Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3

Durch die friedlichen Straßen eines Gränzstädtchens fuhr heut beim hellen Nachmittagssonnenschein ein stattlicher Reisewagen ein, der im raschen Trabe dem Posthause zurollte, um, wie es schien, nur die Pferde zur Weiterreise zu wechseln. Des Postillons schmetterndes Horn hallte weithin wieder, aber in dem Hause des Posthalters war heut Alles wie ausgestorben. Der Wagen hielt vor der Thür; doch niemand kam heraus, um ihn abzufertigen oder die Reisenden zu empfangen, während sonst eine Extrapost hier etwas so Aufregendes zu sein pflegte, daß Alt und Jung zusammenlief, um seiner Neugier die Zügel schießen zu lassen. Der Postillon spannte indeß seine Pferde aus und führte sie, fluchend über das rätselhafte Stillschweigen, das im ganzen Hause herrschte und in dem sich noch immer Niemand blicken ließ, in den Hof, während die Fremden, die nicht Lust bezeigten auszusteigen, in dem bedeckten und dichtverhüllten Wagen sitzen blieben, um in Ruhe ihre Beförderung durch neue Postpferde abzuwarten. Die sorgfältig verschlossenen 4 Wagenfenster wehrten das Eindringen jedes spähenden Blicks, der sich über die Person der Reisenden hätte unterrichten wollen, obgleich diese Vorsicht, wenn es eine solche sein sollte, in dem abgelegenen Städtchen, das heut aus einem besondern Grunde noch menschenleerer als sonst schien, fast überflüssig war.

Nur ein Diener, der seinen Platz neben dem Postillon gehabt, war abgestiegen und in das Posthaus getreten, um die Angelegenheiten seiner Herrschaft in Ordnung zu bringen. Es währte nicht lange, so erhob sich drinnen ein Lärmen und Geschrei, in dem man die polternde Stimme des Bedienten und einen kreischenden Weiberlaut unterschied. Eine alte Frau kam endlich wehklagend heraus, verfolgt von dem jähzornigen Kurt, der schlechterdings die Anwesenheit des nirgends zu ersehenden Postmeisters von ihr hatte erzwingen wollen, da sie die einzig lebende und zutreffende Seele in dem ganzen Posthause schien.

»Der Herr Postmeister sind auf die Auction gegangen!« – schrie die Alte aus Leibeskräften, ihrem Unmuth gegen den zudringlichen Bedienten Luft machend – »der Herr Postmeister und die Frau Postmeisterin auch sind auf die Auction gegangen, und alle Knechte, Postillone, Wagenschmierer, Schirrmeister, sind mit auf die Auction gegangen, denn es ist heut eine große Auction im Städtchen, ganz am Ende beim Kuckucksthor, rechter Hand vom Gast 5hof zum guten Wirth! Es war ja zum Jahrmarkt ein Mann hier mit einer großen Thierbude, mit Tanzbären und Affen und einem buckligen Kameel und andern eines vernünftigen Menschen unwürdigen Mißgeburten, Gott verzeih' mir die Sünde! und der Mann hat im ganzen Städtchen ein großes Scandal und Vergnügung gemacht und die Narren zum Narren gehabt, und der Mann ist nun auf Einmal gestorben, und hat große Schulden hinterlassen und nicht so viel, daß er sich auf seine eigne Kosten hat können begraben lassen. Nun hat man heut eine Auction gemacht und will alle seine Habseligkeiten losschlagen und seine wilden Thiere und Affen dazu, und daß es auf der Affenauction heut auch nicht an Maulaffen fehlt, kann Er daran sehen, daß die ganze Stadt jetzt vor purer Neugierde hingelaufen ist nach dem Kuckucksthor in die verwünschte Thierbude, und wenn Er dorthingehen will, um sich den Herrn Postmeister herzurufen, so nehme Er sich in Acht, daß man Ihn nicht unter den Affen mit verauctionirt, und laß Er inskünftige alte Leute in Ruhe, Er ungezogener Passagier!«

Damit begab sie sich wieder in's Haus, und ließ den über ihre Zungenfertigkeit verwunderten Kurt allein stehen. –

In diesem Augenblick aber schob sich das Wagenfenster an der fremden Reiseequipage zurück, dem 6 Diener wurde zugerufen, den Schlag zu öffnen, und eine liebliche Knabengestalt, die sich mit milder Freundlichkeit umschaute, stieg heraus. Der schöne Knabe schüttelte sich die langen schwarzen Locken, die ihm vom Ungemach der Reise zerdrückt und verwildert über den Nacken flogen, und streckte dann seine Hand in den Wagen zurück, um sich einem ältern Manne, der ebenfalls auszusteigen im Begriff war, behülflich zu zeigen. Seine überaus zarte Jugend schien an ihm auf die erste Uebergangsstufe des Knaben zum Jüngling zu deuten, und ein Alter von kaum mehr als funfzehn Jahren errathen zu lassen, während doch die schlanke und hochstrebende Gestalt, die sich in den blühendsten Formen ausdehnte, ihm schon ein jünglingshafteres Ansehn gab. Sein helles und rundes Gesicht hatte gleichwohl etwas Gedankenvolles in den weichen Zügen, das nicht bloß durch die gelehrten Anstrengungen seines jungen Geistes ihm aufgeprägt schien, und während seine fein gewölbte Stirn von Verstand und Aufgewecktheit der Seelenkräfte sprach, während die regelrechteste Form einer griechischen Nase Zartsinn und edles Gefühl ausdrückte, und die spielende Anmuth um den frischen rothen Mund noch die ganze Lust und Reinheit der Jugend, die ganze unverdorbene Empfänglichkeit und Offenheit seines Alters anzeigte, drang aus der sinnigen Tiefe seines großen Auges, mit dem er den aus dem Wagen steigenden 7 Greis zärtlich und achtsam begleitete, ein Strahl der Wehmuth und Liebe hervor, dessen Innigkeit an einem Knaben von seinen Jahren fast erschrecken konnte. Er trug sich in einem grünen, kurzen Rock, der reich mit Schnüren und zierlichen Troddelwerk geschmückt war, dazu weite, weiße Beinkleider, und ein rundes, nachlässig auf dem Lockenkopf ruhendes Mützchen, vor das er einen kleinen Eichenzweig gesteckt hatte, und der Ausdruck dieser Tracht die den jungen Studenten in ihm erkennen ließ, gewann noch durch offenen Hals und Brust, die der Jüngling frei den Lüften entgegenbot.

