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Siebentes Hauptstück: Unsere Tugenden.

214.

Unsere Tugenden? – Es ist wahrscheinlich, dass auch wir noch unsere Tugenden haben, ob es schon billigerweise nicht jene treuherzigen und vierschrötigen Tugenden sein werden, um derentwillen wir unsere Grossväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten. Wir Europäer von übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts, – mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit und Kunst der Verkleidung, unsrer mürben und gleichsam versüssten Grausamkeit in Geist und Sinnen, – wir werden vermuthlich, wenn wir Tugenden haben sollten, nur solche haben, die sich mit unsren heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit unsern heissesten Bedürfnissen am besten vertragen lernten: wohlan, suchen wir einmal nach ihnen in unsren Labyrinthen! – woselbst sich, wie man weiss, so mancherlei verliert, so mancherlei ganz verloren geht. Und giebt es etwas Schöneres, als nach seinen eigenen Tugenden suchen? Heisst dies nicht beinahe schon: an seine eigne Tugend glauben? Dies aber »an seine Tugend glauben« – ist dies nicht im Grunde dasselbe, was man ehedem sein »gutes Gewissen« nannte, jener ehrwürdige langschwänzige Begriffs-Zopf, den sich unsre Grossväter hinter ihren Kopf, oft genug auch hinter ihren Verstand hängten? Es scheint demnach, wie wenig wir uns auch sonst altmodisch und grossväterhaft-ehrbar dünken mögen, in Einem sind wir dennoch die würdigen Enkel dieser Grossväter, wir letzten Europäer mit gutem Gewissen: auch wir noch tragen ihren Zopf. – Ach! Wenn ihr wüsstet, wie es bald, so bald schon – anders kommt! ...

 

215.

Wie es im Reich der Sterne mitunter zwei Sonnen sind, welche die Bahn Eines Planeten bestimmen, wie in gewissen Fällen Sonnen verschiedener Farbe um einen einzigen Planeten leuchten, bald mit rothem Lichte, bald mit grünen Lichte, und dann wieder gleichzeitig ihn treffend und bunt überfluthend: so sind wir modernen Menschen, Dank der complicirten Mechanik unsres »Sternenhimmels« – durch verschiedene Moralen bestimmt; unsre Handlungen leuchten abwechselnd in verschiedenen Farben, sie sind selten eindeutig, – und es giebt genug Fälle, wo wir bunte Handlungen thun.

 

216.

Seine Feinde lieben? Ich glaube, das ist gut gelernt worden: es geschieht heute tausendfältig, im Kleinen und im Grossen; ja es geschieht bisweilen schon das Höhere und Sublimere – wir lernen verachten, wenn wir lieben, und gerade wenn wir am besten lieben: – aber alles dies unbewusst, ohne Lärm, ohne Prunk, mit jener Scham und Verborgenheit der Güte, welche dem Munde das feierliche, Wort und die Tugend-Formel verbietet. Moral als Attitüde – geht uns heute wider den Geschmack. Dies ist auch ein Fortschritt: wie es der Fortschritt unsrer Väter war, dass ihnen endlich Religion als Attitüde wider den Geschmack gieng, eingerechnet die Feindschaft und Voltairische Bitterkeit gegen die Religion (und was Alles ehemals zur Freigeist-Gebärdensprache gehörte). Es ist die Musik in unserm Gewissen, der Tanz in unserm Geiste, zu dem alle Puritaner-Litanei, alle Moral-Predigt und Biedermännerei nicht klingen will.

 

217.

Sich vor Denen in Acht nehmen, welche einen hohen Werth darauf legen, dass man ihnen moralischen Takt und Feinheit in der moralischen Unterscheidung zutraue! Sie vergeben es uns nie, wenn sie sich einmal vor uns (oder gar an uns) vergriffen haben, – sie werden unvermeidlich zu unsern instinktiven Verleumdern und Beeinträchtigern, selbst wenn sie noch unsre »Freunde« bleiben. – Selig sind die Vergesslichen: denn sie werden auch mit ihren Dummheiten »fertig«.

 

218.

Die Psychologen Frankreichs – und wo giebt es heute sonst noch Psychologen? – haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als wenn genug, sie verrathen etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts Anderes mehr: es war seine Art von Selbstquälerei und feinerer Grausamkeit. Nun empfehle ich, zur Abwechslung – denn es wird langweilig –, ein anderes Ding zum Entzücken: das ist die unbewusste Verschlagenheit, mit der sich alle guten dicken braven Geister des Mittelmaasses zu höheren Geistern und deren Aufgaben verhalten, jene feine verhäkelte jesuitische Verschlagenheit, welche tausend Mal feiner ist, als der Verstand und Geschmack dieses Mittelstandes in seinen besten Augenblicken – sogar auch als der Verstand seiner Opfer –: zum abermaligen Beweise dafür, dass der »Instinkt« unter allen Arten von Intelligenz, welche bisher entdeckt wurden, die intelligenteste ist. Kurz, studirt, ihr Psychologen, die Philosophie der »Regel« im Kampfe mit der »Ausnahme«: da habt ihr ein Schauspiel, gut genug für Götter und göttliche Boshaftigkeit! Oder, noch heutlicher: treibt Vivisektion am »guten Menschen«, am »homo bonae voluntatis an euch!

 

219.

Das moralische Urtheilen und Verurtheilen ist die Lieblings-Rache der Geistig-Beschränkten an Denen, die es weniger sind, auch eine Art Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden, endlich eine Gelegenheit, Geist zu bekommen und fein zu werden: – Bosheit vergeistigt. Es thut ihnen im Grunde ihres Herzens wohl, dass es einen Maassstab giebt, vor dem auch die mit Gütern und Vorrechten des Geistes überhäuften ihnen gleich stehn: – sie kämpfen für die »Gleichheit Aller vor Gott« und brauchen beinahe dazu schon den Glauben an Gott. Unter ihnen sind die kräftigsten Gegner des Atheismus. Wer ihnen sagte »eine hohe Geistigkeit ist ausser Vergleich mit irgend welcher Bravheit und Achtbarkeit eines eben nur moralischen Menschen«, würde sie rasend machen: – ich werde mich hüten, es zu thun. Vielmehr möchte ich ihnen mit meinem Satze schmeicheln, dass eine hohe Geistigkeit selber nur als letzte Ausgeburt moralischer Qualitäten besteht; dass sie eine Synthesis aller jener Zustände ist, welche den »nur moralischen« Menschen nachgesagt werden, nachdem sie, einzeln, durch lange Zucht und Übung, vielleicht in ganzen Ketten von Geschlechtern erworben sind; dass die hohe Geistigkeit eben die Vergeistigung der Gerechtigkeit und jener gütigen Strenge ist, welche sich beauftragt weiss, die Ordnung des Ranges in der Welt aufrecht zu erhalten, unter den Dingen selbst – und nicht nur unter Menschen.

