Charlotte Niese<
Er und Sie und andere Novellen
Charlotte Niese<

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Er und Sie

Das war damals, als ich Quartier in einem kleinen Ostseebade suchte, und keins finden konnte. Es waren Sommerferien, alle Wohnungen waren vermietet, und teilweise zum Überlaufen voll. Müde setzte ich mich, nach vergeblichem Suchen, Fragen und Umherwandern, an den Mittagstisch des Gasthauses, das »Bellevue« hieß, obgleich man von ihm aus nicht einmal das Wasser sehen konnte. Der Wirt bot mir für die Nacht seine Räucherkammer an, aber ich wollte lieber mit dem Abendschiff wieder in die nächste Stadt; wenn ich nicht ein ruhiges Zimmer bekommen konnte, verzichtete ich auf dieses Dorf.

An der Wirtstafel saßen eine Anzahl Menschen, die Anteil an meinem vergeblichen Bemühen nahmen. In den letzten Tagen war schlechtes Wetter gewesen und alle hatten sich gelangweilt. Auch heute wehte ein kalter Nordwest und gelegentlich zogen graue Wolken über die grelle Sonne, um einen Sprühregen gegen die Fenster zu senden. Es war kein Sommerwetter: die Gäste schalten alle, und der Wirt hob seine breiten Schultern. Ihm machte der Regen nichts; die meisten Scheltenden tranken abends einen steifen Grog, oder mehrere: da kam er besser auf seine Kosten, als wenn sie draußen am Strande umherliefen, und den Mond, oder die Sterne anhimmelten. Die Tischgesellschaft war im ganzen nicht anziehend; so dachte ich im stillen, als ich eine vertrocknete kleine Dame betrachtete, die in lebhaftem Ton von ihrer Schule berichtete, während ein dicker Herr die Behauptung aufstellte, Frauenzimmer lernten heutzutage vielzuviel, und daher könnte keine Frau mehr kochen. Das gab denn einen Streit, an dem sich alle mehr oder weniger beteiligten und darüber nicht beachteten, daß ich mir den mageren Nachtisch schenkte und aufstand.

In der leeren Veranda, die auf einen regenverwaschenen Garten ging, setzte ich mich hin und bestellte mir eine Tasse Kaffee. Dabei studierte ich die Liste der benachbarten Badeörter: irgendwo gab es doch vielleicht ein Unterkommen. Es war »rusiges« Wetter, wie man bei uns zu sagen pflegt, und ich wickelte mich fester in meinen Mantel, freute mich aber zugleich an einem Sonnenblitz, der in der Ferne auftauchte. Es war die Ostsee, die aufstrahlte und so verführerisch lächelte, als wäre sie nicht eine von den unbeständigen Frauen, die selten lächeln und viel weinen. Aber man zürnt ihr nun einmal nicht, wenn man an ihr geboren und groß geworden ist, man kennt ihre Art und findet sich darein.

Die Wirtin brachte den Kaffee und sogar, ein Stück Kuchen. Sie war eine dicke Frau mit heißem Gesicht. Das Kochen ging über ihre Kräfte, klagte sie. Jeden Tag wollten die Gäste etwas Neues essen, und schalten, wenn nicht genug da war. Dabei sollte alles billig sein und alles war so teuer. Sie klagte sich aus und ich hörte ihr geduldig zu. Mir war's ja gleichgültig, ob sie klagte oder nicht – ich ging weg: sie konnte sich aussprechen. Ich weiß nicht, ob meine Gleichgültigkeit der Frau gefiel: sie setzte sich plötzlich an den Tisch.

»Da ist noch ein Quartier,« sagte sie zögernd. »Ein ganz ordentliches und vielleicht können Sie da mal anfragen. Bloß, daß sie das nicht tun würde, wenn er ja sagte. Aber, er sagt auch nicht ja,« setzte sie hastig hinzu, »er hat nichts zu sagen und darf nichts sagen. Ich meine man, wenn Sie da mal anfragen wollten. Sie hat ein ordentliches Zimmer und nimmt auch gern das Geld dafür. Aber da hat mal ein Pastor gewohnt und der hat sie vorgehabt, weil sie schlecht gegen ihren Mann ist und seit der Zeit will sie keine Logierer mehr haben. Aber, nicht wahr, Sie kümmern sich nicht darum? Dann können Sie bei uns essen und im Abonnement kostet es 1.20 M.«

Ich schüttelte den Kopf. Der Gedanke in ein Haus zu kommen, wo sich Mann und Frau vielleicht prügelten, war mir nicht verlockend: lieber wollte ich weiterziehen.

