Christoph Friedrich Nicolai
Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie S.
Christoph Friedrich Nicolai

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20.

Siehst Du wohl, daß es nichts schaden kann, wenn man die Männer ausschilt! Gustav kam heute gleich wieder. Merkst Du aber, warum der arme Schelm zu mir kommen muß, wenn er auch weiß, daß er Wahrheiten hören wird? Er hat seinen Kammerjunker nicht mehr, und die Frau von C. hat ihn verlassen.

Aber kam er neu belebt? Ach, keinesweges! Er ist traurig und mißmutig, daß er von der Frau von C. ist abgesetzt worden. Ich soll ihn trösten. Wie ist das zu machen? Sein Herz ist so unbefangen, daß er sich in die erste schöne junge Frau ehrlich verliebte, deren Geist einen Berührungspunkt mit dem seinigen hätte; und nun kann er noch nicht begreifen, daß Geist nicht Herz ist und Eitelkeit es noch weniger ist. Ich habe verschiedene Unterredungen mit ihm gehabt, recht freundschaftlich, davon will ich Dir das Wesentlichste sagen.

Mein Trost nahm einen ganz besondern Weg, um ihn zugleich zur Erkenntnis zu bringen. Ich musterte alle Weiber, eine nach der andern, welche in die gelehrte Gesellschaft der Frau von C. kommen. Gustav hat einen viel zu gesunden Sinn, um nicht zu begreifen, daß jede von diesen nur aus Eitelkeit die Zusammenkünfte besucht und nicht aus Verlangen nach wahrem Geistesgenusse. Da nun sein Liebesverständnis mit der Frau von C. sich unter dem Vorwande der Schöngeisterei angefangen hat, so scheint er endlich zu begreifen, daß die Liebe auch bei ihr der Eitelkeit habe zum Vorwande dienen müssen, zumal da ich ihn auf die Menge der Liebhaber aufmerksam machte. Das mochte ihm nun wohl das Herz brechen. Du weißt, wenn der Sünder zerknirschten Herzens ist, kann die Gnade besser wirken. Ich nahm also den Zeitpunkt wahr, ihn freundschaftlich in sich zurückzuführen.

Ich fing damit an, ihn zu loben, daß er der Frau von C. hätte gefallen wollen, und bemerkte, daß er dadurch schon etwas von dem steifen und herrischen Wesen verloren hätte, welches ihm mit seiner Schulweisheit eingeprägt worden war. Dies konnte er noch nicht fassen. Aber er begriff doch, daß die Frau von C. unrecht gehandelt hätte, seine Gefälligkeit nur zu brauchen, um ihre Eitelkeit zu befriedigen, anstatt seine aufrichtigen Gesinnungen ebenso aufrichtig zu erwidern. Nun kamen wir ganz natürlich darauf, daß jede Geselligkeit wechselseitige Pflichten erfordere und daß die wahre Bildung eines menschlichen Charakters nur in der menschlichen Gesellschaft erreicht werden könne.

Ich suchte ihn zu überführen: um gute Gesellschaft zu genießen und sich darin zum Genüsse mitzuteilen, müsse man sich derselben anschmiegen, nicht aber darin herrschen oder sich auf eine unangenehme Art auszeichnen wollen; ohne Anhänglichkeit an Menschen aller Art könne die Bildung des Charakters eines jungen Mannes durch die Gesellschaft nicht vollendet werden. Da gab es einen harten Kampf. Er wiederholte mehrmals: fast alle Leute wären doch so gemein, daß es der Mühe nicht lohne, sich ihnen zu nähern. Hierüber sagte ich ihm deutlich meine Meinung; unter anderm: es schiene mir so natürlich, daß, wer andere beurteilen wolle, vorher auch sich beurteile. Wer nun eine Gesellschaft gebildeter Menschen für gemein erklären wolle, solle, wie ich dächte, billig vorher sich selbst prüfen. Es könnte doch möglich sein, daß an ihm selbst etwas gemein oder daß sein Ungewöhnliches schlechter wäre als das Gewöhnliche anderer Leute. Diese Prüfung hätte, meiner Meinung nach, besonders ein junger Mann sehr nötig, wenn er auch in der Schule für noch so gelehrt wäre gehalten worden. Buchweisheit, fuhr ich fort, geht von allgemeinen Sätzen über die Menschheit aus, die im allgemeinen ihren Wert haben mögen; aber um sie richtig anwenden zu können, muß man menschliche Charaktere aller Art lange und aufmerksam beobachtet haben; denn die lebendige Welt ist unendlich mannigfaltiger als die Welt der Ideen. Die Schulweisheit vermag nichts über eine Menge Dinge, die zwischen Himmel und Erden sind. Das hat Hamlet schon gesagt. Jeder Künstler muß lange nach dem Leben zeichnen.

Gustav sagte viel zur Verteidigung seiner theoretischen Weisheit, was sich recht gut anhören ließ: daß sie das menschliche Wissen gewiß macht, daß sie allgemeingültige Gesetze gibt, daß durch sie die Menschen zu festen Gründen gelangen, auf die beste Art zu handeln. Das war alles recht hübsch; nur daß er die Schulphilosophie, womit unsere Deutschen sich vor allen Nationen so emsig plagen, mit festen Grundsätzen verwechselte. Man kann diese haben ohne jene; es würde sonst schlecht in der Welt stehen.

Das sagte ich ihm und setzte hinzu: »Ihr hochweisen Buchgelehrten kommt mir vor wie die großen Töpfe in unsern Küchen. Sie werden kreuzweise mit Draht beflochten, damit sie nicht unter ihrer eigenen Schwere brechen; aber gegen den geringsten Stoß von außen hilft ihnen der Draht sowenig als euch eure verschränkten Syllogismen. Lieber Gustav! Gleich bei Ihrem ersten Schritte in die Welt machte ja ein wenig buhlerische Eitelkeit Ihre vortrefflichsten Schlüsse zuschanden! Glaubten Sie nicht, die Frau von C. wäre eine liebende Seele und ihre Genossinnen hätten wahre, warme Empfindung für das Schöne und Erhabene? Glauben Sie jetzt noch, diese Damen verdienten, daß man sie für ungemeine Seelen halte? Wollten Sie wohl unsern alten Vetter mit seinem gesunden, hausbackenen Urteile für all das Geschwätz bei der Frau von C. weggeben?«

Meine Erwähnung des Obersten berührte eine Seite, die empfindlicher war, als ich gedacht hatte. Gustav konnte es noch nicht vergeben, daß der Alte von der Weisheit in Worten mit so wenigem Respekte gesprochen hatte, und wollte seinen ehemaligen Weisheitskameraden noch nicht so ganz aufgeben; denn er meinte, dieser sei von dem Obersten unanständig gestraft worden.

»Soll es nicht erlaubt sein«, rief er, »Haare und Beinkleider so lang oder so kurz zu tragen, wie jeder will?«

»O ja«, versetzte ich, »wenn es nur auch erlaubt ist, den auszulachen, welcher sich durch dergleichen Dinge auszuzeichnen sucht.« »Warum jemand desfalls auslachen? Es ist kindisch, nur auf dergleichen Dinge achtzugeben. Ich sehe nicht darauf.«

»Wirklich nicht? Prüfen Sie sich recht, ob Sie nicht darauf dachten, sich von andern auszuzeichnen, als Sie eine fremde Kleidung ausdrücklich wählten? Und dann prüfen Sie sich auch, ob Sie wohl in Versuchung geraten sind, sich in irgendeiner Gesellschaft im voraus als ein Mann anzukündigen, der an Verstand und feinem Sinne über alle weit erhaben ist? Wäre dies, so möchten doch wohl das dicke Halstuch und die langen Beinkleider mit der Geistesprätension etwas gemein haben. Wenn wir Sie nun darüber auslachten, ist dies Auslachen nicht gelinder als das verächtliche Lächeln, als das spöttische Achselzucken, womit Sie und Ihr Weisheitskamerad alles herabsetzten, was Sie in der Gesellschaft sahen? Prüfen Sie sich, ob Sie etwa durch Ihre Buchweisheit unvermerkt rechthaberisch wurden und entscheiden wollten, ohne auf die Gründe anderer zu hören? Ob Sie etwa geschwind widersprachen, ohne auch nur die feinen Nuancen der entgegengesetzten Gesinnungen zu empfinden?«

»Sollte ich mich so albern betragen haben? Das glaube ich doch nicht.«

»Ich hoffe auch nicht so sehr, daß Sie das Beiwort ›albern‹ verdienten, welchem Ihr Freund, der Kammerjunker, zuweilen nicht ganz mag entgangen sein. Aber soviel ist gewiß: schon ein Schriftsteller nimmt wider sich ein, wenn er sich mit Prätension und Dünkel ankündigt; wieviel mehr der Mensch in der lebendigen Gesellschaft! Da geben eine stolze Miene, ein verächtlicher Blick, ein wegwerfender Ton zu erkennen, daß jemand der Gesellschaft wenig schuldig zu sein glaubt, wegen welcher er sich so wenig geniert, daß er lange Beinkleider und einen struppigen Schwedenkopf trägt.«

»Was haben Ihnen meine kurzen Haare getan? Mir ist's bequem, sie abzuschneiden.«

»Ein Schlafrock ist auch bequem. Ginge jedermann darin – meinetwegen! Wer aber jetzt sich herausnähme, im Schlafrocke in eine Gesellschaft zu kommen, würde doch wohl zeigen, die Gesellschaft kümmere ihn wenig.«

Nun kam ein langer Disput vom Unterschiede zwischen Schlafröcken und struppigen Haaren. Ich gab ihm zu, daß die kurzen Haare für Soldaten dienlich sein könnten, sonderlich in Feldzügen, und daß meinetwegen auch Leute, die mir gleichgültig wären, Schwedenköpfe und Backenbärte über die ganze Gesichtslänge haben möchten, wie sie wollten; daß ich aber wünschte, er möchte sich auf andere Art auszeichnen; und endlich fuhr mir's heraus: er würde mir besser gefallen, wenn er sein Haar nicht so struppicht abschnitte!

