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Sechstes Kapitel.

Frühjahr und Sommer 1894.

Es kam die Jahreszeit, die wir zu Hause Frühling nennen, die Zeit der Freude, des knospenden Lebens, wenn die Natur aus ihrem langen Winterschlafe erwacht. Uns brachte sie keine Veränderung; Tag für Tag blickten wir auf dieselbe weiße leblose Masse, dieselben endlosen weißen Eisflächen. Noch immer schwankten wir zwischen Hoffnung und Niedergeschlagenheit, müssigem Sehnen und eifriger Thatkraft, je nachdem die Winde wechselten, je nachdem wir vorwärts unserm Ziele entgegen, oder von demselben weggetrieben wurden.

Wie früher, fuhr ich fort, über die Möglichkeiten der Zukunft und unserer Drift zu grübeln. Manchmal glaubte ich, daß alles so ginge, wie wir gehofft und erwartet hatten.

So war ich am 17. April überzeugt, daß eine Strömung in dem unbekannten Polarbecken vorhanden sein müsse, da wir entschieden nordwärts trieben. Die Mittagsbeobachtung ergab 80° 20' nördlicher Breite, das heißt 9 Minuten seit dem vorgestrigen Tage. Seltsam! Vier ganze Tage anhaltender nördlicher Wind versetzte uns nach Süden, während 24 Stunden dieser spärlichen Brise uns 9 Minuten nordwärts treiben.

Das hat den Anschein, als ob wir mit der Drift nach Süden zu Ende wären. Und wenn ich außerdem noch die überraschende Wasserwärme, die wir in der Tiefe gefunden haben, in Erwägung ziehe, dann scheint die Lage mir wirklich lichter auszusehen. Meine Gründe dafür sind folgende.

Die Wassertemperatur in der ostgrönländischen Strömung ist selbst an der Oberfläche nirgends über 0° (der mittlem Jahrestemperatur) und scheint in der Regel -1° C zu sein, selbst noch auf 70° nördlicher Breite. Auf dieser Breite sinkt die Temperatur stetig, je tiefer man unter die Oberfläche gelangt; in größerer Tiefe als 100 Faden (183 Meter) ist sie nirgends über -1° C, vielmehr in der Regel zwischen -1,5 bis -1,7° C bis zum Grunde hinab; außerdem ist die Temperatur auf dem Grunde des ganzen Meeres nördlich von 60° Breite unter -1° C, ausgenommen auf einem Streifen längs der norwegischen Küste und zwischen Norwegen und Spitzbergen. Hier ist die Temperatur von 160 Meter abwärts über -1° C!. und in 250 Meter Tiefe bereits +0,55° C, und zwar, wohlgemerkt, nördlich von 80° Breite in einem den Kältepol umgebenden Meere.

Dieses warme Wasser kann schwerlich aus dem Polarmeer selbst kommen, da die von dort nach Süden setzende Strömung eine mittlere Temperatur von -1,5° C hat. Es kann kaum anders sein, als daß der Golfstrom seinen Weg hierher findet und das Wasser ersetzt, das in den oberen Schichten nach Norden strömt und die Quelle der ostgrönländischen Polarströmung bildet. Alles das scheint mit meinen früheren Annahmen gut übereinzustimmen und unterstützt die Theorie, auf welcher der Plan der Expedition aufgebaut war. Und wenn man außerdem noch berücksichtigt, daß die Winde, wie erwartet, in der Regel südöstlich zu sein scheinen, wie es auch auf der internationalen Station bei Sagastir an der Lena-Mündung der Fall war, so scheinen unsere Aussichten nicht ungünstig zu sein.

Oft glaubte ich ferner unter dem Eise unverkennbare Zeichen einer stetigen nordwestlich setzenden Strömung zu entdecken; dann heiterte sich meine Stimmung natürlich auf. Wenn aber zu anderen Zeiten der Strom wieder südlich setzte, wie es oft der Fall war, kehrten auch meine Zweifel zurück, und es schien mir, als ob keine Aussicht sei, unsere Aufgabe innerhalb einer angemessenen Zeit zu vollbringen.

Freilich ist solches Treiben im Eise für den Geist aufregend, aber es bildet wenigstens eine Tugend aus: die Geduld. Die ganze Expedition ist in Wirklichkeit eine einzige lange Uebung in dieser nützlichen Tugend.

Mit dem Fortschreiten des Frühjahrs kamen wir etwas besser vorwärts, als es im Winter der Fall gewesen war; im großen und ganzen war es aber stets derselbe ermüdende Krebsgang. Jedesmal, wenn wir eine weite Strecke nach Norden zurückgelegt hatten, konnten wir sicher sein, daß eine längere Zeit des Rückschlags folgen würde.

Nach der Ansicht eines aus unserer Schar, der gern politisirte, war es ein beständiger Kampf zwischen der Linken und der Rechten, zwischen Fortschrittlern und Rückschrittlern. Nach einer Periode von »Fortschritts«-Wind und einer herrlichen Drift nach Norden ergriff im natürlichen Verlaufe der Dinge die »radicale Rechte« das Ruder, und wir blieben entweder im Todtwasser still liegen oder trieben geradezu zurück und versetzten dadurch unsern Politiker Amundsen in sehr schlechte Laune.

Eine merkwürdige Thatsache ist, daß der Bug der »Fram« während der ganzen Zeit nach Süden, gewöhnlich Süd ¼ West gewendet war und seine Richtung während der langen Drift nur sehr wenig änderte. Ich schrieb daher am 14. Mai:

»Die ›Fram‹ geht ihrem Ziele im Norden rückwärts entgegen, mit der Nase immer nach Süden gekehrt. Es ist gerade, als ob sie ihre Entfernung von der Welt zu vergrößern fürchte, als ob sie sich nach südlichen Breiten sehne, während eine unsichtbare Gewalt sie dem Unbekannten entgegenzieht. Kann dieses Rückwärtsschreiten nach dem Innern des Polarmeeres ein böses Omen sein? Ich kann es mir nicht denken; selbst der Krebs erreicht schließlich sein Ziel.«

Der allgemeine Verlauf unserer Drift ergibt sich am besten aus der Angabe unserer Länge und Breite an verschiedenen Tagen des Jahres 1894:

        Zu- und Abnahme der Breite:
1. Mai 80° 46' nördl. Breite;  
4. Mai 80° 50' "   + 4 Minuten
6. Mai 80° 49' "   - 1 "
8. Mai 80° 55' " 129° 58' östl. Länge; + 6 "
12. Mai 80° 52 " - 3 "
15. Mai     129° 20' östl. Länge;    
21. Mai 81° 20' " 129° 45' östl. Länge;    
21. Mai 81° 26' "   + 6 "
27. Mai 81° 31' "   + 5 "
2. Juni 81° 31' " 121° 47' östl. Länge; 0 "
13. Juni 81° 46' "   + 15 "
18. Juni 81° 52' "   + 6 "

Bis dahin hatten wir ziemlich befriedigende Fortschritte nach Norden gemacht; nunmehr trat die Reaction ein:

        Zu- und Abnahme der Breite:
24. Juni 1894 81° 42' nördl. Breite;   Min.
1. Juli 81° 33' "   - 9 "
10. Juli 81° 20' "   -13 "
14. Juli 81° 32' "   + 12 "
18. Juli 81° 26' "   - 6 "
31. Juli 81° 2' " 126° 5'5'' östl. Länge; - 24 "
8. August 81° 8' "   + 6 "
14. August 81° 5' " 127° 38' östl. Länge - 3 "
26. August 81° 1' "   - 4 "
5. September 81° 14' " 123° 36' östl. Länge + 13 "

 

Dann begannen wir wieder nordwärts zu treiben, wenn auch nicht sehr schnell.

Wie früher hielten wir beständig Ausguck nach Land und waren bald aus diesem, bald aus jenem Grunde zu der Annahme geneigt, daß wir Zeichen seiner Nähe sähen; jedoch erwiesen sie sich stets als nur in der Einbildung bestehend, und außerdem ging auch aus der großen Tiefe des Meeres hervor, daß Land jedenfalls nicht nahe sein könne.

Später, 7. August, als ich 3850 Meter Tiefe gefunden hatte, schrieb ich in mein Tagebuch:

»Ich glaube nicht, daß man ferner noch von einem seichten Polarmeer sprechen wird, wo man überall Land erwarten kann. Sehr möglich, daß wir in den Atlantischen Ocean hinaustreiben, ohne einen einzigen Berggipfel gesehen zu haben. Eine Reihe ereignißvoller Jahre steht uns noch bevor!«

Der schon früher erwähnte Plan, mit Hunden und Schlitten über das Eis vorzudringen, beschäftigte mich sehr viel, und meine Aufmerksamkeit richtete sich daher während meiner täglichen, zum Theil aus Schneeschuhen, zum Theil mit Hunden unternommenen Ausflüge stets auf den Zustand des Eises und die Aussichten, ob wir im Stande sein würden, den Marsch auf dem Eise zu wagen.

Während des April war das Eis für die Verwendung von Hunden besonders geeignet. Die Oberfläche war gut, da die Macht der Sonne sie glatter gemacht hatte als das starke Schneetreiben zu Anfang des Winters; außerdem hatte der Wind die Eisrücken ziemlich eben zugedeckt, auch waren nicht so viele Spalten und Rinnen im Eise, sodaß man meilenweit vordringen konnte, ohne viel Mühe mit ihnen zu haben.

Im Mai trat jedoch eine Veränderung ein. Schon am 8. Mai hatte der Wind das Eis vielfach aufgebrochen, sodaß sich in allen Richtungen Rinnen bildeten, die sich auf der Fahrt mit Hunden als große Hindernisse erwiesen. Die Temperatur war jedoch so niedrig, daß die Kanäle rasch wieder überfroren und passirbar wurden; sie stieg indeß im Laufe des Monats wieder, sodaß sich auf dem Wasser nicht mehr so rasch Eis bildete und die Rinnen immer zahlreicher wurden.

Am 20. Mai schrieb ich:

»War vormittags auf Schneeschuhen draußen. Das Eis war infolge der beständigen Winde während der letzten Woche in verschiedenen Richtungen sehr stark aufgebrochen; die Rinnen sind schwer zu passiren, da sie voll kleiner Eisstücke sind, die zerstreut umhertreiben und zum Theil mit Schnee bedeckt sind. Sie sind sehr trügerisch, weil man manchmal festes Eis unter den Füßen zu haben glaubt an Stellen, wo mau beim Hineinstecken des Stockes diesen ganz hindurch schieben kann, ohne auf eine Spur von Eis zu stoßen.«

In vielen Fällen wäre ich beim Ueberschreiten solchen Schnees auf Schneeschuhen beinahe in schwierige Lagen gerathen, wenn ich fand, daß der Schnee plötzlich unter mir nachgab, sodaß es mir nur mit großer Mühe gelang, wohlbehalten auf das feste Eis zurückzukommen.

Am 5. Juni war die Oberfläche des Eises und Schnees ungefähr wie früher. Ich schrieb:

»Habe soeben mit Sverdrup eine Schneeschuhfahrt in südlicher Richtung gemacht, seit langer Zeit zum ersten mal wieder. Der Zustand des Eises hat sich verändert, aber nicht zum Bessern; die Oberfläche ist zwar hart und gut, jedoch sind die Eisketten sehr unangenehm gewesen, und nach allen Richtungen sind Spalten und Hügel. Eine Schlittenexpedition würde auf solchem Eis schlecht genug vorwärtskommen.«

Bisjetzt war das Vorwärtskommen immer noch möglich gewesen, aber nun begann der Schnee zu schmelzen und legte demselben fast unübersteigliche Schwierigkeiten in den Weg.

Am 13. Juni schrieb ich:

»Das Eis wird mit jedem Tage weicher, und es bilden sich rund um uns herum große Wasserpfützen auf den Schollen. Kurz, die Oberfläche ist abscheulich; die Schneeschuhe brechen überall durch ins Wasser.

»Man würde heute an einem Tage wahrlich nicht weit kommen können, falls man gezwungen wäre, nach Süden oder Westen aufzubrechen. Es ist gerade, als ob jeder Ausgang blockirt wäre, und hier sitzen wir nun, sitzen fest.

»Manchmal kommt es mir ziemlich merkwürdig vor, daß keiner unserer Leute darüber besorgt geworden ist, daß wir weiter und immer weiter nach Norden treiben, immer weiter ins Unbekannte hinein; aber es ist so, keiner von ihnen zeigt eine Spur von Furcht. Alle sehen düster aus, wenn es nach Süden oder zu weit nach Westen geht, und strahlen vor Freude, wenn wir nach Norden treiben, je weiter, desto besser.

