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Das Lehrspiel


Von der doppelseitigen Idee

Le Bas war ein kluger und durch den Beruf ein geduldiger Mann. Warum sollte er den jungen Menschen aufgeben, der den ziemlich tölpischen Versuch, die Fragwürdigkeit der Arenenberger Sicht auf die Welt bloßzulegen, nicht eingesehen hat, aus Anstand doch, aus der Beharrung im Familiengefühl, keineswegs aus Erkenntnis – warum sollte er zu hastig, zu früh und zu gewaltsam den Schüler in die andere Richtung schieben, die der Lehrer doch nicht zeitlebens beaufsichtigen und beeinflußen konnte? Das System der scharfen Regulierung war falsch. Richtig war, den merkwürdigen Jungen durch eine klug gestaltete Bildung auf die Borniertheit und Gefährlichkeit einer sentimentalischen Familienpolitik aufmerksam zu machen und es dann dem erwachten Geist selber zu überlassen, die gewonnene Vernunft gegen die Hauslegende auszuspielen oder nicht. Wenn der Dreizehnjährige von der hingeworfenen Wertung des Divus Cäsar getroffen worden war, so möge der Fünfzehnjährige und Sechzehnjährige aus Cicero, Catull und Sallust, aus Tacitus, Plinius und Sueton und Plutarch den Sinn oder Widersinn des Cäsarischen erfahren. Und da Le Bas jetzt wußte, was er wollte, kommentierte er die Cäsar-Literatur nicht so sehr historisch wie parteipolitisch, also republikanisch, rückte mit vorsichtiger Logik das Puritanertum in den Vordergrund, das Catonische Ideal, unterstrich die Opposition gegen Cäsar, ließ Catull passieren, weil er den Gott schmähte, wies auf das sittliche und überzeugungsfeste Republikanertum des Livius, des Lukan, des Tacitus vor allem und des gerechten Plinius, griff den dramatischen Gegensatz Cäsar – Cato, Größe – Tugend, Glück – Gesinnungstreue auf, den Sallust geschaffen und die Weltliteratur aufgegriffen hatte, ging ihm durch die Historie nach – Cäsar-Cato, Cäsar-Brutus – zeigte Tyrannis und Tyrannenhaß als ewige Wechselwirkung und die Desertion von der Gemeinschafts-Idee als ewigen Fluch. – Wer die Idee verliert, ist verloren. Cato stirbt für die Idee, und es bleibt Brutus, der sie an dem Abtrünnigen rächt.

»Wer seinen Stern verliert, ist verloren,« widersprach Louis.

Der Widerspruch machte nichts, er war gut und ehrlich. Er kam aus dem Gefühl, das sich gegen die Tyrannis der Vernunft von 1789 auflehnte. Dieser Rückschlag des menschlichen Gemüts war für die Jugend des neuen Jahrhunderts bezeichnend. Auch Le Bas war jung, er begriff den neuen Kampf des Gefühls gegen die Vernunft. Er besprach mit seinem Schüler die geistigen Grundlagen ihrer Zeit, die doch von der Revolution kamen. Er warnte selber vor der Ueberschätzung der Vernunftslehren, aber er warnte auch, den revolutionären Begriff der Vernunft, der nicht mehr auszurotten ist, zu negieren. Er zeigte, wie Napoleon nicht so sehr der Besieger, als der Vollender der Revolution gewesen sei und daß selbst der napoleonische Cäsarismus, selbst die Restauration mit den geistigen Ergebnissen der Revolution durchsetzt waren. Ihre positiven Bestandteile – die Aufklärung, die Demokratie, der Gewinn der Menschenwürde, der Verlust des Gottesgnadentums – werden stärker sein, als alle Gegenbewegungen.

»Gut,« sagte der Siebzehnjährige, »ich kann nur auf eine Vernunft hören, die in mir klopft wie das Herz.«

Er war ein magerer, nicht eben großer, etwas kurzbeiniger, junger Mann geworden, unschön, aber unendlich liebenswürdig. Sein Wesen war nicht deutlicher geworden – wie sein Auge –, so anmutig er sich gab. Er nahm alles an: was der Lehrer, die Mutter und das bißchen Leben ihn lehrten, er schluckte es gleichsam und verbarg es in sich. Er war von einer intelligenten und etwas verschlagenen Unaufdringlichkeit; er zeigte sich auf jenem heimlichen Gebiet, das er schon mit dreizehn Jahren ins Algebra-Heft skizzierte, von einer so selbstverständlichen und überlegenen Diskretion, daß Le Bas ihm so wenig wie einem erwachsenen Gentleman Vorhaltungen oder gar Lehren oder Verhaltungsmaßregeln auf die privaten Wege mitzugeben gewagt hätte. Der Lehrer hörte oft genug von galanten Eskapaden des Schülers (in Augsburg sollte es sogar einmal das hübsche Zimmermädchen getroffen haben, außerdem eine junge Lehrersfrau, Schwestern von Mitschülern, eine Ladnerin aus der Heiligenkreuzstraße, eine Hauptmannstochter, eine Unteroffiziersfrau und unterschiedliche Münchner Kokotten; in Arenenberg gab es stets so etwas wie eine heimliche Mobilisierung von Frauen und Mädchen, einschließlich zutunlicher Damen von Konstanz, so oft Prinz Louis auf Urlaub war): der Lehrer aber hörte niemals von Klagen, Verwünschungen, Eifersüchteleien, den kleinen Tragödien oder Komödien der Liebe, niemals auch von anderen Folgen. Louis erledigte alles in der Stille, mit Geschick und mit Anmut. Es war wie mit der Erziehung und den politischen Dogmata, die er doppelseitig bezog, von Le Bas und von Hortense, und in sich verschwinden ließ, immer lächelnd und immer dankbar.

Was war mit der Zeit? Kroch sie in Frankreich noch immer oder hörte man sie schon marschieren? Es gab die zwei feinhörigen und interessierten Zeitgenossen: Le Bas und Hortense. Beide hörten hin, leidenschaftlich, beide hörten ihre Zeit erwachen – und Le Bas meinte eine andere Zeit als Hortense – beide arbeiteten an den entgegengesetzten Enden ihrer kommenden Welt und beide taten es für Louis. Le Bas war der erste; denn es ergab sich wie von ungefähr aus seinem moralpolitischen Programm, von der Betrachtung der Revolution auf die Gegenwart zu kommen. Dazu kam, daß der Schüler augenscheinlich an Aufmerksamkeit gewann, je näher sie der Jetztzeit rückten. Und schließlich war es die Gegenwart selber, die verhalten dringlich von sich reden machte.

Es war wieder einmal der Tod gewesen, der die neue Szenerie besorgte. Der dicke Louis Bourbon war gestorben und das Land war schließlich so geworden wie er: satt, seelenruhig, nicht ohne Würde und in der eigenen Schwere fest. Sein Bruder Karl, der ihm nachfolgte, war ein dürrer Choleriker, gallig, magenkrank, etwas dumm und unberechenbar.