»Prügeln? O Gott nein!« Frau Petersen war entsetzt. »Kein Gedanke, Fräulein! Das ist vielleicht ehemals gewesen, aber ich glaube das gar nicht einmal! Die sprechen ja niemals zusammen und ehe die sich anfassen, da muß es ganz anders kommen. Wissen Sie was? Ich gehe mal mit Ihnen hin. Mein Kaffee für die Gäste ist fertig und meine kleine Stina schenkt ihn doch ein! Kommen Sie man mit, wir wollen es mal versuchen!« Frau Petersen war lebhaft geworden. Wahrscheinlich war es gegen die Ehre ihres Dorfes, wenn jemand, der reputierlich aussah, keine Wohnung darin finden konnte. Und da es wieder zu regnen begann und ich keine Lust zur längeren Wasserfahrt hatte, so ließ ich mich überreden.

Wir bogen von der großen Dorfstraße ab und kamen in eine kleine grüne Gasse, in der zwei bis drei strohgedeckte Häuser lagen. Alle mit grüngestrichenen Türen und Fensterrahmen, mit Rosen im Vorgarten. Verblasen war alles, regnerisch und windig, aber ich konnte mir doch denken, wie schön und friedlich es hier sein konnte. Vor dem einen Hause saß ein Mann, der an einem Gartengerät bastelte. Er hatte große tiefliegende Augen: sonst war sein Gesicht nicht ungewöhnlicher, wie das der meisten Küstenbewohner.

Frau Petersen blieb stehen.

»Tag, Franzen! Ist Ihre Frau zu Haus?«

»Ich weiß nicht!«

Er hatte uns nur einen Augenblick angesehen, nun klopfte er wieder an seiner Harke herum.

»Ich hab' nämlich einen Einlogierer!« sagte Frau Petersen freundlich. »Ne Dame, und ganz was Ruhiges – ich dachte vielleicht daß –«

»Sie nimmt keinen Logierer!« entgegnete Franzen, ohne den Kopf zu erheben.

»Was weißt du davon!« schrie eine grelle Stimme und eine kleine dürre Frau stand auf der Haustürschwelle. »Was sollt' ich keinen Logierer nehmen, wenn ich einen haben will? Bloß, weil du es nicht willst? Hast du in meinem Haus was zu sagen?«

Ihre Augen sprühten, ihre kleine Gestalt bebte. Unwillkürlich trat ich einige Schritte zurück, aber Frau Petersen griff nach meinem Arm.

»Sie ist nicht so schlimm,« flüsterte sie, »das ist man bloß äußerlich! Seien Sie man nicht bange! Sie kriegen ein feines Zimmer und Mutter Franzen ist sauber und ordentlich!«

Ja, das Zimmer war wirklich behaglich, und als dann Mutter Franzen mit uns allein war, zog sie ganz milde Saiten auf – eigentlich wollte sie nicht mehr vermieten, weil man so leicht Verdruß hatte. Aber, wenn ich keine Kinder mitbringen wollte und nicht zu viel Spektakel machen, und wenn ich den bestimmten Preis zahlte, dann wollte Mutter Franzen mich wohl nehmen. »Er will es natürlicherweise nicht!« setzte sie höhnisch hinzu, »aber danach kann ich nicht fragen. Nicht wahr, Frau Petersen, ist das nicht egal, was er will?«

Frau Petersen lachte und sagte etwas im allgemeinen über die Männer, worauf die andere grimmig nickte.

»Ja, so ist es! Sie taugen alle nichts!«

Es war sehr schlechtes Wetter geworden; sonst würde ich doch vielleicht nicht geblieben sein. Aber der Regen prasselte nieder, und es war ein angenehmer Gedanke, in diesem behaglichen Zimmer bleiben, seinen Koffer von der Dampfschiffbrücke holen zu können und sich einzurichten. Also blieb ich, und Er holte mir den Koffer. Daß der Mann von Frau Franzen auch Franzen hieß, wußte ich natürlich: aber ich habe ihn immer nur »Hei« genannt, gerade, wie das ganze Dorf. So rief ihn seine Frau, so riefen ihn alle, die mit ihm sprachen.