 

220.

Bei dem jetzt so volksthümlichen Lobe des »Uninteressirten« muss man sich, vielleicht nicht ohne einige Gefahr, zum Bewusstsein bringen, woran eigentlich das Volk Interesse nimmt, und was überhaupt die Dinge sind, um die sich der gemeine Mann gründlich und tief kümmert: die Gebildeten eingerechnet, sogar die Gelehrten, und wenn nicht Alles trügt, beinahe auch die Philosophen. Die Thatsache kommt dabei heraus, dass das Allermeiste von dem, was feinere und verwöhntere Geschmäcker, was jede höhere Natur interessirt und reizt, dem durchschnittlichen Menschen gänzlich »uninteressant« scheint: – bemerkt er trotzdem eine Hingebung daran, so nennt er sie »désintéressé« und wundert sich, wie es möglich ist, »uninteressirt« zu handeln. Es hat Philosophen gegeben, welche dieser Volks-Verwunderung noch einen verführerischen und mystisch-jenseitigen Ausdruck zu verleihen wussten (– vielleicht weil sie die höhere Natur nicht aus Erfahrung kannten?) – statt die nackte und herzlich billige Wahrheit hinzustellen, dass die »uninteressirte« Handlung eine sehr interessante und interessirte Handlung ist, vorausgesetzt ... »Und die Liebe?« – Wie! Sogar eine Handlung aus Liebe soll »unegoistisch« sein? Aber ihr Tölpel –! Und das Lob des Aufopfernden?« – Aber wer wirklich Opfer gebracht hat, weiss, dass er etwas dafür wollte und bekam, – vielleicht etwas von sich für etwas von sich – dass er hier hingab, um dort mehr zu haben, vielleicht um überhaupt mehr zu sein oder sich doch als »mehr« zu fühlen. Aber dies ist ein Reich von Fragen und Antworten, in dem ein verwöhnterer Geist sich ungern aufhält: so sehr hat hier bereits die Wahrheit nöthig, das Gähnen zu unterdrücken, wenn sie antworten muss. Zuletzt ist sie ein Weib: man soll ihr nicht Gewalt anthun.

 

221.

Es kommt vor, sagte ein moralistischer Pedant und Kleinigkeitskrämer, dass ich einen uneigennützigen Menschen ehre und auszeichne: nicht aber, weil er uneigennützig ist, sondern weil er mir ein Recht darauf zu haben scheint, einem anderen Menschen auf seine eignen Unkosten zu nützen. Genug, es fragt sich immer, wer er ist und wer Jener ist. An Einem zum Beispiele, der zum Befehlen bestimmt und gemacht wäre, würde Selbst-Verleugnung und bescheidenes Zurücktreten nicht eine Tugend, sondern die Vergeudung einer Tugend sein: so scheint es mir. Jede unegoistische Moral, welche sich unbedingt nimmt und an Jedermann wendet, sündigt nicht nur gegen den Geschmack: sie ist eine Aufreizung zu Unterlassungs-Sünden, eine Verführung mehr unter der Maske der Menschenfreundlichkeit – und gerade eine Verführung und Schädigung der Höheren, Seltneren, Bevorrechteten. Man muss die Moralen zwingen, sich zu allererst vor der Rangordnung zu beugen, man muss ihnen ihre Anmaassung in's Gewissen schieben, – bis sie endlich mit einander darüber in's Klare kommen, das es unmoralisch ist zu sagen: »was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig«. – Also mein moralistischer Pedant und bonhomme: verdiente er es wohl, dass man ihn auslachte, als er die Moralen dergestalt zur Moralität ermahnte? Aber man soll nicht zu viel Recht haben, wenn man die Lacher auf seiner Seite haben will; ein Körnchen Unrecht gehört sogar zum guten Geschmack.

 

222.

Wo heute Mitleiden gepredigt wird – und, recht gehört, wird jetzt keine andre Religion mehr gepredigt – möge der Psycholog seine Ohren aufmachen: durch alle Eitelkeit, durch allen Lärm hindurch, der diesen Predigern (wie allen Predigern) zu eigen ist, wird er einen heiseren, stöhnenden, ächten Laut von Selbst-Verachtung hören. Sie gehört zu jener Verdüsterung und Verhässlichung Europa's, welche jetzt ein Jahrhundert lang im Wachsen ist (und deren erste Symptome schon in einem nachdenklichen Briefe Galiani's an Madame d'Epinay urkundlich verzeichnet sind): wenn sie nicht deren Ursache ist! Der Mensch der »modernen Ideen«, dieser stolze Affe, ist unbändig mit sich selbst unzufrieden: dies steht fest. Er leidet:. und seine Eitelkeit will, dass er nur »mit leidet« ...

 

223.

Der europäische Mischmensch – ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles in Allem – braucht schlechterdings ein Kostüm: er hat die Historie nöthig als die Vorrathskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei, dass ihm keines recht auf den Leib passt, – er wechselt und wechselt. Man sehe sich das neunzehnte Jahrhundert auf diese schnellen Vorlieben und Wechsel der Stil-Maskeraden an; auch auf die Augenblicke der Verzweiflung darüber, dass uns »nichts steht« –. Unnütz, sich romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder barokko oder »national« vorzuführen, in moribus et artibus: es kleidet nicht«! Aber der »Geist«, insbesondere der »historische Geist«, ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vortheil: immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht, umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem studirt: – wir sind das erste studirte Zeitalter in puncto der »Kostüme«, ich meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum geistigsten Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transscendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Pazodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, – vielleicht dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!

 

224.