»Louis,« lächelte Le Bas, »jetzt ist es bei uns aus, mit der schläfrigen Gemütlichkeit. Aufgepaßt!«

»Gottseidank!« lächelte Louis, »und wenn es Leibschneiden ist, woran man aufwacht.«

Karl X. baute sich rasch ein schwer reaktionäres Ministerium und schnitt mit groben Ordonnanzen durch den Leib des Landes. Sakrileggesetz: Wer aus der Kirche heilige Gefäße stiehlt, wird mit dem Tod bestraft. – Wer die Hostie entweiht, erleidet den Tod des Vatermörders: vor der Enthauptung wird die rechte Hand abgeschlagen. Der Jakobiner Le Bas wurde rot vor Wut: »Louis, das sind nicht hundert, das sind vierhundert Jahre zurückgesprungen! Das ist gut, Louis, so gräßlich es ist! Das ist der Sumpf der Geistlosigkeit, in dem nicht Frankreich, sondern Bourbon erstickt!« Der Atheist Le Bas kämpfte gegen den Ultramontanismus im Frankreich der Restauration, aber nicht gegen die Römische Kirche. Er mußte vorsichtig sein, trotz Louis' Gleichgültigkeit in religiösen Dingen; denn der Kardinal Fesch, der noch kräftig lebte, war der Papst der Familie Bonaparte, mächtigstes, einflußreichstes und millionenschwerstes der Mitglieder.

Louis machte eine seiner ausgefallenen Bemerkungen: »Ob Onkel Fesch zu Rom die abgeschlagenen Hände gerne drücken wird?«

»Wieso?« fragte Le Bas.

»Die Kirche vergibt doch immer,« antwortete Louis. Le Bas schüttelte den Kopf und ließ das Thema fallen. Er dachte: manchmal könnte man meinen, er will provozieren.

Die beiden Kammern nahmen das Sakrileg-Gesetz an, nur das Handabhauen nicht. Aber das Volk war aufgeschüttelt, seine Fäuste waren aus den Hosentaschen in aller Sicht geschüttelt worden. Sogar die spießbürgerlichste aller Truppen, die Pariser National-Garde, ließ bei der Parade statt des Königs die Verfassung leben, die Charte, die Karl doch sterben lassen wollte, und ihr »A bas!« galt der Regierung. Karl tat das Dümmste, was er tun konnte: er löste die Nationalgarde auf. Er löste auch die Kammer auf und erlitt prompt bei den Neuwahlen eine Niederlage: die Opposition erstarkte mächtig.

»Ein neuer Schritt zur Revolution!« rief Le Bas.

»Ein neuer Schritt voran,« sagte in Arenenberg Hortense vorsichtiger und unbestimmter.

»Ja, ja,« sagte Louis zu beiden, »man wird gemach gespannt.«

Die Opposition! Louis kannte das Wort schon lange. Es begann für ihn, als der große Napoleon starb. Es war das Wort Le Bas', sein Steckenpferd. Louis hatte es zu lernen gehabt, als sollte er einmal Spezialist für Opposition werden. Es gefiel ihm auch: nicht sein heldischer Klang, nicht seine Unvernünftigkeit, sondern die Tarnkappe, die es in der Geschichte sehr oft aufsetzte, Aufwand an List, Gewandtheit und Taktik. Jetzt wurde das Wort immer lauter. Louis wurde interessiert. Es gab zwei Oppositionen: die orleanistische und die republikanische. Hortense hörte noch eine dritte. Le Bas überhörte die orleanistische, die doch die lautere war, und kam in Feuer. Wenn er sich politisch erregte, gewann er etwas von der ciceronianischen Rhetorik seines Konvent-Vaters: »Louis, mein Freund, es gibt noch reine Größe, es gibt noch den Träger der Idee, weißhaarigen Cato, es gibt noch Weltgeschichte in der Person, ohne daß sie cäsarisch zum Himmel oder in die Hölle fährt. Der Mann ist da, wenn das Vaterland in Gefahr ist. Und als er jung war und das Vaterland ihm die kalte Schulter wies, ging er über das große Wasser und hob die jüngste und hoffnungsreichste der Republiken aus der Taufe …«

»Ach, der gute Lafayette,« unterbrach Louis, ziemlich enttäuscht.

»Ja, Lafayette!« rief Le Bas. »Er war Anno 15 da, als wir über dem Abgrund seiltanzten, er rief das große: Halt und genug!, als der verstörte und zerstörte Cäsar auf dem Leichenfeld nach neuen Konskriptionen stocherte, sein Genug war das Genug der Welt, die den Kaiser aussetzte – und jetzt ist er wieder da, ich weiß es, Louis, jetzt ist das Vaterland wieder in Gefahr, die Idee geschändet, das Wasser bis zum Hals – Louis, jetzt hat er wieder die Führung der Republikaner übernommen, die heimliche Führung der heimlichen Macht.«

Louis hob den Kopf: »Woher wissen Sie es, Herr Le Bas?«

Der Lehrer antwortete darauf nicht. Er kannte sehr gut des Schülers merkwürdige und tiefe Freude an jeder Art der unterirdischen Politik, am Katalinariertum und dem lautlosen Spiel der Staatsintrigen. Er wußte aber auch, daß es Louis nur um die dunklen Mittel zu tun war, nicht um den heiligen Zweck. Die reine Gestalt des Anticäsars Lafayette langweilte ihn, das kleinste Wort von Heimlichkeit und Verschwörung, der großen Figur zugesetzt, nahm ihn gefangen und belebte seinen immermüden Blick. Le Bas zögerte noch, er gab noch nicht zu, was er wußte, er wartete ab, weil er wohl selber noch zuzulernen hatte und von seinen unbekannten Verbindungen abhing wie ein Schüler. Die Opposition stürzte das Reaktions-Ministerium, es kam eine pseudo-liberale Regierung, die vom König sabotiert wurde, über das Land gingen die Wellen des Widerspruchs. Die im Exil sogar fühlten die Aenderungen, die kommen mußten. Jetzt war es Louis, der drängte. Er war neunzehn Jahre und witterte unter der endlich bewegten Zeit den unsichtbaren Vulkan. Seine Prognosen zur Lage waren von Le Bas'scher Logik und durchaus der Revolution günstig, sie verrieten die gute Vorbildung, wenn auch keine Ueberzeugung. Er war nur neugierig, was unter der Oberfläche geschehe. Denn daß die Minenleger arbeiteten: dafür zeugten die politischen Erdstöße. Streikversuche, Attentate, Verhaftungen, Einschwenken der Jugend unter Führung der eben noch katholisch-royalistischen Romantiker zur Front der Opposition, Victor Hugo schlägt den ewigen Corneille und Delacroix die graufarbigen Römer des Königsmörders Jacques Louis David. »Was geschieht in Ihren Katakomben, Herr Le Bas?«

»Viel geschieht,« antwortete Le Bas und machte seine dünnen Lippen, die Robespierre-Lippen, wie Louis sie nannte. Le Bas gab nach. Wie lange würde er noch bei dem Erwachsenen als Lehrer zu fungieren haben? überlegte er. Ein Jahr noch, Monate noch; denn als Freund war er Arenenberg nicht recht, das fühlte er. Nur Louis hielt ihn, Hortense war sehr kühl geworden, seit Jahren schon. Was kümmerte sie ihn? Louis allein ging ihn an. Er hatte ihm geistige Waffen aller Art in die Hand gegeben: der Schüler hat sie angenommen, zumeist mehr aus Höflichkeit als aus Interesse; aber vielleicht wird er einmal mit ihnen fechten. – Spiegelfechten, sagte die kritische Stimme in dem Lehrer. – Nun gut, mag er! Wird er groß, so gehört es dazu, und sein gutes Herz – sein Herz ist gut! – wird ihn davor schützen, ein großes Verhängnis zu werden. Wird er kleiner Glücksritter und Spekulant, so wird es das Einzige sein, was ihn seine Zeitlang über Wasser hält. Jetzt fragt er nach den Katakomben. Er soll von ihnen hören. Er soll alles lernen.