»Und doch kann keiner von ihnen der Thatsache gegenüber blind sein, daß es sich um Leben und Tod handelt, wenn jetzt etwas von dem eintreten sollte, was fast alle uns prophezeit hatten. Sollte das Schiff wie die ›Jeannette‹ vom Eise zermalmt werden und in die Tiefe sinken, ohne daß wir im Stande sind, genügend Vorräthe zu retten, um unsere Drift auf dem Eise fortzusetzen, dann würden wir unsern Kurs nach Süden zu richten haben, und es könnten bezüglich unsers Schicksals nur wenig Zweifel herrschen.

»Den Leuten von der ›Jeannette‹ ging es schlecht genug, aber ihr Schiff sank auf 77° nördlicher Breite, während das uns nächste Land vielmal mehr als das Doppelte von uns entfernt ist, von dem nächsten bewohnten Lande gar nicht zu reden. Wir sind jetzt mehr als 550 Kilometer von Kap Tscheljuskin entfernt, während es von dort nach einer bewohnten Gegend noch eine große Strecke weiter ist.

»Aber die ›Fram‹ wird nicht erdrückt werden, und niemand glaubt auch nur an die Möglichkeit eines solchen Falls. Es geht uns wie dem Kajakruderer, der sehr wohl weiß, daß ein einziger falscher Ruderschlag genügt, ihn zum Kentern zu bringen und in die Ewigkeit zu schicken; ruhig aber setzt er seinen Weg fort, weil er weiß, daß dieser falsche Schlag nicht kommen wird.

siehe Bildunterschrift

Nansen.
Ein Spaziergang (6. Juli 1894).

»Es ist dies unbedingt der bequemste Weg, eine Polarexpedition zu unternehmen; welch andere Reise könnte bequemer sein? Nicht einmal eine Eisenbahnfahrt, weil man dabei den lästigen Wagenwechsel hat. Und dennoch würde eine Veränderung hin und wieder nicht unangenehm sein.«

Später, im Juli, wurde die Oberfläche sogar noch schlechter. Die Schollen waren überall mit Schlammeis bedeckt, mit Wasser darunter, und auf den Eisketten, sowie] zwischen den Hügeln, wo tiefe Schneewehen lagen, sank man oft bis zum Leibe ein, da selbst die Scheeschuhe uns auf diesem weichen Schnee nicht zu tragen vermochten. Im Laufe des Monats besserte es sich, nachdem der Schnee allmählich weggeschmolzen war, sodaß man wieder eine festere Oberfläche beim Laufen hatte.

siehe Bildunterschrift

Aufgebrochenes Eis in der Nähe der ›Fram‹.

Jetzt bildeten sich aber große Wassertümpel auf den Eisschollen. Schon am 8. und 9. Juni hatte sich rund um das Schiff ein Teich zu zeigen begonnen, sodaß es in einem kleinen Süßwassersee lag und wir eine Brücke benutzen mußten, um eine trockne Stelle auf dem Eise zu erreichen.

Einige dieser Süßwassertümpel waren von ganz respectablen Dimensionen und Tiefenverhältnissen. Einer derselben befand sich auf der Steuerbordseite des Schiffes und war so groß, daß wir um Mitte Juli mit den Booten darauf rudern und segeln konnten.

Es war das abends ein Lieblingsvergnügen für einige von uns, die das Boot vollständig mit Offizieren, Kapitän, Steuermann und Untersteuermann, aber nicht mit gewöhnlichen Matrosen bemannten. Sie hielten das für eine vorzügliche Gelegenheit, sich im Segeln mit einem viereckigen Segel zu üben, während die andern am Ufer standen und es noch amüsanter fanden, die Schiffer mit Schneebällen und Eisstücken zu bombardiren.

Auf demselben Tümpel probirten wir eines Tages, ob eins von unseren Booten uns alle Dreizehn ans einmal tragen könne.

Als die Hunde sahen, daß wir sämmtlich das Schiff verließen, um nach dem Tümpel zu gehen, folgten sie uns in größter Verwunderung und wußten nicht, was diese ungewöhnliche Bewegung zu bedeuten haben könne. Als wir dann alle ins Boot stiegen, begannen sie sämmtlich in wilder Verzweiflung zu heulen, vermuthlich im Glauben, daß sie uns nie wiedersehen würden. Einige von ihnen schwammen hinter uns her, während zwei Schlauberger, »Pan« und »Kvik«, auf die brillante Idee kamen, um den Tümpel herumzurennen und uns an der andern Seite in Empfang zu nehmen. Einige Tage später fand ich den Tümpel zu meinem Bedauern ausgelaufen. Das Wasser hatte sich ein Loch auf dem Grunde des Eises ausgehöhlt, und das ganze Süßwasser war ins Meer geflossen. So fand das Vergnügen sein Ende.

siehe Bildunterschrift

Johansen und »Sultan« am Achterende der »Fram«.

So oft wir im Sommer einen Ausflug über das Eis machen wollten, trafen wir außer solchen Tümpeln in allen Richtungen Rinnen im Eise. In der Regel konnten wir sie aber leicht passiren, indem wir entweder von einer losen Scholle zur andern oder, an schmalen Stellen, von einer Seite zur andern sprangen.

Diese Rinnen erreichten niemals eine größere Breite, sodaß infolgedessen keine Rede war, die »Fram« in einer derselben flott zu machen. Aber selbst wenn es hätte geschehen können, so würde uns das nicht viel genutzt haben, da keine Rinne groß genug war, um das Schiff mehr als einige Kabellängen weiter nach Norden zu bringen.

siehe Bildunterschrift

Segelfahrt auf dem Süßwassertümpel.

Manchmal waren Anzeichen am Himmel, daß große Flächen offenen Wassers in unserer Nähe sein müßten, und hin und wieder sahen wir auch von der Tonne aus große Strecken offenen Wassers am Horizont. Doch konnten sie nicht groß genug sein, um viel zu nutzen, wo es sich darum handelte, mit einem Schiffe vorwärts zu dringen.

Die Sanguiniker an Bord maßen diesen offenen Strecken jedoch mehr Wichtigkeit bei.

Am 15. Juni heißt es in meinem Tagebuch:

»In verschiedenen Richtungen sind Rinnen zu sehen, jedoch ist keine derselben breit oder von großer Ausdehnung. Der Steuermann besteht immer darauf, daß wir vor dem Herbst bestimmt offenes Wasser bekommen und im Stande sein würden, nach Norden weiter zu kriechen, was übrigens bei allen anderen, mit Ausnahme von Sverdrup, allgemein feststehender Glaube ist.

»Wo sie das offene Wasser hernehmen wollen, weiß ich nicht. Uebrigens ist dies die erste vom Eise eingeschlossene Expedition, die den Sommer nicht damit verbracht hat, nach offenem Wasser auszuschauen und seufzend zu ersehnen, daß das Eis sich zerstreuen möge. Ich wünsche im Gegentheil, daß es zusammenhalten und schleunigst nach Norden treiben möge.

»In diesem Leben hängt alles davon ab, was man sich von ihm erwartet. Der eine bereitet sich vor, in offenem Wasser, vielleicht gar bis zum Pol zu segeln, geräth aber im Eise fest und jammert; der andere ist darauf gefaßt, im Eise festzugerathen, würde aber nicht betrübt sein, wenn er offenes Wasser fände. Am sichersten ist es immer, wenn man das Wenigste vom Leben verlangt, weil man dann oft das Meiste bekommt.«

Die offenen Rinnen und Risse im Eise sind selbstverständlich ebenso wie die Pressungen durch die Aenderung der Winde und die Gezeitenströmungen hervorgebracht, die das Eis erst nach der einen und dann nach der andern Richtung hin ins Treiben bringen. Sie beweisen vielleicht am besten, daß das Polarmeer als eine zusammenhängende Masse von Eisschollen betrachtet werden muß, die in beständiger Bewegung sind und bald zusammenfrieren, bald auseinandergerissen oder aneinander zermalmt werden.

Ich habe während der ganzen Dauer unserer Drift dem Eise große Aufmerksamkeit gewidmet, nicht nur in Bezug auf seine Bewegung, sondern auch hinsichtlich seiner Bildung und seines Wachsthums.

In der Einleitung dieses Werkes habe ich bereits erwähnt, daß das Eis, selbst wenn es Jahr auf Jahr im kalten Polarmeer zubringe, durch Gefrieren allein nicht mehr als eine gewisse Dicke erlangen könne. Aus beständig vorgenommenen Messungen ging hervor, daß das Eis, welches sich während des Herbstes, im October und November, gebildet hatte, während des ganzen Winters und bis ins Frühjahr hinein an Stärke zunahm, aber umso langsamer, je dicker es wurde.

Am 10.April maß es etwa 2, 31 Meter, am 21.April 2,41 Meter, am 5.Mai 2,45 Meter, am 21.Mai 2,52 Meter, am 9.Juni 2,58 Meter. Es nahm also fortwährend an Mächtigkeit zu, obwol der Schnee auf der Oberfläche rasch geschmolzen war und sich auf den Schollen große Süßwassertümpel gebildet hatten. Am 20. Juni war die Dicke unverändert, obgleich das Schmelzen an der Oberfläche noch erheblich zugenommen hatte. Am 4.Juli betrug die Stärke 2,57 Meter. Am 10.Juli fand ich zu meiner Ueberraschung, daß das Eis auf 2,76 Meter gewachsen war, trotzdem es durch Schmelzen an der Oberfläche täglich um mehrere Centimeter abgenommen hatte.

Ich bohrte an vielen Stellen, fand aber überall dasselbe: unter der alten Scholle lag eine dünne, ziemlich lockere Eismasse. Anfänglich dachte ich, es sei eine dünne Eisscholle, die hinuntergeschoben worden sei, später entdeckte ich aber, daß es thatsächlich neugebildetes Süßwassereis auf der untern Seite des alten Eises war; es war auf die drei Meter tiefe Süßwasserschicht zurückzuführen, die durch das Schmelzen des Schnees auf dem Eise entstanden war.

Infolge seiner Leichtigkeit schwamm dieses wärmere Süßwasser auf dem salzigen Seewasser, das an seiner Oberfläche eine Temperatur von ungefähr -1,5° C hatte. Auf diese Weise kühlte sich das süße Wasser durch die Berührung mit dem kältern Seewasser ab, und es bildete sich auf dem erstem, wo es mit dem darunter befindlichen Salzwasser in Berührung kam, eine dicke Eiskruste. Diese Eiskruste war es, welche die Dicke des Eises an der Unterseite vermehrte.

Im Laufe des Sommers nahm das Eis infolge des Schmelzens an der Oberfläche etwas ab. Am 23. Juli war das alte Eis nur 2,23 Meter und mit der neu gebildeten Schicht 2,49 Meter dick; am 10. August hatte die Stärke des alten Eises bis auf 1,94 Meter abgenommen, während die Gesammtdicke 3,17 Meter betrug. Am 22. August maß das alte Eis 1,86 Meter, die Gesammtstärke 2,06 Meter. Am 3. September betrug die Gesammtstärke 2,02 Meter und am 30. September 1,98 Meter. Am 3. October war die Stärke unverändert, das alte Eis maß 1,75 Meter. Am 12. October betrug die Gesammtstärke 2,08 Meter, während das alte Eis 1,80 Meter stark war. Am 10. November war die Stärke unverändert bei geringer Neigung zum Zunehmen. Im Laufe des November und im December nahm sie ganz langsam zu. Am 11. December erreichte die Gesammtstärke 2,11 Meter, am 3. Januar 1895 2,32 Meter, am 18. Januar 2,48 Meter, am 6. Februar 2,59 Meter.

Daraus ist ersichtlich, daß das Eis direct durch Gefrieren keine irgendwie beträchtlichere Stärke erhält. Das Zusammenschieben infolge des Druckes kann jedoch Blocke und Schollen von ganz anderer Dicke hervorbringen. Oft passirt es, daß die Schollen in mehrere Schichten untereinander geschoben werden und zusammenfrieren, sodaß sie wie eine ursprünglich zusammenhängende Eismasse aussehen. Auf solche Weise erhielt die »Fram« ein gutes Lager unter sich.

Juell und Peder haben sich während des Winters oft darüber gestritten, wie dick das Eis sei, welches die »Fram« unter sich habe. Peder, der schon früher viel Eis gesehen hatte, behauptete, es müsse mindestens 6 Meter dick sein, während Juell das nicht glauben wollte und zwanzig Kronen wettete, daß es nicht so stark sei.

Am 19. April brach der Streit aufs neue aus; ich schrieb darüber in mein Tagebuch:

»Juell hat sich anheischig gemacht, eine Bohrung vorzunehmen, doch reicht unser Bohrer leider nur 5 Meter tief. Dagegen hat Peder es unternommen, den fehlenden Meter wegzuhauen.