Die beiden Fremden standen jetzt vor der Thür des Posthauses, und schienen sich mit Behagen von dem herrlichen warmen Sommertag anhauchen zu lassen, dem sie bisher den Zugang in den verschlossenen Wagen gewehrt hatten. Aber über dem Gesicht des ältern Mannes lagen düstre Schatten ausgebreitet, die sich auch in dem sonnenheitern Wetter, das lachend heut die Erde umfing und verschönte, nicht aufhellen wollten. Er schien ein Greis von bereits sehr vorgerücktem Alter, doch sprach sich in seiner hohen stolzen Gestalt eine Kraft und ein ehrfurchtgebietendes Ansehn aus, das von der Last der Jahre noch keinen Druck erfahren hatte. Er trug sich eng eingehüllt in einen grauen Reisemantel, der, als er sich beim Aussteigen aus dem Wagen unversehens zurückschob, den Mi 8nisterstern auf seiner Brust sichtbar werden ließ. Betrachtete man ihn genauer, so konnte man auch nicht anstehn, den vornehmen Staatsmann in ihm zu erkennen. Sein Antlitz zeigte noch im Greisenalter die Spuren einer Gewandtheit, Anmuth und Beweglichkeit des Ausdrucks, welcher Kälte und Feinheit, einschmeichelnde Grazie und stechenden Witz, Hingebung und Geistesgegenwart zu gleicher Zeit in sich vereinigte, und wenn die gebogene Adlernase Unternehmungssinn und schlaue Berechnung verrieth, wenn die verzogene volle Lippe kluge Verschwiegenheit ebenso sehr als reiche Beredsamkeit aussprach, so stand dagegen auf seiner erhabenen Stirn, die nur noch spärlich von dem glänzendweißen Haupthaar bedeckt wurde, eine Ueberlegenheit des Geistes ausgeprägt, die mehr als den bloßen Hofmann in ihm bedeutete. Dazu kam etwas Entschlossenes in seinem Blick und Haltung, etwas Heftiges und selbst Leidenschaftliche in seinen Bewegungen, das seiner Figur fast etwa Kriegerisches verlieh, und zweifeln ließ, ob man den Staats- und Hofmann, oder einen alten ergrauten Helden der Schlacht in ihm erblicken solle. Im Kampf mit der Welt und dem Geschick mochte er sich ohne Zweifel schon manches Mal als Held bewiesen haben, und wer in den jetzt so trauernden und verfinsterten Zügen seines Gesichts liest, wird den gestürzten und geflüchteten Staatsmann in ihm errathen.

9 »Gerade an der Gränze hält man uns auf, Erwin!« sagte er zu seinem jungen Begleiter, in kurzen, düster abgebrochenen Tönen. »Aber dieses kleine Hinderniß unserer Weiterreise ist vielleicht nicht ohne Bedeutung. Still stehen soll ich noch einmal gedankenvoll und mit ernster Betrachtung an der Gränze des Vaterlandes, ehe ich sie für immer überschreite, ich, ein Verbannter und Verwiesener, verwiesen aus dem Vaterlande, das mein Garten gewesen, in den ich die Keime meiner Liebe und deines Diensteifers ausgesäet zu einer segensreichen Pflanzung! Die Pflanzung gedieh, und in ihrem Schatten erging sich mein Fürst mit Erquickung, ja er wuchs heran an der Nahrung der Trauben, die ich als ein getreuer Arbeiter im Weinberge des Landes in Fülle für ihn gewonnen, aber des alten Gärtners wurde er überdrüssig und verstieß ihn in der Laune seines wilden und ungeläuterten Herzens! Ach, die Fürsten unserer Zeit verwechseln die Bedeutung ihrer Person noch unaufhörlich mit der Bedeutung des Vaterlandes! Hatte ich gegen seine Person gefrevelt, warum wies er mich aus dem Vaterlande, dessen Freund und treuer Diener ich nie zu sein aufgehört? Was geht die Liebe oder der Haß der Fürsten die Völker und den Bürger an? Am Vaterlande, aber nicht am Fürsten, hat der Mensch seine nährende und schützende Heimath, den dauernden Grund und Boden des 10 wandelnden irdischen Glücks! Die Fürsten, mögen sie freundlich oder feindlich in sich selbst gesinnt sein, den reifgewordenen Völkern ist beiderlei gleichgültig, denn ein kräftiges Volk schützt sich selbst, und es steht unerschütterlich festgewurzelt in der heilige Wurzel des Vaterlandes! Der Begriff des Vaterslandes hat die Kraft eine Gottheit für den armen, wankenden Menschen, und die Völker, die sich noch in der Vaterlandsliebe aufrecht erhalten, können nie untergehn durch die Tücke ihrer Despoten. Die Fürsten sind Menschen, aber das Vaterland ist das irdische Himmelreich! Mild und gastlich sicher und treu verklärt sich in ihm die tragende Macht der Gewohnheit zu einer geweihten Ordnung, zu einem harmonischen Einklang aller Zustände des Lebens. Und von dem Vaterland soll ich wirklich scheiden, ich altes, gebleichtes Haupt?«

»Großvater!« rief Erwin mit seiner sanften schmeichelnden Stimme, die Hand des Alten ergreifend – »wüßte ich doch Rath, von Deinem tiefen Gram Dich abzuziehen, mit dem Du Dich immer von Neuem, und immer schmerzlicher beschäftigst! – Ach, und was hat Erwin Dir gethan Großvater, daß Du angefangen, ihm nicht mehr so gut und hold zu sein, wie sonst stets? Auf der ganzen letzten Station hast Du kein liebes Wort mit mir gesprochen, und allen meinen Fragen und 11 Gesprächen Dich stumm abgewandt, so daß mir begann zu bangen, weil Du wie ein fremder und finstrer Mann neben mir Einsamen im Wagen dagesessen!«