Der Lehrer erklärte dem Schüler das Wesen der großen Geheimgesellschaft, die im Westen und Süden Europas für den Umsturz arbeitete und jetzt in Paris die republikanische Konzentration herstellte: der Carbonari. Aus dem nationalen Unglück Italiens geboren, von den italienischen Emigranten in Frankreich verbreitet, hier wie dort unter der alten Zeit wühlend und von der Gewißheit der neuen lebend, wuchs der Bund durch die Ereignisse der letzten Jahre in eine straffe und große Organisation hinein, die Magistrate, Präsidenten, Gesetzbuch und Finanzverwaltung hatte. Die Fahne war schwarz-rot-blau, das Zeichen: Kreuz mit Dolch. Sie besaß Ritual, Geheimparole und Geheimsprache, dem Köhlerhandwerk entnommen. Der Staat war der »Wald«, die Tyrannen hießen »Wölfe«, der Versammlungsort hieß »Hütte«. Die Charbonnerie bestand aus unzähligen Hütten von je zwanzig Mann, die wiederum in regionale Vereine zusammengeschlossen wurden. Jeder Verschworene war verpflichtet, ein Gewehr und fünfzig Patronen zu besitzen und monatlich einen Franken an die Bundeskasse zu zahlen. Die unteren Mitglieder kannten allein die zwanzig Mann ihrer Zelle, nur die Oberen übersahen die Vereine oder »Republiken«, die sich netzartig über ganz Frankreich verteilten, über ganz Italien, über andere Länder auch. Die Carbonari nannten sich unter einander »buoni cugini« »bons cousins«, »gute Vettern« und waren zu gegenseitiger Hilfe und unbedingtem Gehorsam durch Eid verpflichtet. Der Verräter wurde erdolcht. Innerhalb der Organisation fielen ständischer Grad und bürgerlicher oder militärischer Rang fort. Alle waren gleich; jeder hatte seinem Oberen zu gehorchen, der Carbonaro, der General war, seinem Korporal, war er Oberer; der Graf seinem Diener, Kaufherr dem Hausierer. Ungehorsam galt als Verrat. Das Leben war den Vettern billig, selbst der Tod ein Carbonaro, die Idee nur war teuer.

»Woher wissen Sie das alles?« fragte Louis leise und erregt.

»Ich weiß es, Louis, und weil ich es weiß, darf ich es nicht sagen.«

»Und wenn der Obere zu einem guten Vetter sagt: du hast übermorgen um halb Zwölf mittags dort und dort im Wald den Königswolf Karl Bourbon totzuschießen – muß er es tun?«

»Ja.«

»Ist das die republikanische Vernunft, Herr Le Bas?«

»Nein; denn dieser Befehl wird nicht gegeben werden, eben weil er unvernünftig ist und die Frucht noch unreif abschlägt. Man wird warten, bis die Frucht reif wird und von selber fällt.«

»Und dann?«

»Dann wird man sich erheben, mit einem Schlag, überall, und zur Macht kommen.«

»Zur Republik?«

»Jawohl.«

»Und wann wird das sein?«

»In einem Jahr, in zwei, in fünf Jahren, je nach der Dummheit der Bourbonen.«

»Und wenn sie klug werden?«

»Dazu ist es zu spät.«

»Und wenn der Orleans der Klügste ist?«

»Dann geht der Kampf gegen Orleans.«

»Und wenn Ihre Republik da ist: dann gibt es doch wiederum Opposition gegen sie.«

»Gewiß.«

»Werden Sie dann nicht wiederum bei der Opposition sein, Herr Le Bas?«

»Ich?«

»Finden Sie nicht, daß der große Reiz des Lebens immer nur bei der Opposition ist?«

Le Bas sah seinen Schüler an. »Man kämpft doch für seine Idee, Louis, nicht wegen des Kampfreizes. Wenn die Idee gewonnen hat, ist man befriedigt und kämpft höchstens, sie zu verteidigen.«

»Sind Sie Carbonaro, Herr Le Bas?«

Der Lehrer schwieg. Louis legte die Hand um seine Schulter. »Ich möchte es sein, Citoyen,« lächelte er, »solange es einen Sinn hat.«

»Was heißt das?«

»Solange die Republik noch nicht da ist.«

»Und wenn sie da ist, mon prince, was tust du mit der Republik?«

»Nun eben, Unbestechlicher,« lachte Louis, »dann Carbonaro gegen die Republik. Ich bin noch nicht zwanzig, da hat man noch für vierzig oder fünfzig Jahre Chancen – noch für vier oder fünf Umwälzungen.«

Le Bas lachte nicht mit. – Er denkt doch nur daran, dachte er, er wird doch der Prätendent.

Später erinnerte er sich an diesen Gedanken und an diesen Augenblick.

 

Hortense war eine kluge Frau. Sie fühlte das Gegengewicht Le Bas schon lange, trotz aller Vorsicht ihres Sohnes, und ließ es dennoch zu. Sie tat es aus unterschiedlichen Gründen, und jeder Grund zeugte von ihrer Intelligenz. Sie tat es, weil Louis an dem wertvollen Menschen Le Bas hing und von dem guten Lehrer Le Bas lernte; weil es nichts schadete, wenn Louis mit Provinzen des Geistes bekannt wurde, die von Arenenberg entfernt lagen (allerdings: von Le Bas' radikaler Oppositionslehre ahnte sie nichts); weil Louis noch viel Zeit vor sich hatte und nach ihrem unerschütterlichen Gefühl von seiner Bestimmung so wenig abtrünnig gemacht werden konnte wie von ihrer Liebe; weil sie sehr gut und mit jedem Jahre mehr erkannte, daß das napoleonische Dogma nicht starr bleiben, sondern elastisch werden mußte, klug, lebendig, wendig, sogar listig, sogar kompromißbereit. Die Zeit lehrte sie zu erkennen, daß die Feindschaft gegen Bourbon mit anderen geteilt wurde und recht sonderbare Bundesgenossen schuf: eben alle jene, die den gegenwärtigen Zustand ändern wollten. Sie hielt Herrn Le Bas für einen liberalen Literaten, für so etwas, wie einen nachgeborenen Girondisten. Das war noch nicht das Schlimmste. Stärkere Bedenken, die ihr hin und wieder kamen, zerstreute der Abbé Bertrand.

Bei alledem unterließ sie es nicht, auf ihrer Linie weiter zu arbeiten und Herrn Le Bas gegenzusteuern, so oft sich die Gelegenheit dazu gab. Je älter Louis wurde, desto öfter störte sie die Augsburger Gymnasialzeit. Da es zu ihrem Plan gehörte, zuerst die Familie und dann erst die Idee Bonaparte zu rekonstruieren, da man alterte und die einstigen Neigungen und Abneigungen nichts mehr galten, tat sie den kühnen Schritt und nahm die Verbindung mit ihrem Mann in Rom wieder auf, ohne Liebe und ohne Haß. Sie kamen zunächst noch nicht zusammen; aber sie tauschten für die Ferienzeit die Kinder aus. Charles kam für ein paar Wochen nach Arenenberg. Louis fuhr mit Le Bas nach Marienbad, wo der Exkönig zur Kur weilte. Louis ging leidenschaftslos, scheinbar ahnungslos und liebenswürdig wie immer an das heikle Wiedersehen. Der kranke Mann war launenhaft und unfreundlich. Louis übersah es mit Anmut und Zurückhaltung, nach vierzehn Tagen fand ihn der Vater annehmbar, acht Tage später gab er dem Sohn einen herzhaften Kuß zum Abschied. »Es ist schade«, schrieb der Exkönig nach Arenenberg, »daß jener holländische Admiral, dessen Namen ich leider vergessen habe, seine Nase, seine müdschlauen Aeuglein und seine gelbe Gesichtsfarbe nicht in der jungen Ausgabe wiedersehen kann; aber er ist ja tot und ruhe in Frieden. Er wäre jedenfalls meiner Meinung gewesen: ein angenehmer Reichserbe und nicht dumm.« Die alte Bosheit verfing nicht mehr, Hortense lachte nur. Das war zwei Jahre nach Napoleons Tod gewesen. Im folgenden Jahr fuhr Hortense mit Louis und Le Bas nach Rom. Die beiden Eheleute begrüßten sich wie zwei Politiker, die sich früher bekämpften und jetzt in neuer Konstellation zusammengehen mußten: sachlich, etwas mißtrauisch, in den Blicken das alte Urteil über den anderen. Der Exkönig wohnte in seinem Palazzo Mancini, sie nicht, sie wohnte im Palazzo Ruspoli. Der Exkönig war ein krummer Gichtiker, die Exkönigin, eine Vierzigerin, verblühte nicht so anmutig wie einst ihre Mutter: dazu war sie zu ernst geworden. Die Brüder Charles und Louis, ohne rechte Freude aneinander, jagten Römerinnen, der Schöne mit nicht viel mehr Glück als der Unschöne. Le Bas, einsam und unnütz, übersetzte Klopstock ins Französische. Diese Reisen wiederholten sich fast jedes Jahr, zur Freude des Schülers, zum Kummer des Lehrers. Als Karl X. das Sakrileggesetz zum Vorschein brachte, erklärte Hortense die Augsburger Schulzeit für beendet. Louis und Le Bas zogen nach Arenenberg.