Er. Seine Frau rief ihn so auf plattdeutsch, wenn sie etwas von ihm wollte. »Hei!« gellte es durchs Haus und Er erschien. Gleichgültig, gelassen, ohne mehr als das Notwendigste zu erwidern. Sie zankten sich nie: gelegentlich überschüttete sie ihn mit einer Flut von plattdeutschen Verwünschungen, aber da er niemals ein Wort erwiderte, versiegte diese Flut bald. Also war es wirklich ein stilles Haus, in das ich geraten war, und wie ich nun am nächsten Tage ein Tischabonnement im Hotel Bellevue nahm, lächelte mir Frau Petersen wohlwollend zu.

»Sehen Sie wohl! Sie haben noch ein gutes Quartier bekommen: Mutter Franzen sorgt fein und Er –, nun, er ist eine Null!«

Ja, er war eine Null. Er arbeitete im großen Gemüsegarten und brachte die Erträgnisse dreimal wöchentlich in die Stadt; er zog mit der Kuh herum, die einmal hier, einmal dort »getüdert« wurde, er trug Wasser, spaltete Holz, er ging Botenwege für die Großbauern, er arbeitete unablässig, und wenn ich ihm einmal begegnete, ging er mit demselben steinernen Gesicht an mir vorüber, wie an seiner Frau. In den ersten Tagen dachte ich nur flüchtig an ihn; aber, wie ich mich eingewöhnte, wie ich immer wieder in das stille Haus trat mit dem wunderlichen Ehepaar, da kam doch etwas Nachdenkliches über mich. Wie waren diese hitzige Frau, dieser eiskalte Mann zusammengekommen, waren sie wirklich einmal jung gewesen und hatten sich lieb gehabt?

Aber, das waren nur Gedanken, die über mich kamen, wenn ich in dem kleinen Garten saß und nichts besonderes zu tun hatte. Ich hatte Bekannte im Dorf gefunden, mit denen ich viel am Strande zusammen war; denn nach kalten Tagen war eine warme Sonne gekommen, wir badeten, ruderten, segelten und schließlich hatte ich für stille Stunden eine Arbeit mitgenommen: eine Novelle, die ich hier vollenden wollte. Also hatte ich keine Zeit, an mein wunderliches Paar zu denken, und horchte nur zerstreut auf, wenn ich morgens hörte, wie »Hei« gerufen wurde und seine Befehle für den Tag erhielt.

Mit Frau Franzen kam ich gut aus. Sie hatte gelegentlich eine kurze Bemerkung für mich, die nicht unfreundlich klang, und als sie eines Tages in mein Zimmer trat, als der Wind meine Arbeit auseinandergerissen und die Blätter im ganzen Raum verstreut hatte, da sammelte sie einige von ihnen auf und betrachtete die Schrift aufmerksam.

»Sie schreiben jawoll Geschichten!« sagte sie, nicht ohne Wohlwollen. »Ja, ich kenne das,« setzte sie hinzu, als ich bejahte. »Hier ist auch mal einer gewesen, der schrieb was für die Blätter und er las es seiner Frau und Tochter vor. Ich habe da manchmal zugehört. Sie könnten mich die Geschichte auch mal vorlesen!«

»Sie ist noch nicht fertig,« entgegnete ich. Frau Franzen sah mich mit ihren unruhigen Augen an.

»Kriegen sie sich?«

»Ich weiß noch nicht!« entgegnete ich lachend; aber Mutter Franzen lachte nicht.

»Sie müssen sich kriegen!« wiederholte sie. »Wozu ist sonst die Liebe da?«

Ich wollte antworten, aber Mutter Franzen rief nach ihrem Mann, der am Fenster vorüber ging.

»Hei! Sollst die Kartoffeln purren und dann zu Bauer Jensen kommen! Der will sein Klavier umsetzen!«

Sie lief aus der Tür, und ich hörte, wie sie noch einige schrille Befehle gab und sah, wie sie vor ihrem Mann stand mit der Miene einer Herrin. Er aber trug den Kopf gesenkt, wie immer und antwortete kaum.

