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Der Brief der Mutter

1

Wie furchtbar traurig, daß ein junger Mann und ein junges Weib, die einander lieben, nicht gut zueinander sein können.

Was für ein unglückseliger Instinkt ist es, der die beiden Geschlechter gegeneinander aufreizt, sobald die Leidenschaft sie nicht mehr verbindet?

Am allerhäßlichsten ist wohl die Übergangszeit, wenn der Trieb in ihnen noch nicht erstorben ist und sie, mit Haß in ihren Herzen, wissend, daß sie einander nachher noch weit mehr hassen werden, getrieben von rein animalischem Drang, sich einander immer wieder in die Arme werfen und ihre Erniedrigung mit lügenhaften Worten von Versöhnung und neuer Liebe ausschmücken.

Großer Gott, daß Laura und ich, die wir einander geschworen hatten, der Welt eine glückliche Ehe zu zeigen; geschworen, auch wenn wir alt und häßlich würden, in Güte und Verständnis und schönen Erinnerungen an unsere Jugend zusammenhalten zu wollen – daß wir jetzt, sieben Jahre nach unserer Hochzeit, so weit sind, daß wir in Gegenwart Fremder unserer ganzen Selbstbeherrschung bedürfen, um unsere Nerven im Zaum zu halten und nicht mit den giftigsten Worten aufeinander loszufahren – wie empörend, wie sinnlos ist das. Und kaum sind wir allein, bricht das Unwetter los. Wir zerfleischen einander, wir schlagen uns unsere Klauen so böse und tief wie nur möglich ins Herz. Es ist kein Gewitter, das reinigt. Es ist ein Unwetter, das, wenn es nicht mehr kann, wenn es sich müde getobt hat, in derselben schwül vergifteten Luft unheilschwanger fortbrütet.

Seit Lauras und meine Ehe ein so widerwärtig böser Zweikampf geworden ist, habe ich begonnen, die Ehen der anderen geradezu krankhaft zu belauschen. Vorsichtig habe ich versucht, gleichaltrige verheiratete Freunde auszuforschen. Sie lächelten Verlegen oder lachten frivol. Als jedoch einer Äon ihnen kürzlich naiv aufrichtig sagte: »Wie beneide ich dich und Frau Laura – wie gut habt ihr es noch immer zusammen!« – geriet ich in die tiefste Verzweiflung. Gerade von ihm und seiner Frau hatte ich geglaubt, daß sie in einer wirklich glücklichen Ehe lebten. Anscheinend spielten Laura und ich gut Komödie. Aber doch wohl kaum besser als die andern.

Ich habe einen um acht Jahre älteren verheirateten Bruder. Er ist Direktor einer Lebensversicherungsgesellschaft, ist dick, kahlköpfig, und hat behäbige Beamtenallüren. Seine Frau ist ebenso dick wie er. Wenn sie Sonntags die Strandpromenade oder die Frederiksbergallee entlangwatscheln, mit fünf reingewaschenen, schlaksigen Kindern auf den Fersen, ohne etwas anderes zu reden als: »Gib acht, Ludowika, die Elektrische!« oder »Paß auf, Gustel, ein Radfahrer!« ähneln sie einem Gänsepaar, das eine Brut langbeiniger Gänschen spazieren führt. Nie habe ich gehört, daß sie sich gezankt haben, nie aber auch sie ein verliebtes Wort wechseln hören. Aber sie sind sicher auf ihre Art glücklich.

Ich kenne auch einige Pastorenehen, die bestimmt ohne Stürme verlaufen sind. Und als ganz junger Mensch verkehrte ich bei einem alten pensionierten Offizier, der sich ein Gut gekauft hatte. Trotz seinem hohen Alter – er mochte fünfundsechzig oder siebzig Jahre alt sein – war er noch ein schöner, stattlicher Mann, während seine Frau an Rheuma und Asthma litt und nur auf zwei Stöcke oder auf seinen Arm gestützt zu gehen vermochte. Aber wie ritterlich und fein behandelte er sie, ganz als sei sie noch immer seine Angebetete. Und wie zärtlich und dankbar und verliebt sah sie ihn an und sprach sie über ihn. Wenn ich an diese Ehen denke, bin ich fest überzeugt, daß sie nicht so gewesen sind wie meine Ehe oder die Ehen, die ich sonst überall in meinem Bekanntenkreise finde.

Und wenn ich an das Leben in meinem Elternhause zurückdenke, habe ich auch den Eindruck einer guten glücklichen Ehe.

Wie kommt es, daß fast alle modernen Ehen entweder so rasch gelöst werden oder sich zu einer Hölle gestalten?

Wie ist der Geschlechtshaß in die Welt gekommen? Sind wir modernen Menschen bösartiger als die Menschen früher?

