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Zeit-Uhr


Der Namenlose

Es war nicht so, daß der Namenlose, Kaiserlicher Prinz, nach etlichen Tagen oder einigen Wochen getauft wurde wie andere Christenkinder. Der Kriegsgott hatte keine Zeit. Es dauerte zweieinhalb Jahre. Die Zeituhr hatte viele Schläge getan. N siegte immerzu, gegen Spanien, Oesterreich, auch gegen den lieben Gott, dessen Sakrament er nicht stehen ließ, weil er Kaiserinnen zu wechseln hatte. Hortense war dabei, als ihre Mutter verabschiedet wurde. Sie war auf Seiten der Staatsraison, trotzdem die junge Habsburgerin, fest im Fleisch und mit tragfähigen Hüften, zu dem Zwecke geholt wurde, den sie, Hortense, schon erfüllt hatte. Die Zeituhr schlug ihr empfindlich in die Ohren. Truppen standen in Holland. Saturn frißt seine Kinder, N den Bruder, der nicht parierte. Hortense biß die Zähne zusammen und wartete auf die Taufe. Wer den Willen hat, lebt nicht vergeblich, dachte sie für den Namenlosen.

Im Frühsommer 1810 forderte der König von Holland die Königin von Holland durch seinen Gesandten Ver Huell auf, nach Amsterdam zu kommen, um eine Entscheidung von staatspolitischer Tragweite entgegen zu nehmen. Als sie ankam, verließen die Handwerker, die die Verbindungstüren zwischen ihren und seinen Zimmern zugemauert hatten, das Schloß. Sie lachte nicht und beachtete es nicht.

»Wie wird der Erste Kaiserliche Prinz heißen?« grinste er.

»Nach dem Vater und nach dem Kaiser.«

»Sapristi, wie heißt eigentlich der Vater?«

Sie schwieg.

»Was die Napoleoniden angeht, Madame: heute ist der 5. Juni. Der jüngste ist vier Wochen alt. Die Gräfin Walewska bekam am 4. Mai endlich den kleinen Walewski. Florian Alexander Joseph Walewski, schöne Namen. Sicher sagt das große N: ›Ich habe einen Sohn!‹ oder einen ähnlichen welthistorischen Ausspruch. Ich hoffe, es sind keine Neuigkeiten für Sie, Majestät.«

»Nein,« sagte sie.

»Was den Kronprinzen von Europa betrifft, Madame, so hat er bekanntlich noch keinen Namen. Dafür entjungferte das große N die kleine Wienerin bereits in der Reisekutsche zwischen Courcelles, wo er kurzerhand und mit vollen Segeln zu ihr einstieg, und Compiègne, wo erst das Bett gemacht war – schon am 28. März, und am 1. April war doch erst die Trauung. Das war nicht fein, aber temperamentvoll und gibt zu Hoffnungen Anlaß.«

Sie schwieg.

»Was den Kronprinzen von Holland betrifft – und das ist nicht der Namenlose, sondern mein Sohn Charles, kein kaiserlicher Prinz, trotzdem ihr ihn Napoleon nennt –, so wäre er am 1. Juli König, wenn es nach dem Gesetz ginge; aber es wird nicht nach dem Gesetz gehen, sondern nach dem großen Magen – und nur für den Schwertschlucker ist Holland ein so kleiner Bissen, daß er ihn nicht zu kauen braucht und ihn doch verdaut.«

»Louis,« fragte sie erregt, »Sie wollen …?«

»Ich danke ab.«

 

König Louis dankte am 1. Juli 1810 zu Gunsten seines älteren Sohnes ab und ging als ein Graf de Saint-Leu in böhmische Bäder. Holland wurde dem Imperium einverleibt. Louis war ein guter Wahrsager, wenn es um böse Zukunft ging. Er floß vor galligem Triumph über. »Nennen Sie sich ruhig weiterhin Königin, Madame,« schrieb er ihr aus Karlsbad, »Ihre Schönheit verdient es, und die große Theodora, auch eine begehrte und regsame Frau, war sogar Kaiserin. Dagegen steht es mit Ihren dynastischen Chancen weniger gut, Majestät, und Ihre Muttergefühle scheinen mir in dieser Hinsicht nicht ohne Ehrgeiz. Der Namenlose ist immer noch nicht getauft und die Gefahr liegt nahe, daß er entthront ist, ehe man ihn beim Namen nennt; denn die dralle Wienerin ist heftig bei der Sache. Dann nützt es ihm auch wenig, daß er augenblicklich seinen Bruder beerbt, so schmal auch das kleine Holland in der dicken neuen Krone sich ausnimmt. Aber dieser enterbte Bruder, mein Sohn, gehört mir. Was tun Sie auch mit einem Kind, Madame, dem man schon schmeichelt, wenn man ihn Ex-Kronprinz von Holland nennt? Charles gehört mir und ich fordere ihn und werde ihn solange fordern, bis ich ihn habe. Meine Forderung wird dauerhafter sein als der politische Zustand, der ihn mir verweigert, – glauben Sie mir, Madame.«

Das war ein böser Ton und eine unfreundliche Zeit. Der Graf Flahaut hatte nichts zu lachen, so schön er sang. Hortense war nervös und unliebenswürdig. Louis tat ihr unrecht; denn sie liebte auch den älteren Sohn, einen sehr hübschen und lebhaften Jungen, der bekanntlich dem Kaiser ähnlich sah. Das war Grund genug für Liebe, auch Grund genug für sie und den Kaiser, die Forderung des Vaters wie einen dummen Witz zu vergessen.

Aber auch N tat ihr unrecht. Die Zeit verging, verbissen gegen sie arbeitend, das Kind ging schon auf seinen schwachen Beinchen, plapperte schon mit seinem engen Stimmchen – ein überzartes, unschönes Kind –: und war noch nicht getauft. N war der Mann, das zu vergessen, was nicht mehr wichtig war. Wichtig war der Sohn, nicht der Neffe. Aber der Sohn war noch nicht da, der Wunsch war noch nicht Leben. Der unwichtigste Mensch, der da ist, hat Anspruch auf einen Namen. Hortense war die Frau zu erinnern: an den Namenlosen und an sich selbst. Die unfreundlichen Augen der neuen Kaiserin aus Wien übersah sie. N war kühl, sogar zu ihr.

Drei neuen Bischöfen – von Aachen, von Nancy, von Orleans – war der Eid abzunehmen. Man verband die Zeremonie mit den Taufakt, damit es in einem ginge. N hatte keine Zeit. Am 14. November 1810 wurde die Schloßkapelle von Fontainebleau mit Pomp geschmückt. Man sah überall das gekrönte N, hier und da das Kreuz Christi. Der Kaiser hielt den zweieinhalbjährigen Täufling über das Becken. Das Kind wimmerte vor Angst. Es sah nicht napoleonisch aus: aber das konnte noch werden. Kardinal Fesch vollzog die Taufe. Der Erste Kaiserliche Prinz und Erbe bekam den Namen Louis und den Zunamen Napoleon. Der Kaiser, zerstreut und zeitknapp, tat auf dem Rückweg von der Kapelle ins Schloß doch noch einen historischen Ausspruch, der mit Vergnügen kolportiert wurde: »In Kurzem, Messieurs, werden wir ein anderes Kind zu taufen haben, hoffe ich!« Hortense hatte es nicht gehört; aber sie erfuhr es zehn Minuten später. Sie sagte nichts; sie trug eine hübsche kleine Krone aus Diamanten und sah königlich aus. Graf Flahaut bemerkte es in einem Vierzeiler. Hortense schickte ihn fort und rief ihn am Abend doch wieder zu sich. Graf Flahaut ging und kam, wie sie es wollte. Er war damals fünfundzwanzig Jahre alt, schon Brigade-General und ihr Generaladjutant, ein schöner Mann. Der Admiral Ver Huell befand sich bereits außer Dienst. Holland, Teil des Imperiums, brauchte keinen Gesandten mehr. Der Beau Flahaut saß gut im Sattel. Die Königin Hortense war schwierig, aber reizvoll, zwischen Verachtung, Melancholie und Zärtlichkeit überraschend wählend, wie zwischen ihren vielen Kleidern. – Am Tag nach der Taufe kam ein Geschenk vom großen N: ein Perlenkollier. Die kleinste Perle war nußgroß. Das Schloß schmückte ein wunderbarer Saphir mit einem Kranz von Brillanten.

Hortense, abergläubisch und nervös, weinte. Der Graf Flahaut war ein wenig ratlos.

 

In den Morgenstunden des 20. März 1811 wurde der Hof, der in den Erdgeschoßräumen des Tuilerienpalastes wartete, nach Haus geschickt. Es könnte noch lange dauern, sagten die Aerzte, die Wehen der Kaiserin hätten wieder aufgehört. Hortense bezog den Befehl nicht auf sich und ging mit den drei Hofdamen, die zum Nachtdienst bestimmt waren, in die Wohnräume. Im Ankleidezimmer der Kaiserin stand N, bleich wie noch nie, und sagte, ehe sie die Schwelle übertrat: »Sie nicht, Madame!« Hortense blieb im Vorzimmer. Doktor Corvisart, der Leibarzt, kam: der Kaiser bitte sie, nach Haus zu gehen; es stände nicht gut; der Kaiser sei abergläubisch. – »Ich auch,« sagte Hortense und ging.