Zweimal besuchte mich Frau Franzen noch, wenn ich bei meiner Arbeit saß, und verlangte, daß mein Liebespaar sich »kriegen« sollte. Und weil sie so stürmisch bat und ihre Augen so befehlend blitzten, so tat ich ihr den Willen. Dafür habe ich von der Kritik meine Strafe erhalten.

Mutter Franzen hatte wirklich etwas Gewaltsames, dem man sich fügen mußte, und ich sprach dies auch einmal gegen Frau Petersen aus. Der war ein Kochtopf auf den Fuß gefallen und sie mußte alle Arbeit sitzend verrichten. Das war schwer in der hilden Zeit, und sie mußte manchmal getröstet werden, wozu sich dann Zeit an Schlechtwettertagen fand.

Ich besuchte sie an einem Regennachmittag, als sie Bohnen schnippelte und ganz allein in dem kahlen Eßzimmer saß.

Sie war wirklich eine gutmütige Frau und gern aufgelegt zu einem mundvoll Schnack, wie sie sagte. Allerhand berichtete sie von ihren Gästen; denn es geschehen immer wunderliche Dinge mit Badegästen, und sie versicherte wiederholt, sie könnte ein Dutzend Romane schreiben, nur, daß sie gerade keine Zeit hätte. Als sie Atem schöpfte, begann ich von Franzens zu sprechen: von ihr und ihm – es waren doch sonderbare Leute.

Frau Petersen nickte gemütlich. Ja, komisch waren sie natürlich, aber warum sollten sie das eigentlich nicht sein? Im Dorf gab es noch wunderlichere Leute. Da war ein alter Mann, der biß in die geräucherten Schinken, als wenn es eine Wurst wäre und ein anderer vergrub sein Geld im Garten und vergaß immer den Platz, wo die Groschen lagen. Er suchte und suchte und war etwas »mall« dabei geworden.

Aber ich fing noch einmal von Franzens an, und Frau Petersen ließ sich herbei, über sie zu sprechen.

»Gott ja, sie sind hier ja beide geboren und mit ihm bin ich in die Schule gegangen. Er war ein ganz feiner Jung und wir dachten alle, aus ihm würde mehr, als ein bloßer Taglöhner. Er war damals Fischerknecht, und alle sagten, daß er was könnte. Hübsch war er ja nicht gerade, aber seine Augen hatte er und so'n besonderes Wesen. Ich habe gern mit ihm getanzt und wir Mädchen mochten ihn alle leiden. Ich hatte immer meinen Petersen im Sinn; aber meine Cousine, die Tochter von Bauer, Wichels, hätte ihn genommen, wenn er sie gefragt hätte. Er fragte aber nicht: er hatte schon 'ne Braut, eine große schlanke Deern, die bei dem alten Bauern Jensen diente und viele Anbeter hatte. Ich hab' natürlich nichts an ihr gefunden, aber die Männer haben ja einen anderen Geschmack, und die kleine Geerdje hätte 'ne andere gute Partie machen können. Aber sie hielt zu Hans Franzen und das war ja gut.«

»Wo war denn die jetzige Frau Franzen,« fragte ich, als die Erzählerin eine Pause machte, weil sie ihr Bohnenmesser hatte fallen lassen.

»Wo Rike war? Ja, die diente auch bei Bauer Jensen. Sie war unansehnlich, und ich weiß von damals wenig von ihr. Sie kam aus der Marsch, wo sie gedient hatte und sie sollte gut arbeiten können. Mehr kann ich wirklich nicht sagen: wenn die Menschen eine Zeitlang weggewesen sind, dann denkt man nicht mehr über sie nach. Aber die kleine Geerdje hatte mit einem Mal Malheur. Ich nenne das Malheur, wenn die Scheune ausbrennt mit allen Kühen darin, und wenn man dann der Brandstiftung beschuldigt wird.«