Der historische Sinn (oder die Fähigkeit, die Rangordnung von Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat, der »divinatorische Instinkt« für die Beziehungen dieser Werthschätzungen, für das Verhältniss der Autorität der Werthe zur Autorität der wirkenden Kräfte): dieser historische Sinn, auf welchen wir Europäer als auf unsre Besonderheit Anspruch machen, ist uns im Gefolge der bezaubernden und tollen Halbbarbarei gekommen, in welche Europa durch die demokratische Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden ist, – erst das neunzehnte Jahrhundert kennt diesen Sinn, als seinen sechsten Sinn. Die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise, von Culturen, die früher hart neben einander, über einander lagen, strömt Dank jener Mischung in uns »moderne Seelen« aus, unsre Instinkte laufen nunmehr überallhin zurück, wir selbst sind eine Art Chaos –: schliesslich ersieht sich »der Geist«, wie gesagt, seinen Vortheil dabei. Durch unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und insofern der beträchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben Halbbarbarei war, bedeutet »historischer Sinn« beinahe den Sinn und Instinkt für Alles, den Geschmack und die Zunge für Alles: womit er sich sofort als ein unvornehmer Sinn ausweist. Wir geniessen zum Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser glücklichster Vorsprung, dass wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen wissen und wussten, – welchen zu geniessen sie sich kaum erlaubten. Das sehr bestimmte Ja und Nein ihres Gaumens, ihr leicht bereiter Ekel, ihre zögernde Zurückhaltung in Bezug auf alles Fremdartige, ihre Scheu vor dem Ungeschmack selbst der lebhaften Neugierde, und überhaupt jener schlechte Wille jeder vornehmen und selbstgenügsamen Cultur, sich eine neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen, eine Bewunderung des Fremden einzugestehen: alles dies stellt und stimmt sie ungünstig selbst gegen die besten Dinge der Welt, welche nicht ihr Eigenthum sind oder ihre Beute werden könnten, – und kein Sinn ist solchen Menschen unverständlicher, als gerade der historische Sinn und seine unterwürfige Plebejer-Neugierde. Nicht anders steht es mit Shakespeare, dieser erstaunlichen spanisch-maurisch-sächsischen Geschmacks-Synthesis, über welchen sich ein Altathener aus der Freundschaft des Aeschylus halbtodt gelacht oder geärgert haben würde: aber wir – nehmen gerade diese wilde Buntheit, dies Durcheinander des Zartesten, Gröbsten und Künstlichsten, mit einer geheimen Vertraulichkeit und Herzlichkeit an, wir geniessen ihn als das gerade uns aufgesparte Raffinement der Kunst und lassen uns dabei von den widrigen Dämpfen und der Nähe des englischen Pöbels, in welcher Shakespeare's Kunst und Geschmack lebt, so wenig stören, als etwa auf der Chiaja Neapels: wo wir mit allen unsren Sinnen, bezaubert und willig, unsres Wegs gehn, wie sehr auch die Cloaken der Pöbel-Quartiere in der Luft sind. Wir Menschen des »historischen Sinns«: wir haben als solche unsre Tugenden, es ist nicht zu bestreiten, – wir sind anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer, voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig, sehr entgegenkommend: – wir sind mit Alledem vielleicht nicht sehr »geschmackvoll«. Gestehen wir es uns schliesslich zu: was uns Menschen des »historischen Sinns« am schwersten zu fassen, zu fühlen, nachzuschmecken, nachzulieben ist, was uns im Grunde voreingenommen und fast feindlich findet, das ist gerade das Vollkommene und Letzthin – Reife in jeder Cultur und Kunst, das eigentlich Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick glatten Meers und halkyonischer Selbstgenugsamkeit, das Goldene und Kalte, welches alle Dinge zeigen, die sich vollendet haben. Vielleicht steht unsre grosse Tugend des historischen Sinns in einem nothwendigen Gegensatz zum guten Geschmacke, mindestens zum allerbesten Geschmacke, und wir vermögen gerade die kleinen kurzen und höchsten Glücksfälle und Verklärungen des menschlichen Lebens, wie sie hier und da einmal aufglänzen, nur schlecht, nur zögernd, nur mit Zwang in uns nachzubilden: jene Augenblicke und Wunder, wo eine grosse Kraft freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb –, wo ein Überfluss von feiner Lust in der plötzlichen Bändigung und Versteinerung, im Feststehen und Sich-Fest-Stellen auf einem noch zitternden Boden genossen wurde. Das Maass ist uns fremd, gestehen wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse lassen wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir Halbbarbaren – und sind erst dort in unsrer Seligkeit, wo wir auch am meisten – in Gefahr sind.

 

225.

Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus: alle diese Denkweisen, welche nach Lust und Leid, das heisst nach Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird. Mitleiden mit euch! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint: das ist nicht Mitleiden mit der socialen »Noth«, mit der »Gesellschaft« und ihren Kranken und Verunglückten, mit Lasterhaften und Zerbrochnen von Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen; das ist noch weniger Mitleiden mit murrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schichten, welche nach Herrschaft – sie nennen's »Freiheit« – trachten. Unser Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden: – wir sehen, wie der Mensch sich verkleinert, wie ihr ihn verkleinert! – und es giebt Augenblicke, wo wir gerade eurem Mitleiden mit einer unbeschreiblichen Beängstigung zusehn, wo wir uns gegen dies Mitleiden wehren –, wo wir euren Ernst gefährlicher als irgend welche Leichtfertigkeit finden. Ihr wollt womöglich – und es giebt kein tolleres »womöglich« – das Leiden abschaffen; und wir? – es scheint gerade, wir wollen es lieber noch höher und schlimmer haben, als je es war! Wohlbefinden, wie ihr es versteht – das ist ja kein Ziel, das scheint uns ein Ende! Ein Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich macht, – der seinen Untergang wünschen macht! Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens – wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick des grossen Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden ist: – ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen Leidens geschenkt worden? Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag: – versteht ihr diesen Gegensatz? Und dass euer Mitleid dem »Geschöpf im Menschen« gilt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglüht, geläutert werden muss, – dem, was nothwendig leiden muss und leiden soll? Und unser Mitleid – begreift ihr's nicht, wem unser umgekehrtes Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid wehrt, als gegen die schlimmste aller Verzärtelungen und Schwächen? – Mitleid also gegen Mitleid! – Aber, nochmals gesagt, es giebt höhere Probleme als alle Lust- und Leid- und Mitleid-Probleme; und jede Philosophie, die nur auf diese hinausläuft, ist eine Naivetät. –

 

226.