»Knabe!« erwiederte Graf Valerian rasch und streng, indem er mit immer unfreundlicher werdender Gebärde seinen Mantel enger über sich zusammenschlug – »Dein eignes Schicksal fängt mich an zu beunruhigen. Ich hätte nicht dulden sollen, daß Du mit mir gegangen, und Deine junge Lebenshoffnung an das Loos des Verbannten geknüpft hast. Aber als Du, in alter Anhänglichkeit für den Großvater, mir nachsprangst in den Wagen, der mich davontragen sollte von der bisherigen Stätte meines Glückes und Glanzes, als Du, noch kaum im Zusammenhange das Unglück kennend, das über die Deinigen hereingebrochen, doch vor Allem entschlossen warst, an meiner Seite zu bleiben, und mich nicht allein von dannen zu lassen in meinem Sturze, da schien es mir für den Augenblick tröstlich und zum Leben fast unentbehrlich, Dich und Deine holde Zuneigung mit mir hinwegführen zu dürfen. – – Aber was willst Du eigentlich bei mir?« setzte er schneidend und kalt hinzu, so daß der Jüngling erschrak und sich zitternd an ihn schmiegte, indem er lange und ernst mit fragenden und flehenden Augen zu dem Greis heraufschaute.

12 »Du hättest sollen zu Hause bleiben!« fuhr der Exminister fort, das Gesicht düster von seinem Enkel abwendend. – »Aber ach! armer, zarter Erwin! zu Hause, im Vaterhause, wie ungastlich und rauh ist es jetzt da für Dich! Dein Vater – o wehe mir! da ich verflucht dazu bin, mich dieser verhaßten Gestalt immer wieder zu erinnern! Dein Vater, der mich betrog und verrieth, Dein Vater, der mich gestürzt und zerschmettert hat, auf den ich die Schuld alles Elends schleudern muß, das mich und die Meinigen getroffen – er ist auch für Dich kein sichrer und guter Hort des heimatlichen Hauses, dem sich die Entwicklung Deiner schutzbedürftigen Blüthe vertrauen könnte! Du weißt jedoch zu wenig, armes unbesorgtes Kind, von dem wahren Hergang der Ereignisse, der Alles, was bisher unter uns bestanden, plötzlich zerstört, und mich flüchtig und fast wahnsinnig gemacht hat in meinen grauen Jahren! Doch was berechtigt Dich zu glauben, daß Du bei mir sicher sein wirst? daß ich für Dich etwas werde thun können? Und was gibt Dir die Bürgschaft meiner Liebe und Treue, was schützt Dich, wenn meine Liebe, der ursprünglichen Wildheit der menschlichen Natur gemäß, sich auf einmal in Haß und Grimm gegen Dich verwandelt haben sollte?«

Das schöne, ausdrucksvolle Auge des zitternden Knaben hatte sich mit einer hellen Thräne gefüllt, 12 und er wußte lange nicht für seine Bangigkeit Worte zu finden. »Ach, Großvater!« sagte er dann scheu und zagend – »ich habe schon lange bei mir nachgedacht in meiner Einfalt, was Dir doch widerfahren sein möchte, daß Du Dich jetzt mir so abgewendet und verändert zeigst, selbst in dem Ton Deiner Stimme, die plötzlich nicht mehr so freundlich zu mir klingt? Gewiß, gewiß hat Deine große Betrübniß Dich krank gemacht! Aber warum richtest Du ein zürnendes Auge auf Erwin?«

»Laß uns einen kleinen Spaziergang durch die Stadt machen, mein Freund!« entgegnete der Graf abbrechend. »Dieß wird uns zerstreuen, und unterdeß werden die nöthigen Anstalten unsrer Weiterreise getroffen sein!«

Er schritt voran, in rascher Bewegung, die ihm natürlich schien und der hohen Greisengestalt einen auffallenden, jugendkräftigen Ausdruck gab, und Erwin folgte ihm langsamer nach, durch die reinlichen, heitern Straßen des Städtchens, die mit ihren niedlichen Giebelhäuschen im Sonnenschein wie in ihrem Sonntagsschmuck blinkten. Einige kleine Jungen aus der Stadt, die sich allmählig aus Neugier vor den Posthause zusammengefunden hatten, gingen hinter Ihnen her, und schienen, in der Meinung, daß die Fremden den abwesenden Postmeister aufsuchen woll 14ten, nicht übel Lust zu bezeigen, sich als Wegweiser Ihnen nützlich zu machen.

Das Städtchen war bald durchwandert und die Reisenden erblickten sich am Thor, das zunächst die Aussicht auf einen freien, mit Rasen bedeckten Platz eröffnete, in dessen Mitte ein von Brettern und Latten zusammengeschlagenes Haus, wie sie wohl herumziehende Seiltänzergesellschaften oder Menagerien zum beweglichen Schauplatz ihrer Merkwürdigkeiten zu errichten pflegen, gesehen wurde. Das vor der Thür halb herabgeschlagene Aushängeschild am Hause ließ noch die Malerei einiger gaukelnden Affen, tanzenden Bären und ähnlicher Figuren wahrnehmen, die zu Lockung der Schaulust hatten dienen sollen, und die aus dem Innern herschallenden Thierstimmen bestätigten es vollends, daß dieß die Thierbude sein müsse, von der früher, bei Ankunft der Reisenden die Rede gewesen war. »Hier ist die Auction!« sagte ein kleiner, dreister Junge, mit der Gutmüthigkeit der kleinstädtischen Jugend sich den Fremden nähernd. »Gehen Sie nur hinein, da ist auch der Herr Postmeister drinnen!«