»Sie haben während des ganzen Winters sehr viel über diese Wette geredet, sich jedoch nie einigen können. Peder sagt, Juell müsse mit dem Bohren anfangen, während Juell verlangt, daß Peder erst den Meter weghacken solle. Heute Abend wurde der Sache dadurch ein Ende gemacht, daß Juell unvorsichtigerweise demjenigen zehn Kronen bot, der für ihn bohren wolle.

»Bentsen nahm ihn beim Wort und machte sich sofort mit Amundsen an die Arbeit; er meinte, er habe nicht immer Gelegenheit, so leicht zehn Kronen zu verdienen. Amundsen bot sich ihm zu einer Krone pro Stunde oder aber gegen Zahlung nach dem Maße an, schließlich einigten sie sich auf Zahlung nach der Zeit.

»Sie arbeiteten bis spät in die Nacht; als sie 4 Meter tief gekommen waren, glitt der Bohrer etwas hinein, und es stieg Wasser in dem Loche auf; doch war es nicht von Bedeutung, und gleich darauf stieß der Bohrer wieder auf Eis. Sie arbeiteten noch eine Zeit lang, bis endlich der Bohrer nicht weiter reichte, worauf Peder gerufen wurde, um seinen Meter wegzuhauen.

»Er und Amundsen hackten darauf los, bis sie von Schweiß durchnäßt waren. Wie gewöhnlich war Amundsen sehr eifrig; er schwor, er würde es nicht aufgeben, bis er hindurch sei, und wenn es 10 Meter sein sollten.

»Bentsen war mittlerweile an Deck gegangen, doch schickte man ihm jetzt Nachricht, das Loch sei ausgehauen und das Bohren könne wieder beginnen. Als man nur noch ein paar Centimeter bis zu 6 Meter hatte, sank der Bohrer durch, worauf das Wasser in die Höhe sprang und das Loch füllte. Nunmehr ließen sie eine Lothleine hinab, mit der sie in der Tiefe von 10 Meter wieder auf Eis stießen; so waren sie gezwungen, die Arbeit aufzugeben.«

Ein schöner Brocken Eis, auf dem wir liegen! Ohne eine große lose Scholle, die sich auf das Eis geschoben hat, zu berücksichtigen, liegt das Schiff 40 Centimeter über dem Wasser, und rechnet man hierzu noch die 60 Centimeter, welche die »Fram« über das Eis emporgehoben ist, so ergibt sich eine nicht unbedeutende Entfernung zwischen dem Schiffe und dem Wasser.

siehe Bildunterschrift

Messung der Temperatur des Eises.

Die Temperatur auf dem Eise hält sich zur Sommerszeit um den Nullpunkt herum; aber wenn der Winter allmählich herankommt, sinkt sie an der Oberfläche rasch. Von da dringt die Kälte immer tiefer bis zur Unterseite des Eises, wo sie sich natürlich in gleicher Höhe mit derjenigen des darunter befindlichen Wassers hält. Wir beobachteten beständig die Temperatur des Eises in verschiedenen Schichten, um festzustellen, wie schnell dieser Abkühlungsproceß des Eises während des Winters stattfindet und in welchem Maße die Temperatur nach dem Frühjahr zu wieder steigt.

siehe Bildunterschrift

Zur Sommerszeit (21. Juli 1894).

Die niedrigste Temperatur des Eises war im März und Anfang April in 1,2 Meter Tiefe mit ungefähr -16° C und bei 0,8 Meter Tiefe mit ungefähr -30° C. Nach Anfang April begann sie, langsam zu steigen.

Bei diesen niedrigen Temperaturen wird das Eis sehr hart und spröde, sodaß es durch einen Stoß oder durch das Zusammenschieben leicht berstet oder zerbricht. Andererseits wurde das Eis im Sommer, wenn die Temperatur sich in der Nähe des Schmelzpunktes hielt, zähe und plastisch, sodaß es beim Zusammenschieben nicht so leicht zerbrach.

Dieser Unterschied im Zustande des Eises im Sommer und im Winter machte sich auch dem Ohre bemerkbar, da das Zusammenschieben im Winter stets von dem oft erwähnten Getöse begleitet war, während das zähe Sommereis sich fast geräuschlos zusammenschob, sodaß selbst die heftigsten Pressungen in unserer Nähe hätten stattfinden können, ohne daß wir es hörten.

In der unmittelbaren Nachbarschaft der »Fram« blieb das Eis fast das ganze Jahr hindurch vollständig ruhig, und das Schiff war hier bisjetzt noch keinem großen Eisdruck ausgesetzt gewesen. Es lag sicher und wohlbehalten auf der Eisscholle, an welche es festgefroren war, und hob sich immer mehr, als die Oberfläche des Eises unter der Einwirkung der Sommersonne allmählich wegthaute. Im Herbst begann das Schiff wieder ein wenig zu sinken, entweder weil das Eis unter seinem Gewichte nachgab, oder weil letzteres an der untern Fläche etwas wegschmolz, sodaß es nicht mehr dieselbe Schwimmfähigkeit besaß wie früher.

Inzwischen ging das Leben an Bord seinen gewohnten Gang. Nun wir Tageslicht hatten, war natürlich mehr Arbeit verschiedener Art auf dem Eise zu thun als im Winter.

Schon mehrfach habe ich unsere erfolglosen Bemühungen, beim Lothen den Grund zu erreichen, erwähnt; leider waren wir auf so große Tiefen nicht vorbereitet und hatten keinen Tiefsee-Lothapparat mitgebracht. Wir mußten uns daher helfen, so gut wir konnten, und zwar, indem wir eine der Stahltrossen des Schiffes opferten, um daraus eine Lothleine herzustellen.

siehe Bildunterschrift

Aufgethürmtes Eis an der Backbordseite.

Es hielt nicht schwer, auf dem Eise einen genügend großen Platz zur Anlage einer Reepschlägerei zu errichten, in welcher die Arbeit rasch fortschritt, obwol eine Temperatur von –30º bis –40º C nicht gerade die angenehmste ist, um in derselben mit Gegenständen wie Stahldraht umzugehen.

siehe Bildunterschrift

Auffindung einer Tiefsee von 3800 Meter.

Das Stahlkabel wurde in seine einzelnen Stränge zerlegt und aus diesen eine neue biegsame Lothleine hergestellt, indem wir zwei derselben wieder zusammendrehten. In dieser Weise fertigten wir eine Leine von 4000–5000 Meter Länge an und konnten damit endlich den Grund erreichen. Die Wassertiefe schwankte zwischen 3300 und 3900 Meter.

Das war eine bemerkenswerthe Entdeckung; denn wie ich schon wiederholt erwähnt habe, hatte man bisher angenommen, daß das unbekannte Polarbecken seicht und mit zahlreichen unbekannten Ländern und Inseln besetzt sei. Auch ich hatte, als ich meinen Plan skizzirt hatte (siehe Seite 19 und 21), noch geglaubt, daß es seicht sei und von einer tiefen Rinne durchschnitten werde, die vielleicht die Fortsetzung der Tiefsee im Nordatlantischen Ocean (siehe Seite 22) wäre.

Aus der Annahme eines seichten Polarmeeres hatte man geschlossen, daß die Regionen um den Pol herum früher aus einer ausgedehnten Landfläche bestanden hätten und die vorhandenen Inseln nur die Ueberreste derselben seien. Ferner hatte man angenommen, daß dieses ausgedehnte Polarland der Ursprungsort vieler unserer Thier- und Pflanzenformen gewesen sei, die ihren Weg von dort nach unseren Breiten gefunden hätten. Diese Muthmaßungen scheinen jetzt auf einer etwas schwachen Grundlage zu beruhen.

Die große Tiefe deutet an, daß hier keinesfalls in einer sehr jungen geologischen Zeit Land gewesen ist; diese Tiefe ist ohne Zweifel ebenso alt wie diejenige des Atlantischen Oceans, von welcher das Polarmeer fast sicher einen Theil bildet.

Eine weitere Aufgabe, der ich große Wichtigkeit beimaß und die ich schon häufig erwähnt habe, war die Feststellung der Temperatur des Meeres in verschiedenen Tiefen, von der Oberfläche bis hinab zum Grunde. Diese Messungen stellten wir so oft an, als die Zeit es uns gestattete; sie ergaben, wie bereits bemerkt, überraschende Resultate und zeigten das Vorhandensein wärmeren Wassers unter der kalten Oberflächenschicht.

Es ist hier nicht der Ort, die Resultate der verschiedenen Messungen zu geben; aber da sie sich alle sehr ähnlich sind, theile ich eins derselben als Beispiel mit, damit man sich einen Begriff machen kann, wie sich die Temperatur vertheilt.

Die Temperaturreihe, aus der ich hier einen Auszug gebe, wurde vom 13. bis zum 17. August beobachtet.

Temperaturtafel.

Tiefe Temperatur   Tiefe Temperatur
Meter Grade nach Celsius   Meter Grade nach Celsius
Oberfläche + 1,02   400 + 0,35
2 - 1,32   450 + 0,36
20 - 1,33   500 + 0,34
40 - 1,50   600 + 0,20
60 - 1,50   700 + 0,14
80 - 1,50   800 + 0,07
100 - 1,40   900 - 0,04
120 - 1,21   1000 - 0,10
140 - 0,97   1200 - 0,28
160 - 0,58   1400 - 0,31
180 - 0,31   1600 - 0,46
200 - 0,03   1800 - 0,60
220 + 0,19   2000 - 0,66
240 + 0,20   2600 - 0,74
260 + 0,34   2900 - 0,76
280 + 0,42   3000 - 0,73
300 + 0,34   3400 - 0,69
325 + 0,49   3700 - 0,65
350 + 0,44   3800 - 0,64

Diese Wassertemperaturen sind in verschiedener Hinsicht merkwürdig. Zunächst sinkt die Temperatur, wie man sieht, von der Oberfläche abwärts bis in die Tiefe von 80 Meter, worauf sie bis 280 Meter wieder steigt, um bei 300 Meter aufs neue zu sinken und bei 325 Meter nochmals zu steigen. Dort beträgt sie 0,49º C Darauf sinkt sie, um bei 450 Meter wieder zu steigen, und sinkt dann bis 2900 Meter stetig, steigt aber auf dem Grunde langsam wieder an.

Ein ähnliches Steigen und Fallen fanden wir bei fast allen Messungsreihen, welche wir vornahmen, und die Schwankungen von einem Monat zum andern waren so gering, daß sie in den correspondirenden Tiefen sich oft nur auf ein paar Hundertstel eines Grades beliefen.

siehe Bildunterschrift

Ablesen der Temperatur am Tiefseethermometer mit der Lupe (12. Juli 1894).

Gelegentlich stieg die Temperatur der warmen Schichten sogar noch höher, als hier angegeben. So betrug sie am 17. October bei 300 Meter Tiefe +0,85º, bei 350 Meter +0,76º, bei 400 Meter +0,78º und bei 500 Meter 0,62º, worauf sie gleichmäßig sank, bis sie nach dem Meeresgrunde zu wie vorher stieg.

Wir hatten nicht erwartet, in diesen öden Regionen viel Vogelleben anzutreffen, und waren daher nicht wenig überrascht, als uns am Pfingstsonntag, 13. Mai, eine Möve einen Besuch abstattete. Später sahen wir regelmäßig Vögel verschiedener Art in unserer Nachbarschaft, bis dies endlich ein tägliches Ereigniß wurde, dem wir keine besondere Beachtung mehr schenkten.

Meist waren es Elfenbeinmöven ( Larus eburneus), Stummelmöven ( Rissa tridactyla) ein Eissturmvogel ( Procellaria glacialis) und hin und wieder eine Tauchermöve ( Larus glaucus), eine Silbermöve ( Larus argentatus?) oder eine Grilllumme ( Uria grylle); ein- oder zweimal sahen wir auch eine Raubmöve (wahrscheinlich Lestris parasitica), wie z.B. am 14. Juli. Am 21. Juli besuchte uns auch eine Schneeammer ( Plectrophanes nivalis).

Am 3. August ereignete sich ein sehr merkwürdiger Vorfall, indem wir Besuch von der arktischen Rosenmöve (Rhodostlistia rosea) erhielten. Ich bemerkte darüber in meinem Tagebuche:

siehe Bildunterschrift

Zwei Elfenbeinmöven (Larus eburneus)   Eissturmvogel (Procellaria glacialis)    Schneeammer (Plectrophanes nivalis)
Sommergäste.

»Heute ist mir endlich ein sehnlicher Wunsch erfüllt worden; ich habe Roß-Möven Diese Möve wird oft nach ihrem Entdecker Roß so genannt. Ihre andere Bezeichnung »Rosenmöve« rührt von ihrer blaßrothen Farbe her. geschossen, drei Stück an einem Tage.