Im Tuileriengarten stand die Menge, Kopf an Kopf, stumm, und wartete. Die Stadt war wach und wartete. Die Nacht war lang und stumm, der Morgen kam grau und lautlos; aber einmal mußte die Kanone losgehen. Einundzwanzig Schüsse waren ein kaiserliches Mädchen, hundertundein Schuß der König von Rom: das wußte jedes Kind. Es kam also auf den zweiundzwanzigsten Schuß an: von da ab konnte man brüllen.

Hortense setzte sich in ihren Wagen; aber sie gab nicht den Befehl abzufahren. Flahaut, der müde war, fragte: »Wollen Sie nicht nach Hause, Majestät?«

»Ich warte,« sagte sie.

»Es ist schon sieben Uhr …«

»Ich warte,« sagte sie, »aber du kannst gehen.« Er schüttelte den Kopf. »N ist weiß wie Kalk,« sagte sie, »er hat Angst.« Sie drückte die Augen zu. »Ich habe keine Angst,« setzte sie hinzu und sah böse aus. Flahaut hob die Schultern. »Ich mag dich nicht sehen,« sagte sie, »geh weg.« Flahaut öffnete den Schlag. »Chéri!« flüsterte sie und umklammerte seinen Arm. Er blieb.

Die Zeit kroch weiter. Der Morgen war trübe. Menschen sickerten in den Hof, in dem der Wagen stand. Die Wachen waren großzügig an diesem großen Tag. Hortense schlug den Pelzkragen hoch und starrte vor sich in. »Mit mir ist etwas los,« sagte sie endlich, ganz leise, als habe sie lange in sich hineingehorcht, »ich glaube, ich fürchte, … Das fehlte noch!« Sie fühlte, daß er sie ansah. »Du bist nicht viel wert,« flüsterte sie, »du wärst es ganz gewiß nicht wert.« Er sagte nichts, er rückte auch nicht näher, obwohl es geraten ist, in einem Fall wie dem angedeuteten ein zärtlicher Mann zu sein. Doch wenn sie zur Kritik neigte, hatte er ruhig zu sein und sich still zu verhalten; das wußte er. Es war ein peinlicher Morgen. Er dachte an Ver Huell und an gewisse Konsequenzen, die die Königin – gewiß nicht logisch – aus einem Fall wie dem angedeuteten abzuleiten pflegte. Flahauts Stellung war angenehm gewesen, alles in allem.

Es schlug acht. Durch den Hof flatterte ein Wort und zerrte an den wartenden Menschen. »Zange!« sagte einer zum anderen. Es zog sie hin und her, von einem Fuß auf den anderen, an den Köpfen, an den Schultern. Alle waren von der Zange gepackt, die im Geburtszimmer der Chirurg Dubois an die Schreiende führte. »Zange,« sagte Hortense, »davor hatte ich immer Angst; aber ich brauchte sie nicht.« Sie kroch in den Pelz und schloß die Augen. »Das Kind wird tot sein,« flüsterte sie.

Es schlug neun. Hortense sprach kein Wort mehr, als wollte sie die stumme Zeit nicht unterbrechen. Sie sah schlecht aus, sie schien zu frieren: ihre Zähne klapperten. Flahaut wagte nicht, einzugreifen.

Plötzlich schoß es. Hortense fuhr hoch und hatte mit einemmal rote Flecken im Gesicht. Es schoß und schoß. Hortense zählte lautlos und genau, der Mund ging auf und zu, die Augen waren ganz groß, unbeherrscht, böse. Es schoß und schoß. Die ganze Stadt zählte und holte Atem, um brüllen oder die Enttäuschung schlucken zu können. Hortense holte Atem, den Mund weit offen.

»Zweiundzwanzig!« schrie sie. Flahaut fuhr zusammen, so schrie sie. Ihre Hände flogen hoch und ihm ins Gesicht. Sie schlug ihn, nach dem Takt der Schüsse. Er hielt es aus, er hatte alles auszuhalten. Es tat ihm nicht so weh wie ihr die Schüsse: er wußte es und war ein Kavalier. Es schoß und schoß.

Acht Monate später, am 12. November, fuhr die Königin Hortense von ihrem Landsitz St. Leu, eine Meile von Chantilly, fünf Meilen von Paris, sehr eilig in die Stadt. Der Wagen, eine einfache Kutsche, war verhängt, Hortense biß in das Taschentuch, dann riß sie stöhnend mit den Zähnen kleine Fetzen Stoff heraus. »Schneller!« stöhnte sie. Flahaut gab den Befehl dem Kutscher weiter. »Du bist beinahe so käsig wie neulich N,« stöhnte sie, »das ist die einzige Aehnlichkeit zwischen euch.« Flahaut war in der Tat sehr blaß: Aufregungen wie diese legten sich ihm auf den Magen. Das Leben, sonst nicht ungefällig, war mit einemmal von äußerster Schroffheit. Als das Taschentuch zerrissen war, nahm sie den Schleier zwischen die Zähne. Das kurze und hastige Geräusch des Stoffzerreißens ging ihm auf die Nerven. Er preßte die Lippen zusammen und wünschte sich zwei Tage weiter. Sie kannte ihren Körper genau. Es war ein gestreckter Körper, der das Kind nicht spitzbäuchig trug, sondern die Last nach oben hin verteilte und versteckte. So konnte sie, mit modisch losen Kleidern, bis in den September hinein sich sehen lassen. Dann verlängerte sie die Sommerresidenz auf St. Leu bis in den Herbst und verbarg sich so auf einfache Weise, im Schutze ihrer bekannten Exzentrizität, den Beginn der hauptstädtischen Saison versäumend. Als es so weit war, wußte sie es auf den Tag.

»Heute,« stöhnte sie, »wird nicht geschossen werden – nicht einmal der Pistolenschuß, mit dem du dich ins Jenseits befördern solltest.«

Flahaut schwieg: er sah keinen Grund für den Pistolenschuß, verargte aber der Leidenden nicht weiter die gewalttätigen Gedanken.

Sie lag dann in einem engen Zimmer einer muffigen Kleinbürgerwohnung irgendeines Hauses, irgendwo im nördlichen Paris. Sie wußte nicht, wo sie lag. Flahaut hatte die Unterkunft besorgt, auch den Arzt und die Hebamme, die zu verlegen und ergeben waren, um über die Personalien der Niederkommenden nicht Bescheid zu wissen. Das Haus trug die Nummer 4 – das hatte sie gesehen. – Es ist das vierte Mal, das macht mich nicht schöner, hatte sie gedacht. Als sie dann in dem fremden Bett lag und die fremden Wände anstarrte, dachte sie noch im grellen Blitz einer Wehe: das vierte Mal ist zu häßlich – das muß ich vergessen … –

Die Geburt war nicht lang, aber sehr schmerzhaft. »Ich habe genug!« stöhnte sie.

»Mon ange,« flüsterte in einemfort Flahaut, der ihre Hand hielt und mit Uebelkeit kämpfte.

»Dazu bin ich nicht da!« rief sie erstickt, »dazu nicht … für euereins nicht …«

Sie dachte an die Walewska, an die Wienerin, an die Zeit-Uhr, die Frauen kreißen ließ und die Männer umbrachte – die Männer? nein, die halben Kinder! Oder war es N in seiner Allmacht? Zeit-Uhr oder N – aber N mußte seinen König von Rom schon mit der Zange holen – Glück mit der Zange, ist kein wahres Glück mehr – vielleicht ist es aus mit seinem Glück – was kommt dann für den König von Rom und für den Namenlosen? Aber er hat doch schon einen Namen, mein Geduldsprinz … Hortense dachte an den kleinen sanften Louis, bis sie zu schreien begann.

Dann kam das Kind, ein Knabe.

»Mon ange,« sagte Flahaut mit seiner weichsten Stimme.

Sie machte die Augen nicht auf und hob nur den Zeigefinger in der Richtung auf ihn.

»Sie sind entlassen, ihr Kronprinz auch,« flüsterte sie. Die Stimme war sehr schwach, aber unerbittlich. Flahaut ließ ihre Hand los. Der Arzt und die Hebamme sahen sich an. Das Kind schrie jähzornig.

Das Kind bekam die Namen Karl-August-Louis-Joseph. Für den Nachnamen wollte der Graf Flahaut gelegentlich sorgen.

 

Der Finger auf der Wunde

März 1814. Das Glück mit der Zange war das letzte Glück gewesen, die Zeit hatte sich unabhängig gemacht, das Glück war der alte Ueberläufer, als sei der Kriegsgott plötzlich ein gewöhnlicher Spekulant, und hielt schon bei den Alliierten – man weiß es. Hortense pendelte zwischen Angst und Hoffart. Hatte sie noch so viel zu verlieren, um das Schicksal zu fürchten, das immer deutlicher wurde? Ihre Krone war ein beliebter Witz für die Bourbonenblätter, die wie die Pilze aus der Erde schossen, ihre beiden Söhne auch. Aber sie hatte den Kaiser zu verlieren, die Idee und den Menschen, vielleicht auch eine Gemeinsamkeit, deren Art und Innigkeit nur sie und er kannten. – Vielleicht habe ich ihm Unglück gebracht, als ich vor drei Jahren den Flahaut schlug, ohne den Flahaut zu meinen; vielleicht hat er nicht gut getan, mich beiseite zu schieben; vielleicht wäre das Glück bei ihm geblieben, hätte er es bei mir gelassen.