Man sollte doch gerade glauben, daß wir in unserer Zeit weit größere Voraussetzungen hätten, in der Ehe glücklich zu werden, als die früheren Generationen. Wir Männer haben die Frau respektieren gelernt, wir haben ihr dieselben bürgerlichen Rechte eingeräumt, die uns früher allein zustanden. Wir wissen, bevor wir heiraten, über die Ehe und ihre Schwierigkeiten so gründlich Bescheid. Junge Männer sprechen mit jungen Mädchen so freimütig und ehrlich, wie man es früher kaum unter gleichaltrigen Geschlechtsgenossen wagte. Wir erörtern alles mit unseren Bräuten. Wir versprechen uns, Geduld und Verständnis für einander zu haben. Unsere Ehe soll nicht, wie sie es einst war, eine Zwangsanstalt werden. Die Frau vor allem soll das Recht haben, jung und fröhlich zu bleiben, auch wenn sie verheiratet ist. Sie soll nicht ihre Jugend in Wochenbetten verbringen und eine Gänsemama werden wie meine Schwägerin. Sie soll selbst bestimmen, wann sie Mutter werden und wie viele Kinder sie haben will. Denn das wissen doch selbst diejenigen, die nicht Medizin studiert haben, daß nicht der liebe Gott uns die Kindlein schenkt.

Und dennoch!

Laura und ich sind nun so weit, daß wir überhaupt nur mehr das Notwendigste miteinander reden – zuweilen nicht einmal das. In den letzten Monaten zum Beispiel hat sie es sich angewöhnt, so oft sie Geld für den Haushalt oder anderes braucht, in meiner Abwesenheit einen Zettel auf meinen Arbeitstisch zu legen: »Ich brauche so und so viel. Leg mir ein Kuwert mit dem Geld unter den Leuchter auf meinen Schreibtisch.«

Ungefähr vor einem halben Jahr versuchten wir doch noch, ab und zu vernünftig miteinander zu sprechen. Wenn ich an jene Gespräche zurückdenke, kommt es mir vor, als wäre es ein reines Paradies gewesen. Wir hatten es beinahe gemütlich, selbst wenn der Gegenstand unserer Erörterung die Notwendigkeit unserer Scheidung war – vorausgesetzt, daß wir keine erträgliche Form für ein weiteres Zusammenleben fänden. Wir saßen, rauchten Zigaretten und tranken ein Glas guten Wein. Es gab Abende, die mit dem Gelöbnis endeten, uns zusammenzunehmen, uns Mühe zu geben, als gute Kameraden miteinander zu leben. Zuweilen konnten wir sogar über unsere eigene Torheit scherzen. Und ich ging glücklich zu Bett, nachdem wir unser Übereinkommen durch einen guten, festen Händedruck besiegelt hatten. Ein paar Tage vergingen dann ganz erträglich. Plötzlich jedoch, eines Morgens, wenn Laura schlecht geschlafen hatte, oder wenn einer von uns irgendetwas sagte oder tat, das ihre oder meine Nerven irritierte, stürzte unser lose gefügtes Kartenhaus zusammen. Und wieder standen wir mit noch schärferen Klauen einander gegenüber.

Es gab freilich auch Gespräche, die in bitterem Zorn endigten, und das einzige, worüber wir uns einigten, war, daß wir uns scheiden lassen müßten, und zwar so rasch wie möglich!

Dann kam aber das Peinliche: Die Bedingungen!

Laura hatte bei der Obervormundschaft ein kleines Vermögen, etwa 20 000 Kronen, dessen Zinsen ihre Toilettenausgaben und sonstige kleine Bedürfnisse nahezu deckten. Ich besaß kein Vermögen, verdiente durch meine Praxis jedoch ungefähr 15 000 bis 20 000 Kronen jährlich. Das Geld bei der Obervormundschaft gehörte natürlich Laura. Darüber war kein Zweifel. Unsere Einrichtung hatte zum größten Teil ich angeschafft. Daß Laura jedoch die Sachen mitnahm, die sie in die Ehe mitgebracht hatte oder die zu ihren eigenen Zimmern gehörten, war selbstverständlich. Was den Rest anbelangte, schlug ich ihr vor, da eine Teilung keinem von uns eine komplette Möblierung gegeben hätte, ihr die Hälfte der Aussteuer durch eine Barsumme zu ersetzen. Durch meinen Beruf war ich genötigt, einen selbständigen Haushalt weiterzuführen, während sie leicht in einer eleganten Pension leben konnte. Allein der bloße Gedanke, daß ich dieses oder jenes Stück aus unserer gemeinsamen Wohnung behalten sollte, erbitterte sie. Und noch ärger wurde es, wenn ich erklärte, daß ich ihr nicht mehr als 4 000, höchstens 5 000 Kronen jährlichen Unterhalt bewilligen konnte. Mit den Zinsen ihrer 20 000 Kronen hätte sie dann ein Einkommen von ungefähr 5 000 bis 6 000 Kronen, abgesehen von dem kleinen Reservefond, der ihr als Ablösung ihres Möbelanteiles blieb. Mit einer solchen Summe, meinte ich, müßte eine einzelne Dame doch anständig leben können.