»Dieser seltene und geheimnißvolle Bewohner des unbekannten Nordens, der sich nur gelegentlich sehen läßt, von dem niemand weiß, woher er kommt und wohin er geht, und der ausschließlich aus jener Welt stammt, zu welcher nur die Phantasie sich aufschwingt, gehört zu dem, was ich vom ersten Augenblicke, seitdem ich diese Gegenden gesehen habe und das Auge über die einsamen Eisflächen schweifen ließ, zu entdecken gehofft habe. Und nun kam er, als ich es am wenigsten gedacht hatte!

»Ich hatte einen kleinen Spaziergang auf dem Eise in der Nähe des Schiffes gemacht, hatte mich neben einen Eishaufen gesetzt und ließ die Augen nach Norden schweifen, wo sie an einem Vogel haften blieben, der über einer großen Eiskette schwebte. Anfänglich hielt ich ihn für eine Stummelmöve, fand aber nach seinem schnellen Fluge, den spitzen Flügeln und dem scharfen Schwanze bald mehr Aehnlichkeit mit einer Raubmöve heraus.

»Nachdem ich meine Flinte geholt hatte, waren es ihrer zwei, die beständig um das Schiff herumflogen. Ich konnte sie jetzt genauer betrachten und erkannte, daß sie für Raubmöven zu hell im Gefieder waren. Sie waren durchaus nicht scheu, sondern flogen immer nahe um das Schiff herum.

»Als ich sie auf dem Eise verfolgte, schoß ich bald eine derselben und war, als ich sie aufnahm, nicht wenig erstaunt, einen kleinen Vogel ungefähr von der Große einer Schnepfe zu finden; auch der gesprenkelte Rücken erinnerte an diesen Vogel. Gleich darauf schoß ich auch die andere, und später im Laufe des Tages noch eine dritte. Als ich die letztere ergriff, war sie noch nicht ganz todt und brach ein paar große Garnelen aus, die sie in einer der Rinnen gefangen haben mußte.

»Alle drei waren junge Thiere von ungefähr 32 Centimeter Länge mit dunkelgesprenkeltem grauem Gefieder auf dem Rücken und den Flügeln; die Brust und der Leib waren weiß mit einem kaum wahrnehmbaren Ton von Orangeroth; um den Hals war ein graugesprenkelter dunkler Ring.«

Etwas später verschwindet das gesprenkelte Gefieder; es wird dann auf dem Rücken blau mit einem schwarzen Ringe um den Hals, während die Brust eine zarte rosenrothe Färbung annimmt. Einige Tage danach, am 6. und 8. August, schossen wir noch einige dieser Vögel, insgesammt acht Stück.

Während die Zeit verging, nahm der schon im Winter erwogene Plan andauernd einen hervorragenden Platz in meinen Gedanken ein: der Plan, das unbekannte Meer zu erforschen, ohne der Bahn zu folgen, auf welcher die »Fram« trieb.

Aengstlich behielt ich die Hunde im Auge, aus Furcht, daß ihnen etwas zustoßen könnte, auch um sicher zu sein, daß sie in guter Verfassung blieben, denn meine ganze Hoffnung beruhte auf ihnen. Mehrere von ihnen waren allerdings todt gebissen und zwei von Bären getödtet worden, aber wir hatten noch 26 übrig und außerdem zum Ersatz für etwaige Verluste die jungen Thiere, von denen wir, wie erwähnt, 8 am Leben gelassen hatten.

Als das Frühjahr weiter vorgeschritten war, ließen wir die letzteren an Deck herumlaufen, und am 5. Mai wurde ihnen die Welt noch beträchtlicher erweitert. Ich schrieb:

»Nachmittags ließen wir die jungen Hunde auf das Eis, wo ›Kvik‹ sofort weite Ausflüge mit ihnen unternahm, um sie mit der Umgebung vertraut zu machen. Zunächst stellte sie ihnen unsern meteorologischen Apparat, dann die Bärenfalle und darauf die verschiedenen Eishügel vor. Sie waren anfänglich sehr vorsichtig und blickten sich furchtsam um, ehe sie sich ganz langsam, Schritt für Schritt, von der Schiffsseite zu entfernen wagten; bald aber begannen sie, in der von ihnen entdeckten Welt wie unbändig umherzutummeln.

siehe Bildunterschrift

Rosenmöven.

»›Kvik‹ war sehr stolz, als sie ihren Nachwuchs in die Welt hinausführte, und jagte in freudigster Stimmung umher, obwol sie erst kurz vorher von einer weiten Schlittenfahrt zurückgekehrt war, auf welcher sie im Geschirr wie gewöhnlich gute Dienste geleistet hatte.

»Am Nachmittag bekam einer der schwarz und weißen jungen Hunde einen Anfall von Verrücktheit. Wie ein Rasender rannte er und bellte um das Schiff herum; dabei biß er, während die andern ihn verfolgten, alles was ihm in den Weg kam. Endlich gelang es uns, ihn vorn auf Deck einzuschließen, wo er noch eine Zeit lang weiter raste, dann sich aber beruhigte; jetzt scheint er wieder ganz wohl zu sein. Das ist schon der vierte, der einen ähnlichen Anfall gehabt hat. Zum Henker, was ist denn dies?

»Wasserscheu kann es unmöglich sein, sonst hätte sich diese unter den ausgewachsenen Hunden gezeigt. Ob es Zahnschmerz, erbliche Epilepsie oder sonstiges Teufelszeug sein mag? Leider starben mehrere der Thiere an solchen unerklärlichen Anfällen. Die jungen Hunde waren so hübsche, artige Thiere, daß es uns allen sehr leid that, wenn ein solcher Fall eintrat.«

Am 3. Juni schrieb ich:

»Heute Vormittag ist wieder einer der jungen Hunde infolge eines dieser geheimnißvollen Anfälle gestorben, und ich kann mir nicht verhehlen, daß es mir sehr zu Herzen geht und daß ich darüber niedergeschlagen bin.

»Ich hatte mich an diese kleinen Polargeschöpfe so gewöhnt, die ihr sorgloses Dasein an Deck verbrachten und von morgens bis abends und auch noch in die Nacht hinein um uns herum spielten und jagten. Ich kann ihnen stundenlang mit großem Vergnügen zusehen, mich mit ihnen wie mit kleinen Kindern beschäftigen und um das Oberlicht herum Verstecken spielen, wobei sie vor Freude außer sich sind.

»Der soeben verendete war der größte und stärkste von ihnen, ein schönes Thier; ich hatte ihm den Namen ›Lova‹ gegeben. Er war so zutraulich, sanft und zärtlich. Gestern sprang und spielte er noch umher, war so lebensfroh und rieb sich an mir, heute ist er todt. Ihre Reihen lichten sich. Das Schlimmste dabei ist, daß wir vergebens zu erforschen suchen, was ihnen fehlt.

»Dieser Hund war anscheinend vollständig normal und ganz vergnügt, bis er sein Frühstück erhalten hatte; dann begann er zu winseln und, wie von Sinnen, heulend und bellend umherzujagen, gerade wie es die andern gemacht hatten. Später stellten sich Krämpfe ein, und es stand ihm der Schaum vor dem Maule. Einer dieser Krämpfe hat ihn wahrscheinlich getödtet.

»Blessing und ich untersuchten ihn nach dem Tode, konnten aber keine ungewöhnlichen Zeichen an ihm entdecken. Mir scheint es keine ansteckende Krankheit zu sein; es ist mir geradezu unbegreiflich.

»Auch ›Ulenka‹, der schönste Hund der ganzen Meute, unser Trost und unsere Hoffnung, wurde eines Tages plötzlich krank.

»Es war am Morgen des 24. Mai, als wir ihn gelähmt und völlig hülflos in seinem Stall auf Deck liegend fanden; er versuchte aufzustehen, vermochte sich aber nicht zu erheben und fiel sofort wieder nieder, wie ein Mensch, der einen Schlaganfall gehabt und alle Macht über seine Glieder verloren hat. Es wurde ihm sofort in einer Kiste ein Lager bereitet und er auf das sorgsamste gepflegt; abgesehen davon, daß er nicht gehen kann, ist er anscheinend ganz wohl.«

Es muß eine Art Schlaganfall gewesen sein, der das Rückgrat irgendwo getroffen und die eine Seite des Körpers gelähmt hat. Der Hund wurde langsam wieder hergestellt, hat aber den vollständigen Gebrauch der Beine nie wieder bekommen, obwol er uns auf unserer spätern Schlittenexpedition begleitet hat.

Die Hunde scheinen den Sommer nicht gern zu haben; es ist ihnen zu naß auf dem Eise und zu warm.

Am 11. Juni schrieb ich:

»Heute haben alle Tümpel auf dem Eise rund herum wunderbar an Größe zugenommen, und es ist keineswegs angenehm, das Schiff mit nicht wasserdichten Schuhen zu verlassen; es wird für die Hunde immer nasser, und sie schwitzen immer mehr vor Hitze, obgleich die Temperatur bisjetzt noch selten über den Nullpunkt steigt. Vor einigen Tagen wurden sie auf das Eis übersiedelt, wo zwei lange Ställe für sie errichtet worden sind. Bis dahin hatten sie ihre Ställe an Deck. Diese sind aus Kisten hergestellt und bestehen in Wirklichkeit nur aus einer Wand und einem Dache.

siehe Bildunterschrift

Unsere Hundeställe.

Hier verbringen die Thiere den größten Theil des Tages, und wir sind alle Unreinlichkeit los, abgesehen von derjenigen der vier jungen Hunde, die noch immer oben bleiben und ein herrliches Leben, zwischen Schlaf und Spiel abwechselnd, führen. Auch ›Ulenka‹ ist noch immer an Deck und geht langsam der Wiederherstellung entgegen.«

Die tägliche Lebensweise der Hunde ist jetzt ebenso regelmäßig wie im Winter. Morgens um 8½ Uhr werden sie losgelassen. Sie werden jedesmal sehr ungeduldig, wenn die Stunde ihrer Erlösung herannaht. Sobald sich jemand an Deck blicken läßt, ertönt im Chore das wilde Geheul der 26 Stimmen, welche laut Nahrung und Freiheit fordern.

Nachdem sie losgelassen sind, erhalten sie ihr Frühstück, bestehend aus einem halben gedörrten Fisch und drei Stücken Hundekuchen für jeden. Der Rest des Vormittags wird von ihnen damit zugebracht, alle Abfallhaufen, die zu finden sind, zu durchwühlen und alle leeren Blechdosen, die sie schon hundertmal geplündert haben, zu benagen und auszulecken. Schleudert der Koch einmal eine neue Dose auf das Eis, so entspinnt sich sofort ein wüthender Kampf um diesen Preis.

Oft passirt es, daß der eine oder andere von ihnen bei dem Versuche, ein verführerisches Stück Fett aus einer tiefen engen Dose herauszuholen, den Kopf so weit hineinsteckt, daß dieser festsitzt und das Thier sich von der Dose nicht wieder befreien kann. Dann springt er mit diesem Futteral auf dem Kopfe blindlings über das Eis und treibt die wunderbarsten Possen in dem Bemühen, die Dose wieder los zu werden, zum größten Ergötzen von uns Zuschauern.

Sind die Hunde ihrer Arbeit in den Abfallhaufen müde, so strecken sie keuchend ihre runden, wurstartigen Körper in der Sonne, wenn sie scheint. Wenn es dort zu warm ist, suchen sie den Schatten auf. Vor dem Mittagessen werden sie wieder angebunden; jedoch Pflegen »Pan« und einige andere Gesinnungsgenossen sich kurz vorher fortzuschleichen und sich hinter einem Hügel zu verbergen, sodaß man nur hier und dort einen Kopf oder ein Ohr hervorgucken sieht. Sollte jemand kommen und sie holen wollen, so würden sie knurren, die Zähne zeigen und vielleicht gar zuschnappen, sich dann aber platt niederlegen und ins Gefängniß schleppen lassen.

Den Rest des Tages verbringen die Hunde mit Schlafen, Schnauben und Keuchen infolge der außerordentlichen Hitze, die, nebenbei bemerkt, einige Grade unter Null ist. Hin und wieder erheben sie im Chor ein Geheul, das sicherlich in Sibirien zu hören ist, und raufen miteinander, daß die Haare nach allen Richtungen fliegen.

siehe Bildunterschrift

Die Hunde schwitzen in der Sonne.

Die Verlegung der Hunde auf das Eis hat der Wache die beschwerliche Pflicht auferlegt, nachts an Deck zu bleiben, was vorher nicht üblich war; allein nachdem einmal ein Bär an Bord gewesen ist und zwei unserer werthvollen Thiere geraubt hat, wollen wir solche Besucher nicht wieder haben.

Am 31. Juli vermehrte »Kvik« unsere Bevölkerung abermals, indem sie elf junge Hunde zur Welt brachte. Einer davon war eine Mißgeburt und wurde sofort getödtet; zwei andere starben später, aber die meisten wuchsen auf und wurden schöne Thiere. Sie sind sämmtlich noch am Leben.