Der alte Graf schien nicht anzustehn, dieser seltsamen Einladung zu folgen. »Komm, Erwin!« sagte er zu seinem Enkel. »Vielleicht gewährt uns dieser Zufall eine augenblickliche Aufheiterung in unserer allerdings mehr als aufheiterungsbedürftigen Lage!«

15 Sie traten in das Haus, in dem sie eine dichtgedrängte Versammlung von Menschen aller Art antrafen, welche der Zweck, der stattfindenden Versteigerung des von dem verstorbenen Thierwärter nachgelassenen Besitztums beizuwohnen, hergeführt hatte. Der ohnehin nicht sehr umfassende Raum war voll gepfropft von Kauflustigen und Neugierigen, in deren Mitte der Auctionscommissarius vor einem mit Papieren bedeckten Tischchen, eine große Brille auf der Nase und allen Ernst seiner Amtswürde in der Miene, dasaß. Ringsumher an den Wänden sah man mehrere eiserne Käfige, in denen sich hier ein zähnefletschender Affe, dort ein einsam grollender Bär, wild flatternde ausländische Vögel, Wölfe, Füchse und ein junger langmähniger Löwe, den Augen der Zuschauer als die Gegenstände der Versteigerung darboten. Auffallend aber war es, daß die ganze anwesende Versammlung bei dem ihr obliegenden Geschäft in ein tiefes anhaltendes Schweigen versunken zu sein schien, daß weder der Auctionator ausbot noch die Anderen zuschlugen, sondern sich Alle in einer unthätigen und fast träumerischen Stille neben einander verhielten, während dagegen die Thiere rundumher um so unruhiger zu werden anfingen, die boshaften Affen laut schrieen und mit tückischer Gebärde der Versammlung drohten, die Bären entsetzlich brummend mit der Tatze gegen ihr eisernes Gitter schlu 16gen, die buntgefiederten und in den stechendsten Farben schillernden Vögel kreischend mit den Flügeln gegen die Decke ihres Käfigs fuhren, und der Löwe, wie im gerechten Zorn über die Kleinstädter, die auf den seltsamen Gedanken gekommen waren, ihn, den König der Schöpfung, und seine Unterthanen, die andern Thiere, auf dem Wege Rechtens verauctioniren zu lassen, erschütternd brüllte. Dies schien die hier zusammengekommenen Bewohner des Städtchens nur noch immer stiller und schüchterner zu machen, um so mehr, da weniger eine bestimmte Absicht und Kauflust, als vielmehr nur die Neugier sie hergeführt haben mochte. Da die bei Allen so beliebte Thierbude mit ihren seltenen Sehenswürdigkeiten bisher nur gegen ein Eintrittsgeld geöffnet gewesen war, so hatte die heutige Veranlassung einer vorzunehmenden Versteigerung, wodurch Jedem, der daran Theil nehmen wollte, der Zugang frei gegeben wurde, etwas unwiderstehlich Lockendes an sich gehabt, die merkwürdigen Thiere einmal unentgeldlich mit rechter Muße zu sehn. Es waren daher so Viele in der Bude zusammengeströmt, als dieselbe nur immer zu fassen vermochte, und sich behaglich neben einander niedersetzend, genossen sie mit einem gewissen Schauer stiller Lust das Vergnügen, sich alle diese Dinge umsonst betrachten zu können. Nach und nach aber fiel es Allen auf die Seele, wie sie eigentlich zu 17 einer Auction hier zusammengekommen wären, und der gefürchtete Bürgermeister, ein starker, wohlbeleibter Schlächter des Städtchens, der aus gewissen Gründen besonders bei der Versteigerung betheiligt war, hatte sich bereits selbst eingefunden, um sie unter seinen Augen betreiben zu lassen. Keiner fühlte sich indeß berufen, auf einer solchen Auction etwas zu erstehn, und der ganzen Versammlung bemächtigte sich daher jenes ängstliche Stillschweigen, das einen fast wehmüthigen Charakter hatte, und indem ein Theil ernstlich darüber nachzudenken anfing, wozu sie sich wohl eigentlich unter ihren zahmen Verhältnissen wilde Thiere ankaufen sollten, während Andere, der schwülen Luft des Hauses unterliegend, sich einem harmlosen Nachmittagsschläfchen hingaben, um unterdeß die Sache gehn zu lassen, wie Gott gefiele. Unter diesen Umständen, wo ein Jeder mit sich selbst beschäftigt war, wirkte das plötzliche Eintreten des alten Grafen und seines Enkels weniger überraschend, als es sonst wohl der Fall gewesen sein würde, und man ließ die Fremden längere Zeit unbeachtet an der Thür stehen, bis sich endlich der Bürgermeister mit würdevollen Complimenten ihnen näherte und ihnen den Ehrenplatz neben sich anwies.

»Es hat bisher an Fremden gefehlt, um diese Auction lebendiger zu machen!« so erhob darauf der Bürgermeister seine starke Stimme zu der sich ermun 18ternden Versammlung. »Auch diesem Mangel ist gegenwärtig durch den steten Fremdenverkehr unserer Stadt abgeholfen worden, und ein wohllöblicher Magistrat dieser Stadt findet sich daher in meiner Person veranlaßt, Sie, wohl-, edel- und hochedelgeborene Bürger und Herren, für diese rechtskräftige Versteigerung, die einem immer freudigeren Ziele entgegensieht, um erneute Aufmerksamkeit zu bitten.«

Alle horchten auf, räusperten sich und richteten ihr Blicke auf die Fremden, von denen sie lediglich Heil für die Bedrängniß dieser Stunde zu erwarten schienen.

