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8

Erster Theil
Achte Rede

Ledigung

Das hab' ich gehört. Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei Sāvatthī, im Siegerwalde, im Garten Anāthapiṇḍikos.

Als nun der ehrwürdige Mahācundo gegen Abend die Gedenkensruhe beendet hatte, begab er sich zum Erhabenen, begrüßte den Erhabenen ehrerbietig und setzte sich zur Seite nieder. Zur Seite sitzend sprach nun der ehrwürdige Mahācundo zum Erhabenen also:

»Von den vielen verschiedenen Lehren, o Herr, die da in der Welt auftauchen und sich bald mit der Betrachtung des Selbst, bald mit der Betrachtung der Welt befassen, braucht ein Mönch wohl nur den Anfang, o Herr, zu kennen, um sie zu verwerfen, um sie zu verleugnen?«

»Von den vielen verschiedenen Lehren, Cundo, die da in der Welt auftauchen und sich bald mit der Betrachtung des Selbst, bald mit der Betrachtung der Welt befassen, gilt überall wo sie auftauchen, aufsteigen, auftreten das wahrheitgemäße, vollkommen weise Urtheil: ›Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst‹: so werden sie verworfen, so werden sie verleugnet.

»Es mag schon sein, Cundo, dass da ein Mönch, gar fern von Begierden, fern von unheilsamen Dingen, die sinnend gedenkende ruhegeborene sälige Heiterkeit, die Weihe der ersten Schauung erwirkt habe und nun denke: ›Ledigung wirk' ich.‹ Doch das wird, Cundo, im Orden des Heiligen nicht Ledigung genannt, sichtbares Wohl wird das im Orden des Heiligen genannt.

»Es mag schon sein, Cundo, dass da ein Mönch nach Vollendung des Sinnens und Gedenkens die innere Meeresstille, die Einheit des Gemüthes, die von sinnen, von gedenken freie, in der Einigung geborene sälige Heiterkeit, die Weihe der zweiten Schauung erwirkt habe und nun denke: ›Ledigung wirk' ich.‹ Doch das wird, Cundo, im Orden des Heiligen nicht Ledigung genannt, sichtbares Wohl wird das im Orden des Heiligen genannt.

»Es mag schon sein, Cundo, dass da ein Mönch in heiterer Ruhe verweile, gleichmüthig, einsichtig, klar bewusst, und ein Glück im Körper empfinde, von dem die Heiligen sagen: ›Der gleichmüthig Einsichtige lebt beglückt‹; so habe er die Weihe der dritten Schauung erwirkt und denke nun: ›Ledigung wirk' ich.‹ Doch das wird, Cundo, im Orden des Heiligen nicht Ledigung genannt, sichtbares Wohl wird das im Orden des Heiligen genannt.

»Es mag schon sein, Cundo, dass da ein Mönch nach Verwerfung der Freuden und Leiden, nach Vernichtung des einstigen Frohsinns und Trübsinns die Weihe der leidlosen, freudlosen, gleichmüthig einsichtigen vollkommen reinen vierten Schauung erwirkt habe und nun denke: ›Ledigung wirk' ich.‹ Doch das wird, Cundo, im Orden des Heiligen nicht Ledigung genannt, sichtbares Wohl wird das im Orden des Heiligen genannt.

»Es mag schon sein, Cundo, dass da ein Mönch nach völliger Überwindung der Formwahrnehmungen, Vernichtung der Gegenwahrnehmungen, Verwerfung der Vielheitwahrnehmungen in dem Gedanken ›Gränzenlos ist der Raum‹ das Reich des unbegränzten Raumes gewonnen habe und nun denke: ›Ledigung wirk' ich.‹ Doch das wird, Cundo, im Orden des Heiligen nicht Ledigung genannt, sälige Ruhe wird das im Orden des Heiligen genannt.

»Es mag schon sein, Cundo, dass da ein Mönch nach völliger Überwindung der unbegränzten Raumsphäre in dem Gedanken ›Gränzenlos ist das Bewusstsein‹ das Reich des unbegränzten Bewusstseins gewonnen habe und nun denke: ›Ledigung wirk' ich.‹ Doch das wird, Cundo, im Orden des Heiligen nicht Ledigung genannt, sälige Ruhe wird das im Orden des Heiligen genannt.

»Es mag schon sein, Cundo, dass da ein Mönch nach völliger Überwindung der unbegränzten Bewusstseinsphäre in dem Gedanken ›Nichts ist da‹ das Reich des Nichtdaseins gewonnen habe und nun denke: ›Ledigung wirk' ich.‹ Doch das wird, Cundo, im Orden des Heiligen nicht Ledigung genannt, sälige Ruhe wird das im Orden des Heiligen genannt.