Die Gefahr der Kollision war nahe gerückt. Beide, die Mutter und der Lehrer, wußten es, wohl auch Louis. Vielleicht hatte Hortense die Entscheidung schon vorgesehen. Die Zeit wurde immer lauter. Beide, die Mutter und der Lehrer, standen auf ihren Horchposten, Louis stand in der Mitte und hatte ihre gegensätzlichen Auslegungen der Zeitwende anzuhören. Er wußte selbstverständlich, daß von den beiden Le Bas der realere Politiker war, der vernünftigere Exeget, der aktiver Beteiligte, auch der Interessantere. Die Dependance wurde ihm immer lieber als das Haupthaus: nicht nur, weil sie ihn stets schon über die liebe, hölzerne Außentreppe zu seinen Mädchen entweichen ließ, sondern weil sie auch Le Bas beherbergte, die bedeutsamen Gespräche, die politische Wirklichkeit, die Opposition zur Schloßromantik. Zwischen dem Nebenhaus und der Portalseite des Schlosses lief der breite, sehr gepflegte Kiesweg. Stand man auf ihm, so sah man unversehens schon zwischen Portal und Schloßkapelle ein flimmerndes Stück See mit Reichenau und fernen Bergkulissen. Immer Veduten! Immer Landschaft! Immer Laterna magica für den verzückten Blick! Louis war lieber jenseits des Kiesweges in den nüchternen Zimmern des Oekonomiegebäudes als im Märchenschloß, lieber im Studierzimmer mit dem Lehrer, den durch drei klug gestaffelte Sätze voll politischer Skepsis zu fanatisieren und in jakobinischen Schwung zu bringen er gemach Uebung hatte, und hörte lieber von den Carbonari, von der harmloseren liberalen Parallel-Gesellschaft mit dem langen Namen: »Aide-toi, le ciel t'aidera«, die jedoch gute Köpfe besaß, vor allem einen jungen Journalisten, namens Thiers – der Name sei zu merken wie seine neue Zeitung »Le National«, wenn sie auch orleanistisch sei und als geistigen Paten den ältesten Schurken Europas habe: Herrn Talleyrand. Talleyrand, Restaurator der Bourbonen? – »Jawohl, Herr Prinz-Carbonaro mit den vier oder fünf Zehn-Jahres-Chancen,« spottete Le Bas, »da hast du einen Champion der Dezennien mit vier oder fünf Meineiden. Jetzt beschwört er zur Abwechslung Herrn Louis-Philipp mit dem Regenschirm und dem guten Familienleben, Vermögen: 100 Millionen Franken, um ihnen dann seine bekannte Treue zu schwören.« Louis lachte behaglich. Ihm gefiel Talleyrand außerordentlich, er machte keinen Hehl draus. Ihm gefiel der Hexenkessel mit den Dünsten von Fanatismus, Mut, Verschwörung, Politik, Spiel und Kalkül.

Er war lieber im Studio als im mütterlichen Salon mit der Kriegszeltdecke, dem stets offenen Flügel, der Harfe, den Napoleon-Porträts und den unzähligen Hortense-Pastellen. Ach Gott, die Mutter, die kluge Frau, wurde durch die ferne politische Leidenschaft wieder leidenschaftlich, deklamierte wie einst und hörte aus dem großen Lärm ein paar Einzelstimmen, die sie beglückten, aber die wahrhaftig nicht von Belang waren. Louis wußte es und durfte es ihr nicht sagen, aus Rücksicht auf den Freund Le Bas, den sie nicht gerne sah. Hortense hörte die dritte Opposition, die es nicht gab: die bonapartistische. Sie hörte sie aus den Hochrufen für Orleans, aus den Vivats für die Republik, aus jeder Demonstration gegen das herrschende System. »Bereit sein, Louis, bereit sein! Unsere Zeit kommt!« – »Ja, ja,« sagte Louis. Sie sprach auch wieder Zeitgerechtes: daß Anpassungsfähigkeit, Fortschritt und Toleranz nötig sei, geistiges Bündnis mit dem Liberalismus, Neuorientierung der napoleonischen Idee weit über das hinaus, was der Kaiser nach Elba plante: die Charte in vollkommener Gestalt, Demokratisierung der Verwaltung, Koalitionsfreiheit – was man will. – »Ja, ja,« sagte Louis. Sie hatte in Paris einen General Lacroix, der mit ihr in Verbindung stand, einen herrlich wütigen Bonapartisten, der ihr von jedem Napoleonbild schrieb, das er in den Läden und in den Wohnungen der kleinen Leute sah, von jedem Napoleonlied, das Veteranen oder Kinder auf der Straße sangen, – der in leidenschaftlicher Uebertreibung die erstarkte Legende für das politische Credo nahm, Volkspoesie für Volksmeinung, und Arenenberg aus dem Häuschen brachte.

»Weißt du, wie er jetzt heißt?« deklamierte sie. »Nicht Napoleon, nicht der Kaiser, nicht der Adler – er heißt: Der Mann!«

»Ein guter Deckname für Verschwörer,« meinte Louis freundlich; »aber leider ist der Mann tot.«

Die Mutter sah ihn an. Wenn man ihm bei solchen knochenlosen Antworten nicht in das intelligente Gesicht sah, mochte man meinen, er sei dumm. Aber er hatte verhängte Augen, einen Vorhang vor kritischen oder ketzerischen Gedanken – Hortense spürte es – und gab also keinen Partner für weitere Allegorien ab.

»Ja, er ist tot,« bemerkte sie mit einiger Schärfe, »aber noch als Toter der einzige Mann des Jahrhunderts.«

»Keine Schmeichelei für das Jahrhundert,« lächelte Louis, »und für die anderen Männer, die etwas sind – zum Beispiel für Lafayette.«

»Was weißt du von Lafayette?« erkundigte sich die Mutter.

»Daß er sauber ist,« antwortete Louis.

»Was heißt sauber?«

»Treu.«

»War der Kaiser nicht seiner Sendung treu?«

»Das war selbst Cäsar nicht. Die Lafayette-Treue gehört jedenfalls nur zu den großen Biedermännern, die vor lauter Anstand ein bißchen beschränkt sind. Die Unbeschränkten biegen sich ihre Sendung zurecht.«

»Eine merkwürdige, eine saubere Weisheit,« spottete die Mutter, um ihr tiefes Staunen zu verbergen. Sie lenkte ab: »Du weißt doch, daß Lafayette zu den Totengräbern des Kaiserreichs gehört?«

»Ein Beweis,« meinte Louis, »daß er ein Mann ist.«

»Louis,« fragte Hortense, »verteidigst du unsere Feinde?«

»Nur ihr Geschlecht,« lächelte er.