Sie fand es empörend, daß mir auf diese Weise eine Einnahme von 12 000 bis 15 000 Kronen blieb, während sie nur 5 000 haben sollte. Gerecht wäre, wenn jeder gleich viel bekäme. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß ich es sei, der das Geld durch meine Arbeit verdiene, und daß sie kein schlechtes Geschäft gemacht habe, wenn sie aus einer kurzen Ehe, die in ihrer letzten Hälfte für mich eine Hölle gewesen sei, mit einem Einkommen herausging, das den Zinsen eines Kapitals von 100 000 Kronen entsprach. Außerdem müsse sie bedenken, daß, falls sie sich wieder verheirate, ihr künftiger Mann weiter für sie sorgen werde, während ich, wenn ich je so töricht sei, mich zu einer zweiten Ehe verleiten zu lassen, zwei Frauen zu versorgen hätte und der einen, die mir längst keinerlei Freuden mehr bereitete, doch nicht gut mehr als ein Drittel oder ein Viertel meiner Einnahmen überlassen könne.

Ich glaube wirklich, daß ich mit meiner Beweisführung recht hatte. Sie jedoch geriet in einen unbeschreiblichen Zustand von Aufregung. Wäre nicht alles so traurig und häßlich gewesen, so hätten ihre Gegenargumente mich zum Lachen reizen können. Besonders, wenn sie unter anderm geltend machte, daß sie doch ebenfalls ihre Arbeit gehabt hätte, da doch der ganze Haushalt auf ihren Schultern lag. Mir fehlte der überlegene Humor, dergleichen scherzhaft zu nehmen – zudem hätte ein Scherz die Diskussion wohl kaum gemütlicher gemacht. Ich sagte ihr daher nur boshaft und höhnisch, daß ich ihre Hausführung leicht mit dreißig, vierzig Kronen hätte erkaufen können, obendrein noch bedeutend besser.

Diese Scheidungsabende waren widerwärtig. Und sie endeten ohne ein anderes Resultat, als daß wir uns noch ein paar unheilbare Wunden mehr schlugen. Ernst wurde es doch nicht mit der Scheidung. Mit Rücksicht auf meine alte kranke Mutter wollte ich sie bis nach deren Tod hinausschieben. Es war ja auch möglich, daß ich Laura dann etwas bessere Bedingungen vorschlagen konnte, denn nach meiner Berechnung fielen mir 40 000 bis 50 000 Kronen als Erbe zu. Auch für Laura war diese zu erwartende Erbschaft, die in ihrer Phantasie zu einem enormen Vermögen anschwoll, ein entscheidender Grund, die Trennung nicht zu beschleunigen. Immer wieder bekam ich von ihr zu hören, daß ich selbstverständlich nur darauf spekuliere, mich ihrer noch vor dem Tode meiner Mutter zu entledigen, um sie um ihren Anteil zu betrügen. Ich machte sie darauf aufmerksam, wenn das meine Absicht sei, brauchte ich meine Mutter ja nur zu bestimmen, das Geld bei der Obervormundschaft für mich festlegen zu lassen, wie ihre Eltern es mit ihren 20 000 Kronen getan hatten. Kaum hatte ich etwas derartiges gesagt, so wurde sie vollkommen desperat. Daß ihre Eltern dafür gesorgt hätten, mir ihr Geld nicht zugänglich zu machen, sei nur begreiflich und klug gewesen. Sonst hätte ich es längst vertan. Aber empörend sei es, daß ein Mann, nachdem er die besten Jahre einer Frau mißbraucht habe, sie eines schönen Tages in Armut und Elend vor die Tür setzte, während er in Reichtum und Luxus zurückblieb und ihre Zimmer, ihre Möbel obendrein vielleicht Mädchen von der Straße, Dirnen auslieferte. Nein, keine Macht der Erde sollte sie aus diesem Hause treiben, ehe meine Mutter im Grabe lag, und ehe sie, Laura, ihren rechtmäßigen Anteil an dem Erbe bekommen hatte!

Wenn wir soweit gekommen waren, hatte ich das Gefühl, als kröchen mir schleimige Würmer den Rücken entlang. Ich sah Lauras Gesicht wie den häßlichen Kopf eines Aasgeiers auf langem, nacktem, gurgelndem Halse. Ich mußte mir Gewalt antun, um sie nicht zu erwürgen, und ich stürzte aus dem Wohnzimmer in mein eigenes Zimmer und riegelte die Tür hinter mir zu.

Ein paar Minuten lang hörte ich ihr krampfhaftes Weinen, aber mein Herz war so verhärtet, daß ich kein Mitleid empfand. Dann erstarb das Weinen in einem tiefen, etwas zu demonstrativ tiefen Seufzer. – Eine Tür fiel ins Schloß. Auch sie war in ihre bittere, haßerfüllte Einsamkeit gegangen, wie ich in die meine.

