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III.
Die Bergvölker an der Heerstraße.
Georgische Bergvölker.

Die Chewsuren.

Die Gegend, die wir nun durcheilten, ist völkerkundlich besonders interessant. Westlich vom Tal des Weißen Aragwa erstreckt sich das Land der Osseten. Es reicht nördlich bis zum oberen Terektal über Wladikawkas hinaus. Östlich vom Weißen Aragwa wohnen georgische Stämme, die Pschawer, und in den nordöstlichen Hochtälern die Chewsuren. Sie sprechen noch immer ihre altgeorgischen Dialekte, besonders die etwa 8000 Chewsuren führen offenbar seit langer Zeit in ihren Gebirgsschlupfwinkeln ein von aller Welt abgeschlossenes Dasein. Ihr Name stammt von dem georgischen Wort Chevi, das heißt Schlucht, Kluft. Noch heute bewegt sich ihr Denken im Dunstkreis mittelalterlicher Sitten und Gebräuche und uralten Aberglaubens. Sie tragen noch Helm, Ringpanzer, stählerne Arm- und Beinschienen, Schild und Schwert, kurz, sie sind wie Kreuzritter gerüstet. Die Helme sind runde Kuppeln aus Stahl, Stahlnetze hängen über Nacken, Wangen und Stirn herab, so daß nur die Augen und der untere Teil des Gesichts frei bleiben. Bei Festen, Kampfspielen und Turnieren tragen sie ihre volle Rüstung, desgleichen, wenn sie Blutrache fürchten oder wenn eine Blutfehde zwischen zwei Sippen oder Dörfern durch Vergleich beigelegt werden soll. Wahrscheinlich haben sich die alten Rüstungen und Waffen gerade deshalb solange erhalten, weil diese Stämme ununterbrochen in Geschlechterfehden, in Kämpfen zwischen einzelnen Siedlungen und mit benachbarten Stämmen lebten. Streitbare Mannen sind das, allezeit gehen sie in Waffen, auch zur Feldarbeit nehmen sie Schild, Schwert, Dolch und Gewehr mit.

Unter ihnen herrscht die wunderliche Sitte, daß die Männer am Daumen der rechten Hand einen dicken, mit starkem Dorn versehenen Eisenring tragen. Er dient als Schlagring bei Prügeleien. Wohl jeder erwachsene Mann trägt Narben, die von diesen Schlagringen stammen, die Gesichter sind oft schlimmer zerhauen als die Wangen eines übel zugerichteten deutschen Studenten. Ähnliche Ringe sollen früher auch im Schwarzwald und in Oberbayern gebraucht worden sein. Raufereien sind häufig, und der Dolch sitzt locker in der Scheide. Aber Verwundungen und Verstümmelungen müssen durch genau festgesetzte Bußen gesühnt werden. Ein ausgelaufenes Auge kostet 30 Kühe, ein Loch im Kopf 3-16 Kühe, Lähmung eines Beines 25 Kühe usw. Eine Kuh gilt 10 Rubel, etwa 23 Mark. Die Länge einer Wunde wird mit einem Faden gemessen, auf diesen Faden werden dann Buchweizen- oder Weizenkörner abwechselnd längs und quer in einer Reihe gelegt, die Körner werden gezählt, und der Täter muß so viele Kühe bezahlen, als zwei Drittel der Körner ausmachen.

Die Blutrache ist bei den Chewsuren und Pschawern wie bei den meisten kaukasischen Stämmen geheiligter Brauch. Die Sippe des Erschlagenen muß durch Tötung des Täters oder eines Mitgliedes seiner Sippe oder seines Dorfes Rache üben. So können zwei ganze Dorfsiedlungen in Blutrache verstrickt werden. Doch kann der Totschlag auch durch Vergleich und Zahlung einer Buße gesühnt werden. Für einen Mann sind 80, für eine Frau 60 Kühe zu zahlen. Tötung der eigenen Frau fordert keine Blutrache, sondern der Gatte bezahlt an die Sippe der Erschlagenen 5 Kühe. Die Beendigung einer Fehde wird durch ein großes Versöhnungsfest gefeiert, man schlachtet Opfertiere und trinkt Bier und Schnaps in großen Mengen.