Wir Immoralisten! – Diese Welt, die uns angeht, in der wir zu fürchten und zu lieben haben, diese beinahe unsichtbare unhörbare Welt feinen Befehlens, feinen Gehorchens, eine Welt des »Beinahe« in jedem Betrachte, häklich, verfänglich, spitzig, zärtlich: ja, sie ist gut vertheidigt gegen plumpe Zuschauer und vertrauliche Neugierde! Wir sind in ein strenges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen und können da nicht heraus –, darin eben sind wir »Menschen der Pflicht«, auch wir! Bisweilen, es ist wahr, tanzen wir wohl in unsern »Ketten« und zwischen unsern »Schwertern«; öfter, es ist nicht minder wahr, knirschen wir darunter und sind ungeduldig über all die heimliche Härte unsres Geschicks. Aber wir mögen thun, was wir wollen: die Tölpel und der Augenschein sagen gegen uns »das sind Menschen ohne Pflicht« – wir haben immer die Tölpel und den Augenschein gegen uns!

 

227.

Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht loskönnen, wir freien Geister – nun, wir wollen mit aller Bosheit und Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in unsrer Tugend, die allein uns übrig blieb, zu »vervollkommnen«: mag ihr Glanz einmal wie ein vergoldetes blaues spöttisches Abendlicht über dieser alternden Cultur und ihrem dumpfen düsteren Ernste liegen bleiben! Und wenn dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird und seufzt und die Glieder streckt und uns zu hart findet und es besser, leichter, zärtlicher haben möchte, gleich einem angenehmen Laster: bleiben wir hart, wir letzten Stoiker! und schicken wir ihr zu Hülfe, was wir nur an Teufelei in uns haben – unsern Ekel am Plumpen und Ungefähren, unser »nitimur in vetitum«, unsern Abenteuerer-Muth, unsre gewitzte und verwöhnte Neugierde, unsern feinsten verkapptesten geistigsten Willen zur Macht und Welt-Überwindung, der begehrlich um alle Reiche der Zukunft schweift und schwärmt, – kommen wir unserm »Gotte« mit allen unsern »Teufeln« zu Hülfe! Es ist wahrscheinlich, dass man uns darob verkennt und verwechselt: was liegt daran! Man wird sagen: »ihre »Redlichkeit« – das ist ihre Teufelei, und gar nichts mehr!« was liegt daran! Und selbst wenn man Recht hätte! Waren nicht alle Götter bisher dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel? Und was wissen wir zuletzt von uns? Und wie der Geist heissen will, der uns führt? (es ist eine Sache der Namen.) Und wie viele Geister wir bergen? Unsre Redlichkeit, wir freien Geister, – sorgen wir dafür, dass sie nicht unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit werde! Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend; »dumm bis zur Heiligkeit« sagt man in Russland, – sorgen wir dafür, dass wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu Heiligen und Langweiligen werden! Ist das Leben nicht hundert Mal zu kurz, sich in ihm – zu langweilen? Man müsste schon an's ewige Leben glauben, um ...

 

228.

Man vergebe mir die Entdeckung, dass alle Moral-Philosophie bisher langweilig war und zu den Schlafmitteln gehörte – und dass »die Tugend« durch nichts mehr in meinen Augen beeinträchtigt worden ist, als durch diese Langweiligkeit ihrer Fürsprecher; womit ich noch nicht deren allgemeine Nützlichkeit verkannt haben möchte. Es liegt viel daran, dass so wenig Menschen als möglich über Moral nachdenken, – es liegt folglich sehr viel daran, dass die Moral nicht etwa eines Tages interessant werde! Aber man sei unbesorgt! Es steht auch heute noch so, wie es immer stand: ich sehe Niemanden in Europa, der einen Begriff davon hätte (oder gäbe), dass das Nachdenken über Moral gefährlich, verfänglich, verführerisch getrieben werden könnte, – dass Verhängniss darin liegen könnte! Man sehe sich zum Beispiel die unermüdlichen unvermeidlichen englischen Utilitarier an, wie sie plump und ehrenwerth in den Fusstapfen Bentham's, daher wandeln, dahin wandeln (ein homerisches Gleichniss sagt es deutlicher), so wie er selbst schon in den Fusstapfen des ehrenwerthen Helvétius wandelte (nein, das war kein gefährlicher Mensch, dieser Helvétius!). Kein neuer Gedanke, Nichts von feinerer Wendung und Faltung eines alten Gedankens, nicht einmal eine wirkliche Historie des früher Gedachten: eine unmögliche Litteratur im Ganzen, gesetzt, dass man sie nicht mit einiger Bosheit sich einzusäuern versteht. Es hat sich nämlich auch in diese Moralisten (welche man durchaus mit Nebengedanken lesen muss, falls man sie lesen muss-), jenes alte englische Laster eingeschlichen, das cant heisst und moralische Tartüfferie ist, dies Mal unter die neue Form der Wissenschaftlichkeit versteckt; es fehlt auch nicht an geheimer Abwehr von Gewissensbissen, an denen billigerweise eine Rasse von ehemaligen Puritanern bei aller wissenschaftlichen Befassung mit Moral leiden wird. (Ist ein Moralist nicht das Gegenstück eines Puritaners? Nämlich als ein Denker, der die Moral als fragwürdig, fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt? Sollte Moralisiren nicht – unmoralisch sein?) Zuletzt wollen sie Alle, dass die englische Moralität Recht bekomme: insofern gerade damit der Menschheit, oder dem »allgemeinen Nutzen« oder »dem Glück der Meisten«, nein! dem Glücke Englands am besten gedient wird; sie möchten mit allen Kräften sich beweisen, dass das Streben nach englischem Glück, ich meine nach comfort und fashion (und, an höchster Stelle, einem Sitz im Parlament) zugleich auch der rechte Pfad der Tugend sei, ja dass, so viel Tugend es bisher in der Welt gegeben hat, es eben in einem solchen Streben bestanden habe. Keins von allen diesen schwerfälligen, im Gewissen beunruhigten Heerdenthieren (die die Sache des Egoismus als Sache der allgemeinen Wohlfahrt zu führen unternehmen –) will etwas davon wissen und riechen, dass die »allgemeine Wohlfahrt« kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist, – dass, was dem Einen billig ist, durchaus noch nicht dem Andern billig sein kann, dass die Forderung Einer Moral für Alle die Beeinträchtigung gerade der höheren Menschen ist, kurz, dass es eine Rangordnung zwischen Mensch und Mensch, folglich auch zwischen Moral und Moral giebt. Es ist eine bescheidene und gründlich mittelmässige Art Mensch, diese utilitarischen Engländer, und, wie gesagt: insofern sie langweilig sind, kann man nicht hoch genug von ihrer Utilität denken. Man sollte sie noch ermuthigen: wie es, zum Theil, mit nachfolgenden Reimen versucht worden ist.