In dieser Zeit passirte wenig oder nichts, ausgenommen natürlich, daß die verschiedenen Festtage mit großer Feierlichkeit begangen wurden.

Den 17. Mai, den Jahrestag der norwegischen Verfassung, feierten wir mit besonderem Glanze; von dieser Feier finde ich folgende Beschreibung in meinem Tagebuch:

Freitag, 18. Mai. Der 17. Mai wurde mit größter Feierlichkeit begangen. Morgens wurden wir durch die Klänge des Harmoniums geweckt, das die muntere Weise des »College Hornpipe« hören ließ. Dann hatten wir ein glänzendes Frühstück, bestehend aus geräuchertem Lachs, Ochsenzunge u. s. w. Die ganze Schiffsmannschaft trug zur Feier des Tages Bandschleifen, sogar der alte »Suggen« hatte eine solche am Schwanze.

Es blies ein pfeifender Wind, und die norwegische Flagge am Topp flatterte lustig in der lebhaften Brise. Gegen 11 Uhr versammelte sich die ganze Gesellschaft mit ihren Bannern auf dem Eise an der Backbordseite des Schiffes, wo der Festzug sich aufstellte.

Als erster kam der Führer der Expedition mit der »reinen« Ohne das Symbol der Union mit Schweden. norwegischen Flagge; ihm folgte Sverdrup mit dem Schiffswimpel, der, 6 Meter lang, mit seinem Fram auf rothem Grunde prachtvoll aussah. Dann kam ein Hundeschlitten mit der Musikkapelle (Johansen mit der Ziehharmonika) und Mogstad als Kutscher, darauf der Steuermann mit Büchse und Harpune, Hendriksen mit einer langen Harpune, dann Amundsen und Nordahl mit einem rotten Banner. Nunmehr folgte der Doctor mit einer Demonstrationsflagge zu Gunsten des Normal-Arbeitstages; sie bestand aus einer wollenen Unterjacke, mit den Buchstaben N. A. auf der Brust eingestickt, und war auf einer sehr langen Stange angebracht; sie machte sich sehr eindrucksvoll. Es folgte unser Küchenchef Juell mit einem von »Peik's« Bezeichnung des Herdes in der Küche. Schmortiegeln auf dem Rücken. Darauf kamen die Meteorologen mit einem seltsamen Apparat, bestehend aus einem schwarzen Blechschild, über welchem ein rothes Band mit den Buchstaben Al. St., die »Allgemeines Stimmrecht« bedeuten sollten, befestigt war. Bis auf den heutigen Tag ist mir noch nicht ganz klar, was diese Embleme bedeuten sollten. Daß der Doctor aus Mangel an Praxis sehr gern einen Normal-Arbeitstag gehabt hätte, ist sehr leicht erklärlich; weshalb aber die Meteorologen nach dem »Allgemeinen Stimmrecht« schrien, geht über mein Verständniß. Wollten sie irgendwelchen Despotismus stürzen?

Endlich setzte sich der Festzug in Bewegung. Die Hunde marschirten ganz gravitätisch, als ob sie im ganzen Leben nichts anderes zu thun gehabt hätten, als Processionen mitzumachen, und die Musik spielte einen prachtvollen Festmarsch, der nicht für diesen Anlaß componirt war.

Der stattliche Zug bewegte sich zweimal um die »Fram« herum, worauf er mit großer Feierlichkeit in der Richtung nach dem großen Eishügel marschirte und unterwegs von dem Photographen der Expedition aufgenommen wurde. An dem Eishaufen wurde ein lebhaftes Hoch der »Fram« ausgebracht, die uns so vortrefflich bis hierher getragen habe und die uns ohne Zweifel ebenso gut wieder nach Hause bringen werde.

Dann kehrte die Procession wieder um und marschirte am Bug vorüber. Am Backbord-Fallreep hielt der Photograph von der Brücke zu Ehren des Tages eine Rede. An diese schloß sich ein donnernder Salut von sechs Schüssen, der zur Folge hatte, daß fünf oder sechs von den Hunden über Eishügel und -Ketten davonstürzten und sich mehrere Stunden lang verborgen hielten.

Inzwischen waren wir in die festlich mit Flaggen geschmückte gemüthliche Kajüte hinabgegangen, wo wir nach einem hübschen Walzer als Vorspiel ein splendides Diner einnahmen.

Das Menu war: klein gehackte Fische mit Hummer in Curry, geschmolzene Butter und Kartoffeln; Musik; Schweins-Cotelettes mit grünen Erbsen, Kartoffeln, Mango-Pickles und Worcester-Sauce; Musik; Aprikosen und Eiertorte mit Crême; viel Musik. Dann hielten wir Siesta; darauf Kaffee, Rosinen, Feigen und Kuchen. Der Photograph bewirthete uns mit Cigarren; großer Enthusiasmus, dann Fortsetzung der Siesta. Nach dem Abendessen trug Mogstad auf der Violine etwas vor, worauf Erfrischungen in Gestalt von Feigen, Confect, Aprikosen und Honigkuchen gereicht wurden. Alles in allem ein reizender »Siebzehnter Mai«, namentlich auch mit Rücksicht darauf, daß wir den 81. Breitengrad passirt hatten.

siehe Bildunterschrift

Feier des 17. Mai (1894).

Montag, 28. Mai. Ach, bin ich dieser endlosen Weißen Flächen so müde, die nicht einmal zu Schneeschuhfahrten zu benutzen sind, abgesehen davon, daß die Rinnen einen überall hindern!

Tag und Nacht schreite ich auf Deck auf und ab, das Eis an den Schiffsseiten entlang und denke über die tiefsten wissenschaftlichen Probleme nach. Während der letzten Tage ist es namentlich die Verschiebung des Pols gewesen, die mich im Banne gehalten hat.

Ich bin von dem Gedanken erfaßt, daß die Gezeitenwelle im Verein mit der ungleichen Vertheilung von Land und Meer einen störenden Einfluß auf die Lage der Erdachse ausüben müsse. Wenn einem eine solche Idee einmal in den Kopf gekommen ist, ist es nicht leicht, sie wieder los zu werden.

Nachdem ich mehrere Tage darüber nachgegrübelt hatte, habe ich schließlich entdeckt, daß der Einfluß des Mondes auf das Meer groß genug sein müsse, um in 800 000 Jahren eine Verschiebung des Pols um den Betrag von einer Bogenminute herbeizuführen. Zur Erklärung der Eiszeit in Europa, was mein Hauptaugenmerk ist, muß ich den Pol mindestens um zehn oder zwanzig Grade verschieben. Das bedingt aber einen unbequem langen Zeitraum seit jener Periode, und beweist, daß das Menschengeschlecht ein achtunggebietendes Alter erreicht haben muß. Natürlich ist dies alles Unsinn.

Aber während ich in tiefen Betrachtungen unverdrossen auf Deck auf- und abschreite und mich für einen der größten Denker halte, entdecke ich plötzlich, daß meine Gedanken in der Heimat weilen, wo jetzt alles Sommer und Schönheit ist und wo die, welche ich zurückgelassen habe, Luftschlösser bauen über all die Herrlichkeit, die kommen wird, wenn ich einmal heimgekehrt bin.

Ja, ja! Ich verwende eigentlich zu viel Zeit auf solches Thun. Aber die Drift ist so langsam wie je, und der Wind, der allesvermögende, ist noch immer unverändert. Das Erste, wonach meine Augen schauen, wenn ich morgens den Fuß auf Deck setze, ist der Flügel im Besanstopp, um zu sehen, wie der Wind weht; dorthin schweifen sie immer wieder während des ganzen Tages und dort ruhen sie auch zuletzt, bevor ich in die Koje gehe. Aber er weist immer nach derselben Richtung, West und Südwest, und wir treiben bald schneller, bald langsamer westwärts und nur wenig nach Norden.

Ich zweifle jetzt nicht an dem Erfolge unserer Expedition, und mein Irrthum in der Rechnung ist doch nicht so groß gewesen; ich glaube aber kaum, daß wir höher als bis 85° treiben werden, wenn überhaupt so weit. Es hängt davon ab, ob Franz-Joseph-Land sich weit nach Norden ausdehnt. Ist das der Fall, dann wird es hart sein, die Erreichung des Pols aufzugeben. Es ist im Grunde nur eine Frage der Eitelkeit, reines Kinderspiel im Vergleich zu dem, was wir thun und noch auszuführen hoffen, und doch muß ich bekennen, daß ich thöricht genug bin, den Pol erreichen zu wollen, und wahrscheinlich den Versuch dazu machen werde, wenn wir in nicht allzu langer Zeit in seine Nachbarschaft gelangen.

Dieser Mai ist mild; die Temperatur ist in letzter Zeit mehrfach um den Nullpunkt herum gewesen, und man kann sich beim Auf- und Abgehen in die Heimat versetzt glauben. Selten sind mehr als ein paar Grad Kälte, allein es kommen jetzt die Sommernebel mit gelegentlichem Reif. In der Regel ist jedoch der Himmel mit seinen leichten, flüchtigen Wolken fast wie der Frühlingshimmel im Süden.

Auch an Bord bemerken wir, daß es milder geworden ist. Wir brauchen kein Feuer mehr im Ofen, um es uns warm und gemüthlich zu machen, obwol wir uns in dieser Beziehung niemals großem Luxus hingegeben haben.

Im Proviantraum beginnen der Reif und das Eis, die sich an der Decke und den Wänden gebildet haben, zu schmelzen. In den Räumen hinter dem Salon, sowie im Schiffsraum haben wir eine große Reinigung vornehmen und das Eis und den Reif abscheuern und austrocknen müssen, um unsere Vorräthe vor dem Verderben zu bewahren, da sonst die Feuchtigkeit durch die Umhüllungen dringt und der Rost Löcher in die Blechkisten frißt. Außerdem haben wir lange Zeit die Luken zum Raum offen gehalten, sodaß stets ein tüchtiger Luftzug hindurchging und ziemlich viel Reif verdunstet ist.

Es ist übrigens merkwürdig, wie wenig Feuchtigkeit wir an Bord haben. Dies rührt von der soliden Bauart der »Fram« her, sowie davon, daß das Deck über dem Raum an der Unterseite getäfelt ist. Ich gewinne dieses Schiff mehr und mehr lieb.

Sonnabend, 9. Juni. Unser Politiker Amundsen feiert den heutigen Tag Wegen des Beschlusses des Stortings am 9. Juni 1880. durch ein weißes Hemd nebst Kragen.

Heute bin ich mit meiner Arbeit wieder in das Deckshaus übergesiedelt, wo ich sitzend aus dem Fenster blicken kann. Ich fühle, daß ich in der Welt lebe und nicht in einer Höhle, wo man Nacht und Tag Licht brennen muß. Ich beabsichtige, solange wie möglich, bis in den Winter hinein, hier zu bleiben; es ist so gemüthlich und ruhig hier, und die einförmige Umgebung drängt sich mir nicht fortwährend auf.

Ich habe wirklich das Gefühl, daß der Sommer gekommen ist. Stundenlang kann ich in der Sonne auf Deck auf- und abschreiten oder stillstehen und mich von ihr braten lassen, während ich eine Pfeife rauche und meine Blicke über die verwirrenden Schnee- und Eismassen schweifen.

Der Schnee ist jetzt überall naß, und es beginnen sich hier und dort Teiche zu bilden. Das Eis durchsetzt sich auch immer mehr mit Salzwasser. Wenn man ein noch so kleines Loch bohrt, füllt es sich sofort mit Wasser. Der Grund davon ist natürlich, daß infolge des Steigens der Temperatur die im Eise enthaltenen Salztheilchen ihre Umgebung zu schmelzen beginnen und sich Wasser mit einem starken Zusatz von Salz bildet, sodaß dessen Gefrierpunkt niedriger ist als die Temperatur des Eises rund um dasselbe.

Diese ist ebenfalls erheblich gestiegen; in 1,2 Meter Tiefe beträgt sie nur -3,8° C, während das Wasser in 1,6 Meter Tiefe wieder etwas wärmer ist, -3,1° C.

Sonntag, 10. Juni. Seltsamerweise haben wir noch keinen Fall von Schneeblindheit an Bord gehabt, mit Ausnahme des Doctors, der vor ein Paar Tagen abends einen leichten Anfall davon bekam, nachdem wir Ball gespielt hatten. Die Augen thränten ihm längere Zeit, doch war er bald wieder hergestellt. Ein drolliger Streich des Schicksals, daß gerade er der erste war, der an dieser Krankheit litt.

Später hatten wir noch einige vereinzelte leichte Fälle von Schneeblindheit, sodaß ein paar von unsern Leuten mit dunkeln Brillen gehen mußten; es war jedoch nicht von Bedeutung und nur die Folge davon, daß sie es nicht für der Mühe Werth gehalten hatten, die nothwendigen Vorsichtsmaßregeln zu beobachten.