So geht's, wenn man seinen Satz durchaus behaupten will, da überlegt man oft nicht jedes Wort. Die kurz abgeschnittenen Haare konnte ich nie hübsch finden; aber nie war mir diese Mode mehr zuwider, als seit sie Gustavs hübsches Gesicht entstellt. War's aber nicht zuviel, ihn wissen zu lassen, sein Gesichtchen würde mir hübscher vorkommen, wenn ihm die Haare auf dem Kopfe nicht struppicht zu Berge ständen? Und was das allerschlimmste ist; Gustav wird sich nicht einmal daran kehren; denn er ist ja ein Philosoph und ein Schöngeist und muß sich also nicht einmal durch große gelehrte Männer von etwas überzeugen lassen, geschweige denn durch mich schwaches Werkzeug.

Weibchen! Ich bin so gutherzig und schreibe Dir ausführlich von der Weisheit, die ich gepflogen habe. Da bildest Du Dir nun ein, das geschähe, weil ich gern von Gustav schriebe. Du sollst mir nicht so tief ins Herz sehen wollen. Es ist da gar nichts für Dich zu sehen. Wenn ich Dir also künftig vielleicht wieder einmal lange Gespräche mit ihm oder wer weiß was von ihm mitteile, so sollst Du gar nichts daraus schließen. Gar nichts! Verstehst Du mich?

Julie S. an ...

Um diese Zeit machte Adelheid gewisser Vorfälle wegen eine Reise nach H. Sie mußte sich da über drei Monate aufhalten. Der nächste Brief ward aus H. geschrieben, die folgenden wieder aus D.

21.

– – – Gustav schreibt mir öfter. Es scheint zuweilen in seinen Briefen, als hätte er meine Worte in einem feinen, guten Herzen bewahret. Aber die leidige Buchphilosophie dringt doch immer wieder durch. So lange die im Kopfe sitzt, ist mit dem Herzen nicht viel anzufangen. – –

22.

Wieviel länger hat meine Reise nicht gedauert, als ich wünschte! Ich nahm den Rückweg über mein Landgut, welches ich dieses Jahr noch nicht gesehen hatte. Je mehr ich mich näherte, desto mehr erwachten in mir manche Bilder von vorigen Zeiten, frohe und traurige; doch behielten die frohen bald die Oberhand. Die ganze Gegend lachte vom Segen des Herbstes, frohe Winzer waren allenthalben im Tagewerke; mein Herz öffnete sich der Freude. Als ich ins Dorf fuhr, hüpfte mir meine liebe Schuljugend entgegen und überraschte mich mit einem fröhlichen Herbstliede. Gustav hatte die Worte gemacht. Er war mitten unter ihnen; und welche Veränderung, liebe Julie! Sein schönes kastanienbraunes Haar, vorn gescheitelt, hing in natürlichen Locken über seine Schultern herab. Lange hat mich nicht etwas so überrascht und – ich bekenne es gern – so gefreuet.

Ich bin nicht eitel wegen des Sieges meiner Überredungskunst. Meine Empfindung ist ganz anderer Art. Sie liegt mir näher am Herzen; ich weiß selbst nicht recht wie. Lavater sagt, wir Frauenzimmer wären gute Physiognomistinnen. Das bin ich auch, und besonders in Haaren, drum bin ich dem Kräuseln und Pudern so gram. Gustavs Antlitz siehet jetzt ganz anders aus, heiterer, unverdorbener von Prätension. Es ist, als wäre diese mit dem Backenbarte vermindert. Ich habe zwei sehr angenehme Tage auf dem Lande zugebracht, und unsere Zurückfahrt nach der Stadt gab auch einen frohen Tag. Man genießt sich besser, wenn man froher Laune ist. Das war ich von Herzen. Gustav zwar auch, doch mußte ich ihm Anstoß zum Frohsinne geben. Er war oft in Gedanken und erwachte gleichsam nur. Noch jetzt sitzt ihm immer ein trübes Wölkchen zwischen den schönen Augenbrauen. Doch das bilde ich mir vielleicht nur ein.

23.

Ich habe mich in Gustav nicht ganz geirrt. Bei aller seiner Gutherzigkeit, bei seiner zunehmenden Gefälligkeit gegen jedermann liegt doch in ihm noch ein großer Keim von Mißvergnügen. Ich schrieb dies dem unterbrochenen Verhältnisse mit der Frau von C. zu und schloß daraus, er habe sie stärker geliebt, als er selbst wohl geglaubt haben möchte. Ich jenem habe ich mich gewiß nicht, aber wohl in diesem geirrt, wie ich immer mehr merke. Er kann nur die Frau von C. noch nicht vergessen, ob er sie gleich verachtet. Sie hatte Schritte getan, um ihn wieder an sich zu ziehen. Er schrieb der Liebe zu, was eigentlich die Eitelkeit tat, und überließ sich anfänglich wieder seinen warmen Empfindungen. Aber die Erfahrung hatte ihn doch so viel scharfsichtiger gemacht, daß er bald unter dem Liebreize, womit sie ihn zu fesseln suchte, den falschen Schein bemerkte. Dies führte endlich zu einem Wortwechsel, bei dem sie sich noch mehr bloßgab; denn sie wird leicht heftig, wo ihr das Herrschen nicht gelingt. Nun ist der gute Gustav, dessen unbefangene Herzensempfindungen zweimal getäuscht wurden, im ersten Schmerze mißlungener Liebe. Dabei quält ihn auch ein geheimer Stolz, den ich nicht ganz tadeln kann; er findet sich gedemütigt, daß er sich so leicht hat hintergehen lassen. Zugleich aber ist auch in ihm eine gewisse traurige Empfindung, worein die edelsten Menschen leicht fallen, deren Herz wohl zur Anhänglichkeit, zur Teilnahme gestimmt wäre und die sich vereinzelt sehen. Freilich fühlt er noch nicht, daß der Grund seiner gänzlichen Vereinzelung größtenteils in ihm selbst liegt. Er hängt immer noch wie unsere meisten jungen Leute an überspannten Ideen. Ein Blick in die wirkliche Welt kann ihn aufheitern und heitert ihn auch eine kurze Zeit auf; aber sogleich fällt er in sein trauriges Ich zurück, und das Ich, wenn auch noch so hochgestimmt, steht allemal einzeln. Er kömmt den Menschen nicht entgegen und verlangt doch, sie sollen ihm entgegenkommen. Er tut nichts für sie, sie sollen alles für ihn tun. Das rührt daher, weil der liebe gute Gustav immer in Büchern und in Idealen gelebt und sich eine ganz eigene Welt in seinem Ich geschaffen hat, die er freilich außer sich nicht finden kann. Es dünkt ihn sogar noch etwas Großes, solche Ideenwelt zu schaffen. Er weiß nicht, daß jeder denkende und empfindende Mensch sich in seinem kleinen Ich eine große Welt baut, einer in Form von einem, ein anderer in Form von hundert spanischen Schlössern. Wie sollen nun die innern Welten zusammenkommen, wenn die Iche nicht zusammenkommen wollen?

Neulich besuchte er mich, trübsinniger wie jemals; denn er will sich für seine mißlungene Liebe durch Spekulation trösten, und das ist ein leidiger Trost. Ich war gerade in recht lustiger Laune, wollte seinen trüben Sinn und seine trübe Philosophie weglachen, aber da haftete keine Freude. Nun versuchte ich es mit trockenem Widerspruche. Zuweilen schlägt diese Arzenei an.

Ich sagte ihm, seine üble Laune sei ungerecht und unnütz.

Das meinte er nicht und beklagte mißmutig, daß die Vernunft bestimmt sei, in der ganzen Welt zu herrschen, und daß man doch allenthalben Unvernunft fände.

»Nicht allenthalben«, warf ich ein, »es herrscht viel Vernunft in dieser Welt. Die Hauptsache ist, daß jeder Mensch darauf bedacht sei, daß in ihm selbst die Vernunft herrschend werde. Dafür sorgen Sie nur, und lassen Sie die übrige Welt für sich sorgen.«

»Man sieht aber allenthalben soviel Elend als Unvernunft. Nirgend sind die Menschen, wie sie sein sollten.«

»Freilich! Die meisten Menschen handeln verkehrt und machen sich unglücklich, weil sie unvermeidliche Widerwärtigkeiten nicht ertragen, sondern immer ihren Willen haben wollen.«

»Verzeihen Sie! Die echte Moral lehrt uns, daß die Folgen der Dinge sowenig Bewegungsgründe unserer Handlungen sein müssen als unsere eigene Glückseligkeit. Es darf nur unser Zweck sein, der zugleich Pflicht ist, uns selbst vollkommen, andere hingegen glücklich zu machen.«

»Ganz wohl! Suchen Sie sich so vollkommen zu machen, daß Sie nicht eigensinnig und mißmutig über die Welt werden, so wird unvermerkt so viel Glückseligkeit über Sie kommen, daß Sie sich derselben kaum werden erwehren können. Aber Ihre Philosophie sagt: Wir andern sollen Sie glücklich machen? Bei Ihrer Stimmung ist dieses unmöglich, wenn Sie selbst nichts dazu tun wollen. Aber wissen Sie, was? Sie meinen ja, Ihre Pflicht sei, andere Leute glücklich zu machen. Machen Sie also mich so glücklich, daß Sie werden wie andere Menschen, damit Sie nach und nach fähig werden, die wirkliche Welt kennenzulernen. Sie bilden sich ein, die Menschen wären nicht, was sie sein sollten, weil Sie Menschen suchen, wie sie in Ihren Büchern stehen. Sie haben für das wahre Edle und Schöne in den lebenden Menschen keinen Sinn, solange Sie in Ihren hohen Idealen schweben oder Sie Ihre üble Laune antritt: die gewöhnliche Folge unzeitiger Idealsucht.«