Die Mutter hatte genug. Die Dialektik ihres Sohnes gefiel ihr nicht. Die Schuld trug fraglos der literarische Herr Le Bas. Sie beschloß zu handeln.

 

Vierzehn Tage später wurde Louis aus dem Studio zur Mutter befohlen. »Ihre Majestät bittet Monseigneur zu erscheinen,« sagte der Diener. Seitdem Karl X. die Opposition auf die Füße trat, daß sie aufschrie, gab es in Arenenberg wieder napoleonische Titel und Kurialstil. »Ach Gott, Herr Le Bas,« sagte Louis aufstehend, »der General Lacroix wird ein neues Gedicht auf den jungen Aar gehört und notiert haben – der bin ich doch gar nicht, der hängt doch im Käfig zu Wien – Mama überschätzt mich als guten Vetter …« Während er aus der Tür ging, zog der Diener einen Brief hinter dem Rücken hervor und legte ihn stumm auf den Schreibtisch des Lehrers. Le Bas ergriff ihn mit einer erschrockenen Bewegung. Louis schritt schon an der Außenseite des Hauses die hölzerne Galerie entlang, die zur Treppe führte.

Im Salon war ein alter, großer, dicker Offizier in Schweizer Artillerieuniform. Er saß gegenüber Hortense an dem großen blanken runden Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, auf einem der acht überzierlichen italienischen Stühlchen. Es war erstaunlich, daß das Stühlchen sein Gewicht vertrug. Er stand artig auf, als Louis eintrat. Das plötzlich entlastete Stühlchen schnellte auf dem glatten Parkett erschrocken von ihm fort und fiel beinahe gegen die königliche Harfe. Louis lachte. Hortense machte ihren kleinen Mund. Der Offizier holte rasselnd und verlegen das Stühlchen wieder ein. Sein Gesicht war auffallend, weil seine weinselige Röte und Gutmütigkeit durch einen mächtigen und kriegerischen Schnauzbart überraschend durchzogen, aber dennoch nicht in seinem harmlosen Ausdruck beeinträchtigt wurde. Der Schnurrbart war indessen verdächtig und wies auf eine bestimmte Weltanschauung hin. Jeder Veteran der Kaisergarde trug solchen Schnurrbart zu den anderen Auszeichnungen. – Wäre nicht die Schweizer Uniform, dachte Louis und lächelte liebenswürdig, so nähme ich den Bart für den Barden Lacroix aus Paris. Hortense stellte vor: Colonel Dufour, Instrukteur des Schweizer Artillerie- und Geniekorps, Direktor der Artillerie-Schule von Thun – einst kaiserlicher Genie-Oberst der Großen Armee, ruhmreicher Offizier des Mannes. – Also doch! dachte Louis und verbeugte sich. Dufour klirrte mit Sporen und Wehrgehänge.

»Lieber Louis,« sagte Hortense mit der getragenen und überdeutlichen Stimme, die sie bei offiziellen Gelegenheiten oder bei unwiderruflichen Entscheidungen anzuwenden pflegte, »Oberst Dufour hat als Freund der Familie seines geliebten Kaisers sein schönes Interesse auch auf deine Person ausgedehnt und will das Seinige dazu tun, daß du deines großen Namens würdig wirst.«

Louis kniff die Augen zusammen. Er ahnte, was kam. Er dachte an Le Bas. »Ich werde bemüht sein,« sprach er in die Luft, »das schöne Interesse des Herrn Obersten zu verdienen.«

»Mon prince!« schrie Colonel Dufour. Louis fuhr zusammen; aber es war die gewöhnliche Lautstärke des alten Kommandeurs, wie er bald merkte, und dem Anschrei folgte nichts als das bekannte Geklirr der Sporen und des Säbels, trotzdem der Offizier bereits wieder saß. Es war nur der Dank für die prinzliche Phrase. Louis lächelte verspätet. Er saß an dem Tisch dem Flügel gegenüber, die beiden Fenster im Rücken; über dem Instrument hing eine Kopie des Gros'schen Bildes: General Bonaparte im Sturm auf der Brücke von Arcole. Louis sah das Bild an, um nicht immer den Schnurrbart anzusehen.

»Lieber Louis,« fuhr Hortense fort, »ich kann dir also die ebenso erfreuliche, wie für deine Zukunft wichtige Neuigkeit mitteilen, daß Herr Oberst Dufour bereit ist, dich als Eleven in die Thuner Artillerie-Schule aufzunehmen.«

Louis war stumm. Er dachte an Le Bas. Er fragte sich auch, was die Thuner Artillerie-Schule mit seiner Zukunft zu tun haben solle oder mit dem, was er sich unter seiner Zukunft vorstellte; denn er hatte schon einige Vorstellungen davon. Die Mutter hustete. Louis lächelte und blickte zur Kriegszeltdecke. »Die Freude macht ihn sprachlos,« sagte Hortense zu Dufour.

»Ja, ja,« flüsterte Louis.

»Begreiflich!« brüllte der Oberst.

»Du begreifst den tiefen Sinn der Artillerie-Schule?« fragte die Mutter den Sohn.

»Ja ja,« sagte Louis.

»Warum gerade Artillerie!« drang sie in ihn und zwinkerte, um ihm auf den Weg zu helfen, in die Richtung des Generals Bonaparte auf der Brücke von Arcole.

»Gerade Artillerie …« flüsterte Louis etwas blöde, und die Wolken segelten über seine Augen. Er dachte an Le Bas. Er dachte an jenen Henriot, der die Konvents-Kanoniere befehligte und sich auf das Kartätschen verstand und sogar den Konvent zusammenschießen wollte, an dem tollen 9. Thermidor, weil der Robespierre und der St. Just und der Le Bas und die anderen Idee-Treuen, die verfehmt im Stadthaus saßen, vielleicht doch den Tod um die paar Augenblicke schneller geben als empfangen konnten – und dieser Henriot, besoffen von Schnaps, kommandierte seine Kanonen auf den Karroussellplatz, die Rohre gegen den Konvent, und brüllte: »Feuer!« – und die Revolution kennte keinen besonderen Thermidor und der Robespierre wäre leben geblieben und der unbeschäftigte Bonaparte hätte vielleicht keine Beschäftigung gefunden, wenn die Kanoniere geschossen hätten. Aber sie schossen nicht. – Louis lächelte in sich hinein.

»Der Kaiser kam von der Artillerie!« rief Hortense gereizt, zeigte geradeswegs auf das sieghafte Gemälde und fügte schnell hinzu: »Jawohl!«, als ob es der Sohn doch noch gesagt hätte. »Der Mann von Toulon! Der Mann vom Thermidor!«

»Ja ja,« lächelte Louis, »ganz richtig. Er kartätschte gegen die Kirche St. Roch, der Mann, und zerschoß die halbtote Revolution – und das alles lernt man jetzt in Thun.«

Hortense sah mit verlegenem Lächeln den Obersten an. Dufour lärmte lachend und klirrend.