2

Meine Mutter war tot. Am Tage nach dem Begräbnis brachte mir meine unverheiratete Schwester Wilhelmine, die mit meiner Mutter zusammen gelebt hatte, einen Brief, der an Laura und mich adressiert war. Die Mutter hatte ihn ungefähr zu der gleichen Zeit geschrieben, als ich die obigen Bekenntnisse über meine Ehe zu Papier gebracht hatte. Das war wenige Monate bevor sie auf das Krankenlager sank, von dem sie sich nicht mehr erheben sollte. Sie hatte ihn Wilhelmine übergeben mit dem Auftrag, ihn erst dann an mich gelangen zu lassen, wenn sie zur Ruhe gebettet sei.

Er steckte in zwei Umschlägen.

Auf dem äußeren stand: »An meinen lieben Emil und meine liebe Laura.« Auf dem inneren stand: »Ich wünsche, Emil, daß Du diesen Brief gemeinsam mit Deiner Frau lesen mögest, ohne ihn vorher für Dich allein gelesen zu haben. Der Brief ist an Euch beide gerichtet. Keiner von Euch hat Anspruch darauf, ihn vor dem andern zu kennen. Setze Dich also an Deinen Schreibtisch, Emil, und laß Laura, während Du ihr den Brief vorliest, in dem Lehnstuhl am Fenster sitzen. Und lies ihn ohne Unterbrechung von Deiner und Lauras Seite zu Ende. Versprich mir das! Ich bin ja keine Meisterin in der Kunst des Schreibens, und mein Versuch einer Abhandlung über die moderne Ehe, richtiger – um nicht allzu unbescheiden zu sein – über Eure Ehe, verträgt es nicht, durch eingestreute Kritik und spöttische Randbemerkungen zerstückelt zu werden.«

   

Wir saßen, wie Mutter es gewünscht hatte, und ich las:

»Meine lieben Kinder! Ich brauche Dir, mein Emil, wohl kaum zu sagen, daß Du von klein auf mein Lieblingskind gewesen bist, ohne daß deswegen, glaube ich. Deine Geschwister Grund gehabt hätten, sich zu beklagen. Ich bin Euch Kindern gegenüber ja immer gewesen, was Du einmal höchst geschmackvoll eine alte Glucke nanntest. Du also warst mein Lieblingsküchlein. Du warst das Hübscheste und Begabteste meiner Kinder und außerdem immer so gut und liebevoll.

Und in Dich, Laura, habe ich mich sogleich verliebt. Wie entzückend sahst Du aus an jenem Julitag vor neun Jahren, als Emil mit Dir auf die Veranda der kleinen Villa trat, in der ich und Wilhelmine damals wohnten. Du hattest ein weißes Mullkleid an und trugst einen großen Blumenhut mit kleinen, hellrosa Rosenknospen. Ich hatte ja gar keine Ahnung und war ganz überwältigt, als Du, ohne daß eines von Euch ein Wort gesagt hatte, Dich zu mir hinunterneigtest, mich auf beide Wangen küßtest und strahlend vor Glück riefst: ›Ich bin also Emils Herzallerliebste und heiße Laura!‹

Ob Ihr noch manchmal daran denkt, wie glücklich Ihr damals wart? Ich glaube, daß ich nie ein schöneres Paar gesehen habe als Euch. Oft und oft, wenn Ihr mich besucht hattet, lag ich stundenlang in meinem Bett und lachte über all den Spaß, den wir zusammen gehabt hatten, und freute mich, wie lieb Ihr zu mir und zueinander gewesen wart. Und ich dankte Gott, daß er mich die Freude erleben ließ, meinen Lieblingsjungen mit einer so entzückenden Braut zu sehen. Hier – dachte ich – braucht man keine falsche, schmeichlerische Wahrsagerin zu sein, um Glück zu prophezeien.

Eure junge Heiterkeit machte auch mich beinahe übermütig. Erinnert Ihr Euch, wie oft wir – ein bißchen unartig – über Franz, seine Frau und seine glattgekämmten Kinder lachten? Wir sagten, wie langweilig es bei ihnen sein möchte. Ich alte, verliebte Törin sekundierte Euch bei Euren Narrenspossen und Witzen über eine Ehe, die doch die Probe bestanden hat.