Frau Petersen ließ das Messer sinken und wurde lebhafter. »Eigentlich war es eine greuliche Geschichte, wenn ich es jetzt bedenke! Fünfzehn Kühe verbrannten und die Versicherung war nicht groß. Geerdje kriegte die Schuld. Sie hatte sich abends vorher mit Frau Jensen erzürnt und die hatte ihr ein paar Ordentliche an die Ohren gegeben. Was soll man auch mit den Deerns anfangen, Fräulein, wenn sie nicht parieren wollen? Prügel sind noch das einzige, das sie nicht mögen. Aber manchmal werden sie falsch, und Geerdje ging hin und steckte den Kuhstall an. Das heißt, sie sagte nein, aber, das sagen die Leute natürlich immer, wenn es ihnen an den Kragen geht; und die Beweise waren auch da – an der Stelle, wo das Feuer angelegt war, hatte sie ihr kleines goldenes Kreuz verloren, das ihr Bräutigam ihr mal geschenkt hatte und das sie immer trug. Es war ein bißchen geschmolzen, aber nicht ganz, und ihr Name war darauf eingraviert. Na, und so ist sie denn ins Zuchthaus gekommen, und ich kann wirklich nicht sagen, was aus ihr geworden ist. Hier war mal ein Rechtsanwalt, der mit in einem Verein war für entlassene Sträflinge; er sagte, wer einmal im Zuchthaus gewesen wäre, der käme leicht wieder herein. Und so wird die kleine Geerdje vielleicht immer noch sitzen.«

Frau Petersen sprach gemütlich, Als ich nicht gleich etwas entgegnete, begann sie von einer Dame zu berichten, die immer großartige Kleider getragen hatte, und der die Gläubiger nachgereist wären.

»Wie ist es denn gekommen, daß Franzen seine jetzige Frau geheiratet hat?« unterbrach ich sie, und die würdige Frau schüttelte seufzend den Kopf.

»Gott, Fräulein, sie hat ihn eben genommen, weil sie ihn haben wollte. Er mochte nicht an Geerdjes Schuld glauben und da ist er wohl an's Trinken gekommen. Ich hab' so etwas gehört. Na, und wenn einer erst trinkt, dann hat er nicht immer seinen Verstand und eigentlich war es gut, daß Rike ihn nahm. Das war nach einer Prügelei, wo er einen Messerstich wegkriegte und lange nicht arbeiten konnte. Er war müde und schwach und Rike ging zum Pastoren und machte alle Laufereien, die mit dem Heiraten verbunden sind, und dann sind sie getraut worden. Sie war immer fleißig und hatte sich auch etwas gespart, und wie er wieder gesünder wurde, mußte er natürlich auch was tun. Aber mit seiner Kraft ist es natürlich doch vorbei gewesen; er hat das Fischen aufgegeben und ist Tagelöhner geworden. Wenn sie nicht hinter ihm her gewesen wäre, würde er nicht so weit gekommen sein, mit dem Haus, und mit dem Garten: mit ihm ist es ja eigentlich nichts Rechtes und deshalb ist sie wohl so scharf geworden und er so still. Aber, das ist so in der Welt: man kann nicht immer glücklich sein, und daß ich einen schlimmen Fuß kriegen muß, ist auch kein Glück; ich muß wohl mal in die Zeitung setzen, von wegen einer Stütze, mit familiärer Stellung und in gesetzten Jahren, denn sonst kann ich hier was mit den Badegästen erleben, die meistens kein Gewissen haben!«

Als ich nachher heimwärts ging, sah ich Mutter Franzens Mann vor der Haustür stehen. Er kehrte mir halb den Rücken und blickte mit seinen tiefliegenden Augen starr in den roten Schein der Sonne, die sich kurz vorm untergehen noch aus den dicken Wolken herausgearbeitet hatte und ihren warmen Schein über die regenschwere Landschaft warf. Ich sah nicht in den Schein: ich sah in diese dunklen, tiefliegenden Augen, die einen so erloschenen Ausdruck hatten, die weit in die Ferne blickten, dorthin, wohin nur die Sehnsucht gehen kann.

»Hei!« Mutter Franzens Stimme gellte mir ans Ohr. »Morgen sollst du gleich mal zu Bauer Martens kommen, das Strohdach soll ausgeflickt werden!«

Der Angeschriene fuhr zusammen, dann senkte er den Kopf. Er war wieder der Sklave, und die Sehnsucht war verschwunden.