Heil euch, brave Karrenschieber,
Stets »je länger, desto lieber«,
Steifer stets an Kopf und Knie,
Unbegeistert, ungespässig,
Unverwüstlich-mittelmässig,
Sans genie et sans esprit!

 

229.

Es bleibt in jenen späten Zeitaltern, die auf Menschlichkeit stolz sein dürfen, so viel Furcht, so viel Aberglaube der Furcht vor dem »wilden grausamen Thiere« zurück, über welches Herr geworden zu sein eben den Stolz jener menschlicheren Zeitalter ausmacht, dass selbst handgreifliche Wahrheiten wie auf Verabredung Jahrhunderte lang unausgesprochen bleiben, weil sie den Anschein haben, jenem wilden, endlich abgetödteten Thiere wieder zum Leben zu verhelfen. Ich wage vielleicht etwas, wenn ich eine solche Wahrheit mir entschlüpfen lasse: mögen Andre sie wieder einfangen und ihr so viel »Milch der frommen Denkungsart« zu trinken geben, bis sie still und vergessen in ihrer alten Ecke liegt. – Man soll über die Grausamkeit umlernen und die Augen aufmachen; man soll endlich Ungeduld lernen, damit nicht länger solche unbescheidne dicke Irrthümer tugendhaft und dreist herumwandeln, wie sie zum Beispiel in Betreff der Tragödie von alten und neuen Philosophen aufgefüttert worden sind. Fast Alles, was wir »höhere Cultur« nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit – dies ist mein Satz; jenes »wilde Thier« ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur – vergöttlicht. Was die schmerzliche Wollust der Tragödie ausmacht, ist Grausamkeit; was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar in allem Erhabenen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schaudern der Metaphysik, angenehm wirkt, bekommt seine Süssigkeit allein von der eingemischten Ingredienz der Grausamkeit. Was der Römer in der Arena, der Christ in den Entzückungen des Kreuzes, der Spanier Angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, der Japanese von heute, der sich zur Tragödie drängt, der Pariser Vorstadt-Arbeiter, der ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat, die Wagnerianerin, welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich »ergehen lässt«, – was diese Alle geniessen und mit geheimnissvoller Brunst in sich hineinzutrinken trachten, das sind die Würztränke der grossen Circe »Grausamkeit«. Dabei muss man freilich die tölpelhafte Psychologie von Ehedem davon jagen, welche von der Grausamkeit nur zu lehren wusste, dass sie beim Anblicke fremden Leides entstünde: es giebt einen reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eignen Leiden, am eignen Sich-leiden-machen, – und wo nur der Mensch zur Selbst-Verleugnung im religiösen Sinne oder zur Selbstverstümmelung, wie bei Phöniziern und Asketen, oder überhaupt zur Entsinnlichung, Entfleischung, Zerknirschung, zum puritanischen Busskrampfe, zur Gewissens-Vivisektion und zum Pascalischen sacrifizio dell'intelletto sich überreden lässt, da wird er heimlich durch seine Grausamkeit gelockt und vorwärts gedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der gegen sich selbst gewendeten Grausamkeit. Zuletzt erwäge man, dass selbst der Erkennende, indem er seinen Geist zwingt, wider den Hang des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche seines Herzens zu erkennen – nämlich Nein zu sagen, wo er bejahen, lieben, anbeten möchte –, als Künstler und Verklärer der Grausamkeit waltet; schon jedes Tief- und Gründlich-Nehmen ist eine Vergewaltigung, ein Wehe-thun-wollen am Grundwillen des Geistes, welcher unablässig zum Scheine und zu den Oberflächen hin will, – schon in jedem Erkennen-Wollen ist ein Tropfen Grausamkeit.

 

230.