Nur einmal wurde ich verstimmt. Franz und seine Frau waren mit Euch zusammen bei mir zu Tisch gewesen, hatten sich jedoch mit Rücksicht auf Regitzes Zustand – sie erwarteten damals ihr viertes Kind – bald zurückgezogen. Kaum hatte Wilhelmine sie hinaus begleitet, sagtest Du, liebe Laura, im Ton des Abscheus: ›Wie häßlich das ist! Freilich, Regitze ist auch sonst nicht allzu hübsch. Aber nicht wahr, Emil, Du hältst Dein Versprechen?‹ Ich hatte gerade noch Zeit, einzuwerfen: ›Aber Laura, das kann doch nicht Dein Ernst sein? Kann es für eine Frau ein größeres Glück geben? Ich glaube, wenn Du so wärst, wie Du jetzt sagst, dann hättest Du nie Deinen Emil gefunden.‹ In diesem Augenblick kam Wilhelmine zurück, und wir sprachen von etwas anderem. Ich war dumm genug, es dabei bewenden zu lassen und mir einzubilden, Dir sei nur eine gedankenlose Äußerung entfahren, weil – wie ich gern zugeben will – Regitze ihr Zustand übel kleidete.

Ich hätte mit Dir über diese Frage ernst und liebevoll sprechen müssen. Ob es geholfen hätte, ist etwas anderes. Jetzt aber fühle ich mich geradezu mitverantwortlich, daß alles so gekommen ist.

Ihr entwickeltet oft Ansichten über die Ehe, über das Verhältnis zwischen Mann und Frau, die das Gegenteil von jenen waren, in denen ich erzogen war und die mich zum Glück geführt hatten. Allein die Anschauungen, die Ihr verfochtet, waren dieselben, die ich in meinen alten Tagen nicht nur von den meisten jungen Leuten verkünden hörte, sondern auch von älteren, hochangesehenen Schriftstellern und Gelehrten. Selbst die Zeitungen, die ich von jeher als das Sprachrohr guter, wahrer Meinung zu betrachten gewohnt war, schrieben das, was Ihr ausspracht. Da dachte ich denn im stillen: Emil hat recht, Du bist eine alte Glucke. Hier kommst Du nicht mit. Wenn die Allerklügsten sagen, daß es so sein muß und daß es zu einem neuen, weit größeren Glück für die Menschen führt, sind natürlich Deine Ansichten die verkehrten. Und ich mußte ja auch zugeben, daß wir Frauen auf vielen Gebieten ebenso berechtigt waren, mitzureden, wie die Männer. Manche Beispiele hätte ich anführen können. Im Augenblick denke ich namentlich an unsere Waschfrau, eine wirklich tüchtige, verständige Person, während ihr Mann ein versoffener Taugenichts war. Trotzdem empfand ich keine Freude, als Du, Emil, eines Tages im Triumph zu mir kamst und mir erzähltest, daß ich nun das kommunale Wahlrecht hätte. Während Du mich ausgelassen durch das Zimmer wirbeltest und Ihr beide laut dazu sangt, dachte ich innerlich: ›Gott, wie gleichgültig mir das ist!‹ Ich meine so, und Frau Petersen meint so, Vater meinte so, und Herr Petersen so – es wird jetzt natürlich doppelt so viele Stimmen geben wie früher, aber das Ergebnis wird sicher nicht viel anders sein! Eines Abends ließ ich mich von Franz überreden, einer Wahlversammlung beizuwohnen. Es redeten viele Damen und Herren. Was mir aber auffiel, war, daß selbst die Frauen, die sehr vernünftige Dinge sagten, so sonderbar dürftig wirkten. Es war, als eigneten sie sich infolge ihrer Natur und ihres ganzen Wesens nicht recht zur Autorität. Und ich dachte: Allein durch das schwache Organ, das uns der liebe Gott im Gegensatz zum Mann gegeben hat, hat er uns dazu bestimmt, im Zimmer zu sprechen und nicht auf der Rednerbühne. Und diejenigen von uns, welche die Gabe besitzen, öffentliche Angelegenheiten zu beurteilen und mitzureden, könnten wahrhaftig daheim einen ebenso großen Einfluß auf die Männer ausüben.

Das mag nun sein, wie es will, die Entwicklung geht ihren Gang, ohne mich um Rat zu fragen.

Allein auf einem Gebiet – davon könnt Ihr überzeugt sein – werde ich recht behalten, und daran vermag kein menschliches Gesetz etwas zu ändern: Wir Frauen – sofern wir richtige Frauen sind – werden nie glücklich, wenn wir nicht bis zu einem gewissen Grade vom Manne regiert werden. Ich denke mir, das kommt daher, daß wir diejenigen sind, die die Kinder gebären und auf ganz andere Weise mit den Kindern leben als die Männer. Deshalb hören wir wohl auch unser Leben lang nicht auf, Kinder zu sein. Selbst wenn ein Mann Kinder noch so gern hat, hat er doch nie die Geduld einer Frau, mit ihnen zu spielen, sie zu warten und ihre unaufhörlichen Fragen zu beantworten. Uns ist das so natürlich. Wir können völlig in den Kindern aufgehen. Sie können unser Leben so wundervoll ausfüllen. Wir verstehen den Gedankengang der Kinder in ganz anderer Weise als die Männer.