 

Louis stieg langsam die Holztreppe hinauf, die an der Schmalwand der Dependance, dem Schloßportal gegenüber, jenseits des Kiesweges zu seinen und Le Bas' Zimmern führte. Er hatte eben noch liebenswürdige Worte und Verbeugungen gemacht und sogar schon, lächelnd, auf einigermaßen militärische Weise die Hacken vor seinem künftigen Kommandeur zusammengeschlagen. Jetzt war er gelb und traurig. Er ging langsam die Treppe hinauf und die Galerie entlang, vorbei an dem Guckfensterchen, aus dem er auszuspähen pflegte, ob die Luft drüben im Schloß rein sei und er ungesehen entschlüpfen könne – gewiß ja, man konnte nicht ewig in Arenenberg die Hortensischen und die Le Bas'schen Marginalien zur Zeitgeschichte kommentieren und Mädchen gab es auch in Thun, und vielleicht kommt Le Bas mit, sozusagen als Zivilgouverneur oder als republikanischer Geschäftsträger, ach Gott, als guter Vetter der Charbonnerie von Thun – Louis lächelte schon wieder, als er die Tür zum Studio öffnete.

Le Bas saß noch am Schreibtisch, so wie er ihn vor dem kleinen Stündchen verlassen hatte. Der Lehrer hatte die flachen Hände auf ein Schriftstück gelegt, als der Schüler eintrat. Louis wußte nicht, wie es kam: ihm fiel die Nacht ein, wo er ihn über dem Algebra-Heft überraschte, bei dem rührenden Versuch, die Entdeckung der nackten Frau auf dem Blatt Papier mit einer deutschen Syntax zuzudecken. Le Bas sah ihn an, seine Augen waren voll von dem Anstand und der Zuneigung des Herzens – mein Gott, sie liefen beinahe über, sie waren ganz blank. Louis wurde sehr ernst. Sein rascher Blick erkannte an den Rändern des Briefes, die unter den guten Händen hervorsahen, das königlich Hortensische Briefpapier. Er wußte wieder, wie damals, was der Freund zu verbergen suchte. Die beiden sahen sich an. Le Bas nickte ein wenig mit dem Kopf.

»Mein guter Junge, weißt du es schon?«

»Wie Sie mich hier sehen, Philipp,« sprach Louis langsam, als hänge ein Gewicht an seinem Kinn, »bin ich ganz mit einemmal und um für meine Zukunft in Uebung zu kommen und um möglichst von Thun aus die Granaten in die Tuilerien zu schießen und um das Wunder meines Namens und den Segen von Arenenberg stramm nach Frankreich zu feuern – ja ja, Philipp, wie Sie mich hier sehen, bin ich Artillerist.«

Er nannte den Lehrer zum ersten Mal beim Vornamen. Le Bas hörte ruhig zu und machte dünne Lippen – die Robespierre-Lippen, dachte Louis.

»Du sprichst so,« sagte Le Bas, »als hätte man dir Zwang angetan; aber du hast ganz gewiß drüben anders gesprochen.«

»Ganz gewiß,« sagte Louis leise, ohne Zögern.

Le Bas hob die Hände von dem Brief. »Heute ist der 17. September,« sprach er dann, »am 1. Oktober kann ich gehen.«

 

Von der Technik der Historie

Louis war in Thun. Er machte alles mit, gefällig, intelligent, ohne Begeisterung und ohne Widerspruch. Er lernte die Waffe kennen, die Oberst Dufour liebte wie eine derbe Frau, er tat, als verstünde er diese Liebe, die er niemals belächelte, auch nicht im Kreise der Kameraden, er lernte gut und gründlich, arbeitete an dem Geschütz auf jedem Posten der Bedienungsmannschaft, beachtete es nicht, wenn der Protzhaken oder der Lafettenring seine feinen Finger quetschte, war als Richtkanonier besonders fähig, schoß theoretisch auf Kirchtürme, Häuser, Hügelkuppen, Straßen und imaginäre Menschen, machte Hochgebirgsübungen mit, marschierte seine zehn Meilen täglich mit der Truppe, den Tornister auf dem Rücken, schrieb gutgelaunte und etwas einfältig soldatische Briefe nach Arenenberg, zeigte in der Tat eine widerstandsfähigere Konstitution, als man dem zarten Menschen zugetraut hätte, war als Prinz Louis mit dem Zunamen Napoleon der Lieblingsschüler des alten Colonel von der Großen Armee, wie es sich gehörte, und für die Kameraden, die ihn mehr respektierten als den Kommandeur und zu denen er sich verhielt wie einst zu den Augsburger Gymnasiasten, beinahe schon der kleine Artilleriehauptmann mit Weltgeschichte als Vergangenheit und Zukunft. Hortense war mit ihm sehr zufrieden und staunte nur insgeheim, daß alles so glatt gegangen war, so überraschend reibungslos, bedachte man die Kritik oder gar die Rebellion, die manchmal hinter dem Vorhang seiner Augen und seiner Worte zu spüren gewesen waren. Sie staunte vor allem über die anscheinend leichte Trennung von Le Bas, vor der sie Angst gehabt und wegen der sie Vorwürfe oder doch obstinate Haltung befürchtet hatte. Nichts dergleichen war geschehen, Louis hatte Le Bas zum Abschied umarmt und geküßt, der Lehrer war offenbar trauriger als der Schüler. Ging diesem merkwürdigen Jungen nichts nahe, lief alles von ihm ab wie Wasser von Oeltuch? – Oh, es war ihm nahgegangen, er hatte in der letzten Woche, die Le Bas im Haus war, wenig geschlafen und die Nächte bei dem Freund verbracht, in endlosen Gesprächen oder endlosem Schweigen, er hatte die Nacht nach seiner Abreise nicht geschlafen, sondern durchweint, von dem ersten großen Leid um einen guten Menschen geschüttelt: aber die Mutter wußte es nicht, keiner wußte es, er erledigte es im Stillen, wie seine Liebschaften.

Hortense wußte auch nicht, daß er mit Le Bas, der eine Anstellung als Lehrer für alte Sprachen im Pariser Collège St. Louis fand, in ständiger Verbindung blieb. Der Freund korrespondierte mit ihm fast ausschließlich politisch; das heißt: er gab regelmäßig Situationsberichte über die politische Lage, klare, kluge, zuverlässige und weitsichtige Schau auf die Ereignisse, die sich zu drängen begannen, und verlangte keineswegs dafür Auskunft über des ehemaligen Schülers neue Tätigkeit und alte Arenenberger Zwielichtszenen. Es schien eine Abmachung zwischen beiden zu sein, von der früheren Gemeinsamkeit nur die gewonnene Freundschaft und den politischen Sinn gelten zu lassen, alles andere aber – die Mutter, die Legende, die Artillerie, die Umstände der Trennung – nicht zu berühren. So waren auch Louis' Antworten nichts als Kommentare der Zeitereignisse, Vermutungen, Prognosen und etwas dunkle Sarkasmen – wie er es im Studio von Arenenberg gehalten hatte. Ja, es war kaum anders wie früher, nur daß der Mentor in Paris saß und noch sachverständiger war, unterrichteter und nützlicher. Der Eleve der Artillerie-Schule stand zwischen Hortense und Le Bas wie einst der Gymnasiast. Die Mutter aber ahnte nichts mehr von der Existenz des Gegenspielers und Louis freute sich darüber. Er organisierte für die Korrespondenz mit Le Bas einen raffinierten Zustelldienst, wenn er seine reichlichen Ferien in Arenenberg oder in Italien bei der Mutter verbrachte, und trieb mit innigem Vergnügen seine Gerissenheit so weit, den braven und ahnungslosen Dufour und die amtlichen Umschläge der Artillerie-Schule als Deckadresse und Vermittlungsstelle für seine Pariser Informationen zu benützen.