»Der Nachlaß des verstorbenen Mannes, um den es sich hier handelt,« fuhr der Bürgermeister zu sprechen fort – »besteht leider nur allein aus seinen Thieren. Aber konnten wir ihm wohl darum ein christliches und menschliches Begräbniß unter uns versagen, weil er nur eine thierische Erbschaftsmasse hinterließ? Bürger und Bewohner dieser Stadt, wir konnten es nicht, und ich, euer Bürgermeister und Schlächter dieser Stadt, fühlte meine alte Lämmernatur sich in mir regen und streckte das Geld aus meiner eignen Tasche dazu vor, um den Mann zu begraben, aber wohlgemerkt! – ich streckte es vor! Nun ist dadurch dem gestorbenen Mann zwar sein Recht geschehen, aber meinem lieben Geldbeutel geschah dadurch Unrecht und ein Geldbeutel, weil 19 er ein lebendes Wesen ist, muß eigentlich mehr Recht haben als ein gestorbener Mann, denn ›der Lebende hat Recht!‹ steht zwar nicht in unserm Landrecht, aber doch in der wohlfeilen Taschenausgabe eines unserer größten Dichter. Es erzeugt sich daher wie von selbst die Notwendigkeit, die nachgelassenen Thiere des hingeschiedenen Menagerie-Inhabers wieder möglichst zu Geld zu machen, dadurch das einem Lebenden widerfahrene Unrecht zu tilgen, und so sind wir zusammengekommen, Mitbürger, um diese Affen, Bären, Füchse, Vögel und Löwen an die Meistbietenden unter uns zu verkaufen! Kaufet! kaufet! ich bitte, ich beschwöre euch – kaufet! kaufet! Aus Dankbarkeit gegen die wohlschmeckenden zahmen Thiere, deren Fleisch ihr täglich zu eurer Nahrung verspeiset, erbarmet euch nun auch dieser armen wilden Thiere, die gewissermaßen die verlornen Söhne des Thierreichs sind, erbarmet euch ihrer und kaufet sie um ein Billiges, damit euer Bürgermeister wieder zu seinen ausgelegten Begräbnißkosten komme! Was ist denn an einem Affen, an einem Bären so Schlimmes, wenn man dadurch, daß man ihn kauft, ein menschliches Werk verrichten kann! – Und nun, Herr Auctions-Commissarius, thun Sie, was Ihres Amtes ist!«

Der Auctionator, ein langer hagerer Mann, 20 stand auf, schob sich die große, mit ungeheuern Gläsern versehene Brille fester auf die Nase, und begann aus einem kolossalen Aktenstück eine Beschreibung der einzelnen Stücke des vorliegenden Inventariums mit krähender Stimme herzulesen. Nr. 1 war ein junger indianischer Affe, 3 Fuß 3 Zoll hoch, von ausgezeichnet schönem Gliederbau und mit einem Schweif versehen. »Wer bietet zum Ersten?« fragte der Auctions-Commissarius nachdrücklich, sich nach allen Seiten im Kreise umschauend.

Alle schwiegen wie gelähmt, Keiner wagte sich zu rühren oder nur durch einen Laut seine Anwesenheit zu verrathen.

»Nichts zum Ersten?« fragte der Auctions-Commissarius grollend.– »Nichts zum Zweiten?« wiederholte er, sich ingrimmig gegen die Versammlung kehrend. »Nichts zum Dritten?« – und mit diesen Worten warf er seine Akten auf den Tisch und setzte sich wahrhaft wüthend nieder. –

Graf Valerian schien ungeachtet seiner schmerzlichen Stimmung doch einen Augenblick daran Unterhaltung zu finden, die seltsame Scene zu beobachten. Auch Erwin würde zu jeder andern Zeit hier den ergötzlichsten Stoff für seine muntere Laune, an der es dem sonst so frohen Knaben wohl nicht fehlte, gesehen haben, wenn nicht das vorangegangene Gespräch mit seinem Großvater, dessen befremdliche 21 Wendung er noch nicht vergessen konnte, einen zu bänglichen Eindruck auf ihn gemacht hätte. Er fand daher in dem ganzen Kreise nur einen Gegenstand der Theilnahme für sich, auf den er fast ausschließlich seine Blicke richtete, und der, von allen Uebrigen nicht bemerkt, sein betrübtes Gemüth durch einen verwandten Zug anzusprechen schien. Dieß war ein junges Mädchen, das seit einiger Zeit in der halb geöffneten Thür eines an der Seite befindlichen Nebenzimmers gesehen wurde. Ueber ihr jugendliches Gesicht lag eine tiefe, merkwürdig scharf ausgedrückte Trauer verbreitet, welche sich auch in dem schwarzen, obwohl groben und ärmlichen Kleide, das den zartesten und feingebildetsten Körper umhüllte, zu erkennen gab. Es war, wie auch Erwin gleich muthmaßte, die hinterbliebene Tochter des verstorbenen Thierwärters. Sie starrte mit einem unbeschreiblich stechenden Blick des bittersten Schmerzes auf die Menge der Menschen hin, welche sich heut in dem Raum der Menagerie zusammendrängte, und ihr trostlos umherirrendes Auge begegnete auch dem des fremden Jünglings, der an ihrer überraschenden Erscheinung etwas wunderbar Anziehendes fand. Erwin betrachtete wiederholt das arme trauernde Mädchen, und sie blickte ebenfalls mehrere Male sinnend zu ihm hinüber.

»Bürger und Bewohner dieser Stadt!« begann 22 der Bürgermeister wieder – »diese rechtskräftige Versteigerung scheint nicht den erwünschten Fortgang zu haben. Ihr wollt Euern Bürgermeister durchaus nicht zu seinen ausgelegten Begräbnißkosten gelangen lassen. Nun wohlan! so sehe ich diese Menagerie als mein wohlverdientes Eigenthum an und fordere daher als vollgültiger Besitzer derselben von Euch Allen, die Ihr mir heut die Ehre erwiesen, diese meine merkwürdigen wilden Thiere hier in Beschauung zu nehmen, das gewöhnliche Eintrittsgeld, das sonst immer an diesem Orte zu erlegen gewohnt gewesen. Dieß soll jetzt nach den festen Preisen der Plätze von mir erhoben werden, und ersuche ich daher Jeden, ruhig auf dem Sitz, den er einmal eingenommen, zu verharren. Der Ueberschuß dieser Eintrittsgelder, die Ihr für die eben stattgefundene Befriedigung Eures naturwissenschaftlichen Interesses gegenwärtig an mich auszuzahlen habt, soll, nach Abzug meiner Forderungen, der unmündigen Erbin, Tochter des Verstorbenen, verbleiben. Darum geschehe, was Rechtens ist!«

Jetzt begann unter der bisher so still gewesenen Versammlung eine plötzliche Unruhe zu entstehn, mehrere erhoben sich von ihren Plätzen, einige eilten rasch aus der Thür, und ein allgemeines Drängen und Aufbrechen brachte den wunderlichsten Wirrwarr hervor. Da stand, zur Verwunderung Aller, der ihnen 23 längst räthselhaft gewesene Fremde auf, und schien endlich noch die Hoffnungen, die man zu Anfang auf ihn gesetzt hatte, wahr machen zu wollen.