Die Berichte von den Kämpfen und Schlägereien dieser Volksstämme erinnern uns in vieler Hinsicht an die Vergangenheit der nordischen Völker und an die Schilderungen der isländischen Geschlechtersagas. Auch bei den norwegischen Gebirgsbewohnern steckte ja noch bis in die jüngste Zeit hinein das feststehende Messer locker in der Scheide.

Die georgischen Gebirgsstämme sind dem Namen nach schon etwa seit dem 12. Jahrhundert christlich, leben aber bis auf den heutigen Tag in den Anschauungen uralten Aberglaubens. Neben den christlichen Gottheiten, Gottvater im siebenten Himmel, dem Herrn der himmlischen Heerscharen und der irdischen Menschen, Christus, dem Beherrscher der Toten, der heiligen Maria, den Heiligen Petrus und Paulus werden noch immer zahlreiche Naturgottheiten verehrt. Da sind ein oberster Herr der Erde und des Festlandes und neben ihm Wald-, Wasser- und Luftgeister in der Gestalt von Schweinen, Bestien oder Kindern. Über die Jagd wachen zwei Gottheiten oder Engel, ein männlicher und weiblicher. Der weibliche gilt als der stärkere, ihm werden Herz, Lunge und Leber des erlegten Tieres geopfert. Die Jagdgöttin soll sich von Zeit zu Zeit als schöne nackte Frau mit langem Haar in den Wäldern zeigen. Dem Jäger, den sie auf ihr Lager einlädt, verleiht sie Jagdglück, wenn er zu schweigen weiß. Plaudert er, so trifft ihn ihre Strafe. Groß ist die Zahl der Schutzgeister. Die Chewsuren glauben an einen beschwingten Engel, der den Räubern hilft, wenn er einen Teil der Beute abbekommt. Die Hölle stellt man sich als einen Strom von Teer vor, in den die armen, sündigen Seelen von einer Brücke, schmal wie ein Haar, herabstürzen. Über diese Brücke muß die Seele wandern, um den Himmel zu erreichen. Der Sünder schwimmt in alle Ewigkeit in der Teerflut umher. Die Menschen sind erfinderisch darin, Hölle und ewige Pein auszumalen, vom Paradies wissen sie nicht soviel zu erzählen. Die Brücke und der Teerstrom haben eine auffallende Ähnlichkeit mit der Gjallarbrücke und den Gespenstersümpfen, über die nach der altnordischen Sage die Seele auf ihrem Weg zum Himmel wandern mußte. Der schmale Steg als Weg zur ewigen Herrlichkeit ist eine bei vielen Völkern verbreitete Vorstellung. Die Araber schildern ihn »schmaler als ein Haar, schärfer als ein Schwert, finsterer als die Nacht«.

In einem Punkt treiben die Chewsuren die Frömmigkeit recht weit. Sie halten drei Feiertage in jeder Woche, den Freitag der Mohammedaner, den Sabbat der Juden und den christlichen Sonntag. So sind sie sicher, weder Allah noch Jahve noch Gottvater zu erzürnen.

Die Dörfer der Bergstämme sind gleich den Aulen Dagestans stufenförmig an den steilen Felshängen aufwärts gebaut, ein Haus so dicht über dem andern, daß oft das Dach des unteren die Terrasse oder den Hofraum des oberen bildet. Der Anblick eines solchen Dorfes erinnert von weitem an eine Bienenwabe. Die Häuser sind rechteckig und haben flache Dächer, meist sind sie aus Stein gebaut und zwei Geschosse hoch. Das Untergeschoß ist für Vieh und Weiber, das Obergeschoß für die Männer. Die verräucherten Wohnräume starren von Schmutz. Auf den dürftigen Halden zwischen den steilen Felshängen ist es um den Ackerbau nicht gut bestellt, mühselig werden die verstreut liegenden Feldstücke mit der Hacke aufgelockert und für den Anbau von Roggen, Buchweizen, Hirse und Kartoffeln vorbereitet. Auch der Gartenbau ist schwach entwickelt, und nur wenige Kühe, Schafe und Ziegen stehen in den Ställen. Die Menschen führen ein hartes Leben in bitterer Armut. Früher, als sie noch vom Raub lebten, hatten sie es bester.