Und wir bleiben Kinder auch in der Art, uns zu kleiden und uns zu schmücken. Nicht, daß ein Mann keinen Wert auf Kleider legte. Allein wir Frauen, selbst wenn wir nicht putzsüchtig sind, gehen doch unser Leben lang gekleidet wie Kinder und Puppen. Und wenn Ihr entgegnet, daß das etwas ist, was sich ändern ließe, so sage ich: Unsinn! Wir sind nun einmal so geschaffen, daß wir lächerlich würden, wenn wir Männerkleidung trügen. Unser wunderlicher Körper, der zum Kindergebären und Kinderstillen eingerichtet ist, hat es nötig, mit Kleidern herausgeputzt zu werden, die zugleich verhüllen und hervorheben. Könnt Ihr Euch, ohne vor Lachen umzufallen, mich in Emils Hosen vorstellen?

Da wir nun solche Kinder sind und nie anders werden, begeht Ihr Männer ein großes Unrecht an uns, wenn Ihr verlangt, daß wir uns auf eigene Hand helfen sollen, so wie Ihr es könnt.

Das Traurigste, das einer jungen Frau widerfahren kann, ist ein Mann, der sie sich selbst überläßt und immerfort sagt: ›Tu, wie du willst, tu, wie du denkst.‹

Das ist eine Form von Verwöhnung und Liebe, die keine Durchschnittsfrau verträgt, und die sie auf die Dauer zur Verzweiflung bringt. Ich meine nicht, daß ein Mann beständig kommandieren und sie tyrannisieren soll, bis sie ein unterdrücktes Geschöpf und eine willenlose Nachbeterin wird. Aber sie soll seine feste Hand fühlen, eine Hand, die sie stützt und – wenn es nötig ist – im Zaum hält.

Dein Fehler, mein lieber Emil, war vom ersten Tage an – das sehe ich jetzt –, daß Du niemals wagtest, Laura ein zurechtweisendes Wort zu sagen. Und Drin Fehler, liebe Laura, war, daß es Dir Spaß machte, die Macht zu mißbrauchen, die Du über Emil hattest, damals, als Ihr verlobt, und später, als Ihr verheiratet wart.

Jetzt seht Ihr das Resultat. Ein Mann und eine Frau – wie sehr sie einander auch lieben mögen – können nicht in ewigem Karneval leben. Das Leben ist nicht nur Küssen und Liebeln. Von dem Augenblick an, da Ihr des Küssens müde wurdet, wart Ihr eigentlich fertig miteinander. Ihr hattet auch kein Kind, das Lauras Leben ausfüllen und Euch einen festen Halt geben konnte.

Glaubt mir, ich weiß besser Bescheid über Euch, als Ihr vielleicht selbst. Denn Ihr habt – wie die meisten Menschen so gern tun – alles von Euch geschoben, was zur Anklage gegen Euch werden konnte. Ich aber habe in diesen Jahren an nichts anderes gedacht als an Euch. Während ich mich bemühte. Verwandten und Freunden gegenüber zu verbergen und zu beschönigen, habe ich voll Verzweiflung mit angesehen, wie garstig und böse Ihr gegeneinander wurdet, und worin die Ursache zu dem allen lag.

Oder habe ich etwa nicht recht, lieber Emil, daß Du, der es früher liebte, Laura so elegant wie nur möglich zu sehen, in späteren Jahren geradezu ärgerlich und aufgebracht warst, wenn Laura, als das Kind, das sie immer noch war. Dir in einem neuen kostspieligen Kleid entgegenkam? Du sagtest nicht wie einst: ›Wie bezaubernd siehst Du aus!‹, sondern gabst ihr zu verstehen, daß sie klüger getan hätte, diese Ausgabe zu vermeiden. Denn Laura spielte für Dich als Weib keine Rolle mehr. Hätte Laura es jedoch unterlassen, sich neue Kleider zu kaufen, so wäre es Dir ebensowenig recht gewesen, und Du hättest Dich bloß geärgert, daß sie alt und häßlich aussah.

Laura hingegen ging in ihrem neuen Kleide auf ihr Zimmer und weinte gekränkt und erbittert – die arme, verschmähte Puppe, die sie war! Und ganz begreiflicherweise suchte sie am nächsten Tage Ersatz, indem sie ihren Staat von anderen bewundern ließ.

Von dem Augenblick an, da sie für Dich nicht mehr das Kind war, mit dem zu spielen Dich amüsierte, war sie Dir nur eine unerträgliche Last. Alles, was Du einst an ihr reizend gefunden hattest, fiel Dir jetzt auf die Nerven.

Denn, mein lieber Junge, Du hattest keinen Augenblick daran gedacht, Laura zu Deiner Gattin zu erziehen. Du freutest Dich ihrer, so lange sie Dich befriedigte als das schöne junge Geschöpf, das sie war. Als Du damit fertig warst, und zwar sehr bald – denn Ihr dachtet nicht daran, mit Eurer Verliebtheit Maß zu halten – ja, da war überhaupt nichts mehr da. Nichts, was Euch hätte vereinen können, kein Kind, keine gemeinsamen Interessen. Und Laura, die geglaubt hatte, ihr Leben lang so verwöhnt zu werden wie in Eurer Brautzeit und den ersten Jahren Eurer Ehe, dachte, daß ihr bitteres Unrecht geschähe.