Montag, 11. Juni. Heute machte ich eine erfreuliche Entdeckung. Ich hatte geglaubt, ich hätte mein letztes Bund Cigarren in Angriff genommen, und hatte ausgerechnet, daß, wenn ich täglich eine rauchte, ich noch etwa einen Monat damit auskommen würde; ganz unerwartet finde ich aber noch eine ganze Kiste voll in meiner Schublade. Große Freude! Sie wird mir helfen, ein paar weitere Monate hinzubringen, – wo werden wir dann sein?

Armer Junge, bei dir ist es wirklich ganz Ebbe! Die Zeit zu vertreiben, ist ein Gedanke, der dir früher kaum in den Sinn gekommen ist. Es ist sonst immer dein größter Kummer gewesen, daß die Zeit so rasch entschwand, und jetzt kann sie dir nicht schnell genug dahinfliegen. Und dann dem Taback so zugethan – mit deinen ewigen Träumereien ziehst du dich hinter die wallenden Rauchwolken zurück. Horch auf den Südwind, wie er durch die Takelung pfeift; es ist ganz angenehm, ihm zuzuhören!

Am Vorabend des Johannistages mußten wir natürlich in üblicher Weise ein Freudenfeuer haben, doch scheint nach meinem Tagebuche nicht das richtige Wetter dafür gewesen zu sein.

Sonnabend, 23. Juni.

Wenn die Sommerlüfte wehen sanft und lind,
In dem Laubwerk abends flüstert leis der Wind
Und der Sonnenschein dem Purpur gleicht im West,
Dann freut jeder sich auf das Johannisfest.

Der nördliche Wind mit nassem Schnee hält an. Düsteres Wetter. Südliche Drift. 81° 43' nördlicher Breite, das sind 9 Minuten südwärts seit Montag.

Ich habe manchen Johannisabend unter verschiedenen Himmeln erlebt, aber nie einen solchen wie diesen. So fern, so fern vom Leben, von allem, was dieser Abend sonst umfaßt!

Ich denke an die Fröhlichkeit, die um die Freudenfeuer in der Heimat herrscht, höre das Kratzen der Fiedel, das Lachen, die Geschützsalven mit dem Echo, das von den blauen Höhen antwortet. Und dann blicke ich hinaus über die endlose weiße Fläche, in den Nebel, das Schneewetter und den Wind, der den Schnee vor sich hertreibt. Hier ist wahrlich keine Spur von der Fröhlichkeit des Johannistages. Es ist alles Grau in Grau.

Johanni ist vorbei; die Tage werden wieder kürzer, und die lange Winternacht naht heran, die uns vielleicht nicht weiter vorgedrungen finden wird, als sie uns verlassen hat.

Heute Nachmittag war ich eifrig mit der Untersuchung des Salzgehalts des Seewassers beschäftigt, als Mogstad den Kopf durch die Thür steckte und berichtete, es müsse ein Bär in der Nachbarschaft umherschleichen. Bei ihrer Rückkehr nach Tische von dem großen Eishügel, wo die Leute mit der Herstellung eines Eiskellers für frisches Fleisch Robben-, Walroß- und Bärenfleisch vom letzten Herbst für die Hunde. Während des Winters hatte es im Schiffe gehangen, wo es ganz frisch geblieben war. Fortan wurde es aber auf dem Eise aufbewahrt, bis es vor Eintritt des Herbstes verzehrt wurde. Es ist bemerkenswerth, wie gut sich das Fleisch in diesen Gegenden hält. Am 28. Juni 1894 hatten wir zu Mittag Braten von einem Renthier, das wir im September 1893 an der sibirischen Küste erlegt hatten. beschäftigt gewesen waren, hatten sie Spuren gefunden, die vorher nicht dort gewesen waren.

Ich legte meine Schneeschuhe an und verfolgte die Spuren. Aber wie schrecklich war in den letzten Tagen der Boden geworden! Nasser Schneeschlamm, in den die Schneeschuhe hülflos einsinken.

Der Bär war von Westen her ganz bis ans Schiff gekommen und hatte sich unsere Arbeiten betrachtet, war dann ein wenig zurückgegangen und darauf, einen beträchtlichen Umweg machend, in seiner gemächlichen, ruhigen Gangart nach Osten weiter marschirt, ohne es der Mühe werth zu halten, einer solchen Kleinigkeit, wie unserm Schiff, Beachtung zu schenken. Er hatte jedes Loch und jeden Winkel, wo vielleicht Aussicht war, Nahrung zu finden, durchsucht und den Schnee nach Resten, die die Hunde zurückgelassen hatten, und sonstigen Dingen durchwühlt. Dann war er nach den Rinnen im Eise gegangen und an denselben vorsichtig entlang gewandert, ohne Zweifel in der Hoffnung, einen oder zwei Seehunde zu treffen. Schließlich hatte er sich zwischen den Hügeln hindurch über die auf der Oberfläche nur aus Schneeschlamm und Wasser bestehenden Schollen entfernt. Wäre die Bahn gut gewesen, dann wäre der Bursche rasch mein gewesen, allein in diesem schlammigen Schnee hatte er einen zu großen Vorsprung vor mir.

Eine traurige, düstere Landschaft; nichts als Weiß in Weiß, Grau in Grau! Keine Schatten, nur halb verwischte, in Nebel und Schneeschlamm verschmelzende Formen; alles befindet sich im Zustande der Auflösung, und bei jedem Schritte gibt der Fleck, auf dem man steht, nach.

Es ist eine harte Arbeit für den Schneeschuhläufer, der hoffnungslos durch Schneeschlamm hinter der Bärenfährte herstapft, die sich um die Hügel herumwindet oder über sie hinwegführt. Die Schneeschuhe sinken tief ein, das Wasser reicht einem oft bis zu den Knöcheln, sodaß es schwer ist, die Schneeschuhe wieder herauszubekommen und weiterzuschieben; aber ohne Schneeschuhe würde man noch schlimmer daran sein.

Hier und dort wird das einförmige, grauweiße Wirrsal durch kohlschwarzes Wasser unterbrochen, das sich in schmälern und breitern Rinnen zwischen den hohen Hügeln hindurchwindet. Auf der schwarzen Oberfläche sind weiße, schneebedeckte Schollen und Eisstücke ausgestreut, die wie weißer Marmor auf schwarzem Grunde aussehen.

Gelegentlich trifft man einen größern dunkel gefärbten Tümpel, wo der Wind das Wasser faßt und kleine Wellen bildet, die gegen den Rand des Eises schlagen und spülen, das einzige Leben in dieser wüsten Einöde. Diese spielenden Wellen kommen einem wie ein alter Freund vor! Hier verzehren sie auch die Schollen und höhlen deren Ränder aus. Man könnte sich fast in südlichere Breiten versetzt glauben. Aber alles ringsherum ist mit Eis bekleidet, das in stets sich ändernden phantastischen Formen emporsteigt, im Gegensatz zu dem dunkeln Wasser, auf welchem das Auge einen Moment vorher geruht hatte.

Ewig, ruhelos wird der reine blauweiße Marmor dieses wandernden Eises modellirt mit der verschwenderischen Freigebigkeit der Natur, welche die herrlichsten Bildhauerwerke um sich entstehen läßt, die vergehen, ehe ein Auge sie erschaut hat.

Weshalb? Das Ganze ist ein einziges wechselndes Spiel der Schönheit. Es wird nur durch die Launen der Natur beherrscht, die genau jenen ewigen Gesetzen folgt, die nicht nach Ziel oder Absicht fragen.

Vor mir erhebt sich eine Eiskette hinter der andern, mit einer Rinne nach der andern dazwischen. – Im Juni war die »Jeannette« zerdrückt worden und gesunken. Was dann, wenn die »Fram« zwischen das Eis geräth? Nein, das Eis wird sie nicht besiegen! Und wenn es trotz alledem doch geschehen sollte?

Als ich umherblickte, fiel mir der Johannisabend ein. Weit drüben in der Ferne stiegen die Masten zum Himmel auf, in dem schneeerfüllten Nebel dem Blicke halb entschwunden. Wahrlich, die Leute, die unter diesem Deck hausen, haben Muth, Muth oder blindes Vertrauen auf ein Manneswort.

siehe Bildunterschrift

Peder Hendriksen in Gedanken.

Es ist alles ganz schön, daß derjenige, welcher einen Plan ausgeheckt hat, und sei er auch noch so unvernünftig, mitgeht, um ihn auszuführen; er thut natürlich sein Bestes für das Kind, das seine Gedanken ins Leben gerufen haben. Aber sie – sie hatten kein solches Kind zu pflegen; sie hätten ohne weiteres sich von einer Expedition wie diese fernhalten können. Weshalb sollte ein menschliches Wesen sich vom Leben lossagen, um hier ausgelöscht zu werden?

Sonntag, 24. Juni. Der Jahrestag unserer Abfahrt von der Heimat. Nördlicher Wind, noch immer südliche Drift.

Die heutigen Beobachtungen ergaben 81° 41,7' nördlicher Breite; so geht es also noch nicht weiter!

Ein langes Jahr; vieles hat sich ereignet, wenn wir auch nicht ganz so weit vorgedrungen sind, als ich erwartet hatte.

Ich sitze und schaue aus dem Fenster nach dem Schnee, der, vom Nordwind getrieben, draußen herumwirbelt. Ein merkwürdiger Johannistag!

Man sollte denken, wir hätten Schnee und Eis genug gehabt; ich sehne mich indessen nicht gerade nach grünen Feldern, jedenfalls nicht immer. Im Gegentheil, stundenlang sitze ich da und mache Pläne für spätere Reisen über das Eis nach unserer Rückkehr von dieser Expedition ...

Ja, ich weiß, was ich erreicht habe, und mehr oder weniger, was mich erwartet. Es ist alles ganz schön, daß ich Pläne für die Zukunft entwerfe, aber zu Hause ... Nein, ich bin heute Abend nicht in der Stimmung, um zu schreiben; ich will mich niederlegen.

Mittwoch, 11. Juli. 81° 18,8' nördlicher Breite. Endlich ist der Südwind wiedergekehrt, sodaß vorläufig das Südwärtstreiben ein Ende hat.

Jetzt sehne ich mich fast nach der Polarnacht, nach dem ewigen Wunderland der Sterne mit dem geisterhaften Nordlicht und dem durch die tiefblaue Stille segelnden Mond.

Dann ist's wie ein Traum, wie ein Blick in das Nebelreich der Phantasie. Da gibt es keine Formen, keine schwerlastende Wirklichkeit, nur eine Vision, gewoben aus Silber und den violetten Tönen des Aethers, von der Erde aufsteigend und in die Unendlichkeit hinausschwebend ...

Dieser ewige Tag mit seiner drückenden Wirklichkeit interessirt mich nicht mehr und lockt mich nicht aus meinem Lager heraus. Das Leben ist ein einziges, unaufhörliches Hasten von einer Aufgabe zur andern; alles muß geschehen, nichts darf vernachlässigt werden, Tag auf Tag, Woche auf Woche, und der Arbeitstag ist lang und endet selten früher als lange nach Mitternacht.

Aber überall zieht sich dasselbe Gefühl des Sehnens und der Leere hindurch, auf das man nicht achten darf. Ach, zu Zeiten kann man sich nicht frei davon halten, und die Hände sinken willenlos und kraftlos herab, so müde, so unaussprechlich müde.

O, es heißt, daß man den Frieden des Lebens bei den Heiligen in der Wüste finden könne. Wüste ist hier wahrlich genug, aber Frieden – ihn kenne ich nicht. Es fehlt wol die Heiligkeit.

Mittwoch, 18. Juli. Heute Vormittag unternahm ich mit Blessing einen Ausflug, um Proben von braunem Schnee und Eis zu sammeln, sowie im Wasser Algen und Diatomeen zu suchen.

Die Oberfläche der Schollen ist fast überall von schmutzigbrauner Farbe, oder wenigstens ist doch diese Art von Eis die vorherrschende, während reinweiße Schollen ohne Spur eines schmutzigen Braun auf ihrer Fläche selten sind. Ich dachte mir, diese braune Farbe müsse von den Organismen herrühren, die ich im October vorigen Jahres in dem frischgefrorenen bräunlichrothen Eise gefunden hatte; allein die Proben, die ich heute mitnahm, bestehen zum größten Theil aus mineralischem Staub, vermischt mit Diatomeen und andern Bestandtheilen organischer Herkunft. Dieselbe Art Staub fand ich auf dem Eise an der Ostküste von Grönland, wie in der Einleitung dieses Buches (Seite 18) erwähnt worden ist. Blessing hatte zu Anfang des Sommers auf der Oberfläche des Eises mehrere Proben gesammelt und dieselbe Beobachtung gemacht.