»Warum sollte ich das Edle und Schöne an den Menschen nicht finden können, wenn es da wäre? Ich habe Augen und Ohren.«

»Sie sehen aber damit nur die Geschöpfe Ihrer Einbildungskraft und Ihres spekulativen Geistes; die Natur des lebenden Menschen kennen Sie nicht.«

»Ich werde allenthalben mißverstanden.«

»Ich verstehe Sie recht gut. Sie suchen etwas, wo nichts zu finden ist. Daran sind aber weder Welt noch Menschen, sondern bloß Sie schuld. Prüfen Sie sich, ob nicht andere von Ihnen mißverstanden werden.«

»Kann ich meinen Sinn und meine Überzeugung ändern? Ich kann mit niemand übereinstimmen.«

»Weil Sie nicht wollen. Haben denn andere Menschen nicht auch Sinn und Überzeugung? Warum sollen sich die nach Ihnen richten, nicht Sie nach andern? Wer nicht ein Teil des Ganzen sein will, vereinzelt sich selbst.« »Was kann ich dafür, daß ich Kräfte in mir fühle, die aber in mir ungenutzt vermodern?«

»Suchen Sie Gelegenheit, sie zu nutzen.«

»Ich fühle, was ich bin, fühle aber auch, daß ich nicht wirken kann unter Menschen, die kalt, fühllos sind und nur Sinn für das Niedrige und Gemeine haben.«

»Ich zweifle, lieber Gustav, daß sie recht fühlen, was Sie sind. Hören Sie aber an! Ist wirklich in der lebenden Welt für Sie nichts zu tun, so erschießen Sie sich. Werther ermordete sich. Warum nicht auch Sie?«

Er sprang auf: »Ist das der Rat, den Sie mir geben?«

»Warum nicht? Wenn Ihnen anders nicht zu helfen ist. Haben Sie aber hier noch etwas Gutes zu tun? Kann noch Ihr Geist für nützliche Geschäfte und Ihr Herz für Liebe und Freundschaft empfänglich sein, so bleiben Sie hier; aber sodann müssen Sie sich fein in die Welt schicken und nicht glauben, daß Sie die Welt reformieren könnten, ohne sie zu kennen.«

»Wie kann ich mich in diese Welt schicken? Mein Herz erwärmte sich; da fand ich Kälte unter dem äußern Anscheine der Liebe. Ich mag wohl für diese Welt nicht sein! Wer kann einen Menschen lieben, der in sich selbst alles findet und außer sich nichts finden kann?«

»Wer ihn weder verziehen noch zur Puppe für seine Eitelkeit brauchen will, sondern ihm die Wahrheit sagt, bis er seine Grillen weder für Weisheit noch für Unglück hält. Lieber Gustav! Lassen Sie Ihren Geist gesund werden. Im gesunden Zustande wirkt jede Kraft nach ihrer natürlichen Ausdehnung, ohne angestrengt zu sein. Sie haben sich lange gewöhnt, es für einen erhabenen Zustand zu halten, wenn Ihr Verstand und Ihre Empfindung im Rausche sind. Werden Sie nüchtern, und sehen Sie um sich, so werden Sie in der menschlichen Gesellschaft alles finden, was Ihnen Ihrer Meinung nach fehlt: Mut und Gelegenheit, Ihre Kräfte zu brauchen, Sympathie, Freundschaft und Liebe und Glück.«

Er sagte lächelnd: »Sie meinen, ich könnte Liebe finden, und wollen, ich soll nüchtern sein?«

»O ja! Sie selbst verlangten vorher, die Vernunft solle allenthalben regieren; also gebührt ihr auch die Herrschaft über die Liebe.«

»Über die Liebe? Die Liebe ist ein allverzehrendes Feuer. Erinnern Sie sich, wie Sappho die Empfindung ihrer Liebe beschrieb?«

»Die Liebe kennt ihr jungen Herren gewöhnlich nur aus Gedichten oder aus Romanen und Trauerspielen. O ja! Die Liebe in den Oden der Sappho kann ein verzehrendes Feuer sein; dies ist aber weder der Liebe höchster noch ihr edelster Grad. Die Liebe kann aus sehr tiefer Empfindung entspringen und tief ins Herz gehen und doch eine sehr sanfte Leidenschaft bleiben, welche die ganze Seele erfüllt, ohne sie der Herrschaft der Vernunft zu entziehen. Das Wesentliche der Liebe ist: Herzen zu verbinden, so daß eines durch das Glück des andern glücklich wird. Daher ist sie auch so mannigfaltig als die Arten der wechselseitigen Verbindungen und des wechselseitigen Glücks. Sie fängt an bei der untersten Stufe der Geselligkeit und macht jede Gesellschaft inniger. Das Verlangen, zu gefallen, die zuvorkommende Sorgfalt, daß andern wohl sei, der Sinn, sein Glück in dem Glücke anderer zu finden, sind ihre ersten Keime, welche zu hohen, fruchtbaren Bäumen aufwachsen können. In Romanen und Trauerspielen wird die Liebe nur so gebraucht, wie sie kann dargestellt werden, wie sie Wirkung tun kann auf den Leser und Zuschauer. Dies ist aber der wahren Liebe außerwesentlich; auch ist im wirklichen Leben die Liebe nicht so einseitig wie in Romanen, sondern regiert da in unendlich mannigfaltigem Graden und Abstufungen, welche alle darin übereinkommen, daß sie nicht können, ja daß sie nicht sollen dargestellt werden. Selbst der niedrigste Grad wahrer Liebe ist allzu heilig, als daß ein Dritter etwas davon fühlen soll. Daher hört auch die Romanenliebe mit der Heirat auf; denn in dieser Verbindung ist die höchste Stufe, welche liebende Herzen erklimmen können! Nicht Leidenschaft mehr (denn keine Leidenschaft ist dauernd), sondern innigste Fülle des Herzens, welche kein Wort ausdrückt und was auch der Roman und das Schauspiel nicht leicht darstellen können, die aber allemal aus dem Keime der Geselligkeit entsteht. Prüfen Sie sich, ob ein solcher Keim in Ihnen Wurzel fassen kann, ob Sie Kräfte entwickeln können und wollen zum Besten anderer, so wird Ihnen nichts fehlen an der Fähigkeit, glücklich zu sein und glücklich zu machen, und dann können Sie das Erschießen noch aufschieben. Der Grad des Glücks wird bestimmt durch den Grad der Fähigkeit, für andere und in andern zu leben. Suchen Sie also diese Fähigkeit zu erwerben.«

Wir redeten noch manches hierüber, bis Gustav gedankenvoll nach Hause ging. Ich hatte ihm viel widersprochen, aber meiner letztern Rede widersprach er gar nicht.

24.

Meine Lektion mag wohl etwas gefruchtet haben, denn Gustavs Trübsinn nimmt nach und nach ab. Nach mancherlei lebhaften Gesprächen scheint ihm doch einigermaßen zu Sinne zu kommen, daß er nicht allein in der Welt ist und daß mit den Ideen, die er sich macht, nicht alles kann ausgerichtet werden. Es ist mir genug, vorderhand ihn aufmerksam gemacht zu haben auf sich und andere; seine eigene gesunde Vernunft wird dann nach und nach das Beste bei der Sache tun. Jetzt liegt sie noch immer unter den Fesseln des Spekuliergeistes. Doch hat er sich von dem Menschensinne seiner Jugend noch so viel zurückbehalten, daß er in Gottes schöne sinnliche Welt hineinschauen kann. Freilich muß man ihn ein wenig dazu anstoßen; er ist wie ein Ermüdeter, der aus dem Traume erwacht, um sich blickt, aber dem bald wieder die Augen zufallen, wenn man ihn nicht abermals etwas rüttelt.

Ich unterhalte mich oft mit ihm. Dabei geht mein bißchen Menschenkenntnis, soviel es kann, seinen Weg, aber weit mehr Gustavs Philosophie, die noch gar ergiebig ist und wovon ich auf diese Weise nach und nach recht viel erfahre, so daß ich, wenn ich stolz wäre, in der Gesellschaft der Frau von C. vielleicht schon ein wenig glänzen könnte. Doch bin ich sparsam mit solcher Gelehrsamkeit und suche unsere Gespräche nur zu Gustavs Nutzen zu lenken. Dabei gibt's dann mancherlei Gelegenheit, ihn sanft zu rütteln, damit er die Augen öffne und um sich schaue. Das möchte er auch wohl; aber kaum hat er etwas mit halben Blicken angesehn, so will er gleich aus der Spekulation in seinem Gemüte (so nennen die Leute jetzt das innere Kästchen, worin sie ihre Weisheit aufbewahren) festsetzen, wie es mit dem Dinge eigentlich beschaffen sein soll. Dabei kommt das Gespräch auch auf uns Frauenzimmer. Der Gegenstand wäre reichhaltig genug, nicht wahr, liebe Julie? Nur weiß Gustav viel weniger davon, als er sich einbildet. Er muß sich doch erinnern, wie sehr er sich vor kurzer Zeit an den ersten Weibern geirrt hat, die er kennenlernte; und dies sollte ihn darauf führen, sich erst noch mehr Kenntnis von unserm Geschlechte zu erwerben, ehe er darüber zu urteilen wagte. Aber er fängt lieber gleich beim Urteilen an, und da er wirklich gut spricht, so unterhalte ich mich gern mit ihm über uns. Versteht sich, daß ich ihn mehr selbst reden lasse und seine lehrbegierige Schülerin bin. Es erhellet aus seinem ausführlichen Räsonnement, daß unsere deutschen Imaginationsphilosophen (so, wie sie durch ihre Spekulation alles beschließen und bestimmen, wie es sein muß und sein darf) auch über die Weiblichkeit erstaunlich viel in ihrem Gemüte festgesetzt haben, so daß sie auf ein Haar angeben können, wie unser Geschlecht ist und wie es sein soll. Gustav hat mir in seiner Unschuld eine Menge von dieser Weisheit über uns mitgeteilt und alles fein erläutert mit Beispielen aus »Meisters Lehrjahren«. Das hat mich sehr amüsiert. – Wie sich die jungen Weisen die Weiblichkeit vorstellen, soll ich Dir sagen? Das geht nicht! Du müßtest es selbst hören; aber amüsant ist es. Stelle Dir indes vor, wie wir nicht sind, so kommst Du dieser Buchvernunft ziemlich auf den Weg.