Louis war vergnügt, die Zeit gefiel ihm, im heißen August 1829 kam sie ins Kochen, Bourbon machte die große Dummheit, auf die schon alle warteten: er präsentierte das Kabinett der extremsten Reaktion. Man nannte es das Ministerium des weißen Schreckens. Jeder spürte, daß es die letzte Regierung der Dynastie sein würde. Ihr Führer war der Fürst Polignac, der vor fünfundzwanzig Jahren helfen wollte, den Kaiser zu ermorden, und deshalb neun Jahre in Vincennes gefangen saß. Daß dieser Todfeind der Familie der Ministerpräsident des letzten weißen Schreckens wurde und das Land revolutionsreif machte, war für Hortense ein neuer Grund für ihre alte Hoffnung. Wer den Mann stürzt, der Napoleon stürzen wollte, tut es für die Napoleoniden: so ging ihre simple Rechnung. – Ach die Mutter mit ihrer rührenden Hoffnungsfreudigkeit! dachte Louis, der es besser wußte; aber er schrieb ihr die gutgläubigen Briefe, die sie von ihm erwartete; und war er bei ihr, so hörte er freundlich still zu.

Ihm gefiel die Zeit, nicht weil sie für die Familienidee arbeitete, wie die Mutter fälschlich annahm, sondern weil sie ihm das Lehrspiel der heimlichen und unheimlichen Bewegung bot. Er kannte die Kräfte, die am Werk waren, er sah, wie die Gegenbewegung im Quadrat jeder Brutalität der Regierung wuchs, wie die liberale und die republikanische Organisation ausgebaut wurde, wie sie immer sichtbarer und ihre Presse immer deutlicher wurde, wie die Abwehrarbeit der Regierung immer kleinlicher und immer aussichtsloser wurde, wie sie schließlich die gefährliche Kammer immer wieder, immer wieder vertagte und wie doch der 2. März 1830 kam, zu dem sie endlich einberufen worden war. Das Spiel wurde erregend, obschon man es fast errechnen konnte. Louis riß Le Bas' Eilbrief auf: 221 Abgeordnete votierten für Guizots Mißtrauensantrag gegen die Regierung. Wie harmlos und beinahe liebenswürdig klang noch die oppositionelle Forderung: Herstellung der konstitutionellen Harmonie der Staatsgewalten. Wie reizend pharisäisch von den Revolutionären von morgen! lächelte Louis. Und weiter! wie geht das Spiel mit dem Feuer weiter? Welche ordentliche und vorsehbare Staffelung der Sensationen: wieder Vertagung und – endlich, am 16. Mai – Auflösung der Kammer. Was muß kommen? Neuwahlen. Was muß kommen? Neuwahlen gegen die Regierung: die Oppositon wächst auf 274 Mitglieder.

»Sieg!« schreit Le Bas mit zollangen Lettern.

»Louis! Mein Junge!« jubelte Hortense. »Wir gewinnen!«

»Wie geht es eigentlich dem Wiener?« fragte Louis in die Begeisterung hinein.

»Welchem Wiener?«

»Napoleon II.,« lächelte Louis.

»Ach dem kleinen, armen Reichstadt,« berichtigte Hortense.

»So wollte ich ihn nicht nennen, wenn wir schon vom Gewinnen reden …«

Hortense dachte ernüchtert: der Junge ist manchmal unerfreulich.

Wer wird gewinnen? Es war für den Beobachter vergnüglich zu sehen, wie jeder auf sich schwor, auf seine Partei, auf seinen Mann, auf seine Sehnsucht. Louis war gegen solche Beschwörungen mißtrauisch, weil sie den eigenen Wunsch zum Wunder machen wollten und darüber den Blick auf die Tatsachen des politischen Geschäfts verloren. Das war bei Hortense von Anfang an der Fall; aber ihre Romantik berührte ja niemals den immer deutlicheren Lauf der Dinge. Jedoch auch Le Bas' Fanfaren aus letzter Zeit verließen die Erde, die noch keine Republik war. Der alte Lafayette blieb der Gott über den Wolken, die Hohepriester sahen ihn, aber nicht das Volk, das er führen sollte. Gewiß mochte er seine guten Gründe haben, sich der Regierung nicht als Geisel zu präsentieren. Aber warum dann diese überschwengliche Zuversicht, die im Tenor Le Bas' sich wieder der Hortensischen Deklamation näherte – wie früher auch, dachte der skeptische Louis. Da war der junge Herr Thiers in seinem »National« von einer gehalteneren und möglicherweise aussichtsreicheren Art der Prophetie. Er ritt etwas einseitig, aber eindringlich sein englisches Steckenpferd: wie einst die große englische Revolution muß jetzt die große französische Revolution durch eine glorreiche zweite gerettet werden – das war die eine Gangart, die sich nicht sehr von der republikanischen unterschied. Doch dann kam die Variante: wie einst die Stuarts, müssen jetzt die Bourbons von einem freisinnigen Verwandten abgelöst werden. – Louis kniff die Augen zusammen. Die Zeitungen kamen von Le Bas. War der Marquis Lafayette ein Vetter Bourbons? – Oder sollte er das Blatt der Mutter zuschicken? Was hätte es für einen Zweck: Hortense bewiese die Verwandtschaft der Bonapartes mit den Bourbons, wenn es sich um das Erbe handelte …

Gewann gar noch die Regierung in zwölfter Stunde? Sie bot etwas Ueberraschendes, wenngleich nicht ganz Neues, um das Volk abzulenken, vielleicht auch die Katastrophe: sie machte einen kleinen, billigen und handlichen Krieg, sie unternahm den Feldzug gegen Algier – und der Dei kapitulierte und zahlte fünfzig Millionen und man hatte ein Kolonialreich erobert und gute Propagandamöglichkeit, der offiziöse »Moniteur« brachte Siegesberichte napoleonischen Formats, es gab neue Helden und Orden und Gloire – die große Bewegung im Innern stockte wahrhaftig.

Louis wollte es sich merken, das Manöver war gut. Er lernte von allem und allen. Sein tüchtiger Kopf faßte sofort die große, die letzte, die einmalige Chance des Königs: jetzt die kluge Geste, jetzt das Geschenk an das Volk, jetzt die vollendete Charte, jetzt die »konstitutionelle Harmonie der Staatsgewalten«! Jetzt muß er es tun, in diesem blanken Juli – mein Gott, ich täte es, ich gewänne jetzt …

Karl Bourbon und Polignac taten das Gegenteil. Sie vergaßen den Maßstab, hielten die drapierte Spekulation für einen echten Sieg, die Kapitulation des Dei von Algier für den Anfang vom Ende des inneren Widerstandes und ihren wattierten Expeditionsmuskel für wahre Kraft. Sie schlugen mit der außenpolitischen Faust in die Innenpolitik, dumm und roh, sie schlugen dem Land ins Gesicht. Sie erließen die Juliordonnanzen: Auflösung der Kammer, Aufhebung der Pressefreiheit, Verringerung der Abgeordneten, verengertes und verfälschtes Wahlrecht. Die Lunte brannte.