Ich muß das noch weiter untersuchen, um zu sehen, ob all dieser braune Staub mineralischer Natur ist und infolgedessen vom Lande herrührt. Dieser Staub, den man im Sommer auf der Oberfläche von fast allem ältern Polareis findet, ist ohne Zweifel zum großen Theile solcher, der in der Atmosphäre der Erde schwebt. Wahrscheinlich kommt er mit dem fallenden Schnee herab und sammelt sich allmählich, wenn der Schnee im Sommer schmilzt, zu einer Oberflächenschicht. Oft findet man aber auch größere Mengen Schlick auf dem Eise, der in der Farbe jenem Staub sehr ähnlich sieht, ohne Zweifel aber direct mit dem Lande in Verbindung steht, da er sich auf Schollen bildet, die ursprünglich in nächster Nähe vom Lande gelegen haben. (Vgl. »Wissenschaftliche Ergebnisse von Dr. F. Nansen's Durchquerung von Grönland«. Ergänzungsheft Nr. 105 zu »Petermanns Mitteilungen«, 1892.)

In den Rinnen fanden wir Mengen von Algenklumpen von derselben Art, wie wir sie schon früher oft wahrgenommen hatten. In fast jedem kleinen Kanal waren große Ansammlungen davon.

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Unser Doctor auf der Suche nach Algen.

Wir konnten auch sehen, daß an den Seiten der Schollen eine braune Schichte sich von der Eisoberfläche tief ins Wasser hinab erstreckte. Sie rührte von einer auf dem Eise wachsenden Alge her.

Im Wasser schwammen ebenfalls eine Anzahl kleinerer, zäher Klumpen, einige von weißer, andere von gelblichrother Farbe, von denen ich mehrere sammelte. Unter dem Mikroskop schienen sie sämmtlich aus Ansammlungen von Diatomeen zu bestehen, unter denen sich aber auch eine Anzahl größerer rother Zellen Organismen von ganz charakteristischem Aussehen befand. Ich habe noch keine Zeit gehabt, sie genau zu untersuchen.

Alle diese Diatomeen-Ansammlungen hielten sich in einer gewissen Tiefe, ungefähr einen Meter unter der Oberfläche des Wassers; in einigen der kleinen Rinnen erschienen sie in größeren Mengen. In derselben Tiefe schien auch die vorstehend erwähnte Alge hauptsächlich zu gedeihen, während einzelne Theile derselben bis zur Oberfläche aufstiegen. Offenbar halten diese Ansammlungen von Diatomeen und Algen sich genau in jener Tiefe, in welcher die obere Süßwasserschicht auf dem Seewasser ruht.

Das Wasser an der Oberfläche war ganz süß; die Diatomeenmassen sanken darin unter, schwammen aber, wenn sie das Seewasser darunter erreichten.

Donnerstag, 19. Juli. Es ist, wie ich erwartet hatte. Ich beginne jetzt, die Winde hier oben ziemlich genau zu verstehen.

Nachdem heute eine »Windmühlen-Brise« geweht hat, wird es abends windstill, und morgen werden wir vermuthlich West- oder Nordwestwind haben.

Gestern Abend die letzte Cigarre aus der alten Kiste! Und nun habe ich die erste aus meiner letzten Kiste geraucht. Wir hätten bis zu der Zeit, als die Kiste leer war, so und so weit sein müssen, sind aber kaum weiter vorgedrungen als damals, als ich mit der Kiste anfing, und der Himmel mag wissen, wie es sein wird, wenn die letzte geleert ist. Aber genug; rauch' nur zu!

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Unser Doctor fischt Algen.

Sonntag, 22. Juli. Der Nordwestwind hat nicht ganz die richtige Zeit eingehalten; am Freitag hatten wir statt seiner Nordostwind, der während der Nacht allmählich nach Nordnordost herumging, und gestern Vormittag wehte der Wind gerade aus Norden. Heute hat er im Westen aufgehört, in dem alten wohlbekannten Viertel, aus dem wir mehr als genug Wind gehabt haben. Heute Abend weist die Leine Wir hatten stets eine Leine mit einem Netz am Ende aushängen, um zu sehen, nach welcher Richtung wir trieben, und um festzustellen, ob eine bemerkbare Strömung im Wasser sei. ungefähr nach Nordwest zu West; eigenthümlich, daß wir uns wieder nach Süden bewegen.

Ich verbringe den Tag am Mikroskop und bin jetzt mit den Diatomeen und Algen aller Art beschäftigt, die in der obersten Süßwasserschicht des Meeres vorkommen. Es sind höchst interessante Wesen, eine ganze, neue Welt von Organismen, die von uns wohlbekannten Küsten durch das Eis quer über das Polarmeer geführt werden, um dort jeden Sommer zu erwachen und sich zu Leben und Blüte zu entwickeln.

Ja, es ist eine sehr interessante Arbeit, und dennoch habe ich nicht dasselbe brennende Interesse dafür wie einst, obwol der Geruch von Gewürznelkenöl, Canadabalsam und Xylol manch theure Erinnerungen an das ruhige Laboratorium zu Hause erweckt. Jeden Morgen, wenn ich hereintrete, laden das Mikroskop, die Gläser und Farben auf dem Tische zur Arbeit ein; aber obwol ich Tag für Tag bis spät in die Nacht hinein unermüdlich thätig bin, geschieht es doch meist nur aus Pflichtgefühl, und ich bin nicht böse, wenn die Arbeit beendet ist und ich hingehen und mich ein paar Stunden in die Koje legen kann, um einen Roman zu lesen und eine Cigarre zu rauchen. Mit welchem Jubel würde ich nicht das Ganze bei Seite werfen, aufspringen und das wirkliche Leben erfassen, um meinen Weg über Eis und Meer mit Schlitten, Booten oder Kajaks zu erkämpfen.

Es ist sehr wahr, daß es »leicht ist, ein Leben des Kampfes zu führen«; hier ist aber weder Sturm noch Kampf. Ich sehne mich nach ihnen, ich sehne mich danach, Riesenkräfte zu entfalten und meinen Weg vorwärts zu erkämpfen – das würde leben heißen! Aber welcher Reiz liegt in der Kraft, wenn es nichts für sie zu thun gibt? Bald treiben wir vorwärts, bald rückwärts, und jetzt liegen wir schon zwei Monate auf demselben Fleck.

Eins jedoch wird für eine etwaige Expedition oder für den Fall, daß es nothwendig werden sollte, das Schiff zu verlassen, bereit gemacht. Alle Handschlitten wurden zusammengesetzt, und der Eisenbeschlag ist sorgfältig nachgesehen worden. Auch wurden sechs Hundeschlitten angefertigt, und morgen werden wir mit dem Bau von Kajaks für alle beginnen; auf Handschlitten sind die Kajaks leicht zu ziehen, falls wir uns ohne das Schiff über das Eis zurückziehen müßten.

Für den Anfang stellen wir Kajaks her, die je zwei Mann tragen; ich beabsichtige, sie etwa 3½ Meter lang, ¾ Meter breit und 1/3 Meter tief machen zu lassen. Es müssen davon sechs angefertigt werden. Sie werden mit Seehundsfell oder Segeltuch bekleidet und ganz überdeckt, mit Ausnahme der beiden Löcher, eins für jeden Ruderer.

Ich fühle, daß wir alles, was für einen brillanten Rückzug erforderlich ist, haben oder vielmehr erhalten werden. Manchmal scheine ich mich fast nach einer Niederlage zu sehnen, einer entschiedenen Niederlage, damit wir Gelegenheit haben, zu beweisen, was in uns steckt, und damit dieser ermüdenden Unthätigkeit ein Ende gemacht wird.

Montag, 30. Juli. Westlicher, zur angenehmen Abwechselung etwas nordwestlicher Wind, das ist Woche für Woche unser tägliches Programm. Komme ich morgens herauf, so liegt mir nichts mehr daran, nach dem Flügel auf der Mastspitze oder nach der Leine im Wasser zu sehen, weil ich vorher weiß, daß der erstere nach Osten oder Südosten weist und die letztere die entgegengesetzte Richtung anzeigt und daß wir immer nach Südosten treiben. Gestern hatten wir 81° 7', vorgestern 81° 11' und am Montag, 23. Juli, 81° 26' nördlicher Breite!

Aber damit beschäftigen sich meine Gedanken nicht länger. Ich weiß sehr wohl, daß früher oder später eine Aenderung eintreten wird und daß der Weg zu den Sternen durch Widerwärtigkeiten führt. Ich habe eine neue Welt gefunden: die Welt des Thier- und Pflanzenlebens, das sich in fast jedem Süßwassertümpel auf den Eisschollen kundgibt.

Vom Morgen bis zum Abend, ja bis spät in die Nacht hinein werde ich vom Mikroskop vollständig in Anspruch genommen und sehe nichts von dem, was um mich her vorgeht. Ich lebe mit diesen zierlichen Wesen in ihrer eigenen Welt, wo sie, eine Generation nach der andern, entstehen und sterben, im Kampfe ums Dasein sich gegenseitig bekriegen und ihre Liebesangelegenheiten mit denselben Gefühlen, denselben Leiden, denselben Freuden verfolgen, die jedes lebende Wesen, von den mikroskopischen Thierchen bis zum Menschen erfüllen – Selbsterhaltung und Fortpflanzung, das ist das Ganze.

So heiß wir menschlichen Wesen auch kämpfen, um uns den Weg durch das Labyrinth des Lebens zu bahnen, ihre Kämpfe sind sicherlich nicht weniger erbittert als die unserigen – ein rastloses Hin- und Herjagen, wobei alle andern bei Seite gestoßen werden, um für sich selbst das, was nöthig ist, zu erobern. Und was die Liebe anlangt, so seht nur, mit welcher Leidenschaft sie sich gegenseitig auswählen! Trotz all unserer Gehirnzellen fühlen wir doch nicht stärker als sie und leben nie so ganz für eine sinnliche Empfindung. Aber was ist das Leben? Was ist das Leiden des Einzelnen, in diesem großen Jagen?

Und dies sind kleine, einzellige Schleimklumpen, die zu Tausenden und Millionen auf fast jeder Scholle überall in diesem grenzenlosen Meere leben, das wir als das Reich des Todes zu betrachten geneigt sind. Die Mutter Natur hat eine merkwürdige Fähigkeit, überall Leben hervorzurufen; selbst das Eis hier ist ein fruchtbarer Boden für sie.

Abends trat in unserm ereignislosen Dasein eine kleine Abwechselung ein, da Johansen südöstlich vom Schiffe, aber außer Schußweite, einen Bären entdeckt hatte.

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Skelette eines Kajaks (aus Bambus) und eines Doppel-Kajaks, auf einem unserer Schlitten liegend.

Dieser war ohne Zweifel schon seit längerer Zeit, während wir beim Abendessen in der Kajüte waren, beim Schiffe umhergestrichen und ganz nahe herangekommen, hatte sich dann aber, durch irgendein Geräusch erschreckt, ostwärts davongemacht. Sverdrup und ich brachen zur Verfolgung auf, jedoch vergeblich; die Rinnen hinderten uns zu sehr, und außerdem trat auch Nebel ein, sodaß wir umkehren mußten, nachdem wir eine ziemlich weite Strecke zurückgelegt hatten.

Die oben erwähnte Welt von Organismen wurde während des kurzen Sommers für mich Gegenstand besonderer Untersuchung; sie war in vielen Beziehungen sehr merkwürdig.

Als die Sonnenstrahlen auf die Oberfläche des Eises größere Macht ausübten und den Schnee schmolzen, sodaß sich Tümpel bildeten, waren auf dem Grunde dieser bald gelblich-braune Flecken zu sehen, so klein, daß man sie anfänglich kaum bemerkte. Tag für Tag nahmen sie an Größe zu und schmolzen, wie alle dunkeln Gegenstände die Wärmestrahlen absorbirend, allmählich das darunter liegende Eis, wobei sie runde, oft mehrere Centimeter tiefe Löcher bildeten. Diese braunen Flecken waren die erwähnten Algen und Diatomeen. Sie entwickelten sich im Lichte des Sommers rasch und pflegten den Boden der Löcher mit einer dicken Schicht zu erfüllen.

Doch gab es nicht nur Pflanzen; das Wasser war auch von Schwärmen von kleinen Thierchen belebt, meist Infusorien und Flagellaten, die sich von den Pflanzen nähren. Ja, ich fand sogar Bacterien; also selbst diese Regionen sind nicht frei von ihnen!

Das Mikroskop konnte mich aber nicht immer fesseln. Manchmal, wenn das schöne Wetter mich unwiderstehlich lockte, ging ich hinaus und röstete mich in der Sonne und versetzte mich in der Einbildung nach Norwegen.

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Heimweh.