Graf Valerian näherte sich nämlich dem Bürgermeister, und führte längere Zeit mit ihm eine geheime Unterredung, die dieser mit dem wichtigsten Gebärdenspiel begleitete, um die Neugier der Umstehenden, die in ihrer allgemeinen Bewegung nach der Thür plötzlich inne hielten, noch mehr zu spannen. Erwin betrachtete ebenfalls staunend das Beginnen des Großvaters, das er nicht zu begreifen vermochte, obwohl er es demselben seit einigen Augenblicken anzusehen geglaubt, daß er einen besondern Plan in Gedanke führe.

Endlich sagte der Graf laut: »Wir sind darüber Eins geworden, mein Freund: Ich habe diese Menagerie an mich gekauft, und sie nebst allen andern nachgelassenen Sachen und Papieren des verstorbenen Thierwärters besitzthümlich erworben. Nun werde aber schnell Anstalt getroffen, mir Alles zu überliefern, und diese Räume den fremden Zuschauern zu verschließen.«

Der Bürgermeister verbeugte sich tief bis zur Erde, und machte selbst den Anfang, sich zuerst aus dem Hause zu entfernen. Ihm folgten bald die übrigen Bewohner des Städtchens nach, die heut einen so seltsamen Tag in der Thierbude erlebt zu 24 haben meinten, daß noch ihre Kinder und Kindeskinder lange davon sprechen werden.

Es war still und einsam in dem wüsten Raum geworden, der zum Aufenthaltsort den wilden Thieren diente. Auch diese begannen einen Augenblick ruhiger in ihren Käfigen dazusitzen, nur der Löwe trat in dem seinigen heftig hin und her, schüttelte sich prustend und schien ungeduldig eine ihm wohlbekannte Person zu erwarten, die er sonst vor den Gittern seines Gefängnisses zu sehen gewohnt sein mochte. –

Der alte Graf stand mit übereinandergeschlagenen Armen in der Mitte des Saales und starrte düster und regungslos vor sich hin in ein langes Nachsinnen verloren. Da fühlte er sich von einer weichen Hand ergriffen, welche die seinige schüchtern drückte, und ihn aus seinen abirrenden Gedanken leise zu wecken suchte. Wild auffahrend sah er in das holde Gesicht seines Enkels, das sich verlangend und liebevoll zu ihm heraufbeugte.

»Du hier, Erwin?« sagte er, sich sammelnd, mit beinahe zürnender Stimme. »War mir doch Deine Anwesenheit fast ganz wie aus dem Gedächtniß gekommen!«

»Ja, warum sind wir hier, Großvater?« fragte der Jüngling bange. »Mir ist längst hier unheimlich zu Muthe geworden, und ich möchte weinen, ich weiß selbst nicht worüber, aber Dir muß etwas sein, 25 Großvater, dieß ist es, was mich tief in der Seele ängstigt. Wann reisen wir weiter? Ich bitte Dich, laß es bald geschehn!«

»Ich habe meinen Reiseplan geändert!« entgegnete der Graf. »Komm, laß uns hier in dieß anstoßende Cabinet gehn, wo uns die starken Ausdünstungen der Thiere weniger belästigen. Wir wollen dort Das und noch manches Andere zusammen besprechen.«

Sie traten in das angränzende Nebenzimmer, in dessen Thür Erwin zuvor das junge trauernde Mädchen stehen sah. Diese war jetzt verschwunden, und auch das kleine Gemach war leer und nirgends die Spur von einem lebenden Wesen mehr wahrzunehmen. Nur einige Gerätschaften standen noch unordentlich umher, zwei halbzerschlagene Stühle lagen auf den Fußboden hingeworfen, an der Wand hing eine alte, verrostete Jagdflinte, ausgestopfte Vögel zierten das Fensterbret, und erinnerten, wie mehreres Andere, an den verstorbenen Thierwärter, der hier sein Wohnzimmer gehabt.

Der Graf, nachdem er die Thür hinter sich geschlossen, hob die beiden Stühle auf, die noch, so nur sie vermochten, zusammenhielten, setzte sich auf den einen nieder, und wies seinen Enkel, der ihm erwartungsvoll gefolgt war, auf den andern Sitz hin.