Sie backen aus grobgeschrotenem Buchweizen oder Roggen Flachbrote, ähnlich unsern norwegischen. Der Teig wird zwischen zwei dünnen Schieferplatten über dem offenen Feuer, häufig draußen im Freien, geröstet. Flachbrot mit saurer Milch und Käse ist ein Alltagsessen. Auch darin sind die Einheimischen den alten Norwegern ähnlich, daß sie keine Hühner und Eier, auch keine Hasen essen. Die altnorwegischen Bauern verschmähten alle Tiere, die Federn oder Klauen tragen. Die Chewsuren enthalten sich auch des Schweinefleisches, das haben sie vermutlich von den Mohammedanern oder Juden übernommen.

Die Frauen nehmen bei diesen Gebirgsstämmen eine sehr untergeordnete Stellung ein. Sie werden beinahe wie Sachen, jedenfalls wie Arbeitssklaven behandelt. Der Mann soll seine Braut möglichst aus einem andern Dorf holen und sie nach altem Brauch rauben. Die Frau war bei diesen Völkern wie bei vielen andern eine Kriegsbeute, die man aus dem Feldzug gegen andere Stämme oder Völker heimbrachte, während man sich bei uns möglichst mit einem Mädchen aus der eigenen Sippe, jedenfalls aus dem eigenen Dorf verheiratete. Der chewsurische Bräutigam erscheint mit seinem Gefolge in voller Rüstung nachts vor dem Frauenhaus außerhalb des Dorfes. Dort hält sich das Mädchen verabredetermaßen auf. Die Auserwählte muß durch kräftige Gegenwehr Auch bei primitiven Völkern wie z. B. bei den Eskimos finden wir diesen Brauch in Verbindung mit einer gleichen Auffassung von weiblicher Wohlerzogenheit. ihre gute Erziehung bekunden. Nach Überwindung des Widerstandes entführt sie der Bräutigam in das Haus seines Vaters. Eine Reihe von Zeremonien läuft darauf hinaus, daß die beiden nicht zeigen dürfen, wie sehr sie eine Verbindung wünschen. Darüber vergehen etwa fünf bis sechs Tage, bis endlich die Trauung stattfindet. Hierauf sind die beiden drei Nächte zusammen, dann aber kehrt die junge Frau für einige Zeit in ihr Elternhaus zurück, ehe das regelmäßige eheliche Leben beginnt. Wenn der Mann seine Frau nicht mehr liebt, kann er sie wieder nach Hause schicken, und sie darf sich zum zweitenmal verheiraten. Die Frau dagegen darf ihren Mann nur verlassen, wenn sie sich freikauft. Der Preis dafür ist so hoch, daß nur die wenigsten ihn erschwingen können. Untreuen Frauen schlitzte man früher die Wangen auf, oder man schnitt ihnen Nase und Ohren ab, von einer Strafe für untreue Männer wird nichts berichtet. Vielweiberei war früher an der Tagesordnung, soll aber jetzt selten geworden sein.

Die schwangere Frau ist unrein. Die Gebärende muß sich allein in eine Hütte außerhalb des Dorfes zurückziehen, unter allen Umständen muß sie sich außer dem Hause aufhalten. Bei einer schweren Geburt kann die Frau von ihrem besorgten Gatten als einzige liebevolle Hilfe erwarten, daß er sich nachts in die Nähe des Gebärhauses schleicht und durch Büchsenschüsse die bösen Geister verjagt. Nach der Geburt wird der jungen Mutter von kleinen Mädchen ein einfaches Mahl gebracht. Gleich der Wöchnerin selbst sind auch die Gefäße, von denen sie ißt, unrein und dürfen nicht von andern benutzt werden.

30 bis 40 Tage lang bleibt die junge Mutter im Frauenhaus oder »Haus der Reinigung« außerhalb des Dorfes. Dann erst darf sie wieder unter Menschen gehen. Das Haus der Reinigung ist auch der Aufenthalt der Frauen während der Menstruation.