Vielleicht versteht man nicht ohne Weiteres, was ich hier von einem »Grundwillen des Geistes« gesagt habe: man gestatte mir eine Erläuterung. – Das befehlerische Etwas, das vom Volke »der Geist« genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen: es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gänzlich Widersprechende zu übersehen oder wegzustossen: ebenso wie er bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück »Aussenwelt« willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zurecht fälscht. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer »Erfahrungen auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, – auf Wachsthum also; bestimmter noch, auf das Gefühl des Wachsthums, auf das Gefühl der vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar entgegengesetzter Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gut-heissen der Unwissenheit: wie dies Alles nöthig ist je nach dem Grade seiner aneignenden Kraft, seiner »Verdauungskraft«, im Bilde geredet – und wirklich gleicht »der Geist« am meisten noch einem Magen. Insgleichen gehört hierher der gelegentliche Wille des Geistes, sich täuschen zu lassen, vielleicht mit einer muthwilligen Ahnung davon, dass es so und so nicht steht, dass man es so und so eben nur gelten lässt, eine Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender Selbstgenuss an der willkürlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels, am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrösserten, Verkleinerten, Verschobenen, Verschönerten, ein Selbstgenuss an der Willkürlichkeit aller dieser Machtäusserungen. Endlich gehört hierher jene nicht unbedenkliche Bereitwilligkeit des Geistes, andere Geister zu täuschen und sich vor ihnen zu verstellen, jener beständige Druck und Drang einer schaffenden, bildenden, wandelfähigen Kraft: der Geist geniesst darin seine Masken-Vielfältigkeit und Verschlagenheit, er geniesst auch das Gefühl seiner Sicherheit darin, – gerade durch seine Proteuskünste ist er ja am besten vertheidigt und versteckt! – Diesem Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zum Mantel, kurz zur Oberfläche – denn jede Oberfläche ist ein Mantel – wirkt jener sublime Hang des Erkennenden entgegen, der die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und nehmen will: als eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks, welche jeder tapfere Denker bei sich anerkennen wird, gesetzt dass er, wie sich gebührt, sein Auge für sich selbst lange genug gehärtet und gespitzt hat und an strenge Zucht, auch an strenge Worte gewöhnt ist. Er wird sagen »es ist etwas Grausames im Hange meines Geistes«: – mögen die Tugendhaften und Liebenswürdigen es ihm auszureden suchen! In der That, es klänge artiger, wenn man uns, statt der Grausamkeit, etwa eine »ausschweifende Redlichkeit« nachsagte, nachraunte, nachrühmte, – uns freien, sehr freien Geistern: – und so klingt vielleicht wirklich einmal unser – Nachruhm? Einstweilen – denn es hat Zeit bis dahin – möchten wir selbst wohl am wenigsten geneigt sein, uns mit dergleichen moralischen Wort-Flittern und –Franzen aufzuputzen: unsre ganze bisherige Arbeit verleidet uns gerade diesen Geschmack und seine muntere Üppigkeit. Es sind schöne glitzernde klirrende festliche Worte: Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung für die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen, – es ist Etwas daran, das Einem den Stolz schwellen macht. Aber wir Einsiedler und Murmelthiere, wir haben uns längst in aller Heimlichkeit eines Einsiedler-Gewissens überredet, dass auch dieser würdige Wort-Prunk zu dem alten Lügen-Putz, –Plunder und –Goldstaub der unbewussten menschlichen Eitelkeit gehört, und dass auch unter solcher schmeichlerischen Farbe und Übermalung der schreckliche Grundtext homo natura wieder heraus erkannt werden muss. Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden; machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: »du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Herkunft!« – das mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine Aufgabe – wer wollte das leugnen! Warum wir sie wählten, diese tolle Aufgabe? Oder anders gefragt: »warum überhaupt Erkenntniss?« – Jedermann wird uns darnach fragen. Und wir, solchermaassen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male selbst schon ebenso gefragt haben, wir fanden und finden keine bessere Antwort ...

 

231.

Das Lernen verwandelt uns, es thut Das, was alle Ernährung thut, die auch nicht bloss »erhält« –: wie der Physiologe weiss. Aber im Grunde von uns, ganz »da unten«, giebt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen Probleme redet ein unwandelbares »das bin ich«; über Mann und Weib zum Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen, – nur zu Ende entdecken, was darüber bei ihm »feststeht«. Man findet bei Zeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine »Überzeugungen«. Später – sieht man in ihnen nur Fusstapfen zur Selbsterkenntniss, Wegweiser zum Probleme, das wir sind, – richtiger, zur grossen Dummheit, die wir sind, zu unserem geistigen Fatum, zum Unbelehrbaren ganz »da unten«. – Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher schon gestattet sein, über das »Weib an sich« einige Wahrheiten herauszusagen: gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiss, wie sehr es eben nur – meine Wahrheiten sind. –

 

232.

Das Weib will selbständig werden: und dazu fängt es an, die Männer über das »Weib an sich« aufzuklären – das gehört zu den schlimmsten Fortschritten der allgemeinen Verhässlichung Europa's. Denn was müssen diese plumpen Versuche der weiblichen Wissenschaftlichkeit und Selbst-Entblössung Alles an's Licht bringen! Das Weib hat so viel Grund zur Scham; im Weibe ist so viel Pedantisches, Oberflächliches, Schulmeisterliches, Kleinlich-Anmaassliches, Kleinlich-Zügelloses und –Unbescheidenes versteckt – man studire nur seinen Verkehr mit Kindern! –, das im Grunde bisher durch die Furcht vor dem Manne am besten zurückgedrängt und gebändigt wurde. Wehe, wenn erst das »Ewig-Langweilige am Weibe« – es ist reich daran! – sich hervorwagen darf! wenn es seine Klugheit und Kunst, die der Anmuth, des Spielens, Sorgen-Wegscheuchens, Erleichterns und Leicht-Nehmens, wenn es seine feine Anstelligkeit zu angenehmen Begierden gründlich und grundsätzlich zu verlernen beginnt! Es werden schon jetzt weibliche Stimmen laut, welche, beim heiligen Aristophanes! Schrecken machen, es wird mit medizinischer Deutlichkeit gedroht, was zuerst und zuletzt das Weib vom Manne will. Ist es nicht vom schlechtesten Geschmacke, wenn das Weib sich dergestalt anschickt, wissenschaftlich zu werden? Bisher war glücklicher Weise das Aufklären Männer-Sache, Männer-Gabe – man blieb damit »unter sich«; und man darf sich zuletzt, bei Allem, was Weiber über »das Weib« schreiben, ein gutes Misstrauen vorbehalten, ob das Weib über sich selbst eigentlich Aufklärung will – und wollen kann Wenn ein Weib damit nicht einen neuen Putz für sich sucht – ich denke doch, das Sich-Putzen gehört zum Ewig-Weiblichen? – nun, so will es vor sich Furcht erregen: – es will damit vielleicht Herrschaft. Aber es will nicht Wahrheit: was liegt dem Weibe an Wahrheit! Nichts ist von Anbeginn an dem Weibe fremder, widriger, feindlicher als Wahrheit, – seine grosse Kunst ist die Lüge, seine höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit. Gestehen wir es, wir Männer: wir ehren und lieben gerade diese Kunst und diesen Instinkt am Weibe: wir, die wir es schwer haben und uns gerne zu unsrer Erleichterung zu Wesen gesellen, unter deren Händen, Blicken und zarten Thorheiten uns unser Ernst, unsre Schwere und Tiefe beinahe wie eine Thorheit erscheint. Zuletzt stelle ich die Frage: hat jemals ein Weib selber schon einem Weibskopfe Tiefe, einem Weibsherzen Gerechtigkeit zugestanden? Und ist es nicht wahr, dass, im Grossen gerechnet, »das Weib« bisher vom Weibe selbst am meisten missachtet wurde – und ganz und gar nicht von uns? – Wir Männer wünschen, dass das Weib nicht fortfahre, sich durch Aufklärung zu compromittiren: wie es Manns-Fürsorge und Schonung des Weibes war, als die Kirche dekretirte: mulier taceat in ecclesia! Es geschah zum Nutzen des Weibes, als Napoleon der allzuberedten Madame de Staël zu verstehen gab: mulier taceat in politicis! – und ich denke, dass es ein rechter Weiberfreund ist, der den Frauen heute zuruft: mulier taceat de muliere!