»Ich habe meinen Reiseplan geändert!« wieder 26holte der Graf, der in der wunderbaren Erregtheit seines Schmerzes seinem Greisenalter nicht mehr glich. »Es ist mir klar geworden, daß ich, wenn auch aus dem Vaterland verbannt durch den Willen meines Fürsten, doch eher an dem Willen des Fürsten als an dem Schicksal der Meinigen zum Verräther werden darf. Wohlan also, ich werde nicht fliehen! Meine Gegenwart ist an dem Schauplatz, von dem ich verwiesen worden, dennoch nothwendig, und verkleidet in das grobe Gewand eines Thierwärters, beglaubigt durch die Papiere des Verstorbenen, wird man nicht mich, sondern den entstellten, drohenden Schatten meiner selbst dorthin zurückkehren sehn. Ich will, ich muß für meine Tochter, meine sanfte, duldende Mathilde, noch etwas thun! Deine Mutter, Erwin, hat mehr zu leiden und zu tragen, als Du es weißt. Habe ich sie nicht hülflos in den Händen Deines Vaters zurückgelassen? Und er, Graf Arno, Dein Vater, ist er nicht der lachend mordende Würgengel ihres schönen Lebens geworden? Ja, der Fürst selbst ist es, der wilde, seinen Leidenschaften verfallene Mann, der sich in das ehemals so vielversprechende Familienglück der Meinigen wie ein heimlicher Giftmischer eingeschlichen! O ich alter, gedankenloser Thor, der ich das unbeschirmte, zarte Haupt meiner Tochter dort den um sie herschwärmenden Geiern überließ! Nein, ich will wieder zurück, sei es auch versteckt 27 in der Mitte von wilden Bären und Wölfen, zurück will ich, und selbst wie ein Raubthier, das in der Stille spähend auf Beute ausschleicht, Alles beobachten und belauschen, was sich ihr naht, meiner armen, weinenden Mathilde! Ich will mich Nachts heimlich vor ihrer Thür lagern, und, ein mit Vaterliebe bewaffneter Zionswächter, meinen grauen Kopf auf den Stein ihrer Schwelle legen, um ihr Leben, ihre Ruhe und ihren Schmerz zu bewachen vor dem Eindringen des Frevels! Und vielleicht gelingt es mir auch, aus meiner Verborgenheit wieder wohlthätig auf den Fürsten einzuwirken, wenn ich in der Nähe der Hauptstadt bin; vielleicht kann ich, versteckte Warnungsstimmen an ihn aussendend, seine ursprünglich gute Natur in ihm wieder aufrütteln und ihn der Gewalt schlechter und verführerischer Rathgeber entreißen. Die alten Freunde werden sich dort wieder an mich schließen, sie werden mich unterstützen und sich unterstützen lassen durch meinen Rath zu gemeinsamen Handeln, und so zeigt sich wohl selbst die halb zertrümmerte Kraft des Verbannten und Verstoßenen noch zum Heile des Vaterlandes lebendig! Das neunundsechzigjährige Herz will noch nicht aufhören in mir, muthvoll zu schlagen, – ach, so schlafe es denn in lauten Schlägen meiner lieben Tochter entgegen, und dann vielleicht bald einer ruhigeren Stunde, in der es sich in seine Todesurne senkt! –«

28 Er schwieg und wandte seinen Blick auf den Enkel, der ihm begeistert zugehört hatte. Erwins Augen glänzten vor Freude, und die innere Trunkenheit der ersten Jugend, die sich an dem feurigen Traum eines großen Unternehmens aufzurichten beginnt, röthete die Wange des früh entwickelten und lebhaft fühlenden Jünglings. »So sei es, Großvater!« rief er frohbewegt. »Ach, Du bist mir immer wie ein Held und Heros erschienen, und – was ich mich bis dahin stets zu sagen geschämt, das sei Dir jetzt gestanden – ich habe oft für Dich in meiner kindischen Begeisterung im Stillen geschwärmt, und an Dich gedacht, wenn ich mit dem Lehrer im Homer oder Aeschylus von den großen Gestalten der alten Könige und Halbgötter gelesen, und Du warst mir, in der erhabenen Geschäftigkeit Deines Staatsamtes, in der unwandelbaren Hoheit, in der Du in der Mitte unsres Familienkreises dagestanden, und Allen, in der Freude wie in der Noth, ein beseelender, ordnender und weise beherrschender Halt und Hort gewesen, Du warst mir ihnen immer so ähnlich erschienen! Dann entstand der Wunsch in mir, einmal an Deiner Seite, Dir dienend und folgend als treuer Schildknappe, ein thatenvolles Leben zu durchwandern, oder nach Deiner Führung irgend Etwas zu unternehmen, das unter den Menschen als trefflich und nachahmenswert 29 genannt werden könne! So bat ich Dich in derselben Stunde, wo Deine traurige Verbannung ausgesprochen wurde, auch sogleich mich mit Dir fortzunehmen in die Fremde, die mir neben Dir aussichtsvoll und ahnungsreich entgegenlachte. Aber jetzt, wie gern kehre ich auch mit Dir wieder zurück, da Du Dich anders entschlossen hast, denn auch mich hatte im Geheimen längst der Wunsch bewegt, nicht für immer geschieden zu sein von der guten Mutter und der kleinen lieblichen Schwester Tony, die wie ein Engel aufblüht. So laß uns denn heimkehren, Großvater, und ertheile auch mir in Deinem Plane eine Aufgabe, wodurch ich Dir in Deinen Absichten förderlich werden kann. Gewiß, Du sollst sehen, daß Du Dich nicht in mir und meinem Muthe geirrt hast!«

»Du sprichst unbedacht und voreilig, wie es von einem Knaben Deines Alters zu erwarten!« sagte der Graf mit rauher Betonung, und schien wieder eine befremdende Verstimmung gegen den Enkel zu verrathen. »Deine Anwesenheit könnte mir in meinem Vorhaben nur hinderlich oder schädlich werden. Du reisest daher unter Begleitung meines Kammerdieners weiter, bis B., wo Dich ein namhafter Freund unsres Hauses gastlich in seine Familie aufnehmen wird. Auf der dortigen Universität magst Du dann mit Muße und Ruhe Deine Studien 30 weiter fortsetzen, die Du an der Akademie unsrer Hauptstadt kaum begonnen, als Dich Dein Entschluß, mir zu folgen, plötzlich wieder davon entfernte. Ich selbst hätte dieß nie billigen sollen, und sehe jetzt ein, was ich an Dir wieder gutzumachen habe. Gehe also, mein Freund, dorthin, wo ich Dir einen zweckmäßigen Aufenthaltsort auserwählt. Ich ehre Deine Talente und Geistesanlagen, und weiß, was von Dir zu hoffen. Aber Du bist noch zu jung und zu weich, um schon auf das offene Schlachtfeld des Lebens mitgenommen zu werden, und es ist besser, wenn Du für jetzt noch bei Deinen Büchern Dir ein wohlthuendes und sturmloses Stillleben suchst! Freund, rüste Dich langsam zum Streit mit der Welt, und möge sie nicht eher an Dein Herz schlagen, als bis Du ihr die gestählte Männerbrust entgegenbieten kannst! Jugend dünkt sich gewappnet, weil sie sich in den Wunderharnisch der Phantasie gekleidet, weil sie sich vom leichten Götterroß des Traumes getragen fühlt. Der Mann sieht ein, daß er schwerere Waffen sich schmieden muß, um sich aufrecht zu erhalten in einer Welt voller Feinde, und so mühen wir uns Alle zeitlebens athemlos ab, uns die rechte Waffe zu erarbeiten, die den Sieg verschaffen könnte, aber die Mühsal des Waffenschmiedens selbst ist es, die uns endlich zuerst besiegt, und uns ermattet hinstreckt neben die fertig 31 gewordene Erdenwaffe! – So gehe denn, werde ein glücklicherer Waffenschmied als ich! Auf Wiedersehn! Es wartet Deiner schon vor dem Posthause der Reisewagen, der Dich weiter führen soll!«