Wegen der kargen Lebensbedingungen ist Kinderreichtum nicht erstrebenswert, die Geburtenbeschränkung soll daher ziemlich allgemein sein. Das erste Kind kommt vielfach nicht vor dem vierten Jahr der Ehe, das zweite drei Jahre später, und drei Kinder sind genug. Mädchen sind wenig willkommen, werden aber nicht mehr, wie früher bei einigen Stämmen, getötet.

Die Kleider werden aus Schafwolle gewebt. Man rupft den Schafen die Wolle aus, statt sie zu scheren. Die Unterkleidung der Frauen pflegt viel gröber und schwerer als die der Männer zu sein. Die Männer beanspruchen für sich das feinste und weichste Gewebe.

Die Osseten.

Das Volk der Osser oder Osseten zählt ungefähr 225 000 Menschen, die ihre Wohnsitze in Ossetien westlich des von uns zurückgelegten Weges haben. Über dieses Volk haben die Gelehrten viel gestritten und geschrieben. Man hält die Osser allgemein für Nachkommen der indoeuropäischen Alanen, teils auch der schon von Herodot genannten Massageten; auch mit den Sarmaten Herodots hat man sie in Verbindung zu bringen gesucht. Ptolemaios nannte sie im 2. Jahrhundert n. Chr. Ossilier; die arabischen und abendländischen Schriftsteller des Mittelalters nennen sie Aster oder Alanen. In den russischen Chroniken aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts heißen sie Jaser oder Jossi. Sie selbst nennen sich Ironen. In diesem Namen glaubt man die Bezeichnung »Aryon« wiederzufinden, und das soll der gleiche Name sein wie »Alan«. Andere wieder sind der Meinung, Ironen sei dasselbe Wort wie Iranier. Die Sprache gehört zum indoeuropäischen Stamm, und zwar zur iranischen Gruppe. Sie ist von den nord- und südkaukasischen Sprachen ganz verschieden.

Die Osseten müssen von Norden her in den Kaukasus eingewandert sein. In den ersten Jahrhunderten nach Christus waren sie in Südrußland am Unterlauf des Don weit verbreitet. »Don« ist heute noch das ossetische Wort für Wasser. Wir finden es in vielen Flußnamen im Bereich des nördlichen Kaukasus wieder, so z. B. in der Bezeichnung Ar-don, das heißt »rasendes Wasser«. Das Asowsche Meer, an dessen Ostküste die Osseten einst wohnten, verdankt wohl ihnen seinen Namen.

Zu Beginn der Völkerwanderungen zog ein großer Teil der Alanen oder Osseten mit den Goten und Hunnen nach Westen und ließ sich an der Donau nieder, deren Name vielleicht von ihnen stammt. Möglich, daß sie auch schon die Stadt Jassy (sprich »jasch«) im Moldaugebiet gegründet haben. Vom 7. bis zum 13. Jahrhundert wurden die Osseten zuerst von den Chasaren und dann von den Mongolen aus dem Dongebiet südwärts gegen die Flüsse Kuban und Terek abgedrängt. Sie waren ursprünglich ein mächtiges Reitervolk. Im 14. Jahrhundert aber wurden sie von den aus der Krim vordringenden Kabardinern in ihre heutigen Wohnplätze im Hochgebirge abgedrängt. Anscheinend kannten sie aber das Gebirge schon lange und haben wohl in seiner nächsten Nähe ihre Wohnsitze gehabt. Darauf scheint hinzudeuten, daß ihr Wort für Gebirge »choch«, der ersten Silbe in dem griechischen Namen Kaukasus (καύχασος) entsprechen dürfte. Die Osseten sind im Verhältnis zu den andern kaukasischen Völkern, insbesondere den Ostkaukasiern, ziemlich langschädlig, ihr Schädelindex bewegt sich um 81. Die Augenfarbe ist meist blau oder grau, Haupt- und Barthaare blond, hellbraun oder rötlich, das Gesicht pflegt breit zu sein, die große Nase ist gerade, die Lippen schmal. Die Hautfarbe ist hell, oft rosig. Männer und Frauen sind durchweg von mittlerer Größe und kräftigem Körperbau. Die Osseten scheinen zum Teil ursprünglich von nordischer Rasse zu sein, jedenfalls muß eine starke Einwanderung von Norden her stattgefunden haben. Dagegen deutet ihre Sprache darauf hin, daß der größte Teil des Stammes mit den iranischen Völkern des Ostens in Verbindung stand. Abweichungen in der Schädelform und das gelegentliche Auftreten schwarzer Haare und brauner Augen kann auf starke Mischung mit benachbarten Stämmen in späterer Zeit zurückzuführen sein. Die Osseten interessieren uns Nordländer deshalb besonders, weil ihr Name mit dem altnordischen Wort » Åss« für »Götter« in Verbindung gebracht worden ist.