Dies alles sind nun noch Überbleibsel der Schulweisheit, welche Gustav mitbrachte. Sie fängt freilich an, sich etwas zu verlieren, aber sie hat ihm allzuviel Kopfbrechens gekostet, um sie sogleich ganz aufzugeben. Ich lasse ihn auch damit gehen, um dadurch sein Vertrauen zu gewinnen, weil ich seine Denkungsart näher erforschen will. Auch lerne ich armes ungelehrtes Weib sonst vieles dabei: denn daß diese Weisheit ganz unweise sei, wirst Du nicht glauben; nur ist sie größtenteils nicht für diese Welt unter dem Monde, sondern für eine ganz eigene Verstandes weit, wovon mir Gustav auch manches vorgesagt hat, worin aber, soviel ich sehe, nicht gut zu leben sein mag. Darauf mache ich meinen Gustav denn oft aufmerksam, und er verwickelt sich ziemlich in meine Zweifel, so daß er sich nicht anders herauszuhelfen weiß als durch den Machtspruch: die Vernunft gebiete, daß das, was er behauptet, so sein soll. Dawider darf dann kein Einreden gelten.

25.

Die Unterhaltungen mit Gustav werden täglich interessanter; denn durch Mitteilung unserer Meinungen haben sich auch unsere Gesinnungen genähert. Wir hatten sonst einander viel zu widersprechen und uns über vieles zu belehren. Das geschieht auch noch wohl zuweilen, aber wir kommen jetzt geschwinder überein, und – ich weiß nicht, wie es zugeht – auch alsdann haben wir uns noch so viel zu sagen, daß die Stunden unvermerkt verlaufen, bis wir scheiden müssen; und den folgenden Tag ist Gustav immer eine Stunde früher bei mir als sonst, und früher als sonst geht er nicht weg. Das bemerke ich und sage weiter nichts, aber es ist mir angenehm.

Liebe Julie! Wenn Gustav eine unrichtige Theorie vom weiblichen Geschlechte hat, wie ich Dir neulich schrieb, so weiß er doch recht gut (sei es nun Instinkt oder was es sei) die weiche Seite eines weiblichen Herzens zu finden. Dem, der uns nicht ganz zuwider ist, nähern wir uns unvermerkt, wenn er uns nachgibt und teil an uns nimmt. Ich denke, es ist nicht bloß Eitelkeit, daß ich ein gewisses Wohlgefallen in mir finde, meinen Gustav von so manchem überzeugt zu haben, so daß er mit mir weit mehr übereinstimmt als sonst, daß er gefälliger und angenehmer in seinem Betragen wird. Es ist wohl nicht bloß Selbstgefälligkeit, daß ich mich in dieser Veränderung genieße; aber welchen Namen hat denn das sonst, was ich empfinde?

Ich überlese eben, was ich schrieb, und finde mit einiger Bewegung, daß ich, ohne daran zu denken, »meinen« Gustav geschrieben habe. Das bedeutet nun nichts, denn ich schreibe an Dich so wie an mich selbst und darf vor Dir nicht rot werden; aber wenn dies nun an mich selbst geschrieben ist, so habe ich doch etwas an mir entdeckt, was ich vorher nicht so genau wußte. Ich darf auch vor mir nicht erröten, denn ich finde mich im vollkommensten Einklange mit mir selbst. Wenn aber nichts in mir mißtönet, so kommt es nur darauf an zu finden, welches der Grundton ist, der in meinem Herzen so leise anspricht.

Ich war neulich bei dem ersten schönen warmen Frühlingstage später im Garten geblieben, weil das kommende Grün und die laue Luft und der Vogelgesang mein Herz öffneten; der kühle Abend war herangekommen, ehe ich mich besann. Die Folge war erst eine Unbehaglichkeit und dann ein Flußfieber, das eine schlimmere Wendung drohte und mich über zehn Tage im Bette hielt. Es lag auf mir, daß ich meinen Gustav – das »mein« fließt mir abermals aus der Feder – einige Tage lang nicht sehen konnte wie sonst; aber mein Herz schlug voller, wenn man mir täglich zweimal seine persönliche Erkundigung nach meinem Befinden meldete. Ein paar Tage unterblieb die Erkundigung, welches mich unruhig machte. Er war verreiset. Wohin? Nach einem benachbarten, durch einen unglücklichen Zufall ganz abgebrannten Dorfe, wo er für die armen Leute, soviel er konnte, gesorgt, sie in Hütten untergebracht und ihnen die nötigsten Bedürfnisse gereicht hatte.

Dies Wohlwollen gegen Unglückliche schaffte in mir innige Zufriedenheit. Nachdem ich das Bette verlassen konnte, war sein erster Besuch eine Stunde voll Empfindungen, die ich lange in mir nicht gespürt hatte. Seine Teilnahme an meinem Wohlsein, meine Mitempfindung seiner Gutherzigkeit – wir waren drei Stunden zusammen, und ich glaube, wir sprachen langsamer als sonst: die Worte fließen nicht so geschwind, wenn man etwas zu sagen hat, wofür die Worte fehlen. Beim Abschiede drückte er mir die Hand, und sein schwarzes Auge sah sittsam in das meinige. Wir schwiegen beide. Als er mich verließ, fühlte ich mich ungewöhnlich bewegt.

26.

Dein Brief zeigt, liebe Julie, daß Du nachsichtig bist gegen mich. Du weißt, ich hatte von jeher ein liebendes Herz, und Du weißt auch, wie wenig ihm gegeben war und wie es seinen Empfindungen mit Anstrengung Raum schaffen mußte, damit die Pflicht nicht eine Last würde. Wir Weiber sind an schwere Gesetze und schwere Konvenienzen gebunden. An sich machen sie uns nicht unglücklich, nur insofern wir uns darüber wegsetzen wollen. Dies muß uns an unsere Pflicht binden, aber wieviel seliger ist, wer wie Du, liebe Julie, sich beständig seinen vollen Herzensempfindungen überlassen durfte! Diesem süßen Traume hänge ich jetzt nach. Gustav weckt in meinem Herzen die süßen Empfindungen voriger Zeit auf. Seine schöne Gestalt stellt mir lebhaft dar die Züge meines verstorbenen Mannes, zu der Zeit, da meine Freundschaft gegen ihn endlich in Liebe überging; aber sie stehen da in der holden Gestalt der blühenden Jugend, so wie die Züge des Ungetreuen, welcher meine erste Liebe hatte, als ich noch nicht wußte, wie wenig er meine Liebe verdiente – aber die schöne Gestalt, welche ich vor mir sehe, ist nicht die eines Unwürdigen. Das ist Gustav nicht; soweit habe ich ihn schon geprüft. Seine Fehler entspringen aus falscher Erziehung und Frühweisheit; sein Herz ist unverdorben. Ich male ein schönes Bild zusammen von allem, was mein Herz je liebte, und Gustav steht vor mir in diesem Bilde. Seine Empfindungen gegen mich, nur durch Anhänglichkeit an mich und durch Blicke ausgedrückt, erwecken in meinem Herzen einen süßen Schauer. Gustav selbst kann und soll dies nicht wissen.

Liebe Julie! Warum sollte ich meinen Regungen nicht freien Lauf lassen? Sie sind so unschuldig und tun mir so wohl. Ich denke doch, meine Vernunft soll immer fest genug sein, um der Empfindungen Herr zu bleiben, welche sich so unvermutet in meine Seele einschlichen. Laß mich in meinem unschuldigen, süßen Genusse!

27.

Es macht mich glücklich, liebe Julie, daß Du die Empfindungen billigest, welche jetzt mein Herz erfüllen. Sie sind zusammengesetzt aus allem, was ein menschliches Wesen beseligen kann. Die Sensualität gibt den vergänglichen Genuß des Augenblicks, die geistige Liebe dringt ein in jeden verborgensten Winkel unseres Herzens, sie vereiniget alles, sie vermischt, sie setzt auseinander, sie verändert, sie beseligt alle Empfindungen. Warum sind wir doch aber bei alledem nicht zur bloßen geistigen Liebe geschaffen? Weil wir gemischte Wesen sind und weil wir uns notwendig zerstören, sobald wir den Körper zum Nachteile des Geistes und den Geist zum Nachteile des Körpers pflegen. Darum haben wir mit den äußern Sinnen auch einen innern Sinn, der das Körperliche geistig macht, ohne dessen Natur zu verändern; darum hängt unsere innere Liebe an äußeren Gestalten. Die Empfindung der Kunstwerke weihet ein zu seligen Genüssen. Kennest Du ein höheres Kunstwerk der bildenden Natur als eine edle Seele in einem schönen Körper? Was sind dagegen Raffaels und Correggios und Guidos und Albanis höchste Meisterstücke, unter denen ich in Italien ein Jahr lang schwelgte, als Schatten edler Seelen in schönen Gestalten! Man muß sie lieben, diese Schattenrisse des Höchsten in der Natur – aber sie können nicht wiederlieben!

Liebe Julie! Ob mich Gustav wiederlieben wird? Bei diesem Gedanken zittern die feinsten Schwingungen meiner Empfindung; wie könnte ich ihn deutlich denken! Meine Liebe ist in meinem Busen verborgen und soll nur in dein liebendes Herz überfließen.

Und doch wird Gustavs Blick jeden Tag eindringender.

28.