Sie fragte ihren älteren Sohn: »Was würdest du tun, wenn es dir einmal schlecht ginge?« Der Zehnjährige, ein hübscher, geschwätziger Junge, sagte sofort, wie es sich gehörte: »Ich würde Soldat werden und dann General und dann Kaiser.« Hortense fragte den Kleinen mit den undeutlichen Augen: »Und du, Louis?« Das Kind nahm das Taschentuch von der geschwollenen Backe – er hatte Zahnschmerzen – und sagte sanft: »Ich würde Veilchen verkaufen.« Das war eine ungehörige Antwort. Hortense stutzte, wie oft, wenn das schweigsame Kind sich lau oder gewunden oder beinahe ironisch äußerte. »Du meinst«, kommentierte sie vorsichtig, »weil das Veilchen die Blume des Kaisers ist?« Das Kind lächelte ein wenig tückisch aus seinem schiefen Gesicht, schüttelte den Kopf und sagte dennoch: ja.

 

Ende März. N's Hauptquartier war in Chalons-sur-Marne, in diesem Augenblick so weit wie Moskau. Der Kaiser war irgendwo, es ging ihm schlecht, er war nicht zur Stelle. Zwischen ihm und Paris waren schon die Alliierten. Die Stadt wußte es nicht genau, sie witterte es; und dann wälzte sich schon auf allen Straßen von Osten das fliehende Volk heran, voll haarsträubender Erlebnisse mit Kosaken – als ob der Feind nur aus Kosaken bestünde, die zähnefletschend kleine Kinder an ihren Spießen brieten und als unentwegte Reitkünstler die Frauen und Mädchen auf ihren Galoppferden vergewaltigten. Die Stadt kochte vor Gerüchten und gegensätzlichen Energien. Plötzlich waren Leute mit weißer Kokarde auf der Straße, nicht die Masse, aber gewaltige Brüller, ließen die Bourbonen leben und die Kaiserlichen sterben. Sie heulten ihr »Vive!« und »A bas!« möglichst in die richtigen Ohren. Vor dem Stadtpalais Hortenses in der Rue Cerutti 8 stand es, wie ein höllischer Gesangverein: »Le roi de Hollande …« Hortense bestellte einen Zug Nationalgarde und ließ die Straße säubern. Sie fackelte nicht lange und kommandierte gerne. Wäre sie Gouverneur von Paris und nicht der nervös gewordene Joseph Bonaparte, auch ein kleiner N-Bruder und N-König: sie hätte die weißen Kokarden im Handumdrehen rot gefärbt. – Rot war Blut: ach, das war es, was sie hinderte, das Haus zu verlassen, und was sie bestimmte, die Schreier von der Straße zu jagen. Ihretwegen hätten sie »Vive!« und »A bas« und das dumme Lied vom falschen Louis heulen können. Aber der kleine Louis war sehr krank, merkwürdig krank: er blutete aus der Wunde des gezogenen Backenzahnes, schon seit zwei Tagen, unstillbar. Er mußte Ruhe haben.

Die weißen Kokarden wußten, warum sie keine Ruhe gaben. Die Bourbonen hingen an den Rockschößen der Alliierten und residierten schon in Nancy. Der dicke Louis Bourbon vergaß, daß er gestern noch Graf Artois war, alle Gespenster von 1789 tauchten bei ihm auf, rieben sich die Augen, machten sich Verbeugungen und trieben Rokoko. Die Zeit-Uhr schlug die Stunden durcheinander.

Plötzlich tauchte in Paris Hortenses Mann auf, der Exkönig von Holland, jetzt ein Graf St. Leu aus Graz. Warum kam er in diesem Augenblick – aus Anstand, aus Familiensinn oder um den Triumph seiner schwarzen Prophetie aus der Nähe zu sehen und der Götterdämmerung als alter Rechthaber und Amateur-Rebell beizuwohnen? Louis sagte, er sei gekommen, um in der Stunde der Not da zu sein. Das war eine sympathische Auskunft; aber man glaubte sie ihm nicht und kümmerte sich nicht um ihn. Er wohnte bei Madame Mère und fand keinen, dem er seine gute Haltung vormachen konnte. Hortense war mißtrauisch und auf dem Posten. Er ließ sich bei ihr nicht blicken, verlangte aber seinen Sohn zu sehen. Hortense ahnte jetzt die eigentliche Ursache seiner Anwesenheit und versteckte den älteren Sohn hinter der Krankheit des jüngeren.

Am 28. tagte der große Regentschaftsrat, ohne den Exkönig Louis heranzuziehen. Es handelte sich um das Verbleiben der Kaiserin und des kleinen König von Rom in Paris. Der Rat war dafür, um mit dem Kind Stimmung zu machen und die Garnison mit der alten Idee aufzupulvern. Aber N, seltsam resigniert, hatte geschrieben, die beiden aus der Gefahrzone zu bringen: lieber das Kind in der Seine, als in den Händen des Feindes. Es schien schlimm mit ihm zu stehen. Die Kaiserin hatte keine Meinung, sondern nur Angst. Die Beratung ging hin und her. Hortense schickte zornige Botschaften in die Tuilerien: die Kaiserin muß bleiben, der Kronprinz auch, was für ein Kleinmut! Ich wollte, ich wäre die Mutter des Königs von Rom, ich wollte, ich könnte zeigen, was Entschlossenheit ist! – Sie konnte nicht das Haus verlassen: der kleine Louis blutete.

 

Die Nacht kam. Die Stadt ging nicht schlafen. Nur der kleine Louis schlief, aus Schwäche. Doktor Corvisart, der immer wieder den Tampon wechseln mußte, ging müde und kopfschüttelnd. Das Kind hielt den Mund krampfhaft zusammen. Hortense wartete, ob wieder schmales, rotes Rinnsal aus den Mundwinkeln kam. War nur eine Blutader gerissen oder war er ein Bluter? Hortense fragte es sich tausendmal. Was wußte sie von diesem müden Kind? Was wußte sie vom Blut, das die eine Generation der anderen gab? Das Gerücht ließ keinen Mann ungeschoren. Josefinens Vater Beauharnais sollte krank gewesen sein – aber sagte man nicht, er sei nicht ihr Vater gewesen? N soll krank sein, ihr Mann Louis war krank und hatte Angst vor seinem Blut. War Ver Huell gesund, war sie gesund, war der König von Rom gesund? Was war das für ein Leben, das innen und außen angefochten wird? Sie schlief im Lehnstuhl ein. Um zwei Uhr nachts fuhr sie hoch. Ein Offizier stand im Zimmer: dringende Depesche vom Grafen St. Leu. Wer war Graf St. Leu? – Ach ja, ihr Mann. Sie öffnete das Billett. Sie las, daß der Regentschaftsrat die Abreise der Kaiserin und ihres Sohnes beschlossen habe. »Das weiß ich,« sagte Hortense scharf, »deshalb braucht er mich nicht zu inkommodieren. Gehen Sie!« Der Offizier ging. Das Kind schlief, die Lippen waren sauber. Er schien nicht mehr zu bluten. Hortense ging ins Bett. Sie schlief sofort ein. Eine Stunde später wurde sie wieder geweckt. Der Offizier, mit stiller dienstlicher Rücksichtslosigkeit, brachte eine zweite Depesche von ihrem Mann: die Kaiserin habe eben Paris verlassen, Richtung Blois; Hortense habe ihr sofort mit den Kindern zu folgen, Paris sei in Gefahr. »Ich bleibe!« rief Hortense, »ich bleibe! Ich befehle Ihnen, mich nicht mehr zu stören!«

Hortense schlief nicht mehr. Die Stadt war laut. Die Wienerin war fort, ihr Sohn auch. Welche Gelegenheit, welche große Fügung! Es war wie ein Fieber, Hortense hatte nasse Handflächen, sie zitterte. Das Kind Louis besaß eine hübsche kleine Lancieruniform. Ihn anziehen, ihn vor sich aufs Pferd heben, mit ihm durch die Straßen reiten: Hier der Erste Kaiserliche Prinz! Hier das Kind der Krone, die wir verteidigen wollen! Die Stadt war laut und in gefährlich wendiger Stimmung: die Stadt wird vor Jubel brüllen!