Sie hockte in ihrem Winkel und speicherte Haß und Bitterkeit auf. Du hattest Deine Arbeit – was hatte Laura? Früher verlangtest Du nichts von ihr – jetzt stelltest Du innerlich die größten Ansprüche an sie, ohne jemals, so lange es noch Zeit war, sie gelehrt zu haben, wie sie sich verhalten müßte, wenn sie eines Tages nicht mehr nur Dein Spielzeug sein sollte.

Warum haßt Ihr einander jetzt? Das will ich Euch sagen: Weil Ihr einander verbraucht habt und weil Ihr nichts mehr miteinander anzufangen wißt und dennoch aus irgendeinem Grunde – vielleicht aus Rücksicht auf mich – Euch schämt, voneinander zu gehen.

In Gottes Namen: Trennt Euch, wenn Ihr es nicht lernen könnt, einander Menschen zu sein! Es wäre jedenfalls schöner als das sogenannte Zusammenleben, das Ihr jetzt aufrecht erhaltet.

Aber närrisch ist es. Denn an und für sich seid Ihr besser als die meisten. Und Ihr habt einander kein anderes Leid zugefügt, als daß Ihr wahnwitzig verliebt gewesen seid. Jetzt, da Ihr es nicht mehr seid, behandelt Ihr Euch gegenseitig schlimmer als die ärgsten Feinde!

Franz und Regitze haben auf keine so schönen Erinnerungen zurückzublicken wie Ihr. Allein sie haben sich im Laufe der Jahre und durch die Kinder, die glattgekämmten – die nun einmal ihr Stolz sind – zusammengelebt. Während Ihr Euch mehr und mehr auseinandergelebt habt.

Es ist für Dich, Emil, zu spät, zu versuchen, Laura zu erziehen. Ein Mann kann eine Frau erziehen, in die er sehr verliebt ist. Eine Frau läßt sich nur dann von einem Manne erziehen, wenn sie das höchste Glück ihres Lebens darin findet, ihm zu gefallen. Ich glaube, das Traurigste, was ich erlebt habe, ist, daß Eure Ehe in die Brüche ging, ist der Gedanke, daß Ihr nie gemeinsam an mein Grab treten, nie in gemeinsamer Erinnerung an das Glück, das Ihr für einander bedeutet habt und das Eure junge Liebe mir bereitete, mir ein paar Blumen auf den Hügel legen werdet.

Es ist ja Unsinn, daß Ihr einander haßt – ich meine, es ist so völlig sinnlos. Deshalb denke ich, daß es trotz allem noch nicht zu spät ist, wenn Ihr Euch darüber einigt, als gute Freunde zusammen weiterzuleben – allerdings nur dann, wenn keiner von Euch sich in einen andern verliebt hat, was ich übrigens nicht glaube. Jedenfalls ist es kaum etwas anderes gewesen als ein bißchen Flirt, wie in Euren Kreisen gang und gäbe ist.

Meint Ihr jedoch, daß Ihr nicht mehr Freunde werden könnt, dann macht so schnell wie möglich ein Ende. Ihr ahnt nicht, wie qualvoll es für diejenigen ist, die Euch gern haben – geschweige für die, die Euch lieben –, die krankhaften Anstrengungen zu sehen, die Ihr macht, um Eure Niederlage zu verbergen. Wie qualvoll muß es erst für Euch selbst sein. Und wie mögt Ihr Euch schämen! Denn in Wahrheit ist Euer Zorn gegeneinander ja nichts anderes als ein Ausschlag des Schamgefühls.

Eure moderne Zuckerbrotverliebtheit habt Ihr rasch zu Ende geknabbert. Mich dünkt, Ihr seid beide gleich kindisch gewesen. Und nun fühlt Ihr Euch benachteiligt wie Kinder, die darüber streiten, wer von ihnen das Spielzeug zerschlagen hat. Ihr habt nicht einmal den Stoff zu dem, was man in der modernen Sprache eine Abrechnung nennen könnte.

Ich hätte Euch gewiß noch mehr zu sagen. Und das, was ich gesagt habe, ließe sich viel klüger ausdrücken.

Aber ich will Euch freigeben. Kaum weiß ich, ob es mich danach verlangt, das Gespräch zu hören – oder vielleicht werden es viele Gespräche –, das dieser Abschiedsbrief zur Folge haben wird.