Ich sehe meinen Gustav täglich, er hängt an mir, ist unterhaltend, bescheiden, seine Worte sind herzlich, sein Blick ist seelenvoll; täglich finde ich ihn liebenswürdiger. Ich überlasse mich ganz den süßen Regungen meines Herzens. Wenn ich ihn nicht sehe, bin ich einsam, ich irre in den buschigen Gängen meines Gartens; die Frühlingssonne, die Blätter, die sich entfalten, die Blumenknospen, alles, was ich sehe und höre, scheint mir Liebe zu atmen. Ich wiege mich in diesem süßen Staunen, dem ich stundenlang mich hingebe; Gustavs Bild wandelt mit mir, es scheint meine innige Empfindungen zu teilen: in dieser holden Täuschung wird meine ganze Seele erfüllt von unnennbaren Gefühlen. Die Leidenschaften legen unser Herz offen; Gram und Reue zerfleischen unser Herz; die Tauben der Liebe schnäbeln es, so daß ein süßer Schauer durch alle Adern zittert.

29.

Du fährst fort, liebe Seele, mit der Leidenschaft, die jetzt mein ganzes Wesen ausfüllt, Nachsicht zu haben; noch mehr: Dein liebendes Herz macht meine Wonne inniger durch Mitgenuß. Ich fühle auch noch ganz die Seligkeit meines erneuerten Daseins, und doch kommt mir zuweilen in den Sinn: ich selbst sollte mit mir weniger Nachsicht haben. Wären wir bloß in der Welt um des Genusses willen, so wäre zum Seelenglücke ein Bedürfnis genug: das Bedürfnis gegenseitiger Liebe. Aber unsere Glückseligkeit ist auch an Ausübung geselliger Pflichten gebunden, und so entstehen für uns der Bedürfnisse mehrere. Wir brauchen Kultur, Arbeit, Sorgen, müssen uns helfen lassen und helfen; und durch diese Bedürfnisse entsteht abermals reiner Genuß, wenn sie von der Liebe Band durchflochten werden. Noch ist mein Wesen von Liebe durchdrungen, solange mein Gemüt nur in wonnevollem Staunen sich wiegt; doch wenn ich zu mir komme, wenn ich meinen Geist wende auf alles, was um mich ist, so sehe ich die wirkliche Welt, worin wir leben, welcher auch ich nicht entsagen darf. Es ist mir lieb, gefühlt zu haben, daß ich der Innigkeit der süßesten Leidenschaft fähig bin, aber doch auch sehr lieb, daß ich mich noch fähig fühle, nachzudenken über Leidenschaft und über mich selbst.

30.

Mein Entschluß ist gefaßt, liebe Julie! Ich muß suchen, des Übermaßes meiner Liebe Herr zu werden. Werde ich es können? Ich muß, liebe Julie! Wäre ich achtzehn Jahre alt, würde ich nicht wollen. Aber es ist der Vorteil einiger Jahre Erfahrung mehr, daß man sich selbst kennenlernt und auf die Folgen seiner Handlungen vorher achtet. Gustav selbst gibt mir Gelegenheit, meinen Entschluß zu befestigen. Das süße Hinbrüten, worin mein Geist lag, hat sich auch ihm mitgeteilt. Dies tat mir sehr wohl und ward die Quelle wonnevoller Augenblicke. Nachdem ich nun soweit aus der Trunkenheit der Empfindungen zu mir selbst gekommen bin, um meine und Gustavs Lage richtig zu überlegen, so sehe ich, daß dieser Wechsel von Empfindungen nächstens eine ernsthafte Erklärung von seiner Seite herbeiführen wird, welche ich auf alle Weise muß zu vermeiden suchen. Was würde die Folge davon sein? Sollte ich nein sagen? Liebe Julie! Ich könnte jetzt nicht, mein ganzes Wesen schwimmt in zärtlichen Gefühlen! Wüßte ich auch nein zu sagen, welche Wirkung würde dies auf Gustav tun, dessen Herz voll ist wie das meinige? Ach, ich könnte es nicht über mich gewinnen, ihn zu betrüben! – Ja sagen? Wie süß wäre der Gedanke, wenn ich bloß dem Gefühle meines Herzens folgte! Aber ich sehe weiter um mich in die Wirklichkeit. Wie sollen die süßesten Wünsche erreicht werden? Ich muß zurück, soviel es mich auch kosten wird. Ich habe von der Liebe und Heirat Erscheinungen genug gehabt, um das Gute und Schlimme davon zu kennen. Würde ich Gustavs Herz immer ausfüllen so wie jetzt? Ohnedies würde ich mich sehr unglücklich machen, und auch er könnte nicht glücklich sein; er fühlt so wahr und so rein! Doch ist er jetzt noch jung, kennet noch bei weitem nicht genug sich selbst und die Wege der Welt. Auf dem Entschluß zu dieser Heirat würde das Glück meines ganzen Lebens beruhen. Das verdient wohl ernstliche Überlegung. –

31.

Du bist besorgt meinetwegen, Du gute Seele, daß ich nicht etwas unternähme, was mir hernach allzuschwer werden und auf mich und Gustav eine widrige Wirkung haben möchte. Beste Freundin, ganz glaube ich noch nicht an mich selbst; und doch erfordert meine und Gustavs Lage, daß ich bei meinem Vornehmen festhalte, so schwer es mir auch werden wird. Wer nicht weiß, sich selbst zu gebieten, kann sich weder richtig beurteilen noch sich selbst regieren und wird von seinen eigenen Wünschen fortgerissen, wenn er es am wenigsten glaubt. Selbst unsere edelste Leidenschaft bedarf des Zügels der Vernunft. Das wesentlichste ist: ich muß einer ernsthaften Erklärung Gustavs schlechterdings auszuweichen suchen, welche, wie ich wohl merke, ihm auf den Lippen schwebt. Das übrige wird sich nach und nach finden.

Unsere Verbindung will ich keinesweges aufheben. Das könnte ich nicht. Aber ich will diese Verbindung brauchen, um ihn wider sein eigenes philosophisches Gebot vollkommener zu machen. Ich will ihm ein Hauptmotiv zum Guten und Edlen werden, durch seine Liebe gegen mich. So dachten die alten Ritter. Sollte ein gelehrter Jüngling durch Weiberliebe schwerer zu führen sein als die breitschultrigen Dickköpfe mit Harnischen und Schlachtschwertern? Durch Liebe, glaub' ich, kann jeder zum Guten erzogen werden, der nicht festgesetzt ein Egoist ist; und das ist Gustav nicht. Ob ich ihn für mich selbst bilden werde? Liebe Julie, das ist ein zarter Gedanke, den ich noch nicht deutlich denken darf. Wenn seine Liebe wahrer ist als seine Philosophie, so hoffe ich, es soll aus der größern Vollkommenheit, wozu ich ihn gern führen möchte, auf alle Weise Glückseligkeit für mich entspringen – und auch für ihn.

Da ich nun meinen Entschluß fest gefaßt habe, fange ich an, wieder ruhig zu werden. Es war eine süße Ekstase, worin ich wallte, aber ich war außer mir und also unfähig, mich selbst richtig zu sehen. Mit meiner Besinnung kommt auch mein froher Mut wieder, und ich fühle, ich habe ihn nötig; daher zwinge ich mich sogar, ihn zuweilen wieder bis zum Mutwillen zu treiben. Es soll ein gutes Mittel wider die Furcht sein, so laut zu pfeifen oder zu singen, als es angehen will; wäre es denn nicht auch ein gutes Mittel, verborgene Liebe zu verhehlen, wenn man es über sich gewinnen kann zu scherzen? Und verhehlen muß ich notwendig die Gesinnungen, welche das Innerste meines Herzens beseligen, ohne doch bei meinem Geliebten die Hoffnung zu ersticken, daß sie ihm einst offenbar werden; denn nur durch diese Hoffnung kann ich auf ihn wirken – zu seinem Besten.

32.

Du bleibst dabei: es wäre ein mißliches Unternehmen, ihn durch die Liebe bilden zu wollen? Du meinst, die Bildung würde bald von der Liebe überwältigt werden? Ach, ich sehe die Möglichkeit hiervon wohl ein; aber ich mache mir Mut, der Überwältigung zu widerstehen. Mein Grundsatz ist, daß die Vernunft auch in der Liebe ihre Kraft nicht verlieren muß.

Es gehe nun, wie es wolle, liebe Julie! Ich suche doch nach allen Kräften meinen Vorsatz auszuführen. Die Hauptsache ist, daß Gustav gesellig werde, und dazu ist der erste Schritt, daß er sich in Gesellschaften aller Art schicken lerne. Wenn ich dies erlange, kann ich ganz ungezwungen unsere bisherigen Zusammenkünfte unter vier Augen vermindern, damit nicht unvermutet eine Erklärung von ihm erfolge. Selbst unsere vertraulichen Unterredungen kann ich auf mancherlei Dinge lenken, die in Gesellschaften vorfallen und ihnen dadurch eine Wendung geben, welche meinem Zwecke gemäß sind, ihn von seinen selbstsüchtigen Idealen ins wirkliche Leben zurückzuführen. Ich habe schon unter mancherlei Verwände versucht, ihn in mehr Gesellschaften einzuführen. Du glaubst aber nicht, wieviel Schwierigkeiten es macht, ihn dazu zu bringen. Auf einen Grund seiner Weigerung wußte ich fast nichts zu erwidern. Er sagte mir ganz naiv: »Wozu bedürfen wir Gesellschaft – sind wir beide uns nicht Gesellschaft genug?« Ich mag ein wenig rot geworden sein, wenigstens konnte ich ein paar Sekunden lang nicht antworten. Ich setzte ihm sodann auseinander, daß vermischte Gesellschaft ihm zur Menschenkenntnis und zur Bildung seines Charakters sehr nützlich sein würde. Aber da gab er mir eine Ursache an, warum er nicht in gemischte Gesellschaft gehen müsse. Die Ursache war gar zu nippernäppsch. Du würdest sie nimmermehr erraten. Nächstens will ich Dir ausführlich schreiben, was ich mit ihm darüber verhandelt habe.

33.