 

233.

Es verräth Corruption der Instinkte – noch abgesehn davon, dass es schlechten Geschmack verräth –. wenn ein Weib sich gerade auf Madame Roland oder Madame de Staël oder Monsieur George Sand beruft, wie als ob damit etwas zu Gunsten des »Weibes an sich« bewiesen wäre. Unter Männern sind die Genannten die drei komischen Weiber an sich – nichts mehr! – und gerade die besten unfreiwilligen Gegen-Argumente gegen Emancipation und weibliche Selbstherrlichkeit.

 

234.

Die Dummheit in der Küche; das Weib als Köchin; die schauerliche Gedankenlosigkeit, mit der die Ernährung der Familie und des Hausherrn besorgt wird! Das Weib versteht nicht, was die Speise bedeutet: und will Köchin sein! Wenn das Weib ein denkendes Geschöpf wäre, so hätte es ja, als Köchin seit Jahrtausenden, die grössten physiologischen Thatsachen finden, insgleichen die Heilkunst in seinen Besitz bringen müssen! Durch schlechte Köchinnen – durch den vollkommenen Mangel an Vernunft in der Küche ist die Entwicklung des Menschen am längsten aufgehalten, am schlimmsten beeinträchtigt worden: es steht heute selbst noch wenig besser. Eine Rede an höhere Töchter.

 

235.

Es giebt Wendungen und Würfe des Geistes, es giebt Sentenzen, eine kleine Handvoll Worte, in denen eine ganze Cultur, eine ganze Gesellschaft sich plötzlich krystallisirt. Dahin gehört jenes gelegentliche Wort der Madame de Lambert an ihren Sohn: mon ami, ne vous permettez jamais que de folies, qui vous feront grand plaisir«: – beiläufig das mütterlichste und klügste Wort, das je an einen Sohn gerichtet worden ist.

 

236.

Das, was Dante und Goethe vom Weibe geglaubt haben – jener, indem er sang »ella guardava suso, ed io in lei«, dieser, indem er es übersetzte »das Ewig-Weibliche zieht uns hinan« –: ich zweifle nicht, dass jedes edlere Weib sich gegen diesen Glauben wehren wird, denn es glaubt eben das vom Ewig-Männlichen ...

 

237.

 

Sieben Weibs-Sprüchlein.

Wie die längste Weile fleucht,
kommt ein Mann zu uns gekreucht!

Alter, ach! und Wissenschaft
giebt auch schwacher Tugend Kraft.

Schwarz Gewand und Schweigsamkeit
kleidet jeglich Weib – gescheidt.

Wem im Glück ich dankbar bin? Gott! –
und meiner Schneiderin.

Jung: beblümtes Höhlenhaus.
Alt: ein Drache fährt heraus.

Edler Name, hübsches Bein,
Mann dazu: oh wär' er mein!

Kurze Rede, langer Sinn –
Glatteis für die Eselin!

 

237.

Die Frauen sind von den Männern bisher wie Vögel behandelt worden, die von irgend welcher Höhe sich hinab zu ihnen verirrt haben: als etwas Feineres, Verletzlicheres, Wilderes, Wunderlicheres, Süsseres, Seelenvolleres, – aber als Etwas, das man einsperren muss, damit es nicht davonfliegt.

 

238.

Sich im Grundprobleme »Mann und Weib« zu vergreifen, hier den abgründlichsten Antagonismus und die Nothwendigkeit einer ewig-feindseligen Spannung zu leugnen, hier vielleicht von gleichen Rechten, gleicher Erziehung, gleichen Ansprüchen und Verpflichtungen zu träumen: das ist ein typisches Zeichen von Flachköpfigkeit, und ein Denker, der an dieser gefährlichen Stelle sich flach erwiesen hat – flach im Instinkte! –, darf überhaupt als verdächtig, mehr noch, als verrathen, als aufgedeckt gelten: wahrscheinlich wird er für alle Grundfragen des Lebens, auch des zukünftigen Lebens, zu »kurz« sein und in keine Tiefe hinunter können. Ein Mann hingegen, der Tiefe hat, in seinem Geiste, wie in seinen Begierden, auch jene Tiefe des Wohlwollens, welche der Strenge und Härte fähig ist, und leicht mit ihnen verwechselt wird, kann über das Weib immer nur orientalisch denken: er muss das Weib als Besitz, als verschliessbares Eigenthum, als etwas zur Dienstbarkeit Vorbestimmtes und in ihr sich Vollendendes fassen, – er muss sich hierin auf die ungeheure Vernunft Asiens, auf Asiens Instinkt-Überlegenheit stellen: wie dies ehemals die Griechen gethan haben, diese besten Erben und Schüler Asiens, welche, wie bekannt, von Homer bis zu den Zeiten des Perikles, mit zunehmen – der Cultur und Umfänglichkeit an Kraft, Schritt für Schritt auch strenger gegen das Weib, kurz orientalischer geworden sind. Wie nothwendig, wie logisch, wie selbst menschlich-wünschbar dies war: möge man darüber bei sich nachdenken!

 

239.