»Es mag schon sein, Cundo, dass da ein Mönch nach völliger Überwindung der Nichtdaseinsphäre die Gränzscheide möglicher Wahrnehmung gewonnen habe und nun denke: ›Ledigung wirk' ich.‹ Doch das wird, Cundo, im Orden des Heiligen nicht Ledigung genannt, sälige Ruhe wird das im Orden des Heiligen genannt.

»Aber hier, Cundo, sollt ihr Ledigung üben: ›Die anderen werden in Wuth gerathen, wir nicht‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden das Leben rauben, wir nicht‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden Nichtgegebenes nehmen, wir nicht‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden unkeusch leben, wir keusch‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden lügen, wir nicht‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden heimliche Rede führen, wir nicht‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden rohe Rede gebrauchen, wir nicht‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden Geschwätze pflegen, wir nicht‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden selbstsüchtig sein, wir nicht‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden gehässig sein, wir nicht‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden falsche Erkenntniss pflegen, wir rechte Erkenntniss‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden falsche Gesinnung pflegen, wir rechte Gesinnung‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden falsche Rede pflegen, wir rechte Rede‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden falschen Handel pflegen, wir rechten Handel‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden falschen Wandel pflegen, wir rechten Wandel‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden falsches Mühn pflegen, wir rechtes Mühn‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden falsche Einsicht pflegen, wir rechte Einsicht‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden falsche Vertiefung pflegen, wir rechte Vertiefung‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden falsches Wissen pflegen, wir rechtes Wissen‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden falsche Erlösung pflegen, wir rechte Erlösung‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden sich von matter Müde beschleichen lassen, wir aber werden matte Müde verscheuchen‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden sich brüsten, wir aber werden dehmüthig bleiben‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden hin und her schwanken, wir aber werden unserer Sache gewiss sein‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden zürnen, wir aber werden nicht zürnen‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden zwieträchtig sein, wir aber werden einträchtig sein‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden häucheln, wir aber werden nicht häucheln‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden neiden, wir aber werden nicht neiden‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden eifern, wir aber werden nicht eifern‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden eigennützig sein, wir aber werden nicht eigennützig sein‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden listig sein, wir aber werden nicht listig sein‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden gleißnerisch sein, wir aber werden nicht gleißnerisch sein‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden störrisch sein, wir aber werden nicht störrisch sein‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden eitel sein, wir aber werden nicht eitel sein‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden ungestüm sein, wir aber werden sanft bleiben‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden Freunde des Schlechten sein, wir aber werden Freunde des Guten sein‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden sich gehn lassen, wir aber werden unermüdlich sein‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden Misstrauen hegen, wir aber werden Vertrauen hegen‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden unverschämt sein, wir aber werden uns schämen‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden gewissenlos sein, wir aber werden gewissenhaft sein‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden unerfahren sein, wir aber werden vielerfahren sein‹, so ist Ledigung zu üben. Die anderen werden nachgeben, wir aber werden ausharren‹, so ist Ledigung zu üben. ›Den anderen wird sich die Einsicht trüben, uns aber wird die Einsicht klar bleiben‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden thöricht sein, wir aber weise‹, so ist Ledigung zu üben. ›Die anderen werden nur für das vor Augen Liegende Sinn haben, mit beiden Händen zugreifen, sich schwer abweisen lassen, wir aber werden nicht nur für das vor Augen Liegende Sinn haben, nicht mit beiden Händen zugreifen, uns leicht abweisen lassen‹, so ist Ledigung zu üben.

»Die Herzensentschlieflung zum Guten nenn' ich ja, Cundo, wichtig: was soll da erst von Geboten des Thuns und Redens gesagt werden! Darum also, Cundo: ›Die anderen werden in Wuth gerathen, wir aber wollen nicht in Wuth gerathen‹ : dieser Herzensentschluss ist zu erzeugen. ›Die anderen werden übel fahren, wir aber wollen wohl fahren‹ : dieser Herzensentschluss ist zu erzeugen. ›Die anderen werden nur für das vor Augen Liegende Sinn haben, mit beiden Händen zugreifen, sich schwer abweisen lassen, wir aber wollen nicht nur für das vor Augen Liegende Sinn haben, nicht mit beiden Händen zugreifen, uns leicht abweisen lassen‹: dieser Herzensentschluss ist zu erzeugen.

»Gleichwie etwa, Cundo, wenn da ein ungangbarer Weg wäre und ein gangbarer Weg führte um ihn herum; oder gleichwie etwa, Cundo, wenn da eine ungangbare Furth wäre und eine gangbare Furth führte um sie herum: ebenso nun auch, Cundo, kann wer zur Heftigkeit neigt auf dem Pfade der Milde herumkommen, wer zur Übelfahrt neigt auf dem Pfade der Wohlfahrt herumkommen, wer niederen Sinn hegt, mit beiden Händen zugreift, sich schwer abweisen lässt, auf dem Pfade des höheren Sinnes, des Anstandes und der Gelassenheit herumkommen.