Aber ich wünschte so innig, daß Ihr, während Emil Dir, liebe Schwiegertochter, denn das bist Du doch noch, den Brief vorliest, das Gefühl hättet, ich wäre Euch nah. Ich wünschte, daß Ihr, wenn Ihr mit dem Lesen fertig seid, unwillkürlich lächeln möget – ein Lächeln, das aus dem Herzen kommt und an das frohe, aufrichtige Lächeln glücklicher Tage gemahnt, und sagen möget: Sie war gar nicht so dumm. Und wie lieb hat sie uns gehabt!

Und nun lebt wohl, meine Geliebten. Der Herr lenke alles zum Besten für Euch.

Eure alte Mutter.

P.S. Ob es nützen kann, liebe Laura, wenn ich Dich bitte, Emil einen Kuß von mir zu geben?«

3

Ob Mutters Brief Laura und mir zum Glück gereichte? Ich weiß es nicht.

Jetzt, da Laura tot ist und ich allein bin, denke ich wieder und immer wieder darüber nach: wäre es nicht doch besser gewesen – für sie wie für mich – wenn wir unseren Vorsatz, uns nach Mutters Tod scheiden zu lassen, ausgeführt hatten?

Man kann nämlich weder sich selbst noch andere zum Glück kommandieren. An dem Abend, als ich Laura den Brief vorlas, weinten wir beide. Und als ich ihn gelesen hatte, trat sie auf mich zu, verlegen und schamvoll, und küßte mich auf die Wange: »Hier Emil, da hast du den Kuß von deiner Mutter!«

Es entfuhr mir – ich weiß, es war dumm und lieblos, aber ich konnte es nicht unterdrücken: »Nein, Laura, dieser Kuß war kein Kuß von Mutter!«

Da setzte sie sich wieder auf ihren Platz und weinte, aber wir sprachen an diesem Abend nicht mehr viel miteinander.

Wir redeten nie wieder von Scheidung. Wir versuchten gut zueinander zu sein. Wir stritten uns nicht mehr. Jedenfalls lenkten wir hastig ab, wenn ein Unwetter in der Luft lag.

Wir lebten zusammen ohne die Spur eines wirklichen Zusammenlebens.

Oft dachte ich: Wenn ich nun zu Laura hinginge, sie auf den Schoß nähme wie in alten Tagen, lachte und sagte, daß all das Häßliche und Böse zwischen uns vergessen sein sollte und wir wieder gut und reizend zueinander sein wollten wie einst.

Aber ich konnte es nicht. In meinem Ohr tönten Mutters mahnende Worte, und ich fühlte, es wäre unecht und erkünstelt, wenn ich jetzt versuchte, von vorn zu beginnen. Ich war ja kein bißchen mehr in Laura verliebt. Was um des Himmels willen sollte ich tun, wenn sich herausstellte, daß in ihr wirklich noch Reste der alten Liebe lebten und sie meine Zärtlichkeit und Güte für etwas ganz anderes hielt, als sie in Wirklichkeit waren?

Laura war noch immer schön, bis vor einem Jahr die Unterleibskrankheit einsetzte, die eine Operation nötig machte und mit dem Tode endigte. Aber sie war nicht mehr das strahlende, junge Kind, in das ich mich vor zwanzig Jahren verliebt hatte.

Ob ich ihr untreu war? Ja, das war ich – rein physisch. Ich war ja kein alter Mann. Aber ich war es mit Widerwillen.

Ob sie mir untreu war? Ich hätte kein Recht gehabt, ihr deshalb Vorwürfe zu machen. Aber sie war es wohl nie. Daß ich unter ihren Briefen nichts fand, was darauf schließen ließ, beweist nichts. Kompromittierende Briefe konnte sie verbrannt haben. Aber ich halte mich daran, daß sie in den letzten Jahren gleichsam erloschen war. Es strahlte keine Freude von ihr aus. Selbst in Gesellschaft, wenn sie sich anscheinend amüsierte und ihr der Hof gemacht wurde, war sie so wunderlich geistesabwesend. Es war, als müßte sie ihre Munterkeit erst von weither holen.

Als sie von einem Kollegen, der ein berühmter Chirurg und ein alter Freund von mir war, operiert wurde, bat sie unaufhörlich um Morphium. Und da wir sahen, wie es um sie stand, hatten wir nur den einen Wunsch, ihre Schmerzen zu stillen und ihr das Sterben so leicht wie möglich zu machen.

Wenn sie dann im Morphiumrausch lag, konnte sich ein glücklicher Schimmer der ehemaligen Jugend und Schönheit über sie breiten. Und wenn ich bei ihr saß, lächelte sie wie in alten Tagen, drückte meine Hand an ihre Brust und flüsterte halb im Traum: »Wie glücklich sind wir doch gewesen!«

Nun ruht sie neben meiner Mutter. Anfangs ging ich jeden Sonntag zu den Gräbern hinaus.

In dem letzten halben Jahr habe ich es unterlassen. Ich bin erst fünfundvierzig Jahre alt. Bin ich nicht zu jung, um zwischen Gräbern zu gehen?


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