Snorre Sturlaston erzählt in der Ynglinga-Saga, »das Land östlich vom Fluß Tanakvisl (Tanais = Don) in Asien heißt Äsaland oder Äsaheim, und die Hauptburg in diesem Lande ist Åsgard«; ihr Häuptling war Odin. Snorre bringt die Bezeichnung Åss vor allem in Verbindung mit dem Namen Asien. Vielleicht darf man ihn aber eher auf die Osseten beziehen, die ja gerade am Ostufer des Tanakvisl oder Don gelebt haben. Dann wäre Åsaland das Land der Osseten. Bezeichnenderweise berichtet Snorre auch, daß Odin südlich von »dem großen Felsgebiet, das heißt dem Kaukasus (also gerade dort, wo heute ein Teil der Osseten wohnt), reich begütert gewesen sei«, und er erzählt weiter, daß »zu jener Zeit römische Häuptlinge weit in der Welt umherzogen und sich alle Völker unterjochten. Der weitschauende Odin zog sich daher zurück und alle Götter mit ihm und viele andere Leute«. Sie schlugen sich zuerst westwärts nach Gardarike (Rußland), von dort südlich nach Saksland (Deutschland) und endlich nach Norden.

Die Sprachforscher leiten das Wort Åss oder Âss, das alte germanische Ans-Ansu von der Wurzel » ans« ab. Ans bedeutet Geist oder Hauch, Åss würde dann einen Windgott oder Geist bedeuten. Es ist trotzdem nicht ausgeschlossen, daß der Name in späterer Zeit auf irgendeine Weise für die Osseten gebraucht wurde. Der Name Osseten kann früher auch einen a-Laut gehabt haben, wie z. B. die Bezeichnung des Asowschen Meeres zeigt.

Die Mehrzahl der Osseten ist dem Namen nach christlich, genauer gesprochen griechisch-orthodox, ein Viertel etwa ist mohammedanisch. Gleich den Chewsuren leben sie aber alle in mehr oder weniger heidnischen Vorstellungen und ehren noch immer ihre alten Gottheiten und Geister. Es konnte dem Heidentum keinen Abtrag tun, daß manche dieser Götter den Namen christlicher Heiliger bekamen. Der Blitz- und Donnergott ist der heilige Elias, der aber unserm Donnergott Thor näher verwandt scheint als dem biblischen Propheten. Wenn jemand vom Blitz erschlagen wird, so heißt es, Elias habe ihn getroffen, weil er beleidigt worden ist. Der Getötete wird entweder an der Stelle begraben, wo er zusammenbrach, oder man überläßt die Begräbnisstätte dem Zufall. Das geschieht auf folgende Weise: Die Leiche wird auf einen mit zwei Böcken bespannten zweirädrigen Karren gelegt. Wo es den Böcken einfällt, den Karren hin zu ziehen und stehenzubleiben, dort begräbt man den vom Blitz Erschlagenen. Am Grab wird ein schwarzer Bock geschlachtet, und sein Fell wird auf eine Stange gehängt. Die beiden Ziegenböcke, die also den Begräbnisplatz aussuchen, stellen vermutlich die Böcke des Donnergottes Elias dar. Und wer weiß, ob nicht der zweirädrige Karren der Wagen des Thor ist. Der heilige Elias befreit die irdischen Menschen von dem blinden Drachen Ruimon, der in der Unterwelt wohnt und den Menschen durch sein Gebrüll in Krankheit und Tod hetzt. Elias fesselt ihn mit einer Kette, zerrt ihn an die Oberfläche, die himmlischen Geister hauen Fleischstücke von dem Drachen ab, die Seelen der Verstorbenen kochen und essen das Fleisch und werden dadurch verjüngt. Das erinnert an die Sage von Thor und dem Midgardswurm, der rund um die Erde geschlungen lag und den Thor in Jotunheim aufstöberte und ans Licht zerrte.