Also ich will Dir's sagen, warum Gustav vermeiden wollte, in gute Gesellschaft zu gehen: der arme Mensch befürchtet, sein idealisches Dichtertalent in der guten Gesellschaft zu verderben.

Sollte man sich vorstellen, daß solch Zeug in Köpfe kommen könnte, welche noch verlangen, für vernünftig gehalten zu werden? Gewisse vornehme Gesellschaft möchte noch eher den Dichter verderben, wenn er nämlich sich zu schmeicheln gewöhnt; aber gute Gesellschaft?

Gleichwohl versicherte Gustav mit der ehrbarsten Ernsthaftigkeit, es wären unter den neuesten feinen deutschen Kennern allgemein als bewährt angenommene Maximen, »daß die gute Gesellschaft, besonders in einer großen Residenzstadt, für den Künstler eine gefährliche Klippe sei ... und daß ein Dichter, der zu sehr in der unpoetischen wirklichen Welt unseres Zeitalters lebe, die reine Liebe zu seinen Idealen verliere«.Es muß dies wohl wirklich in der neuern deutschen schönen Welt festgesetzt sein; denn in der »Jenaischen Literaturzeitung« (v. J. 1796, Nr. 170) werden ebendiese Sätze behauptet.

»Wenn ich böse wäre«, versetzte ich, »lieber Gustav, so könnte ich sagen, Sie würden viel gewinnen, indem Sie diesen idealischen Prunk verlören. Wenn die Dichter so zärtliche Pflänzchen wären, daß sie verwelkten, sobald ein Unideal sie anwehte, müßten sie armselige Geschöpfe sein. Das wahre Ideal in den Künsten ist dem Geiste, der es fassen kann, tief eingeprägt; die widrigsten Begebenheiten des Lebens können es nicht vertilgen; wie könnte es der tägliche Umgang tun? Klopstock hat einen großen Teil seines Lebens in der guten und unpoetischen Gesellschaft einer großen Residenz gelebt, und selbst Shakespeare lebte unter den vornehmsten Leuten des großen London. Haben nicht Voltaire und Diderot ihr Leben in der besten Gesellschaft ihrer Nation zugebracht?«

Gustav sagte spöttisch lächelnd: »Die beiden letzten führen Sie ja nicht an! Es waren ganz gute Leute, aber die höhere Bestimmung, den echten dichterischen Gehalt, die idealistische Stimmung und besonders die Wahl eines idealistischen Stoffs ist nie in ihr Gemüt gekommen.«

»Lieber Gustav! Ich wünsche euch allen, daß ihr weniger pompöse Worte machen und einmal ein Werk schreiben möchtet, das Kennern und Nichtkennern gefiele. Dergleichen hat Voltaire geschrieben und hat auf ganz Europa mehr gewirkt, als unsere Schulphilosophie und Idealpoetik jemals auf den zehnten Teil der deutschen Nation wirken werden. Sie können immer in gute Gesellschaften gehen, ohne Furcht, Ihrer Poesie zu schaden. Die Römer verlangten doch von ihren Schriftstellern Urbanität; was ist das anders als der Ton der guten Gesellschaft?«

»Verzeihen Sie! Die Römer können Sie mir nicht anführen, sowenig wie die Franzosen. Der deutsche Dichter muß eine Originalität zeigen, wovon jene keinen Begriff hatten. Der Deutsche, wenn er bloß den Eingebungen seines Genies überlassen ist, macht strenge Forderungen an sich. Eine gewisse Eleganz erreicht er nicht; er unterscheidet sich durch idealische Stimmung und Wahl eines idealischen Stoffs.«Ebendieses wird ausdrücklich behauptet in dem angeführten Stücke der Literaturzeitung.

»Seit wann wäre denn das der Charakter der deutschen Dichter überhaupt? Oder ist seit einiger Zeit etwas in die deutsche Nation gekommen, was erfordert, daß für sie die Dichter am besten wären, die eine eigenmächtige, selbstgefällige, idealische Stimmung suchen und unvermögend sind, eine gewisse Eleganz zu erreichen? Oder ist's nicht nötig, daß deutsche Dichter für deutsche Leser dichten? Wo wäre denn die Nation oder das Publikum, das eine unelegante ideale Deutschheit verlangte? Etwa in solchen Klubs wie der bei Frau von C., wenn die Pandolfi darin präsidieren? Aber ich weiß wohl, es gibt unter uns seit einigen Jahren Zirkelchen von eingebildeten Leuten, welche sich und die ihnen angehören ausschließend für die deutschen Dichter halten und eigentlich nirgends zu Hause sind. Bald sitzen sie bei den Griechen, bald bei Shakespeare, bald bei Dante, bald bei Gozzi, das heißt: überall und daher nirgends. Sie haben keinen Standpunkt für ihr eingebildetes Große und Schöne; sie wollen so empfinden und so schreiben, wie sie nicht sind und wie niemand ist, und das nennen sie Deutschheit. Ideal heißt ihnen bald dies bald das, und es ist oft nichts als eine eingeschränkte, verpfuschte Erfahrung, individualisiert durch selbstgefällige Theorien. Diese Leute wollen immer viel mehr, als sie können. Unvermögend, das Natürliche in seiner Simplizität zu veredeln, suchen sie nur das, was fremd und exzentrisch ist, verachten ihr Zeitalter, das sie nicht kennen, und werden ihren Zeitgenossen täglich unbedeutender. Sie machen ihre Gedichte eigentlich nur für sich selbst und für ihren Zirkel, wo einer den andern ungeheuer lobpreiset; daher gefallen sie sich freilich niemals in guter Gesellschaft. Da gilt ihre Prätension nicht für Verdienst, und bei ihnen selbst verlieren sich ihre vermeinten hohen Ideale und erscheinen als Schwachheiten, sobald sie Menschen kennenlernen, die besser sind als sie selbst. Den Gedankenwechsel und die Nahrung des Geistes im gebildeten Umgange rechnen dergleichen Leute für nichts; denn sie sind ihnen unbekannt. Daher ist die gute Gesellschaft wirklich eine gefährliche Klippe für Dichterlinge, weil sie darin in ihrem Nichts erkannt werden; für den wahren Dichter und Künstler ist sie eine Schule der Menschenkenntnis und der guten Lebensart. Auch an der letztern sollte es einem großen Dichter nicht fehlen, wenigstens wird er deshalb nicht groß, weil es ihm daran mangelt. Freilich können Verstöße gegen die gesellschaftlichen Konvenienzen nicht hindern, daß jemand Genie habe; aber die Vernachlässigung dieser Konvenienzen ist noch kein Zeichen von Genie, wie sich so manche Leutchen einbilden, welche überhaupt das Genie in den Fehlern suchen. Diese Leute mögen immer bei ihren Büchern bleiben, nur müssen sie nicht für Menschen schreiben wollen, ehe sie Menschen haben kennenlernen.«

Dies und anderes sagte ich. Meine Liebe zu ihm machte, daß ich noch strenger redete, um ihn desto eher aufmerksam zu machen. Überzeugt habe ich ihn schwerlich, aber ich werde doch fortfahren, ihn in Gesellschaften zu bringen. Er liebt mich und will also sein, wo ich bin, und das übrige wird die gute Gesellschaft selbst tun. Der Umgang mit gebildeten Menschen aller Art ist den exzentrischen Schiefköpfen, was den Kranken die reine Luft: sie genesen schon durch die bloße Existenz darin.

34.

Gustav hat mir schon in einige Gesellschaften folgen müssen. Seine natürliche Vernunft und Anmut kommen hervor, sowie er die Prätension zur Weisheit ableget. Er ist unterhaltender und gefälliger geworden, nicht so rechthaberisch und einseitig als vorher. Gestern waren wir auf einem großen Balle. Beinahe erkannte man dort den stieren Schwedenkopf nicht wieder. Sein schön gelocktes Haar war leicht gepudert, sein Auge durchdringend, seine Wangen blühten von Gesundheit, ein dunkelstahlgrauer Frack und ein weißes Gilet umschlangen mehr seinen schönen Wuchs, als sie ihn bedeckten. Die Mädchen gafften ihn an. Es war da viel blühende Jugend. Gustav war heiter und gesprächig und belebte die Konversation durch seine muntere Laune. Die Schönsten und Geistvollsten unseres Geschlechts sammelten sich um ihn. Er tanzte mit mir. Mein Herz klopfte, als er mit mir Hand in Hand die Reihen herabflog; die Musik war allerliebst und der Kontretanz simpel mit vier angenehmen Touren, wie sie nicht mehr recht Mode sind; denn wir Deutschen verstehen uns darauf, unser Vergnügen durch Kunst zu verderben. Wir gehen mit den um wie mit unsern Tischliedern, die nur von wenigen gesungen werden können, und wie mit unsern Suppen, die wir beinahe zu Kompotten machen. Wir tanzen englisch und französisch und wilde Walzer, bis alles übermühet und schwerfällig aussieht. Was ist schöner als blühende Jugend, welche im leichten Frohsinne dahinschwebt? Aber kaum ist jetzt eine Stunde vorbei, so lechzet alles, die Gesichter glühen, der Schweiß trieft, alle Grazie verschwindet. Die Tanzenden sehen aus, als seufzten sie unter der Last einer Fronarbeit.

Ich hatte schon eine Zeitlang nicht getanzt; denn ich mag gern aufhören, ehe ich befürchten darf, das Ansehen einer Bacchantin zu haben, und ich wünschte, meine schönen Landsmänninnen wären wenigstens eitel genug, dem Tanze zu entsagen, ehe er entstellt. Man hatte ein paar verwickelte, langweilige Quadrillen, jede von sechzehn Touren, gehüpft. Die Musik schwieg. Die ermüdeten Tänzer wischten sich den Schweiß, die Tänzerinnen, die nicht vom Platze gekommen waren, schnappten nach Atem. Gustav hatte schon eine Zeitlang an meiner Seite gesessen. Er stand auf, Amalie L. zu einem Walzer aufzufordern.