Das schwache Geschlecht ist in keinem Zeitalter mit solcher Achtung von Seiten der Männer behandelt worden als in unserm Zeitalter – das gehört zum demokratischen Hang und Grundgeschmack, ebenso wie die Unehrerbietigkeit vor dem Alter –: was Wunder, dass sofort wieder mit dieser Achtung Missbrauch getrieben wird? Man will mehr, man lernt fordern, man findet zuletzt jenen Achtungszoll beinahe schon kränkend, man würde den Wettbewerb um Rechte, ja ganz eigentlich den Kampf vorziehn: genug, das Weib verliert an Scham. Setzen wir sofort hinzu, dass es auch an Geschmack verliert. Es verlernt den Mann zu fürchten: aber das Weib, das »das Fürchten verlernt«, giebt seine weiblichsten Instinkte preis. Dass das Weib sich hervor wagt, wenn das Furcht-Einflössende am Manne, sagen wir bestimmter, wenn der Mann im Manne nicht mehr gewollt und grossgezüchtet wird, ist billig genug, auch begreiflich genug; was sich schwerer begreift, ist, dass ebendamit – das Weib entartet. Dies geschieht heute: täuschen wir uns nicht darüber! Wo nur der industrielle Geist über den militärischen und aristokratischen Geist gesiegt hat, strebt jetzt das Weib nach der wirthschaftlichen und rechtlichen Selbständigkeit eines Commis: »das Weib als Commis« steht an der Pforte der sich bildenden modernen Gesellschaft. Indem es sich dergestalt neuer Rechte bemächtigt, »Herr« zu werden trachtet und den »Fortschritt« des Weibes auf seine Fahnen und Fähnchen schreibt, vollzieht sich mit schrecklicher Deutlichkeit das Umgekehrte: das Weib geht zurück. Seit der französischen Revolution ist in Europa der Einfluss des Weibes in dem Maasse geringer geworden, als es an Rechten und Ansprüchen zugenommen hat; und die »Emancipation des Weibes«, insofern sie von den Frauen selbst (und nicht nur von männlichen Flachköpfen) verlangt und gefördert wird, ergiebt sich dergestalt als ein merkwürdiges Symptom von der zunehmenden Schwächung und Abstumpfung der allerweiblichsten Instinkte. Es ist Dummheit in dieser Bewegung, eine beinahe maskulinische Dummheit, deren sich ein wohlgerathenes Weib – das immer ein kluges Weib ist – von Grund aus zu schämen hätte. Die Witterung dafür verlieren, auf welchem Boden man am sichersten zum Siege kommt; die Übung in seiner eigentlichen Waffenkunst vernachlässigen; sich vor dem Manne gehen lassen, vielleicht sogar »bis zum Buche«, wo man sich früher in Zucht und feine listige Demuth nahm; dem Glauben des Mannes an ein im Weibe verhülltes grundverschiedenes Ideal, an irgend ein Ewig- und Nothwendig-Weibliches mit tugendhafter Dreistigkeit entgegenarbeiten; dem Manne es nachdrücklich und geschwätzig ausreden, dass das Weib gleich einem zarteren, wunderlich wilden und oft angenehmen Hausthiere erhalten, versorgt, geschützt, geschont werden müsse; das täppische und entrüstete Zusammensuchen all des Sklavenhaften und Leibeigenen, das die Stellung des Weibes in der bisherigen Ordnung der Gesellschaft an sich gehabt hat und noch hat (als ob Sklaverei ein Gegenargument und nicht vielmehr eine Bedingung jeder höheren Cultur, jeder Erhöhung der Cultur sei): – was bedeutet dies Alles, wenn nicht eine Anbröckelung der weiblichen Instinkte, eine Entweiblichung? Freilich, es giebt genug blödsinnige Frauen-Freunde und Weibs-Verderber unter den gelehrten Eseln männlichen Geschlechts, die dem Weibe anrathen, sich dergestalt zu entweiblichen und alle die Dummheiten nachzumachen, an denen der »Mann« in Europa, die europäische »Mannhaftigkeit« krankt, – welche das Weib bis zur »allgemeinen Bildung«, wohl gar zum Zeitungslesen und Politisiren herunterbringen möchten. Man will hier und da selbst Freigeister und Litteraten aus den Frauen machen: als ob ein Weib ohne Frömmigkeit für einen tiefen und gottlosen Mann nicht etwas vollkommen Widriges oder Lächerliches wäre –; man verdirbt fast überall ihre Nerven mit der krankhaftesten und gefährlichsten aller Arten Musik (unsrer deutschen neuesten Musik) und macht sie täglich hysterischer und zu ihrem ersten und letzten Berufe, kräftige Kinder zu gebären, unbefähigter. Man will sie überhaupt noch mehr »cultiviren« und, wie man sagt, das »schwache Geschlecht« durch Cultur stark machen: als ob nicht die Geschichte so eindringlich wie möglich lehrte, dass »Cultivirung« des Menschen und Schwächung – nämlich Schwächung, Zersplitterung, Ankränkelung der Willenskraft, immer mit einander Schritt gegangen sind, und dass die mächtigsten und einflussreichsten Frauen der Welt (zuletzt noch die Mutter Napoleon's) gerade ihrer Willenskraft – und nicht den Schulmeistern! – ihre Macht und ihr Übergewicht über die Männer verdankten. Das, was am Weibe Respekt und oft genug Furcht einflösst, ist seine Natur, die »natürlicher« ist als die des Mannes, seine ächte raubthierhafte listige Geschmeidigkeit, seine Tigerkralle unter dem Handschuh, seine Naivetät im Egoismus, seine Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit, das Unfassliche, Weite, Schweifende seiner Begierden und Tugenden ... Was, bei aller Furcht, für diese gefährliche und schöne Katze »Weib« Mitleiden macht, ist, dass es leidender, verletzbarer, liebebedürftiger und zur Enttäuschung verurtheilter erscheint als irgend ein Thier. Furcht und Mitleiden: mit diesen Gefühlen stand bisher der Mann vor dem Weibe, immer mit einem Fusse schon in der Tragödie, welche zerreisst, indem sie entzückt –. Wie? Und damit soll es nun zu Ende sein? Und die Entzauberung des Weibes ist im Werke? Die Verlangweiligung des Weibes kommt langsam herauf? Oh Europa! Europa! Man kennt das Thier mit Hörnern, welches für dich immer am anziehendsten war, von dem dir immer wieder Gefahr droht! Deine alte Fabel könnte noch einmal zur »Geschichte« werden, – noch einmal – könnte eine ungeheure Dummheit über dich Herr werden und dich davon tragen! Und unter ihr kein Gott versteckt, nein! nur eine »Idee«, eine »moderne Idee«! ...


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