Die Osseten verehren viele Götter, deren jeder für irgend etwas anderes im Leben zu sorgen hat: Da ist der höchste Gott über Gut und Böse, der in allen Nöten angerufen werden muß; der göttliche Totenrichter wacht über den Weg zum Paradies und zur Hölle; dann ist da der Sohn der Sonne und des Mondes; es folgen die Götter für den Acker, die Ernte, das Vieh, das Wild, die Gewässer, die Fische, für die Gesundheit des Leibes. Ein eigener Gott beschützt die Räuber. Für den Gott des Bösen schlachtet der Hausvater am Abend des Mittwochs zwischen Weihnachten und Neujahr ein Lamm vor der Schwelle des Hauses. Der Gott bekommt zu essen und zu trinken und wird gebeten, Haus und Vieh kein Leid anzutun. Dem Opfer folgt eine nächtliche Festmahlzeit. Dabei darf der Name des höchsten Gottes nicht genannt werden. Das ist genau wie bei uns: wer mit dem Teufel einen Bund schließen will, darf Gottes Namen nicht nennen, denn der Böse erträgt nicht, ihn zu hören.

Die Geister der Verstorbenen (safa), die als Hausgeister den Herd beschützen, haben besondere Bedeutung und werden mit ausgesuchter Rücksicht behandelt. Zu gewissen Zeiten schlachtet man einen Bock für sie und vergräbt das Blut. Zeitweise stellt man auch ein Speiseopfer für den Hausgeist oder die Verstorbenen an bestimmten Plätzen im Wald auf. Hier liegen Vorstellungen zugrunde, die aus den ältesten Zeiten, lange vor allen heidnischen Religionen, stammen und sich bei vielen Völkern finden. Ich erinnere an die Gestalt unseres Gartenmännleins oder Kobolds. Das Gartenmännlein ist eigentlich der Stammvater des Geschlechts, der Inbegriff der Heimgegangenen Väter. An einem ihm geheiligten Baum stellt man zur Weihnachtszeit ein gutes Essen und Weihnachtsbier auf. Man kann ihm auch ein Trankopfer darbringen, indem man das Getränk über den Herd ausgießt.

Die Osseten haben, wie die georgischen Bergstämme, die Chewsuren, Pschawer, Tuscher, Swaner und andere, ihre heiligen Haine, in denen sich die Bevölkerung zu Gottesdienst und religiösen Feiern versammelt. Die heiligen Haine sind Laubhölzer verschiedener Art und stehen gewöhnlich dort, wo sonst kein Wald ist. Offenbar sind es meist alte heidnische Opferstätten, in deren Mitte Altäre oder Tempel errichtet sind. An den Feiertagen werden Tieropfer dargebracht, der Altar und die Gläubigen werden mit Blut besprengt. Für den Festtag braut man Bier. Das Fleisch der Opfertiere wird verzehrt und mit ungeheueren Mengen Bier und Schnaps begossen. Die Frauen dürfen nicht einmal zum Fest die geweihten Haine betreten oder gar die heiligen Bäume berühren. Doch gibt es an einigen Orten Gruppen heiliger Bäume, an denen die Hochzeiten gefeiert werden. Nur die Priester dürfen aus dem heiligen Hain Holz zum Biersieden holen. Wagt der gewöhnliche Sterbliche, dort einen Baum zu fällen oder nur einen Zweig zu brechen, so schlägt der Gott des Haines ihn mit schwerer Krankheit oder Tod. Im Hain von Abanokan, in der Trussoschlucht, schlägt der heilige Ilja (Elias) den Übeltäter mit Blindheit. Nur durch Opferung eines Ochsen kann der Unglückliche das Augenlicht wieder erlangen C. Hahn: »Kaukasische Reisen und Studien«, Leipzig 1896, Seite 124 f. und C. Hahn: »Aus dem Kaukasus«, Leipzig 1892, Seite 63..