Am andern Morgen war die Sonne so strahlend und die See so spiegelglatt, daß wir gemeinsamen Bekannten ein kleines Dampfboot mieteten, das gelegentlich zu haben war, und mit ihm weit in die See hinausfuhren. Spät am Abend kehrten wir heim, müde und lustig. An der Anlegebrücke stand der Wirt, Herr Petersen, der sich mir mit einer gewissen Salbung näherte.

»Bei Franzens ist ein Unglück passiert,« meldete er. »Der Mann ist vom Dach gefallen und hat sich wohl was Inwendiges verletzt. Wenn Sie da nicht mehr logieren wollen, dann habe ich jetzt ein ruhiges Zimmer!«

Aber ich ging doch in mein altes Quartier. Still lag das kleine grünumsponnene Haus, und als ich mein Zimmer betrat, hockte dort Mutter Franzen auf dem Stuhl am Fenster.

»Ich darf ja nicht rein!« sagte sie tonlos, »er will mich nicht sehen! Er sagt, er will allein sterben! Oh, Fräulein!« sie faßte mich wild an, »wenn er nicht mehr lebt, dann muß ich auch sterben! Ich will zu ihm, ich muß rein!«

Aber sie durfte nicht. Der Arzt verbot es, weil ihn der Sterbende darum angefleht hatte. Eine Wärterin war gekommen und sie hielt die Tür zu. Er lag oben, in dem Giebelzimmerchen, das sein eigenes kleines Reich gewesen war, eine elende Kammer mit einem dürftigen Bett darin. Als ich versichert hatte, daß ich Frau Franzen nicht mitbrächte, durfte ich eintreten. Er lag ganz still, mit gefalteten Händen und weitgeöffneten Augen, die wieder jenen fernen Blick hatten, wie am Abend vorher. Er hatte das Rückgrat gebrochen, und es ging zum Tode. Wie lange es dauern würde, konnte niemand sagen. Die Wärterin flüsterte es mir zu, während sie den Riegel an der Tür vorschob.

»Sie darf nicht herein,« setzte sie ebenso leise hinzu, »der Doktor will es nicht.«

Von unten her klang das Weinen der Frau.

»Hans, mein Hans, laß mich doch rein! Laß mich doch rein!«

Ich trat an sein Bett.

»Franzen, wollen Sie Ihrer Frau nicht vergeben, wenn sie an Ihnen gesündigt hat?«

Er konnte den Kopf nicht rühren, aber seine Augen sahen mich an. »Nein!« sagte er deutlich. »Nein!«

Da kratzte es schon an seiner Tür.

»Hans! Ich will ja alles eingestehen, das mit Geerdje, und daß ich es gewesen bin, und ich will gut sein und dir nie ein böses Wort mehr geben! Hans! Ich hab' dich doch immer so furchtbar lieb gehabt und ich mußte dich haben! Wenn man einen so gräßlich lieb hat, dann muß man ihn doch kriegen! Hans, mein Hans, laß mich bei dir sein!«

Es war jämmerlich anzuhören und die Wärterin wischte sich die Augen, aber der Sterbende lag regungslos.

»Nein!« sagte er nur noch einmal, und dann hob er die Hand, als ob er nach etwas greifen wollte und flüsterte ein Wort, das ich nicht verstehen konnte. Aber über sein verwittertes kaltes Gesicht ging wieder jener Ausdruck von großer Sehnsucht und von großer Zärtlichkeit. Und dann streckte er sich und starb ohne Schmerzen und im Frieden.

Am andern Morgen zog ich ins Hotel Bellevue, wo Frau Petersen mich mit behaglicher Ruhe empfing.

»Man gut, daß wir gerade Platz hatten. So'n Todesfall ist nichts für die Sommerfrische und daß Er nun auch gerade davon mußte. Sie soll ja ganz verrückt sein! Nu, wenn die Beerdigung man erst gewesen ist, dann wird sie sich Wohl wieder besinnen. Er hat sie ja auch nicht sehen wollen, was ich ihm gar nicht zugetraut hätte. Er hatte ja wohl mehr in sich, als man dachte. Ja, ja, die Männer – man kann ihnen doch nicht trauen! Freuen Sie sich, daß Sie keinen haben. Aber nun wollen wir von etwas anderem sprechen. Sie sehen ja schrecklich elend aus, und das Bad soll Ihnen doch gut bekommen! Und heute mittag sollen Sie bei der Schauspielerin sitzen, die so wunderhübsch deklamieren kann, dann kommen Sie auf andere Gedanken. Von Wilhelm Busch und von Bismarck und von Schiller, ganz großartig!«

Die Leute bedauerten mich alle. Daß ich so etwas Unangenehmes erleben mußte, und daß dies nicht gut für meine Nerven wäre. Die Schauspielerin deklamierte und die andern lachten und bewunderten. Man war ja im Seebade und sollte um Gottes willen nichts Trauriges denken.