Du kennst noch nicht das holde Geschöpf, das ich nie ansehen kann ohne ein gewisses Interesse meines Herzens. Sie hielt sich seit ihrem zehnten Jahre bei ihrer Tante in T. auf, da ihre Mutter, wie Du weißt, bald nach ihres Vaters Tode vor Gram starb, und hat einen Teil des vergangenen Winters in D. zugebracht. Sie geht nun ins achtzehnte Jahr, blond, als wäre sie ein altdeutsches Mädchen, ein Wuchs gleich der antiken Psyche, die den Amor umarmt, die feinste Haut, eine gewölbte Stirn, große blaue Augen voll Ausdruck, eine zarte, fein abgerundete Nase, volle, wenig rote Wangen mit einem feinen Grübchen, die Adern blaßblau angedeutet, die schönsten Zähne, Lippen hochrot, voll Lieblichkeit. Sie war in leichtes weißes Linon gekleidet, hochgeschürzt mittelst einer goldenen Schnur mit langhangenden Troddeln, einen Kranz von Kornblumen in den blonden Haaren, an ihrem Busen schwankte eine volle Rose. Als Gustav mit ihr auftrat und der Musik winkte, waren alle Augen auf das Paar gerichtet. Als sie nach einigen Takten sich mit natürlicher Anmut wendeten (sein rechter Arm über ihrem Gürtel, ihre linke Hand auf seiner Schulter, die rechte nachlässig herabhangend), folgte ihnen ein allgemeiner Blick der Bewunderung. Das Walzen soll der Tanz vertrauter Zuneigung sein; so erschien es hier. Nicht das zierliche Verschlingen der Allemande, das die Franzosen aus dem deutschen Walzer verparisierten, so daß jede Wendung sagt: Sieh mich an, wie galant ich bin! Nicht das sorglose, wilde Schwingen des schwäbischen Bauern, nicht der üppige Wirbeltanz, den Werther, gar recht, seinem Mädchen mit keinem ändern gestatten wollte. Beide wendeten sich mehr, als sie sich drehten, ihre schlanken Gestalten entwickelten sich langsam und voll Anmut, die Augen aufeinander gerichtet, sittig ohne Gleichgültigkeit; jeder schwebte an des ändern Seite, ohne familiär aneinanderzuhangen, die Arme graziös abgewechselt ohne plumpes Umfangen. Solange sie in dem weiten Zirkel aneinander schwebten, wagte es kein anderes Paar, ihnen nachzuwalzen; als er stand und sie mit einem Handkusse voll Ehrerbietung nach meinem Sitze führte, erfüllte den Saal ein allgemeines Murmeln des Beifalls. Amalie L. kam auf mich zu, indem ich aufstand, schlug ihren Arm um mich und drückte einen warmen Kuß auf meine Lippen. Sie flüsterte mir ins Ohr: »Herr B. ist jetzt ein ganz anderer Mensch. Ich hätte ihn kaum gekannt, wahrlich, er ist liebenswürdig geworden! Das ist Ihr Werk!«

Sie war so selig. Das fuhr in mich, weil's so unvermutet kam; ich glaube, ich sah ein wenig schafmäßig aus.

Liebe Julie! Wenn ich einen Augenblick nicht mit mir selbst übereinstimmen könnte, so würde ich mich schämen vor dir – das heißt vor mir selbst.

35.

Die gute Gesellschaft hat meines Gustavs poetische Ader nicht verdorben. Eben bringt er mir ein Gedicht an Lydien, das heißt an mich. Er hat seine Empfindungen, die er sich nicht geradezu zu entdecken getraut, mit zarter Zurückhaltung sanft durchscheinen lassen; es ist wahrlich das Beste, was er gemacht hat. Du weißt, daß ich nicht parteiisch urteile. Ich muß Dir sagen, ich schätzte es noch weit mehr, wäre es nicht an mich gerichtet. Stände es in einem Musenalmanache, so würde eine Leserin vielleicht dabei Feuer fangen, wie Du vermutlich auch. Aber ein Liebhaber, der im ersten Taumel der Liebe davon so schön reden kann, läßt die Geliebte kalt; es wäre denn, daß er einen Weg zu ihrer Eitelkeit fände. – Das Gedicht ist innig, es ist herzlich; aber es ist ein Gedicht und ist schön; die paar shakespearischen Tiraden zeigen mir ganz leise, daß er sich besann und suchte. Die wahre Empfindung sucht nicht. Wenn er mehr Gedichte auf mich macht, so werden sie immer schöner werden: das zu glauben, bin ich eitel genug; aber mich wird er von der Liebe heilen. – Von seiner Liebe dichten? Das kommt mir vor, als wenn jemand seinen Schmerz malen wollte! Was der Dichter besingt, beherrscht ihn nicht.

36.

Gustav sieht mich täglich, und Du kannst denken, daß ich ihn gern sehe. Unsere Herzen nähern sich; aber trage keine Sorge, liebe Julie, sie werden sich auch noch mehr nähern, aber nicht bis zur Vereinigung. Dieses ist mir immer noch ein süßer Gedanke, den ich selbst einsam gern denke; aber ich denke auch sogleich, daß ich zurück muß. Meine Liebe soll nicht weitergehen, als ihn so zu ziehen, daß er des Glücks der Liebe wert werde. Das ist hohe Philosophie, würde Gustav sagen, wenn er meinen Sinn wüßte; und doch, wenn ich tiefer in mich sehe, so erblicke ich nichts als bloße, bare Klugheit. Du glaubst nicht, wie verächtlich die Philosophinnen bei der Frau von C. die Klugheit ansehen. Die Vernunft, sagen sie, soll gebieten und die Klugheit nur guten Rat geben. Gerade als ob die Klugheit den Rat, den sie geben kann, anderswoher nehmen könnte als aus der Vernunft, wovon sie ein Teil ist. Ich wenigstens kenne keine unvernünftige Klugheit!

Meine Klugheit wird sich wirklich von der Vernunft noch viel Rat müssen geben lassen, ehe ich meinen Gustav auf den Weg bringen kann, wohin ich ihn zu führen wünsche. Es fällt ihm noch schwer, sich ganz in Gesellschaften zu schicken; er gefällt sich selten darin. Außer der allgemeinen Höflichkeit, wodurch freilich sein Äußeres viel gewonnen hat, achtet er wenig auf alles, was um ihn her vorgeht, ausgenommen auf mich; wäre dies nicht, so würde er in der größten Gesellschaft allein sein. Selbst wenn er mit jemand gesprochen hat, fällt er gleich in sich zurück. Ich wünschte ihn tätig zu machen, damit er an der wirklichen Welt Anteil nehmen und so viele Kräfte, die in ihm schlummern, entwickeln möchte. Wie ich das aber angreifen soll, weiß ich wahrlich nicht, denn es ist sehr schwer, ihn zu etwas zu bereden, was er nicht selbst will. Diese Selbständigkeit an sich gefällt mir zwar; aber Selbständigkeit, welche zur Untätigkeit führt, kann nie meinen Beifall haben.

37.

Unser Vetter, der Oberst, hat lange gedient und mit Ehre. Er forderte seinen Abschied, weil ihm ein Höfling vorgezogen ward und gleich ein Regiment bekam, ohne anders als durch Tragung einer Uniform gedient zu haben. Der Abschied ward ihm unverweilt gegeben und er dadurch in eine unangenehme Lage versetzt. Der Versuch, in fremde Dienste zu treten, mißlang wiederholt. Es blieb ihm nichts übrig, als seine Pferde und besten Mobilien zu verkaufen und aus dem wenigen, was er im dreißigjährigen Dienste hatte zurücklegen können, ein Kapital zu machen. Es war zu klein zu seinem Unterhalte; er gab es also auf Leibrenten, da dann seine Einkünfte gerade hinreichten, um bei der größten Frugalität anständig leben zu können. Aber die Leute in T., welche die Zahlung übernommen haben, handeln gewissenlos. Sie finden Schikanen aus einigen Worten des Kontrakts und haben seit einiger Zeit weniger und seit kurzem kaum den vierten Teil dessen gezahlt, was dem Obersten rechtmäßig zukommt.

Dies erzählte ich unserm jungen Manne, welcher sein Gefühl für Recht und Unrecht sehr lebhaft äußerte. Ich wendete darauf das Gespräch auf die Pflicht, welche Menschen gegeneinander haben, sich tätig zu helfen. Er brachte viel trockene Weisheit hervor über die Pflicht, wie es damit beschaffen wäre und daß sie ein Gebot der Vernunft wäre und daß die Gebote der Vernunft unbedingt gelten müßten und dergleichen mehr.

Ich fiel ihm in die Rede und fragte ihn kurz: »Glauben Sie nicht auch, Pflichten zu haben? Müssen Pflichten nicht tätig sein? Meinen Sie, daß müßig über Pflichten zu spekulieren und einige Gedichte zu machen, Tätigkeit sei? Ich bin ein Weib; wäre ich aber ein Mann und hätte die Rechte studiert wie Sie, so würde ich es für Pflicht halten, zum Besten meiner der Rechte unkundigen Verwandten meine ganze Tätigkeit anzuwenden.«

Er sagte viel allgemeines Zeug über die Spitzfindigkeit der Rechte und über die Trockenheit der Beschäftigung damit.

»Ich frage, ob Sie glauben, eine Pflicht auf sich zu haben, Ihrem Vetter mit Ihrer Einsicht zu helfen? Sie haben eben behauptet, jede Pflicht wäre unbedingt geboten, also tut die Trockenheit der Beschäftigung nichts zur Sache, und die Spitzfindigkeit der Rechte macht es noch notwendiger, Ihre Pflicht zu erfüllen.«

Er sagte, er wolle gern die Hälfte seiner Einkünfte mit dem Obersten teilen, nur nicht Prozesse führen.

»Also anstatt durch Ihre Tätigkeit ihm zu helfen, wollen Sie lieber in Untätigkeit ihm Almosen geben? Meinen Sie, daß er das annehmen wird, daß er das annehmen kann?«

Er errötete und stammelte, er wolle an einen Advokaten ...

