nach Rom, wenn nicht zu gehn, so doch zu predigen anfieng. – Damit man mich, mit diesen letzten Worten, nicht missverstehe, will ich einige kräftige Reime zu Hülfe nehmen, welche auch weniger feinen Ohren es verrathen werden, was ich will, – was ich gegen den »letzten Wagner« und seine Parsifal-Musik will.

– Ist das noch deutsch? –

Aus deutschem Herzen kam dies schwüle Kreischen?

Und deutschen Leibs ist dies Sich-selbst-Entfleischen?

Deutsch ist dies Priester-Händespreitzen,

Dies weihrauch-düftelnde Sinne-Reizen?

Und deutsch dies Stocken, Stürzen, Taumeln,

Dies ungewisse Bimbambaumeln?

Dies Nonnen-Äugeln, Ave-Glocken-Bimmeln,

Dies ganze falsch verzückte Himmel-Überhimmeln?

– Ist Das noch deutsch? –

Erwägt! Noch steht ihr an der Pforte: –

Denn, was ihr hört, ist Rom, – Rom's Glaube ohne Worte!


 << zurück weiter >>