Sie stand auf und ging ins Krankenzimmer. Louis schlief und war so weiß wie sein Kissen. Aber von den Mundwinkeln zum Hals lief es rot: er blutete wieder. Hortense weinte, vor Angst und vor Wut, laut, unbeherrscht. Das Kind schlief mit kleinen matten Atemzügen, hin und wieder gurgelnd, wenn er das Blut schluckte. – »Louis! Louis!« – Er wachte nicht auf. Vielleicht wacht er nie mehr auf. Hortense kniete vor dem Bett und drückte den winzigen Unterkiefer des Kindes herab. Mein Gott, der Kinnknochen war so zart, daß man ihn eindrücken könnte. Das Kind wurde nicht wach. Ihre Hand war rot im Nu. Sie legte in jäher Eingebung den Zeigefinger auf die Wunde der Zahnlücke, sie preßte den Finger auf die Wunde, ganz fest. Das Kind wachte nicht auf. – Ich liebe ihn! Warum liebe ich ihn so, mit solchem ungeheuren und lästerlichen Ehrgeiz? Ich lasse ihn nicht los! Warum halte ich ihn so fest, damit er alles Unglück auslöffeln muß, welches wir ihm einbrocken – ich und N und unsere Zeit? Weil ich weiß, ja, weil ich weiß, daß er es vertragen kann und es doch nicht vergißt und sich und uns mit seinem Glück rächt, mit seinem großen Glück! – Das Zahnfleisch war heiß, ihr Finger lag fest zwischen den stehengebliebenen Zähnen in der Lücke, hin und wieder regte sich seine Zunge unter ihrem Finger, sie fühlte es wie leise Zärtlichkeit von einem Tier. Das Gefühl war seltsam und geheimnisvoll, es klopfte unmerklich leise gegen den Finger, und sie wußte nicht, ob es ihr Herzschlag war oder der Puls des Kindes. Sein Atem strich hastig über ihre Hand, immer wieder, kitzelnd – aber das Rinnlein seines Blutes, das den Finger entlang auf den Handrücken gelaufen war, trocknete schon ein. Das Knien tat mit der Zeit weh, sie ließ sich auf den Boden gleiten, ganz langsam und vorsichtig, um den Finger nicht aus der Lage zu bringen. Sie stützte den Arm auf den Bettrand – so ging es.

Die Straße war laut. Es marschierten Truppen vorbei, singende und stumme Truppen. – Reiten! dachte sie, der kleine Lancier sitzt vor mir, ich halte ihn, er hat die Hand frei, um zu grüßen, er versteht sich auf das Grüßen, ein grüßendes und lächelndes Kind ist unwiderstehlich, ich mache mit den Leuten, was ich will, ich bin erst einunddreißig, das Kind in aller Sicht ergrüßt sich in zwei Stunden eine Popularität, mit der mir alles gelingt, was ich will, alles! – und wenn N wirklich abdankt – und die Wienerin ist desertiert, ich nicht … – Sie bewegte den Finger in der Wunde, von den Gedanken geschüttelt, der Finger war festgeklebt und wurde schon wieder feucht. Sie drückte zu, tief erschreckend und hielt sich still.

Straßenlärm schwoll an und ebbte nicht ab. Was war das – wieder Demonstration der weißen Kokarden? Hortense hob den Kopf. Was war das? Weiberstimmen? – Weiber sind die schlimmsten, sie [werfen] mit Steinen … »Frauen der Garde!« Der rhythmische Schrei blieb vor dem Haus stehen. »Frauen der Garde!« Es waren Soldatenfrauen. Hortense lächelte: vielleicht wollen sie mich haben. »Vive l'Empereur! Vive Hortense! Hortense et le prince!« Le prince war der kleine Bluter, man kannte noch immer nicht seinen Namen. Aber man rief ihn! man rief ihn! Hortense legte den Kopf auf das Bett und biß in das Laken. Der Finger rührte sich nicht von der Wunde. Die Straße schrie immer wieder, jetzt waren auch Männer dabei, viele Männer. – Nur bis zum Fenster! stöhnte Hortense, mit ihm nur bis zum Fenster! Das Kind hustete gurgelnd und bewegte den Kopf. Hortense mußte die Bewegung mit dem Finger mitmachen und sehr aufpassen. Das Kind war wachsbleich, auf Backe und Hals trockne, schwarzrote Blutflecken; es war nicht repräsentativ. Die Straße schrie wieder. »Nein!« sagte Hortense halblaut, »nein! nein!«, hielt sich still und schloß die Augen, als verschlösse sie so die Ohren. Aber sie hörte die Rufe und dann Pferdegalopp, Gekreisch, Geschimpf. Nationalgarde zerstreute die Menge. Le prince mußte Ruhe haben. Hortense weinte ein wenig; dann sank ihr Kopf auf den Arm, sie schlief ein. Der Arm rührte sich nicht. Der Finger blieb auf der Wunde.

Um sechs Uhr früh der unabweisbare Offizier: Depesche vom Grafen St. Leu: »Die Kosaken kommen. Paris ist verloren. Da Sie nicht gewillt sind, mein Kind zu schützen, befehle ich Ihnen, es dem Ueberbringer dieser Depesche, Kapitän Armandi, zu übergeben.« Hortense war noch schlaftrunken. Als sie aufwachte, lag das Kind Louis mit dem Gesicht auf ihrer Hand und sah sie an. Sie erschrak. Wann war der Finger von der Wunde geglitten? Aber Louis blutete nicht mehr. Er sah sie an, lächelte versteckt und gab keine Antwort, als sie ihn fragte, wie es ihm ginge. Sie las noch einmal die Depesche. Das also war es – ihr Mann demaskierte sich. »Warten Sie,« sagte sie zum Offizier und schickte ihn in einen Salon des Erdgeschosses.

Um sieben Uhr Doktor Corvisart. »Gott sei Dank,« sagte er nach der Untersuchung, »endlich Gerinsel – er ist also kein Bluter. Die Wunde ist verkrustet, Vorsicht beim Essen.« Sie sah auf ihre Hand, »Doktor,« fragte sie, »ist der König von Rom kräftiger als er?« Das war eine merkwürdige Frage und die Antwort peinlich. Corvisart beantwortete sie nicht. Er sagte: »Der Hof ist in Blois. Paris ist nicht zu halten. Sie werden gut tun, schleunigst nachzufahren. Der Prinz ist transportfähig.« Hortense ließ dem Kapitän Armandi sagen, daß sie mit den Kindern nach Blois fahre.

Das war eine Finte. Sie fuhr nicht nach Blois, sondern nach Versailles. Dort sagte ihr der Garnisons-Kommandant, daß er für ihre und der Kinder Sicherheit nicht garantieren könne. Geschützdonner von Paris her gab den Kommentar. Hortense fuhr nach Rambouillet. Dort erfuhr sie den Fall von Paris. Kosaken im Walde von Rambouillet. Hortense fuhr in die Normandie auf Schloß Navarre, wo die Mutter Josefine lebte. Dort erfuhr sie das Schicksal des Kaisers: Abdankung und Elba. Die Zeit schlug zu.

»Der Kaiser ist abgesetzt, Loulou,« sagte sie und weinte. Das Kind sah sie an und lächelte ein wenig. »Man weint doch erst, wenn er tot ist,« sagte es.

 

Die Napoleoniden

Der Zar Alexander war ein schöner Mann, im Augenblick ohne Sinn für Mystik und ganz ohne Geschmack an den Gespensterdamen von 1789. Als es ihn langweilte, den dicken Bourbon, der ohnedies noch nicht der frischen Solidität des Bodens unter sich traute, mit seiner persönlichen Bewunderung für den Elba-Adler zu ängstigen, befahl er seinem Adlatus Nesselrode, die Korrespondenz mit der schönen und ebenfalls legendären Hortense zu eröffnen. Wenn man schon Weltgeschichte macht, darf man sich kleine Arrangements erlauben, die den Vorzug haben, zugleich dem eigenen Vergnügen und der politischen Sensation zu dienen, also von einer großartigen Pikanterie zu sein. Das hatte Alexander von Napoleon gelernt; und da er sein Besieger war, hatte seine Großmut gegen die Frau, um die napoleonische und andere Sagen schlichen, keine Grenzen. – Sie solle kommen, hatte Nesselrode zu schreiben, unbesorgt, in ihrem eigenen Interesse; der Zar habe den innigsten Wunsch, sie zu sehen; der Zar habe ihr Schicksal, wie das der Welt, in seiner Hand; der Zar wolle ihr Bestes, der Zar sei gleichsam ihr Anwalt und ganz gewiß ihr Freund; der Zar wünsche, daß sie nach Malmaison komme und die Kaiserin Josefine auch.

Wohin? Nach Malmaison, das einst Josefine erwarb, um ungestört den großen General Bonaparte mit dem kleinen Leutnant Charles zu betrügen. Der Zar war von einer beinahe handgreiflichen Koketterie. Hortense lächelte.

Hortense lächelte ein wenig hinterhältig, wie es die Art ihres kleinen Sohnes Louis war. Vielleicht hatte das Kind doch viel von ihr. Die Welt ging drunter und drüber; aber siehe, man ging nicht so schnell unter, man schien Glück zu haben. Man hatte Glück bei den Menschen – bei den Männern. Auf Schloß Navarre wimmelte es von Royalisten; und da beide zu lächeln verstanden, Josefine und Hortense, Mutter und Tochter, entdeckten die Galans, daß sie eigentlich Beauharnais waren, Marquisen von 1789. Und in St. Leu, wo sie oft war, sammelten sich die Bonapartisten, sahen in ihr schönes Gesicht, das der Kaiser liebte, und glühten vor Lust und Mut der Konspiration. War das Leben nicht am schönsten, wenn es gefährlich ist?