Ich fiel ihm in die Rede: »Sie selbst sollen tätig sein.«

Er stotterte noch einige Ausflüchte; ich sagte ernst und trocken: »Sie wollen also leiden, daß die Schikanen dem Obersten ungestraft unrecht tun?«

Bei dem Worte »unrecht« ward seine Empfindsamkeit erregt. Nach einigem Wortwechsel erhöhete sich sein Unwillen, erwärmte sich sein edles Herz. Nun war die Zeit, ihm zu sagen: wenn er solcher Tätigkeit fähig wäre, würde ich ihn höher schätzen, er würde mir werter sein.

Das Wort sprach ich wirklich etwas leiser aus. Ob's etwa deshalb ihn mehr traf? Sein Auge ward heller, er küßte mir die Hand zum ersten Male.

Er ging zum Obersten, ließ sich die sämtlichen Papiere geben, las unermüdet, unterrichtete sich von allem, fragte Rechtsgelehrte, und nun ist er wirklich nach T. abgereiset, um an Ort und Stelle die Sache persönlich zu betreiben.

38.

Ich habe seit fünf Wochen meine Lust an Gustavs Tätigkeit gehabt. Er reisete hin und her, wendete alles an, suchte alle Instanzen, wo Hilfe zu hoffen war, entdeckte die Schleifwege der eigennützigen Schuldner und trieb sie dadurch dergestalt in die Enge, daß sie nun neue Sicherheit gegeben haben und die Sache ganz zum Vorteile des Obersten geendigt ist.

Ich bin sehr froh darüber, des Obersten wegen, aber auch Gustavs wegen. Dieser hat durch seine Tätigkeit in der kurzen Zeit auch seine Weltkenntnis sehr vermehrt. Er erzählte mir mehrmals, welche seltsamen Menschen er bei diesen Unterhandlungen hat kennenlernen. Er meint zwar, die meisten wären sehr gemein, aber ich behaupte gegen ihn, der gemeinste Mensch könne lehrreicher werden als eine leere höchste Idee. Er kann mir wenigstens nicht absprechen, daß Kenntnis wirklicher Menschen auch die Imagination erhöhet; denn er fühlt sich lebhafter nach dieser seiner ersten Tat.

N.S. Er hat auf dieser Reise auch Amalie L. gesehen. Er erzählt mir oft von ihr und kommt immer wieder darauf. Er soll mir nicht wieder nach T. reisen. Der kleine Bösewicht könnte mir untreu werden!

39.

Ich möchte meinen Gustav gern ferner im tätigen Leben wissen und habe sogar schon ein Wort fliegenlassen von Annahme eines Amts. Aber davon will er nichts hören.

Er schilt auf die Geschäftsleute. Ich verteidige sie. Wer Ordnung in der menschlichen Gesellschaft hält, ist mir ehrwürdiger als ein bloßer Spekulant.

Das läßt er allenfalls gehen, aber er pocht auf seine Geistesgaben. »Ich habe«, sagt er, »niemand gekannt, dem es geglückt wäre, seinen Geist zu erweitern, ihn über unzählige Gegenstände zu verbreiten und doch die Tätigkeit fürs gemeine Leben zu erhalten. Sagen Sie mir nichts von Aktivität, Sie werden mich nicht ins Joch schwatzen.«

»Sprechen Sie hübsch Ihre eigene Gedanken; das ist geradezu aus ›Werthers Leiden‹ gestohlen.«»Leiden des jungen Werther«, Zweites Buch, S. 149.

»Und wenn's nun wäre! Werther hat recht.«

»Recht? Goethe hatte recht, dies Werthern in dem Charakter und in der Lage sagen zu lassen, worin er ihn einmal gesetzt hatte; aber wenn es jemand als eine Wahrheit nachsagt, die im wirklichen Leben gelten soll, so irret er sich sehr. Werther ist nichts als ein Romanencharakter, und in der wirklichen Welt soll man nicht Romane spielen wollen. Der Charakter Werthers ist trefflich geeignet, um Wirkung in der Lektüre zu tun, trefflich geeignet, daß der Leser äußerst erschüttert werde durch die Situationen, worein dieser Charakter voll Kraft, Edelmut, tobender Leidenschaft, Müßiggang und Starrsinn sich selbst ganz natürlich setzt. Aber wer im wirklichen Leben Werthers Denkungsart und Handlungsweise nachahmen will, ist ein Narr.Lessing sagt ebendies etwas gelehrter, da er, um das Unheil zu verhüten, welches dies warme Produkt (wie er's nennt) leicht stiften könnte, wünscht: »... daß Goethe ein paar Winke gegeben hätte, wie Werther zu einem so abenteuerlichen Charakter gekommen; wie ein anderer Jüngling, dem die Natur eine ähnliche Anlage gegeben, sich davor zu bewahren habe. Denn ein solcher dürfte die poetische Schönheit leicht für die moralische nehmen und glauben, daß der gut gewesen sein müsse, der unsere Teilnehmung so stark beschäftigt. Und das war er doch wahrscheinlich nicht.« (s. Lessings Briefwechsel mit Ramler, Eschenburg etc., S.65). – Sehen Sie mich nicht mit so großen Augen an; ich sage nochmals: ein Narr, bis in seinen Tod ein Narr, der im wirklichen Leben nicht geschätzt zu werden verdient, wenngleich Goethe einen Romanencharakter aus Gutem und Bösem so zusammengesetzt hat, daß der Leser ihn bedauert und durch seinen Tod erschüttert wird. Dieser Romanencharakter konnte und mußte wider das tätige Leben sprechen und mußte müßig herumwallen, sonst hätte ihn der Autor nicht bis zum Erschießen bringen können. Daß aber niemand seinen Geist erweitern könne, der in der menschlichen Gesellschaft Tätigkeit beweiset und deshalb nicht immer seinen Launen folgen kann, ist eine Unwahrheit. Shakespeare war ein Schauspieler.

Dante arbeitete in Staatsgeschäften; so auch Rubens. Raffael konnte seinen Stoff nicht nach seinem Ideal wählen, mußte sogar auch Zimmer ausmalen. Correggio trug sein sauer erworbenes Kupfergeld selbst nach Hause und malte doch seinen ›Heiligen Hieronymus‹ und auf diesem Gemälde die holde Maria. Wieland war Kanzleidirektor und Professor und Prinzenhofmeister. Schiller war Arzt und Goethe Doktor der Rechte. Diesen beiden würde es gewiß an ihren Talenten nichts geschadet haben, wenn sie noch länger in der bürgerlichen Laufbahn geblieben wären. Wenigstens haben sie, solange sie darin waren, manche Erfahrungen gemacht, die ihrer Einbildungskraft Stoff geben konnten. Ich begehre damit gar nicht zu leugnen, daß diese Laufbahn Männern vom Geiste oft beschwerlich wird; aber sie ist doch auch oft der Weg, die Einseitigkeit zu verlieren, die aus dem bloßen Ideenspiele entsteht, und es tut dem Geiste sehr Wohl, wenn man früh lernet, sich zu zwingen und sich etwas zu versagen. Und dann: wer viel Zeit übrig hat, verschwendet sie gewöhnlich, so wie viele Reiche das Geld; wer zu Rate halten muß, wendet oft beides sehr viel besser an. – Wissen Sie wohl, daß Sie ein Zeitverschwender sind? Sie sollten einen Teil Ihrer Zeit auf bestimmte Geschäfte verwenden, damit Sie in der übriggebliebenen sich desto mehr zu Geistesarbeiten anspannen könnten.«

»Aber es ist doch schön, unbeschränkter Herr seiner Zeit zu sein, und das dolce far niente ...«

»Ist far niente und weiter nichts. Ich setze ein grobes deutsches Sprichwort dagegen: Müßiggang ist des Teufels Ruhebank! Tasso und Michael Angelo verlangten kein far niente, und auch nicht Angelika Kaufmann und Canova.«

Er brach ins Lob der Unabhängigkeit aus und fragte mich: ob ich wohl lieber einen Mann haben möchte, der den ganzen Tag über den Akten schwitzte, oder einen, der nach Gefallen jede Zeit der geistvollen Unterhaltung widmen könnte?

Ich stimmte für den ersten. »Denn«, sagte ich, »jener würde mir die Zeit seiner Erholung gönnen, und ich würde sie ihm süß machen, dieser aber würde sich immer mit sich selbst und mit seinen Ideen beschäftigen. Die großen Geister, sonderlich wenn sie reich sind und sonst nichts zu tun haben, als große Geister zu sein, sind viel beschwerlicher als die Geschäftsleute. Buffon hatte ein eigenes Haus, wo er studierte, wo ihn weder seine Frau noch sonst jemand sehen durfte, und wenn er aus dem Studierhause zurückkam, wollte er noch gelobt sein. Seit ich dies gelesen habe, bin ich noch mehr von den gelehrten Ehemännern zurückgekommen, und wenn es auch die größten Genies wären.«

Er kam wieder auf die Unabhängigkeit und führte unter anderem an: er habe Einkünfte genug, um bequem leben zu können; warum er nicht Herr seiner Zeit bleiben solle.

Dawider war nun nichts zu sagen, als daß er doch auch Pflichten habe gegen diejenigen, die auf ihr Auskommen denken müssen, und daß es ihm für Herz und Kopf nützlich sein würde, wenn er sich wenigstens eine Zeitlang bestimmten Geschäften widmete. – Das wollte er nicht zugeben, und ich hatte gute Ursache, nur Gründe von ihm selbst herzunehmen und nichts von meinem eigenen Wunsche, ihn tätig zu sehen, einfließen zu lassen. Denn er wendete das Gespräch zweimal, um auf seine Liebe gegen mich zu kommen, und ich kehrte immer wieder zurück zum bürgerlichen Leben und zur Tätigkeit darin, brach endlich kurz ab unter einem Vorwände, um nur diese Saite nicht zu berühren.


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