Heilige Haine und Bäume finden wir bei vielen Völkern, auch wir im Norden hatten dergleichen. Bei Börte, im Bezirk Mo in Telemarken, ist ein Hain, so heilig, daß dort nicht einmal das Gras gemäht oder abgeweidet werden durfte, über den Frevler wäre schweres Unglück hereingebrochen Vergleiche Moltke-Møe in Ammund Heland: »Norwegen, Land und Volk«, VIII, Bratsberg Amt, Band I, Seite 415ff. Kristiania 1900..

Unter manchen Bäumen in den heiligen Hainen der Osser sieht man hohe Haufen von Zweigen. Jeder Vorübergehende hat nämlich die Pflicht, einen Zweig oder ein Stück Holz als Opfer für die Gottheit des Haines niederzulegen. Wir haben in Norwegen an vielen Orten einen ähnlichen Brauch. Daher steht man oft an Waldwegen hohe Reisighaufen. Die Vorübergehenden legen dort nach altem Brauch einen Zweig nieder, obwohl kein Mensch mehr die alte Bedeutung versteht. An andern Orten werden Steine statt der Zweige niedergelegt. In alter Zeit errichteten die Osseten auf ihren Gräbern oft etwa drei Meter hohe, unbehauene Steine. Vielleicht haben sie eine ähnliche Bedeutung wie unsere Bautasteine.

Die Osseten holen sich auf beneidenswert einfache Weise ihr Recht. Wenn ein Mann von einem andern nicht bekommt, was er ihm schuldet, oder wenn ihm die Buße für eine Rechtsverletzung vorenthalten wird, so droht er einfach, er werde auf dem Grabe eines Ahnen seines Widersachers einen Hund oder eine Katze erschlagen. Die Seelen der Verstorbenen werden dann von dem getöteten Tier gequält. Den bloßen Gedanken daran erträgt der Ossete nicht, lieber tut er, was von ihm verlangt wird.

Beim Schwur faßt der Ossete einen Hund am Schwanz oder einen Esel am Ohr. Wenn er falsch schwört, müssen die Seelen seiner Ahnen oder Verwandten im Jenseits Hunde- oder Eselsfleisch essen. Ähnliche Vorstellungen, die mit altem Ahnenkultus in Verbindung flehen, finden wir auch bei den Chewsuren.

Die Hochgebirgsdörfer der Osseten sind nur klein. 20 bis 30 Anwesen, oft sogar nur fünf oder sechs, kleben terrassenförmig übereinander an steilen Felshängen. Noch weiter oben liegen die Anwesen einzeln verstreut und sind wie Festungen bewehrt. In den tiefer liegenden Gebirgstälern sind die Häuser wie bei den Chewsuren aus Stein gebaut, in noch tieferer Lage sind sie aus Balken und Fachwerk, wie unsere norwegischen Holzhäuser. Jedes Dorf hat einen hohen Verteidigungsturm, oft hat sogar jeder einzelne Hof seinen eigenen Turm. Diese streitbaren Völker mußten ja früher allezeit auf Verteidigung eingerichtet sein. Diebstahl oder Raub am Stammesfremden gilt bei ihnen nicht als Verbrechen, leben sie doch mit den Nachbarn in dauerndem Kriegszustand.

Jedes Dorf bildet eine Gemeinde und wird von einem Ältesten geleitet. Innerhalb der Dorfgemeinde hat jede Familie ihren Hausvater. Es scheint aber, als sei die Großfamilie im Zerfall und das Gemeineigentum in Auflösung begriffen. Beim Tod eines Familienvaters wird das Erbe gleichmäßig unter die Söhne verteilt, der Älteste bekommt das Haus und etwas Vieh als Zugabe, der Jüngste etwas Vieh und Waffen. Die Töchter erhalten nichts. Wenn sie heiraten, muß der Bräutigam obendrein noch einen Kaufpreis an den Vater oder die Brüder bezahlen. Die Mädchen sind also fahrende Habe, die man verkauft. Standes- oder Klassenunterschiede kennen die meisten Stämme der Osseten nicht.