Hortense ließ sich etliche Briefe von Nesselrode schreiben, weigerte sich in guter Haltung, doch nicht zu lange, und kam dann. Sie erschien als gute Mutter mit den beiden Söhnen. Auch Josefine kam, einundfünfzigjährig, mit Anmut welk, glücklich, daß das große Leben sie unerwartet aufrief, ohne Ahnung, daß der Tod sie zwei Monate später abrufen würde. Hortense ließ die langen Wimpern spielen und wußte nach der ersten halben Stunde, daß sie es mit dem Beau von Rußland nicht schwer haben würde. Alexander war Dauergast in Malmaison. In den Tuilerien schüttelte es die Bourbonen vor Klatsch und Angst. Nesselrode beschwichtigte hier und warnte dort. Alexander verbat sich die Störungen, sonst möchte er eines Tages und in schlechter Laune den Bauch Bourbon wieder nach Mitau schicken. Hortense hörte es nicht, sonst hätte sie ihn gebeten: nach Sibirien, und ihren Wunsch mit seinen Wünschen in fälliger Weise verrechnet.

Wenn er nicht um sie warb, besorgte er sich um ihre Zukunft: ein zu errichtendes Herzogtum St. Leu und außerdem die vierhunderttausend Franken Rente, wie mit dem Kaiser abgemacht. Es war merkwürdig genug, daß sie diese Angelegenheit kälter ließ als ihn. Sie sei nun einmal Königin und ihr jüngster Sohn kaiserlicher Prinz und sie habe ihrer Würde nicht entsagt. Sie war sehr spröde, auch wenn es nicht um die Sicherung ihrer Existenz ging. Der Kaiser wurde hitzig; der Sieg verlohnte sich, sowohl im privaten wie im historischen Sinn: es wäre ein Zusatzsieg über den Kaiser von Elba. Es gibt eine Großmut, die zu Erfolg verpflichtet. Hortense schien seine Großmut nicht zu bemerken. Der Erfolg blieb aus.

Der Knabe Louis bemerkte sie. Er hatte eine Neigung für schöne und stattliche Menschen, war gerne in Alexanders Nähe und hängte seinen wolkigen Blick an ihn, still, unaufdringlich und in überaus höflicher Haltung. Eines Tages, als der Zar Hortenses Hände lange und innig zur Begrüßung geküßt hatte, ging Louis zu ihm hin, nahm seine Hand, tat etwas in sie hinein und schloß sie wieder, geheimnisvoll lächelnd. Alexander fühlte verwundert einen kleinen Siegelring. »Was soll ich mit dem Ring, Monseigneur?« fragte er das Kind. Louis winkte ihn zu sich herab und sagte ihm ins Ohr: »Gute Leute belohnt man, dann bleiben sie gut, und Geld habe ich leider nicht.«

Alexander blieb ernst und war nachdenklich. »Ich werde den Ring behalten,« sagte er zu Hortense; »das Kind ist tüchtig, aber etwas unheimlich«.

»Bleiben Sie gut, Sire,« lächelte Hortense.

»Werden Sie gut,« flüsterte er.

»Die Bourbonen sind ungut und untüchtig.«

»Keine Gespenstergeschichten, Hortense, bleiben wir bei unserer Wirklichkeit.«

»Gut, Sire, sichern Sie ihm die Nachfolge.«

»Wem?« fragte Alexander langsam.

»Sichern Sie ihm die Nachfolge, mon ami, dann sichere ich Ihnen den europäischen Frieden – gut, Sie lachen nicht – dann stabilisiere ich Ihr Europa besser als alle alliierten Kabinette zusammen.«

Alexander lachte nicht, er wußte dies und jenes und daß die Frau ebenso gefährlich war wie begehrenswert. Nesselrode und Bourbon und die beiden Chefteufel des Kaiserreichs, Talleyrand und Foucher, die zum Königreich übergewechselt waren, lagen ihm genug in den Ohren. Es war schade, daß die begehrenswerten Frauen so oft gefährlich und immer ehrgeizig sind! »Madame, man sagt, Sie organisieren mit Fleiß und Erfolg die Geheimstafetten St. Leu – Elba und Elba – St. Leu.«

Sie lachte. »Aber wie sollte ich, Väterchen Zar – dazu lassen Sie mir ja gar keine Zeit!«

Doch er war verkühlt. »Seien Sie vorsichtig, Hortense, es gibt Grenzen.«

 

Hortense mochte zu weit gegangen sein. Sie gehörte zu den Menschen, für die die Grenze nur die Lockung ist, sie zu überschreiten. Die Mutter Josefine gehörte auch zu ihnen, aber sie tat es aus Schwäche, die Tochter aus Kraft des Lebens. Josefine überschritt dann die Grenze des Lebens, weil der Mai-Abend sehr kühl war, das Kleid sehr dünn, die Lunge immer schon anfällig, Alexander aber, der mit ihr im Garten von Malmaison spazieren ging, stundenlang, ein zu schöner Mann, ein zu mächtiger Mann und in Hortense zu vielsagend verliebt, um ihm zu gestehen, daß man friere und von der Promenade genug habe. So kam die Lungenentzündung und das schnelle Ende. Hortense traf es sehr; denn sie liebte die Liebenswerte und war nicht immer gut zu ihr gewesen. Die Staatsraison ging zuweilen vor, der Ehrgeiz immer, bis zu letzt. Wenn man wollte, war die Pneumonie eine Folge der gewagten Spekulation mit Alexander, auf den sie jetzt doch schon wieder weniger rechnete, als auf den gefangenen Gott zu Elba. Man solle erst weinen, wenn er tot ist, hatte das unheimliche Kind gesagt. Jetzt war Josefine tot und man weinte wieder; aber N lebte noch, die Zeit lebte noch, man hatte sich in der Hand zu halten. Alexander, Trauerfällen abgeneigt, aus Höflichkeit schuldbewußt und aus Erfolglosigkeit, vielleicht auch aus Vorsicht allmählich desinteressiert, fuhr bald darauf nach London und dann nach Wien zum Kongreß, um Europa einzurichten. Hortense überschritt auch die Grenze der Stadt Paris und residierte wieder im Palais Cerutti (oder konspirierte in St. Leu), kaltblütig und unangreifbar durch die neue Europa-Legende der großen Zarenliebe.

Es regte sich auch unentwegt der Exgatte und Exkönig Louis mit seiner Forderung auf den Sohn und vielen Ultimata, die Hortense wenig beachtete. Im Herbst aber kam ein Brief: Rußland sei groß und der Zar sei weit, so weit vom Bett, daß man sich mit ihm nicht mehr werde zudecken können, der Vater, der sein Kind wolle, werde jetzt prozessieren und die bourbonischen Gerichte mit so fetten und zum Teil sogar noch unbekannten Hortense-Skandalen in Nahrung setzen, daß es das ganze ehemalige Weltreich des großen Bruders aufstoßen werde. Ob sie des ferneren wisse, daß zur Zeit die Gräfin Walewska als Kaiserin von Elba und das Söhnchen Florian-Alexander-Joseph als kleines N und Kronprinz zu Portoferraio residiere. Man habe nun einmal zahlreiche Konkurrenz …

Hortense las den Brief nicht weiter und zerriß ihn wie die früheren. Nur die Energie der Bosheit regte sie auf, nicht die Nachricht von Elba, die für sie keine Neuigkeit war, aber eine boshafte Uebertreibung, wie sie wußte. Die Walewska war mit ihrem kleinen N nur zwei Tage auf Elba gewesen und dann wieder fortgeschickt worden. Der Kaiser hatte anderes im Sinn als aufgewärmtes Idyll – Hortense wußte es. Die Konkurrenz fürchtete sie weniger denn je, den Napoleoniden war die Zeit so ungnädig wie möglich, ihr aber nicht; denn gerade diese Dinge standen gut: die Wienerin war, wo sie hingehörte: in Wien, und der König von Rom war schon die Stufenleiter hinuntergestiegen, hieß jetzt Prinz von Parma und wurde in der Hofburg oder in Schönbrunn von der Wiener Polizei, die ausgezeichnet sein sollte mit gebührendem Eifer, überwacht. – Die Zeit arbeitet für mich, dachte Hortense; aber auch der lahme Briefschreiber, wahrhaftig ein Napoleon der Bosheit, glaubte, sie arbeite für ihn.

 

Dann tat die Zeit einen Sprung, lief ihr fort und überraschte selbst sie mit der Wendigkeit des Geschehens. Der Winter war ziemlich ruhig vergangen, die Stafette Elba – St. Leu arbeitete schlechter als die in umgekehrter Richtung und stockte schließlich. Man schien noch ein wenig müde zu sein, noch nicht entschlossen – Hortense blieb ruhig in Paris: man würde sie schon rechtzeitig benachrichtigen, wenn es so weit war. Dann würde sie mit den Kindern angeblich nach St. Leu gehen, in Wirklichkeit nach Lyon und auf ihn warten oder sich in die Schweiz schlagen – nein, sie wird auf ihn warten; denn es wird gelingen.