Sonnabend, 4. August. Gestern und heute angenehmes Wetter; leichte weiße Schäfchen segelten hoch oben durch das glänzende Blau und erfüllten die Seele mit dem Verlangen, eben so hoch und frei wie sie dahinzuschweben. Als ich heute Abend einen Augenblick an Deck war, konnte ich mir fast einbilden, in der Heimat am Fjord zu sein. Abendfrieden schien über der Landschaft und der Seele zu ruhen.

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Heimkehr der Schneeschuhläufer.

Unsere Segelmacher, Sverdrup und Amundsen, haben heute die Segeltuchbedeckung des ersten Doppel-Kajaks vollendet. Mit voller Ausrüstung wiegt es 30½ Kilogramm. Ich glaube, es wird sich als ein Hülfsmittel ersten Ranges erweisen. Sverdrup und ich haben es auf einem Tümpel probirt; es trug uns prachtvoll und war so steif, daß wir ganz bequem damit umgehen konnten, selbst wenn wir auf dem Verdeck saßen. Es wird leicht zwei Mann mit voller Ausrüstung für hundert Tage tragen; ein handlicheres oder praktischeres Fahrzeug für Regionen wie diese kann ich mir nicht vorstellen.

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Anton Amundsen.

Sonntag, 5. August. 81° 7,3' nördlicher Breite.

Nicht kann ich vergessen den glitzernden Fjord,
Wenn das Kirchenboot früh fährt am Morgen.

Herrliches Sommerwetter. Ich bade mich in Sonnenstrahlen und träume, ich sei zu Hause, entweder auf den hohen Bergen oder – der Himmel mag wissen, weshalb – auf den Fjorden an der Westküste. Dieselben weißen Schäfchen am klaren, blauen Sommerhimmel, der sich wie ein vollständiger Dom über mir wölbt; nichts, was einem den Weg versperrt; ungefesselt schwingt sich die Seele empor.

Was macht es, daß die Welt da unten anders ist, das Eis nicht mehr einzelne glitzernde Gletscher bildet, sondern sich nach allen Seiten ausbreitet? Sind es nicht dieselben weißen Schäfchen in der Ferne am blauen Himmel, nach denen auch in der Heimat an schönen Sommertagen das Auge blickt? Auf ihnen dahinsegelnd, steuert die Phantasie den Kurs nach dem Lande ihres sehnsüchtigen Verlangens.

Und gerade auf diese glitzernden Gletscher in der Ferne richten wir unsern sehnsüchtigen Blick. Weshalb soll ein Sommertag hier nicht ebenso lieblich sein? Ach ja, er ist lieblich, rein wie ein Traum, ohne Wunsch, ohne Sünde, eine Dichtung aus klaren, weißen Sonnenstrahlen, die sich im kühlen, krystallenen Blau des Eises widerspiegeln. Wie entzückend erscheint uns diese Welt nicht an erstickend heißen Sommertagen in der Heimat!

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Das Treibeis im Sommer (21. Juli 1894).

Habe geruht und Sonntag gemacht. Ich konnte es nicht den ganzen Tag drinnen aushalten und unternahm daher eine weite Fahrt über das Eis. Das Vorwärtskommen wäre leicht, wenn die Rinnen nicht wären.

Hansen hat sich heute Nachmittag auf einem Tümpel in der Nähe, von welchem sich mehrere Rinnen im Eise abzweigen, im Kajak-Rudern geübt. Er war aber nicht zufrieden damit, nur herumzufahren auf dem Wasser, sondern mußte natürlich auch eine Probe im Kentern und Wiederaufrichten unternehmen, wie es die Eskimos machen. Sie endete damit, daß er nicht wieder nach oben kam, das Ruder verlor, mit dem Kopfe nach unten im Wasser blieb und so lange mit den Händen umher arbeitete, bis das Kajak voll lief und er von Kopf bis zu den Füßen ein kaltes Bad nahm.

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Ein Sommerabend.

Nordahl, der in der Nähe auf dem Eise stand und ihm helfen wollte, mußte schließlich hineinspringen und ihn wieder auf ebenen Kiel bringen, zum großen Amusement von uns andern.

Man kann merken, daß es Sommer ist. Heute Abend spielten wir Karten an Deck, wobei wir einen von »Peik's« großen Töpfen als Spieltisch benutzten. Man hätte fast glauben können, es sei ein Augustabend zu Hause; nur der Grog fehlte uns, Pfeifen und Cigarren hatten wir.

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Bernhard Nordahl.

Sonntag, 12. August. Heute Vormittag hielten wir ein Prämienschießen ab.

Ein herrlicher Abend. Ich machte einen Spaziergang zwischen den Rinnen und Eishügeln; es war so wunderschön ruhig und windstill, kein Laut zu hören außer dem Tropfen des Wassers von einem Eisblock und in der Ferne das dumpfe Geräusch des Einsturzes irgendeines Hügels. Die Sonne steht niedrig im Norden, und über uns ist der blaßblaue Himmelsdom mit goldverbrämten Wolken. Der tiefe Frieden der Einsamkeit.

Meine Gedanken schweifen frei umher, weit in die Ferne. Wenn man nur alledem Worte verleihen könnte, was einem an einem Abend wie dieser die Seele bewegt! Welch unbegreifliche Macht übt doch die Umgebung auf den Menschen aus!

Wie kommt es, daß ich zu Zeiten mich über die Einsamkeit beklage? Mit der Natur um sich, mit Büchern und Studien kann man sich doch nie ganz allein fühlen!

Donnerstag, 16. August. Als ich gestern Abend in meiner Koje lag und las und sich alle schon niedergelegt hatten mit Ausnahme der Wache, hörte ich über meinem Kopfe an Deck einen Schuß. In der Meinung, daß ein Bär da sei, zog ich schleunigst meine Seestiefel an und sprang auf Deck. Hier traf ich Johansen barhäuptig, mit der Büchse in der Hand.

»Haben Sie geschossen?«

»Ja, ich habe nach dem großen Hügel dort geschossen, weil ich glaubte, daß sich etwas bewege, und ich sehen wollte, was es sei; es scheint aber nichts gewesen zu sein.«

Ich trat an die Rehling und schaute hinaus.

»Ich dachte, es wäre ein Bär, der hinter unserem Fleisch her sei, es war aber nichts.«

Als wir noch beisammen standen, kam einer der Hunde von dem großen Hügel hergetrottet.

»Da sehen Sie nun, wonach Sie geschossen haben,« sagte ich lachend.

»Meiner Seel', ist das nicht ein Hund?« erwiderte er.

Wahrhaftig, es war »Eisbär«, wie wir diesen Hund genannt hatten; er hatte, als er an dem Fleischdepot scharrte, im Nebel so groß ausgesehen.

»Haben Sie nach dem Hunde gezielt und ihn gefehlt? Das wäre ein glücklicher Zufall gewesen.«

»Nein, ich schoß einfach aufs gerathewohl nach jener Richtung, weil ich sehen wollte, was da wäre.«

Darauf ging ich wieder nach unten und legte mich ins Bett. Beim Frühstück mußte Johansen natürlich sarkastische Fragen nach seinem »Schreckschuß« über sich ergehen lassen; er brach ihnen aber die Spitze ab, indem er erklärte, daß er durchaus nicht einen »Schreckschuß« abgegeben habe, sondern daß er unsern »Eisbär« für einen richtigen Bären gehalten und auf diesen gefeuert habe.

Dienstag, 21. August. 81° 4,2' nördlicher Breite.

Seltsam, wie wenig Veränderung eintritt; wir treiben etwas nach Norden, dann etwas nach Süden und bleiben fast immer auf demselben Fleck. Ich glaube aber, wie ich stets, schon ehe wir die Reise antraten, geglaubt habe, daß wir drei Jahre, oder eigentlich drei Winter und vier Sommer, nicht mehr und nicht weniger, fortbleiben und von diesem Herbst an in ungefähr zwei Jahren die Heimat wieder erreichen werden. Auf den Tag genau zwei Jahre später lief die »Fram« in Skjärvö an der Küste von Norwegen an. Der bevorstehende Winter wird uns, wenn auch langsam, weiter treiben; er kündigt sich bereits an, da wir letzte Nacht 4 Grad Kälte hatten.

Sonntag, 26. August. Es scheint beinahe, als ob der Winter schon gekommen sei, da die Kälte sich seit Donnerstag im Durchschnitt zwischen -4° und -6° C gehalten hat.

In der Temperatur gibt es hier nur geringe Veränderungen, sodaß wir erwarten können, daß sie von jetzt ab regelmäßig sinken wird, obwol es für den Eintritt des Winters noch ziemlich früh ist.

Alle Tümpel und Rinnen sind mit Eis bedeckt, das schon dick genug ist, um einen Mann, selbst ohne Schneeschuhe, zu tragen.

Ich war sowol am Morgen wie am Nachmittage auf Schneeschuhen draußen.

Angenehmer Weg, gutes Fortkommen überall; einige Rinnen hatten sich etwas erweitert oder waren zusammengedrückt worden; das neue Eis war nur dünn und bog sich unangenehm unter den Schneeschuhen, trug mich aber, während zwei von den Hunden einbrachen. Es hatte auch ziemlich stark geschneit, sodaß es schönen, weichen Neuschnee zum Laufen gab.

Wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, werden wir im Winter ausgezeichnet Ski laufen können. Denn es ist Süßwasser, das auf der Oberfläche der Rinne gefriert, und dieses scheidet kein Salz aus, das mit dem Winde vom neuen Eise auf den Schnee hinüber getragen werden und diesen verderben könnte. Auf solchem Schnee mit Salz geht man eben so schlecht wie auf Sand.

Montag, 27. August. Gerade als Blessing in der letzten Nacht nach Beendigung seiner Wache nach unten gehen wollte und noch an der Rehling stand, um auszugucken, sah er eine weiße Masse, die sich eine kleine Strecke nach Südosten im Schnee wälzte und dann eine Weile ganz still lag.

Johansen, der Blessing ablösen sollte, trat zu ihm, und beide beobachteten das Thier eine Weile aufmerksam. Plötzlich richtete es sich auf, sodaß kein Zweifel mehr darüber sein konnte, was es war. Beide ergriffen ihre Büchsen und schlichen heimlich nach der Back, wo sie ruhig warteten, während der Bär in langen Kreuzschlägen gegen den Wind sich vorsichtig dem Schiffe näherte.

Es wehte eine frische Brise. Die Windmühle drehte sich mit voller Geschwindigkeit, flößte ihm aber keineswegs Besorgniß ein, vielmehr war die Mühle höchstwahrscheinlich gerade derjenige Gegenstand, den er untersuchen wollte. Endlich erreichte er eine Rinne vor ihnen; beide schossen, und der Bär sank auf der Stelle todt zu Boden. Es war schön, daß wir wieder frisches Fleisch bekamen; es war der erste Bär, den wir in diesem Jahre geschossen hatten. Natürlich aßen wir heute Mittag Bärenschinken. Regelrechter Winter mit Schneeböen.

Mittwoch, 29. August. Frischer Wind, der über uns in der Takelung rasselt und pfeift. Eine belebende Veränderung, darüber kann kein Zweifel sein! Es herrscht ein Schneetreiben, als ob wir mitten im Winter wären. Schönes Augustwetter!

Aber wir treiben wieder nach Norden, und das ist auch sehr nothwendig! Gestern war unsere Breite 80° 53,5'.

Heute Abend arbeitete ich im Raum an meinem neuen Bambuskajak, das der Gipfel der Leichtigkeit sein wird. Zufällig kam Pettersen herunter und half mir bei einigen Befestigungen, die ich anzubringen hatte.

Wir unterhielten uns eine Weile über allgemeine Dinge, und er meinte, daß wir in der »Fram« ein gutes Heim besäßen, weil wir alles hätten, was wir haben wollten; sie sei ein verteufeltes Schiff, jedes andere würde längst platt gedrückt worden sein. Aber trotz alledem, sagte er, würde er sich nicht fürchten, es zu verlassen, wenn er alle die Hülfsmittel sehe, welche wir vorbereitet hätten, wie z. B. diese neuen Kajaks.

Er sei sicher, keine frühere Expedition habe je solche Mittel gehabt und sei für alle etwaigen Nothfälle so ausgerüstet gewesen wie wir. Dennoch würde er aber vorziehen, auf der »Fram« heimzukehren. Dann sprachen wir noch darüber, was wir thun würden, wenn wir nach Hause kämen.

»O, was Sie anbetrifft, so werden Sie ohne Zweifel nach dem Südpol reisen«, meinte er.

»Und Ihr«, erwiderte ich. »Wollt Ihr die Hemdärmel aufkrempeln und Eure alte Beschäftigung wieder beginnen?«

»O, so wird's wol werden. Aber, weiß Gott, erst muß ich eine Woche Ferien haben. Nach einer solchen Reise muß ich sie unbedingt haben, ehe ich wieder zum großen Schmiedehammer greife.«


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