Aber ich reiste doch am andern Tage ab. Meine Zeit war fast abgelaufen und Frau Petersen fiel mir wirklich auf die Nerven.

Als das kleine Dampfboot mich aufgenommen hatte und langsam an der Küste entlang strich, klangen vom Kirchdorf her die Glocken. Das war Er, dem sie sein letztes Lied sangen, vielleicht das einzige, das ihm jemals gesungen wurde. Und ich sah in meinen Gedanken die kleine dürre Frau hinter dem Sarge gehen und grübelte darüber nach, wie sich das Leben nun für sie gestalten würde. Jetzt, wo sie einsam war und keinen Mann mehr hatte, dem sie befehlen konnte. Und wie das Dampfboot behaglich durch die salzigen Fluten glitt, wie die Maschine keuchte und der Wind in den Masten pfiff, hörte ich das jämmerliche: »Wenn man einen so gräßlich lieb hat, dann muß man ihn doch kriegen!«

Sie hatte ihn gekriegt und das Leben war salziger für sie gewesen, als der Tropfen Ostsee, den der Wind mir ins Gesicht schleuderte.

Als ich dann wieder nach dem kleinen Badeort kam, waren Jahre vergangen. Ich wollte nicht bleiben; ich war mit meinen Verwandten dort und wir schlenderten nur umher, betrachteten dies und jenes und aßen schließlich bei Herrn und Frau Petersen, die noch immer ihr Gasthaus schlecht und recht führten.

Er hatte eine sehr rote Nase bekommen und sie war noch dicker geworden. Aber beide waren freundlich, und als wir später in der Veranda Kaffee tranken, kam die Wirtin, um sich mit mir zu unterhalten.

Ich mußte doch erfahren, daß das Wirtshaus einen Anbau erhalten und daß die Schauspielerin von damals noch immer nicht alles bezahlt hatte, was sie ihren Wirtsleuten schuldig geblieben war. Und daß heute Abend »Rünion« sein sollte und daß Mariners aus Kiel zum Tanzen aufspielten.

»Und wie geht es Frau Franzen?« fragte ich in ihre behaglichen Reden hinein.

Frau Petersen sah mich an, als müßte sie sich erst besinnen.

»Mutter Franzen? Gott, die ist ja schon lange tot! Die haben wir alle vergessen! An der war ja auch nichts zu behalten!« setzte die Gefragte hinzu, weil ich sie noch immer ansah. »Die war ja verrückt, Fräulein, rein verrückt. Sie wollte ja mit einmal vor ewig langen Jahren Feuer angelegt haben, bloß, weil sie die kleine Geerdje ins Unglück bringen wollte. Auf der Straße hat sie gestanden und es laut in die Welt geschrieen, was ganz schlecht fürs Dorf war, denn die Gäste wurden graulich und wollten ihr nicht begegnen. Dann ist die Polizei gekommen und hat Mutter Franzen in Gewahrsam genommen, und dann ist sie weggelaufen und hat tot auf dem Grab von ihrem Mann gelegen. Es war wirklich eine unangenehme Geschichte, und wenn man auf Reisen ist und sich erholen will, dann darf man nicht an so was denken. Aber Mutter Franzen ist natürlich immer ein bißchen verrückt gewesen. Wir haben es gar nicht gemerkt und der Mann kann einem nachträglich leid tun, aber er ist ja noch länger tot und darum wollen wir nicht mehr von der Sache sprechen!«

Und Frau Petersen plätscherte weiter in dem flachen Gewässer der Gewöhnlichkeit.

Ich aber denke noch manchmal an die zwei Menschen, die in den salzigen Fluten des Lebens untergehen mußten. Deshalb, weil sie ihn in ihrer Art liebte. Es war die verkehrte Liebe.


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