Es gelang, und der Schlag traf sie unvorbereitet. Sie kam vom Bois de Boulogne, es war in den ersten Märztagen, der Frühling wollte deutlich werden und Hortense trug sich mit lyrischen Gedanken, nach langer Zeit wieder. Auf den Champs Elysées begegnete sie einer Equipage mit einem Herrn, der den Hut zog, mit dem Hut Winkzeichen gab und zu alledem »Halt!« rief. Der Herr war der englische Gesandte, also ein Lord, der sich im allgemeinen zu benehmen wußte. »Halt!« befahl auch Hortense, etwas unruhig. Beide Wagen hielten. Der Lord stieg aus, ein Herr mit weißen Haaren und rotem Gesicht, ein augenscheinlich gesunder und jeder Aufregung abholder Herr. Das kühle Gesicht beruhigte sie, auch die gemessene Art, mit der er sich näherte. – Es wird nichts sein, dachte sie, er wird, mit seinem kleinen Spleen behaftet, für heute abend absagen oder nochmals zusagen. – An diesem Abend hatte sie Empfang mit musikalischen und deklamatorischen Einlagen. – Er wird der Singerei ausweichen und nur zum Whist kommen, dachte sie und lächelte schon. Der Lord blieb ernst und förmlich und sah, den hohen Hut in der hellgelb behandschuhten Hand, sehr gut aus.

»Sie wissen, Madame?«

»Was?« flüsterte Hortense und machte die großen Augen. Mein Gott, sie wußte so viel, es konnte dies und jenes sein, Nachricht aus Wien, von Wichtigkeit für sie, neue Offensive des Querulanten Louis-Vater, Skandal oder Skandälchen, gar eine aufgegriffene Stafette – es konnte so viel sein: es brauchte nicht das Eine zu sein …

»Man glaubt,« sagte der Lord und sah ihr unberührt in die berühmten Augen, »man glaubt es allgemein … Kurz, ich bewundere Ihre Ausfahrt heute.«

»Aber was ist denn – um Gottes …«

»Ich bin doch kein bourbonischer Polizei-Agent, Madame,« sagte der Lord und schüttelte etwas den Kopf, »im Gegenteil, ich meine es mit Eurer Majestät gut, jedenfalls besser als die Regierung, die die alliierten Missionen soeben in Kenntnis gesetzt hat …«

»Elba!« flüsterte sie und war sehr blaß.

»Nicht mehr Elba, Madame: Landung bei Cannes. Und Ihre Ueberraschung ist recht eindrucksvoll – aber die Regierung braucht begreiflicherweise einige Pfänder oder Geisel oder wie man es nennen will. Das wollte ich Eurer Majestät sagen.«

»Danke,« sagte Hortense und preßte die Handfläche zusammen.

»Nur die Regierung weiß es bisher, und die Missionen,« wiederholte der Lord, »die Oeffentlichkeit noch nicht. Es kann sein, daß das Volk die Regierung und die Missionen totschlagen möchte, wenn es unterrichtet ist. Deshalb muß die Regierung die Pfänder sehr bald in die Hand bekommen.«

»Danke,« sagte Hortense, schluckte und fügte hinzu: »Kommen Sie heute abend, Exzellenz? Die Grassini singt.«

Der Lord hob den Kopf, die Krähenfüße unter den klaren Augen tanzten ein wenig und er lächelte endlich. »Wonderful,« sagte er nicht ganz höfisch, aber ehrlich.

 

Sie sah am Abend sehr schön aus und schien durchaus bei der Sache. Die Grassini, jetzt zwar über vierzig, aber vor zwanzig Jahren eine Göttin, sang besser als sie aussah; man konnte sagen, ihre Stimme sei etwa zehn Jahre jünger als sie. Doch nicht diese Daten machten sie zur Sensation des bourbonischen Paris von 1814, sondern die Gloriole napoleonischer Liebe: sie war einmal die Freundin des Ersten Konsuls gewesen und war ihm sogar, übrigens zu seiner ehrlichen Freude, mit einem Geigenvirtuosen durchgegangen. Daß die schöne Napoleonidin Hortense die schön gewesene Konsulin Grassini auftreten ließ und ihr für drei Lieder tausend Franken zahlte, gefiel der alten und neuen Gesellschaft über die Maßen. – Sie hat Geist, sagten sogar die Damen des Faubourg St. Honoré und meinten nicht die Sängerin.

Es war bemerkenswert viel fremde Diplomatie anwesend, alle alliierten Gesandten, Liberale der alten und etliche Renegaten der neuen Aristokratie. Keiner schien das große Geheimnis der Landung zu kennen – vielleicht wußte es jeder. Sie plauderten, hörten Musik und Corneille, klatschten Beifall und hatten große Haltung. Keiner schien Hortense besonders zu beobachten und nach den Gedanken hinter dem schmalen Stirnchen neugierig zu sein – vielleicht dachte sich jeder seinen Teil. Die Diplomaten, Auguren von Beruf und die einzigen, die sich an diesem Abend ein Besserwissen erlauben konnten, zwinkerten sich zu. »Ihr Mut ist napoleonisch,« flüsterte der Russe seinem englischen Kollega ins Ohr. »Ja,« lächelte der Lord, »und ihr Aufgebot unserer Exterritorialität ist hortensisch.« In der Pause nach den Darbietungen war sie verschwunden. »Gebe Gott, sie entwischt«, sagte der Russe; »aber die ganze rue Cerutti steckt voll Kriminalpolizei …« – »... die auf unseren Abmarsch wartet,« lächelte der Lord; »aber wir haben Zeit.«

Die Kinder waren schon angezogen, Charles schwätzte aufgeregt, Louis war still. Hortense ging mit ihnen und der Kinderfrau durch den Garten. – Je weniger er spreche, sagte sie zum Aelteren, desto länger dauerten die Ferien, ganz ohne den Abbé Bertrand, den Hauslehrer, ohne Latein und Rechtschreiben und Arithmetik. »Dann halt den Mund!« befahl Louis, der nicht fürs Lernen war. Das Pförtchen zur rue Taitbout war schon offen, ein Diener wartete und meldete, daß der Fiaker hundert Schritt weiter bereit stände. »Wohin …« wollte Charles fragen. Louis gab ihm einen Rippenstoß. »Zur alten Mimi,« sagte Hortense, »ihr wißt, die backt die besten Omelettes.« Mimi, Kreolin aus Martinique, Hortenses Amme, wohnte auf dem Boulevard Montmartre. Hortense küßte die Kinder und wartete, bis sie den Fiaker davon rollen hörte. Dann kehrte sie zur Gesellschaft zurück.

»Da ist sie wieder,« sagte der Russe zum Lord, »es ist ihr nicht gelungen.« – »Dafür sieht sie sehr vergnügt aus,« meinte der Lord. – »Marschall Ney hat den Oberbefehl der Truppen gegen ihn,« flüsterte der Oesterreicher. – »Vielleicht wird er den Oberbefehl an ihn abgeben,« lächelte der Lord. – »Vielleicht weiß es Hortense,« lächelte der Russe.

Man spielte Whist. Die Zeit verging. Gäste gingen. Die Diplomatie blieb, ritterlich, aber leise gähnend. Was sollte werden? Man konnte nicht die ganze Nacht im Palais Cerutti bleiben.

Hortense kam lächelnd und führte den englischen Gesandten in eine Nische. »Exzellenz, ist Ihre Frau sehr eifersüchtig?«

»Wieso?« lachte der Lord.

»Ich habe die Absicht, mit Ihnen nach Hause zu fahren.«

»Wonderful!« lachte der Lord.

»Ich werde mich revanchieren,« lächelte Hortense, »wenn in Paris die Engländer totgeschlagen werden.«

Hortense, irgend eine verschleierte Dame in einem Pelzcape, verließ am Arm des Lords das Palais Cerutti. Als die letzte Karrosse abgefahren war, besetzte die Polizei das Haus.

 

Hortense blieb nur die Nacht und den folgenden Tag auf der englischen Botschaft. Dann fand man für sie ein Dachzimmer in einem Haus auf dem Montmartre, nicht weit von den Kindern. Das Versteck war gut gewählt, weil im gleichen Haus ein Abteilungsführer der Geheimpolizei wohnte. So war es ein sehr bourbonisches, beinahe ein amtliches Haus und wurde nicht durchsucht. Außerdem ist es möglich, daß der Kommissar von Anfang an wußte, wer über ihm wohnte, und Augen und Ohren zudrückte, mit guter politischer Witterung begabt, vielleicht auch gut bezahlt. Der Polizeipräsident erklärte der Regierung, daß die Dame Beauharnais und ihre beiden Söhne unauffindbar seien, und jeder Tag, der kam, tat dem Sucheifer Abbruch. Die Zeit-Uhr schlug eine phantastische Stunde, N hing wieder an ihren Gewichten. Der Marschall Ney hatte ihn umarmt, wie der Sohn den Vater, die Soldaten rasten vor Liebe für ihn und vor Glück, mit ihm gegen den Norden zu marschieren, der sie eben gegen ihn geschickt hatte, die Menschen längs des Triumphweges jubelten zum Himmel, als käme er von dort, die Städte öffneten sich wie Schleusen, damit er, göttliches Element, durch sie hindurchströme. Grenoble hängte die Stadttore aus und legte sie ihm zu Füßen. Hortense in der Bodenkammer empfing wenige Menschen, aber durch sie die unerhörten Nachrichten. Sie stürmte kreuz und quer durch den engen Raum, im Gleichschritt mit ihm, voll seines großen Glücks. Der Polizeikommissar unter ihr hörte ihren Siegesmarsch, wenn er zu Hause war. Er war immer öfter zu Hause und beobachtete die Decke und seine wackelnde Hängelampe mit unruhigem Gesicht. Das war gegen Ende der letzten von den beiden Wochen, die sie sich zu verstecken hatte. Schon wackelten alle royalistischen Einrichtungen, als marschierte Hortense über allen Köpfen, die Gesichter wurden weiß und die weißen Kokarden unsichtbar. Am 20. März floh Bourbon, am gleichen Tag war der Kaiser in den Tuilerien, am gleichen Tag verließ Hortense ihr Versteck und holte die Kinder.