»Gleichwie da, Cundo, jedwedes Schlechte wieder zu niederer Wesenheit führt, jedwedes Gute wieder zu höherer Wesenheit führt: ebenso nun auch, Cundo, kann wer zur Heftigkeit neigt durch Milde höhere Wesenheit gewinnen, wer zur Übelfahrt neigt durch Wohlfahrt höhere Wesenheit gewinnen, wer niederen Sinn hegt, mit beiden Händen zugreift, sich schwer abweisen lässt, durch höheren Sinn, Anstand und Gelassenheit höhere Wesenheit gewinnen.

»Dass aber, Cundo, einer, der selber sumpfversunken ist, einen anderen Sumpfversunkenen herausziehn kann, ein solcher Fall findet sich nicht. Dass aber, Cundo, einer, der selber nicht sumpfversunken ist, einen anderen Sumpfversunkenen herausziehn kann, ein solcher Fall findet sich. Und dass, Cundo, einer, der selber nicht bezwungen, nicht verneint, nicht wahnerloschen ist, einen anderen zur Bezwingung, zur Verneinung, zur Wahnerlöschung bringen kann, ein solcher Fall findet sich nicht. Und dass, Cundo, einer, der selber bezwungen, verneint, wahnerloschen ist, einen anderen zur Bezwingung, zur Verneinung, zur Wahnerlöschung bringen kann, ein solcher Fall findet sich:

»Ebenso nun auch, Cundo, kann der Heftige durch Milde zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Blutdürstige durch Überwindung des Blutdurstes zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Diebische durch Überwindung des Diebstahls zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Unkeusche durch Keuschheit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Lügner durch Überwindung der Lüge zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Tückische durch Überwindung der Tücke zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Rohe durch Überwindung der Roheit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Geschwätzige durch Überwindung der Schwatzhaftigkeit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Selbstsüchtige durch Überwindung der Selbstsucht zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Gehässige durch Überwindung des Hasses zur Wahnerlöschung gelangen, kann der falsch Erkennende durch rechte Erkenntniss zur Wahnerlöschung gelangen, kann der falsch Gesonnene durch rechte Gesinnung zur Wahnerlöschung gelangen, kann der falsch Redende durch rechte Rede zur Wahnerlöschung gelangen, kann der falsch Handelnde durch rechten Handel zur Wahnerlöschung gelangen, kann der falsch Wandelnde durch rechten Wandel zur Wahnerlöschung gelangen, kann der falsch sich Mühende durch rechtes Mühn zur Wahnerlöschung gelangen, kann der falsch sich Bedenkende durch rechtes Bedenken zur Wahnerlöschung gelangen, kann der falsch sich Vertiefende durch rechte Vertiefung zur Wahnerlöschung gelangen, kann der falsch Wissende durch rechtes Wissen zur Wahnerlöschung gelangen, kann der falsch Erlöste durch rechte Erlösung zur Wahnerlöschung gelangen, kann der von matter Müde Gefesselte durch Überwindung der matten Müde zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Stolze durch Dehmuth zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Schwankende durch Festigkeit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Zornige durch Zornlosigkeit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Zwieträchtige durch Eintracht zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Häuchler durch Offenheit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Neidige durch Neidlosigkeit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Eifernde durch Begehrlosigkeit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Eigennützige durch Eigenentsagung zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Listige durch Geradheit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Gleißner durch Ehrlichkeit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Störrische durch Willigkeit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Eitle durch Schlichtheit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Ungestüme durch Lindheit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Übelgeneigte durch Wohlgeneigtheit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Laue durch Unermüdlichkeit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Misstrauische durch Vertrauen zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Unverschämte durch Schaam zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Gewissenlose durch Gewissenhaftigkeit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Unerfahrene durch Erfahrung zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Nachgiebige durch Beharrlichkeit zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Einsichtgetrübte durch Klärung der Einsicht zur Wahnerlöschung gelangen, kann der Thor durch Weisheit zur Wahnerlöschung gelangen, kann wer niederen Sinn hegt, mit beiden Händen zugreift, sich schwer abweisen lässt, durch höheren Sinn, Anstand und Gelassenheit zur Wahnerlöschung gelangen.

»Und so habe ich, Cundo, die Art der Ledigung gezeigt, die Art der Herzensentschließung gezeigt, die Art des Herumkommens gezeigt, die Art höherer Wesenheit gezeigt, die Art der Wahnerlöschung gezeigt. Was ein Meister, Cundo, den Jüngern aus Liebe und Theilnahme, von Mitleid bewogen, schuldet, das habt ihr von mir empfangen. Da laden, Cundo, Bäume ein, und dort leere Klausen. Wirket Schauung, Cundo, auf dass ihr nicht lässig werdet, später nicht Reue empfindet: das haltet als unser Gebot.«

Also sprach der Erhabene. Zufrieden freute sich der ehrwürdige Mahācundo über das Wort des Erhabenen.


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