Sie leben vom Ackerbau, noch mehr vielleicht von der Viehzucht, namentlich oben in den Bergen. In früherer Zeit war auch der Raub ein wichtiges Gewerbe. In den tiefer liegenden Tälern ist der Fruchtwechsel nicht mehr ganz unbekannt. Im ersten Jahr wird auf dem frisch gedüngten Boden Weizen oder Mais angebaut, im zweiten Jahr Buchweizen, im dritten Jahr liegt der Acker brach. Die Bevölkerung baut auch Hafer, Hirse, Erbsen, Bohnen, Kartoffeln, Gurken und anderes. In den Hochtälern herrscht der Anbau von Roggen und Buchweizen vor. Die Ackerstückchen an den Hängen sind aber doch nur klein, und so bleibt die Viehzucht im Hochgebirge der Hauptnahrungszweig. Der Ossete züchtet vor allem Schafe, daneben einige Ziegen, Kühe und Pferde. Im Sommer nächtigt das Vieh in der Nähe des Hauses auf einem Stück Land, das ähnlich unsern Pferchen mit einer Steinmauer oder einem geflochtenen Zaun umgeben ist. Im Winter steht das Vieh im Stall, der sich bei den Chewsuren gewöhnlich im Erdgeschoß des Wohnhauses befindet. Der Dünger wird gesammelt und wie bei uns auf Acker und Weide verwendet. Das ist bei den kaukasischen Völkern sonst nicht der Brauch. Man benutzt dort wie in Rußland den gedörrten Kuhmist als Hausbrand. Hoch oben im Gebirge, wo an den nackten Wänden kein Wald wächst, gibt es ja keinen andern Heizstoff. Der Mist wird in Kuchen gepreßt und an den Wänden des Hauses ausgelegt, damit die Sonne ihn trocknet.

In Waldtälern findet man auch Ansätze zur Forstwirtschaft. Die gefällten Stämme werden ähnlich wie in Norwegen abgeflößt. Die Flüsse sind reißend und voll von Klippen, die Baumstämme bleiben also unterwegs oft hängen und müssen wieder flottgemacht werden.

Die Männer besorgen die schwere Außenarbeit. Sie pflügen, dreschen, fällen Holz, flößen, zimmern und mauern. Die Frauen übernehmen die Hausarbeit, das Melken, die Pflege der Kühe und des Kleinviehs, das Spinnen und Weben. Auf dem Feld helfen sie nur beim Mähen des Korns mit der Sichel, auch holen sie Reisig aus dem Wald.

Der Tod eines männlichen Mitgliedes ist in diesen kleinen Gemeinwesen eine einschneidende Angelegenheit. Er wird bei den Osseten und Chewsuren mit großen Feiern begangen. Das ganze Dorf nimmt mit Totenklage, Jammerweibern, Pferderennen, Totenbier, Schnapsgelage und reichlichem Festessen an der traurigen Begebenheit Anteil. Begräbnis und Abfahrt ins Totenreich sind mit alten heidnischen Bräuchen verbunden. Im Jahre nach dem Tode werden zwölf Erinnerungsfeste begangen, zu denen auch Stammesgenosten aus den Nachbardörfern eingeladen werden. Das ist notwendig, damit der Verstorbene im Jenseits seine Ambrosia, sein Bier und seinen Schnaps bekommt und nicht Gras fressen muß. Die Witwe muß ein ganzes Jahr lang fasten und sich in Rock und Kittel aus grobem schwarzen Zeug kleiden. Jeden Freitag besucht sie das Grab und trinkt dort auf das Wohl des Toten.

Geschirr, Küchengerät und Hausrat erinnern in vielen Dingen an die häusliche Einrichtung der alten Germanen, so auch der Brauch, Bier zu brauen. Osseten und Chewsuren machen das Bier aus Buchweizen, die andern kaukasischen Stämme brauen es aus Hirse.

Die vielen verwandten Züge in der Lebensweise, den Bräuchen und der Hauseinrichtung der Osseten und der Nordgermanen können wohl durch die gemeinsame indoeuropäische Herkunft erklärt werden, können aber auch ihren Grund in der Ähnlichkeit der Lebensbedingungen haben. Jedenfalls müssen wir bei Schlußfolgerungen beachten, daß ganz ähnliche Züge nicht nur bei den Nachbarn der Osseten, den Chewsuren und Pschawern, auftreten, sondern auch bei andern kaukasischen Stämmen mit ganz anderer rassischen Herkunft und völlig verschiedener Sprache.


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