Der Knabe Louis kam mit ihrer Begeisterung nicht mit. Es war bei der alten Mimi eine schöne Zeit gewesen, mit köstlichen Eierkuchen, mit Negermärchen, Spielen aller Art und ohne Abbé Bertrand. »Louis, der Kaiser ist wieder da!« Das Kind blieb unzufrieden. »Das kommt und geht,« meinte er und empfing eine Ohrfeige; denn Hortense war jähzornig und an diesem Tag unbeherrscht. Das Kind weinte nicht, rieb sich die Wange, sah die Mutter an und hißte sein Lächeln. »Pardon,« sagte er, »das geht und kommt.«

Auf der Straße erlebte sie die große Enttäuschung; auch Paris kam mit ihrer Begeisterung nicht mit. Die Stadt schien verängstigt und schwunglos, die Menschen, nicht eben viele, waren eher still als laut, eher unmutig als glücklich. – Hatte man genug?

Und dann: selbst der Gott war nicht begeistert. Hatte ihn, nach den Kult-Exzessen der Provinz, die Kühle von Paris ernüchtert? War der Gegensatz zu kraß und zu vielsagend? Oder hatte auch er genug? Er war sehr blaß und aufgedunsen. Er begrüßte Hortense ohne Herzlichkeit. Er machte eine matte Handbewegung der Stadt zu und tat einen ungöttlichen, unkaiserlichen, ganz demütigen und wehmütigen Ausspruch: »Sie haben mich kommen lassen, wie sie die anderen gehen ließen.« Hortense fühlte, wie das Herz aussetzte und dann bis in die Schläfen stach: sie sah das unheimliche Kind an, das geohrfeigte, das das gleiche gesagt hatte, nur kürzer. N sah das Kind Louis an, Louis mit dem Zunamen Napoleon, kaiserlichen Prinzen. Der Kaiser schüttelte den Kopf, lächelnd: »Nicht gerade das gehörige Gesicht,« sagte er leise. Hortense schwieg; vielleicht hatte sie es nicht gehört. Das Kind hatte immer Angst vor ihm und stand verschüchtert. Der Dichter Benjamin Constant, der für den umgewandelten Kriegsgott eine Verfassung nach englischem Muster ausarbeitete, sagte: »Sie müssen sich zeigen, Sire.« Hortense wurde plötzlich rot und bat mit enger Stimme: »Sire, mit Louis!« N sah wieder das Kind an und dann den Aelteren, den Schönen, der vor Aufregung zitterte. Er nahm ihn bei der Hand und ging zum Balkon. »Das ist nicht Louis,« flüsterte Hortense und hatte Tränen in den Augen. N überhörte es und trat mit dem Anderen auf den Balkon. Es wurde gehörig gebrüllt; aber die Brüller waren von dem Bataillon Kaisergarde, das auf dem Carrouselplatz kampierte, abkommandiert.

 

Ende und Anfang

Schein der hundert Tage: die Sonne war künstlich aufgezogen, die Zeit hatte genug und ließ sie fallen. Sie tat der Erde nicht mehr weh, nicht mehr, als ein ausgebrannter Feuerwerkskörper. Die Erde aber trug die zehn Millionen Tote, die die Legende vom gekrönten N gekostet hatte: auch sie hatte genug. N kam von Waterloo, verwirrt und vertan, vergilbt und verquollen, verkroch sich im Elysée und dann in Malmaison. Dort erwartete ihn Hortense: sie wollte bei ihm sein. Sie blieb nicht lange; als sie zurückkam, schien sie gealtert. Ein armer Mensch am Ende ist ein Anblick, der weh tut. Ein armer Mensch als Ende des Mythos vom Heldengott kann einen Glauben zum Wanken und eine Gläubige zur Verzweiflung bringen.

Hortense wollte nicht verzweifeln, sie hielt still. Sie ließ sich nicht gehen, weil sie das gute Beispiel für viele zu sein hatte, nicht zuletzt für ihren jüngsten Sohn. Blüchers Dragoner waren schon vor Paris. Der Exkaiser, in Malmaison nicht mehr sicher, ließ Madame Mère, Hortense und die Kinder hinauskommen, um sich von ihnen zu verabschieden. Er tat es merkwürdig kurz und lieblos. »Adieu, Mutter, adieu, Hortense, adieu, mes petits.« Er sagte es, als käme er in acht Tage wieder. Das war doch von neuem die alte Größe! – Die Tür ging auf, zwei Knaben wurden hineingeschoben, Alexander Walewski und Leon. Sie standen entsetzlich einsam und hilflos; ihre Mütter mußten draußen bleiben, sie durften sich nicht nach ihren Müttern umdrehen. Hortense erstarrte. Charles und Louis musterten die beiden Kinder schonungslos, ohne zu wissen, wer sie waren. Der Kaiser betrachtete seine beiden Söhne; aber er wurde nicht wärmer. »Adieu, Alexander, adieu, Leon, seid artig.« Das war alles. Er sagte es so kalt und schon entfernt von allen, daß alle kalt blieben wie er. Plötzlich aber weinte das Kind Louis, eigentlich ohne Anlaß. N strich ihm über den Kopf. »Er hat wenigstens ein gutes Herz,« sagte er. Weil das Kind weinte, weinten die Frauen auch, an die Trennung erinnert, Charles auch, als er die Mutter weinen sah, die beiden Napoleoniden auch; denn ihnen staken die Angsttränen lange schon im Hals. N konnte nicht weinen und ging aus dem Zimmer.

»Wer waren die beiden Jungens?« fragte Louis auf der Rückfahrt. Hortense wollte es überhören, Louis ließ nicht locker.

»Ich weiß nicht genau,« meinte sie verlegen, »ich glaube zwei Pagen.« Sie wollte ablenken. »Warum hast du mit einemmal geweint, Loulou?« fragte sie, bereute es schon und wollte die richtige Antwort selber hinzufügen. Das Kind aber, lächelnd, sagte bereits: »Weil keiner weinte, auch die beiden Pagen nicht.«

 

N fuhr an die Küste. Der schöne Zar von Rußland zog zum zweiten Mal in Paris ein, mit ihm die Alliierten und Bourbon. Hortense hielt sich still: sie tat nicht groß und sie gab nicht klein bei. Sie wußte nicht, welches ihr Schicksal sein würde; aber sie kannte die Art, das Schicksal auf sich zu nehmen – die große Haltung, die der große Akteur im Finale vermissen ließ. Die Bonapartes waren in alle Winde geweht: sie wenigstens wollte geradestehen, und wenn es auch nur für das Kind war, das still und aufmerksam neben ihr lebte. – Ob er schon weiß, daß ich mutig bin, dachte sie, und daß Mut einen Sinn hat? Sie stand auf der Gartenterrasse zur Rue Taitbout und sah die Granden nach St. Denis fahren, um dem König zu huldigen. Sie stand und ließ sich von dem Plebs, der sie im Nu erkannte, niederschreien. Sie stand an einem Fenster zur Rue Cerutti und hörte mit eisigem Gesicht die Katzenmusik und das Lied vom Roi de Hollande und den falschen Louis. Sie wartete, sie lief nicht über und nicht davon.

Hoffte sie auf Alexander? Der Zar ließ sich bei ihr nicht sehen, er blieb desinteressiert und war etwas mißgestimmt; denn nicht er, sondern Wellington war der Held des Tages. Auch der Lord war ein schöner Mann, nur etwas geizig, und erwarb ziemlich billig die Sängerin Grassini, die einstmals im Bett des Ersten Konsuls lag. Diese Nachfolge genügte ihm, an Hortense dachte er nicht. Alexander dachte immerhin an sie und beauftragte Nesselrode, Brutalitäten zu verhüten. Es gelang nicht ganz. Hortense, Exkönigin, jetzt Herzogin von St. Leu, brauchte auf das Schicksal nicht lange zu warten.