Louis wartete, erregt wie noch nie. Was geschah? Ueber den Westen war der Vorhang gefallen, man sah nichts mehr, man spürte nur den Druck, Le Bas schwieg. Gerüchte rumorten – oder es war schon Donner der fernen Explosion. Louis wartete; aber man merkte ihm die Spannung nicht an, er teilte sich nicht mit, um die Lehre des großen Spiels mit keinem anderen teilen zu müssen, auch nicht mit der Mutter, deren falsche Erwartung seine aufmerksame und unvoreingenommene Studie störte. Er wirkte in diesen Tagen angehaltenen Atems schläfrig. Hortense, die Arenenberg schon lange zum Hauptquartier der großen Illusion gemacht hatte, mit einem Stab von Begeisterungsfähigen, Gesinnungstüchtigen und Geschäftemachern, überwachte wie ein Feldherr die Nebelwand, hinter der sich das französische Schicksal vollzog. Sie fühlte sich mit jedem Nerv im Stande, wieder auf die große Bühne zu treten, und war mit dem Gleichmut des Sohnes nicht ganz zufrieden. Ob es ihn nicht belaste und verstimme, so weit vom Schuß zu sitzen, äußerte sie vorsichtig; denn sie wußte ja, daß Louis gerne in Deckung war, und spürte seine eigene Meinung. Sie lockte ihn nicht aus seiner verschwommenen Ironie. »Ich bin nicht weit vom Schuß, Madame Mère, ich lerne ja schießen, sogar mit Kanonen.«

Die Lunte brennt über den Sonntag in den Montag, 26. Juli. Ein guter, frommer, stiller Sonntag und Frieden auf Erden. Die Algier-Sieger glauben nicht, daß es einen Widerstand gegen ihren Frieden gibt, und haben keine Vorbereitungen gegen eine Erhebung getroffen. Die höheren Offiziere sind zumeist auf Urlaub, der Sommer ist heiß, der Krieg ist aus. – Am Montag platzt die Bombe der Ordonnanzen in Paris.

Erster Tag ziemlich ruhig, außer ein paar Protesterklärungen. Zweiter Tag unruhiger: Ansammlungen, Steinwürfe gegen Patrouillen, Schüsse. Marschall Marmont übernimmt den Oberbefehl der Regierungstruppen, ohne Schwung, verdrossen, sehr überrascht.

Am Mittwoch ist die Revolution da, wie aus dem Boden gestampft: Republikaner und Carbonari am Werk, Lafayette in Paris, Barrikaden in der ganzen Stadt, gehalten von Arbeitern, Handwerkern, Studenten, napoleonischen Veteranen. Marmont, gegen die Ordonnanzen, nur mit halbem Herzen bei der Sache, ratet in Saint Cloud dem König zum Nachgeben. Der König sieht nicht bis nach Paris, in Saint Cloud hängt Sommerfriede über stillem Park. Marmont verhandelt mit revolutionärer Abordnung, die er eigentlich verhaften sollte. Regimenter gehen über; furchtbare Hitze, keine Munition, keine Verpflegung, jedes Haus eine Festung.

Am Donnerstag erobert das siegreiche, wunderbar an sich haltende Volk den Louvre und die Tuilerien, ohne Terror, ohne Vandalismus. Die Truppen rücken nach Saint Cloud ab.

Am Donnerstag zieht der König die Ordonnanzen zurück, entläßt Polignac, bildet ein neues Ministerium mit dem Oppositionsführer Casimir-Périer.

Es ist zu spät. Lafayette bildet eine Provisorische Regierung. Das Volk hat gewonnen.

Louis las Le Bas' Bericht über die glorreichen Tage: er war mit rasender Hand geschrieben, mit jauchzenden Buchstaben, und die Triumphstriche unter dem Resultat: Das Volk hat gewonnen! zerrissen das Briefpapier. Louis las den Bericht, steckte ihn in die Brusttasche und schwieg zu jedermann. Er gab die Kunde auch nicht nach Arenenberg weiter – nicht um die Mutter zu schonen: er glaubte nicht an das Wunderbare als Ergebnis.

Während Le Bas' Eilbrief nach Thun reiste, verblühte das Wunder schon wie eine fremde Blume. An dem gleichen Tag, an dem Lafayette die vorläufige Regierung bildete, kam die geschickteste orleanistische Propaganda in Schwung. Der Zauberer Talleyrand lenkte sie aus dem Hintergrund, Thiers formte sie zum Flugblatt: Karl Bourbon kann nicht zurückkehren, er hat Blut vergossen; die Republik ist unmöglich, denn sie bedeutet Feindschaft mit ganz Europa; der Retter ist Orleans. Louis-Philipp Orleans hatte sein Schloß Neuilly vorsichtigerweise verlassen und sich im nahen Wald von Raincy versteckt, als in Paris die Gewehre losgingen. Er war dann über seine Berufung so überrascht wie am Montag der Marschall Marmont über sein Kommando. Louis-Philipp war etwas ängstlich und liebte seinen Kopf, der bekanntlich wie eine Birne geformt war. Thiers mußte ihn suchen, lange verhandeln und gut zureden. Am 31. Juli sagte der Herzog ein etwas gezwungenes Ja und den heftig verwerteten Satz: »Die Charte wird fortan eine Wahrheit sein.« Werden die revolutionären Parteien zusagen? Die Revolution war Lafayette, in seiner Hand lag die Entscheidung. Nach etlichem Hin und Her war er bereit, den Herzog im Stadthaus zu empfangen. Der plötzliche Prätendent, zu Pferd und in Uniform der Nationalgarde, mußte den gefährlichen Weg zum Grèveplatz machen. Auf dem Grèveplatz pflegten die armen Teufel geköpft zu werden. Die Birne hatte große Angst. Zwar stellte die Dreitagerevolution keine Guillotine auf: aber genug Kugeln staken noch in den Revolutionsflinten, Messer saßen locker, die Menschen ringsum waren gestern noch Empörer, und es brauchte sich ein Finger nur zu rühren, um mit dem Unerwünschten kurzen Prozeß zu machen. Doch es geschah nichts, und die paar feindlichen Zurufe ertranken im lauten Beifall.

Als Louis die Siegesbotschaft Le Bas' in die Hand bekam, war schon, umwallt von Trikoloren, Lafayette mit Louis-Philipp auf den Balkon getreten, mit dem Generalstatthalter von Frankreich.

Die Republik war umgangen, die Revolution wurde umgestülpt wie ein Handschuh. Am 7. August gab die Kammer mit 209 gegen 33 Stimmen Louis-Philipp die Krone als König der Franzosen

»Betrug!« schrie Le Bas in zornigen Briefen.

»Betrug!« jammerte Hortense.

»Wie man es nimmt,« meinte Louis, »Herr von Talleyrand schwört einfach einen neuen Eid.«

»Und wir sind ausgeschaltet!« rief die Mutter.

»Ich glaube im Gegenteil, daß man sich jetzt erst einschalten kann,« widersprach Louis. »Jetzt sollte man in Frankreich sein.«

»Und man rief während der drei Tage – Lacroix hat es selbst gehört – man rief wirklich: Hoch Napoleon II.!« klagte Hortense, »und wäre er in Paris gewesen …«

»Wer?« fragte Louis. Die Mutter sah ihn an und schwieg.

»Wir sollten in Paris leben,« warf Louis hin.

Die Mutter griff es auf. Sie glaubte, ihn zu verstehen. War nicht mit den Fall Bourbons auch der Bann gegen die Bonapartes aufgehoben? Fühler wurden ausgestreckt.

Am 4. September stimmte die Deputiertenkammer mit einer Mehrheit von 106 Stimmen für die Erneuerung des Artikels 4 des Gesetzes vom 12. Januar 1816. Das war die Verbannung der Bonapartes.

»Jetzt ist alles aus,« stöhnte Hortense.

Sie saßen auf der Westterrasse unter der riesigen Roßkastanie. Die Sonne fiel in den See, färbte ihn goldrot und hißte goldenen Dunst über den fernen Hohentwiel.

»Jetzt fängt es an,« sagte Louis mit dem Rücken zur Landschaft.

»Was willst du denn jetzt noch tun, Louis?«

»Mitmachen.«

»Mitmachen?«

»Mitrufen.«

»Mit wem?«

»Mit den Betrogenen.«

»Was mitrufen?«

»Es lebe die Republik!« lächelte Louis.

Hortense ärgerte sich über seine Dummheit. Vielleicht war es auch nur Ungezogenheit.


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