Der preußische General von Müffling, Befehlshaber von Paris, stellte ihr den Ausweisungsbefehl zu: sie habe die Hauptstadt innerhalb zwei Stunden und Frankreich innerhalb fünf Tagen zu verlassen. Das war hart; denn sie hatte noch keine Geldmittel flüssig gemacht. Sie erreichte nur eine Aufenthaltsverlängerung bis zum Abend und bat auch nicht um mehr. Sie organisierte im Nu einen Ausverkauf ihrer Gemälde und Kunstsammlungen. Unter den ersten Käufern, die sich einstellten, war der Fürst Talleyrand, jetzt bourbonischer Minister. Er ging am Krückstock, übrigens einer Kostbarkeit aus Nashorn mit Goldgriff und Edelstein-Intarsien, weil das Rückenmark Schwierigkeiten zu bereiten anfing. Aber er ging so anmutig am Krückstock, daß schon damals alle Viveurs anfingen, krumm à la Talleyrand die Knie zu knicken und sich auf schöne Stöcke zu stützen. Er lächelte charmant, legte für einen Watteau siebzehntausend Franken an und sagte beiläufig: »Dem kleinen August de Morny geht es recht gut, Madame.« Hortense sah den Verhaßten an. »Wer soll das sein? Und was geht es mich an?« Der Fürst humpelte diskret zum Tisch mit den Fragonard-Stichen. »Ach Gott, Madame, sozusagen mein Enkelchen – und ob es Sie angeht … nun ja, ich habe ein bißchen zur linken Hand einen hübschen Jungen namens … vielleicht erinnern sich Majestät an einen gewissen Flahaut …«

 

An diesem Abend, den 17. Juli, verließ sie mit den Kindern Paris. Der österreichische Generalissimus kommandierte einen seiner Adjutanten, einen jungen Wiener Grafen, als Begleiter und Schützer ab. Der Graf schien ein ernster, gewissenhafter Herr und dachte wohl nicht an seinen Kollegen Neipperg, der in Wien und in Parma die Exkaiserin zu begleiten und zu schützen hatte und es so trefflich tat, daß die Frau als erste auf der dröhnenden Welt den Kaiser vergaß und schon vor Waterloo ihren Frieden hatte, gut schlafend, wenn auch nicht allein. Hortense dachte daran und behielt das eisige Gesicht, mit dem sie sich von den Angestellten und dem salutierenden Stadtkommandanten verabschiedete.

Der Wiener Graf war kurzsichtig und sah sie nicht viel an. Aber er war brav und schützte sie in Dijon vor bourbonischen Gardisten, die mit dem Bajonett fuchtelten und die Historie auf eigene Faust dramatisieren wollten. Dafür schützte Hortense in Dôle den Wiener Herrn vor bonapartistischen Bauern, die »Vive l'Empereur!« brüllten, während es noch in den Dijoner Straßen vor Königshochs gellte, und gegen den Grafen vorrückten, um ihm die vermeintliche Gefangene zu entreißen. Das Land war nicht über einen Leisten zu schlagen. Hortense wollte es sich merken und wurde zu ihrem Kavalier freundlicher.

Sie überschritten die Schweizer Grenze. Kam jetzt die Ruhe, die ihr nötiger war, als sie selber es wußte? Die Genfer Regierung versagte ihr die Aufenthaltsbewilligung und befahl ihr, sofort abzureisen. »Wohin?« fragte sie den Wiener Grafen, der verlegen die Schultern hob. »Werfen Sie mich in den See,« sagte Hortense und wollte lächeln, »irgendwo muß ich schließlich sein.«

Sie fuhren nach Aix. Man war wieder in Frankreich. Vielleicht dachten die Savoyarden ähnlich wie die Bauern von Dôle – man konnte es nicht wissen. Der Wiener Graf reiste nach Paris, um sich neue Instruktionen zu holen. Da er nicht wiederkam, schienen die Alliierten entweder keinen Rat oder kein Interesse mehr für die Frau zu haben. Die Unruhe griff Hortense an; sie ließ sie nicht nach außen dringen: so höhlte sie sie innerlich aus. Der Zustand von Aix war zu aufregend still, um haltbar zu sein. Die Leute waren unfreundlich, mehr noch: sie sahen wie Feinde aus, die immer nervöser auf den Befehl zum Angriff warten. Doch Hortense blieb, wie gelähmt. – Warum bin ich in Aix geblieben? fragte sie sich später; gibt es ein Verhängnis, dem man nicht entlaufen will?

Der Offizier kam, Hortense erkannte ihn sofort. Es war der vornehme und zugleich unabweisbare Kapitän Armandi, Beauftragter ihres Mannes – der Offizier von der Märznacht 1814. Er kam, als sei es gestern gewesen, daß er ihr Louis' anmaßliche Depeschen überbrachte. Hortense war nicht einmal überrascht, nur das Herz setzte aus und stieß dann zu – sie kannte das schon. Armandi sagte mit höflicher Entschiedenheit: er müsse ihr Ungelegenheit – nein, er müsse ihr Schmerz bereiten und hoffe nur, daß sie damit gerechnet habe. – Hatte sie damit gerechnet? Sie starrte auf das Dokument, das er ihr überreichte: das Urteil des Pariser Appellationsgerichts, das den Knaben Napoleon-Charles de St. Leu dem Vater zusprach. »Bitte seien Sie vernünftig, Madame,« sagte Armandi, »ich habe Vollstreckungs-Vollmacht, und unten stehen ein Dutzend Stadtsoldaten. Wenn es ganz schnell geht, scheint mir, geht es am sanftesten.« Es ging ganz schnell, Hortense war sehr vernünftig. »Du kommst zu deinem Vater, Charles, freust du dich?« Der Aeltere freute sich, weil es eine ferienverlängernde Abwechslung war (der Abbé Bertrand gehörte zur kleinen Suite der Verbannten) oder weil er an eine Husarenuniform dachte, die er nicht mitnehmen durfte, oder weil er kein anhängliches Kind war, und schwatzte aufgeregt. Der kleine Louis war merkwürdig traurig. Ob er den Bruder liebte, war noch nicht klar geworden. Jetzt umklammerte er ihn, rief in einem fort und wie beschwörend: »Du freust dich nicht! Du freust dich nicht!«, bis Charles zu weinen begann und nicht mehr fort wollte. Jetzt ließ ihn Louis los, sah die Mutter sonderbar an, zugleich befriedigt und schmerzlich, und weinte auch. Hortense hielt an sich, ihr Kinn zitterte. Das ganze dauerte eine halbe Stunde: dann war Armandi mit dem Jungen fort. Hortense nahm Louis' Kopf zwischen die Hände, ihre Zähne schlugen zusammen, sie fror auch. Es hörte noch nicht auf: es kam der Maire von Aix mit dem Ausweisungsbefehl. Hortense nickte nur, weil sie nicht sprechen konnte und vor dem plumpen Mann nicht weinen wollte, auch nicht vor Louis, der noch immer weinte und jetzt auch mit den Zähnen klapperte, als täte er es ihr zu Liebe.

In der Nacht und im Bett wollte sie weinen und dann nachdenken. Es verlangte sie nach dem einen und nach dem anderen. Der Schmerz war groß; aber dahinter war das andere, das kein Schmerz mehr war. – Doch es ging nicht, sie dachte nichts, es kam eine leidvolle und beängstigende Stockung in sie, es fuhr in sie, mit Wechselschlag von Kälte und Hitze und schiefen Sprüngen des Herzens, als liefe das Leben ab, holprig und grob. – Das war es nicht, was sie bedenken wollte, nicht das Ende, sondern einen Anfang, den großen Anfang mit dem einen Kind, das neue Leben zu zweit, nachdem die alte Zeit mit dem Aufputz von Menschen und Süchten zerschlagen war wie eine alte Form. – Sie rang mit sich, um sich vom Ballast zu befreien, sie stürzte und sprang auf, immer wieder – es war furchtbar, daß man nicht von der Stelle kam, daß man zurückglitt, rückwärts und blind, in den Eiskeller der alten Zeit, in den kochenden Kessel der alten Zeit, zugleich unverwundbar und überempfindlich, und das Kind immer wieder verlor, aber nicht das Gefühl, daß sie für das Kind da war, nur für das Kind, für den Namenlosen – wie hieß das Kind – Roi de Rome, Walewski, Morny, Léon – wo war das unheimliche Kind, leises Kind, dünnwandiges Kind – strich es schon wieder die Grenze des Lebens entlang? – Hortense sprang aus dem Bett, mit einem Schrei, schlotternd vor Angst. Louis wimmerte, faselte, fieberte. Sein kleines Gesicht war gelb, das Weiß der Augen war gelb.

Der Maire von Aix mußte die Ausweisung um acht Tage verschieben, weil die Frau ein sogenanntes Nervenfieber und der übriggebliebene Sohn Gelbsucht hatte, und dann nochmals acht Tage zugeben, bis der Arzt sie für reisefähig erklärte. Es war peinlich, weil Paris auf die Vollzugsmeldung drängte und weil man für eine Staatsgefahr verantwortlich wurde, die man nicht recht begreifen konnte. Endlich fuhren sie ab, und der Maire hatte die schwerste Zeit seines Lebens hinter sich.

Hortense fuhr nach Lausanne; die Behörde bat sie, eine möglichst kurze Station zu machen. Sie ging nach Bern und wurde weiter geschickt. In der Stadt Baden verwies man sie nach Zürich, in Zürich wies man sie aus. Sie reiste nach Konstanz, weil die badische Großherzogin eine Bonapartin war wie sie. Es kam ein Kammerherr aus Karlsruhe, der ihr sagte, daß die Abmachungen der Alliierten mit Bourbon ein Verbleiben der Herzogin in Baden leider unmöglich machen.

»Louis,« sagte sie und versuchte zu lächeln, »irgendwo müssen wir schließlich doch sein. Wollen wir in den Bodensee springen?«

Das Kind dachte nach und schüttelte dann den Kopf. »Der Bodensee gehört sicherlich auch irgendeinem Alliierten. Man wird es uns nicht erlauben.«

Der Kanton Thurgau, schon aus Abneigung gegen den Kanton Zürich, nahm sie auf.


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