Er reichte ihm abgewandt die Hand, ohne ihn freundlicher anzublicken, oder, wie es sonst wohl gegen seinen Liebling der Großvater gewohnt gewesen, ein innigeres Zeichen der Liebe ihm beim Abschiede zu gewähren. Erwin aber war aufgesprungen, und einige Schritte zurücktretend, bedeckte er sich die Stirn schmerzlich mit den Händen und schien heimlich in sich hinein zu weinen. Dann erhob er das Auge furchtsam gegen den Greis, und sagte klagend: »Du stößest mich von Dir, – und wäre es bloß, wie Du sagst, zu deinem eignen Nutzen und Frommen, so würde ich gern gehn, wohin Du mir auch den Weg vorzeichnen magst! Aber es ist deshalb, weil Du mir Deine Liebe zu entziehen angefangen, weil Du, was ich bereits nur zu deutlich bemerkt, plötzlich etwas Widerwärtiges an mir gefunden habe mußt, weswegen Du mich nicht mehr um Dich sehen willst. Vergebens aber sinne ich Aermster nach, was es sein mag, das mich Dir auf einmal entfremdet hat, doch es muß etwas Finstres und Unheilvolles sein, denn vor Kurzem blicktest Du mich gar zürnend und grollend an, wie den, welchen man haßt.«

32 »Forsche nicht! Frage nicht!« entgegnete Graf Valerian mit einer schneidenden Stimme, die sich immer auffallender veränderte und düstrer wurde. Er vermied es, den ihn suchenden Blicken des Jünglings zu begegnen.

»Ich muß forschen! Ich muß fragen!« versetzte Erwin schnell, sich das Auge trocknend. »Hierin kann ich Dir nicht gehorsam sein. Ach, Du hältst mich immer noch für ein Kind, und das schmerzt mich jetzt doppelt. Sage, sage mir, was ist es, das Du an mir hast? O, ich kann mehr ertragen als ein Kind, Großvater! – und weil ich kein Kind mehr bin, geziemt mir das Forschen und Fragen nach Dem, was mich angeht!«

»Du verlangst unglückliche Kunde!« sprach der Graf leise und abgebrochen, mehr zu sich selbst als zu dem Enkel. Dann starrte er wieder schweigend vor sich hin, und stützte wie ein sorgenvoll Nachdenkender das Haupt in den Arm, welcher über dem Knie ruhte.

»Was ist es?« wiederholte Erwin sacht, und zitterte der Antwort des Anderen entgegen.

»– Dein Gesicht gefällt mir nicht mehr! –» sagte der Graf kaum hörbar, aber mit einem dumpfen, zerrissenen Ton, der Entsetzen verbreiten konnte. Nachdem er aber diese wenigen Worte gesprochen, sprang er wild und wie ein vom innern Grauen 33 Geschüttelter auf, durchmaß das Gemach einigemal mit heftigen Schritten und stand dann vor dem Fenster still, seinem Enkel den abgewandten Rücken zukehrend. Dieser aber, ein durchdringendes Ach! seufzend, verhüllte sein Gesicht, und blieb so stumm und lautlos in seinem Schmerz stehen. Ein langes Stillschweigen trat jetzt zwischen Beiden ein, das Niemand wieder zu unterbrechen wagte.

Endlich wandte sich der alte Graf um, sein Antlitz hatte eine dunkelrothe Glut überzogen, und sein ganzes Wesen schien außer Fassung und von Leidenschaft zu zittern. Mit einer Stimme, die jetzt eine donnernde Gewalt gewann, und wie im Sturm den schneidenden Sinn ihrer Worte ausathmete, rief er darauf: »Ein Wahnsinn mag es an mir sein, der mir den verwirrenden Schleier über die Augen geworfen und mit Gespenstertrug meine gute Sehkraft berückt hat. Aber wer kann den Wahn von der Wahrheit scheiden, da beide fast nie getrennt von einander im Leben vorhanden sind, sondern in gaukelndem Bilderblendwerk ineinanderspielen und zusammen buhlen! Sonst, sonst hatte es keinen größeren Augentrost für mich gegeben, als Dich anzublicken und Dein liebes, sanftes Gesicht zu betrachten, das ich vor allen andern gern gehabt! Du sahest immer Deiner Mutter täuschend ähnlich, nicht nur in Deinem früheren Kindesalter, sondern auch noch 34 bis in die letzte Zeit hinauf. Alle Züge meiner Mathilde, Blick und Lächeln, Ausdruck und Miene, und alle die kleinen, leisen Geheimnisse in der Bewegung eines Antlitzes, die nur der wahrhaft gesichterkundige Beobachter zu erfassen versteht, fand ich in Dir gleichsam durch ein gemüthliches Spiel der Natur sinnig nachgespiegelt, und hatte eine geheime Freude daran, die mich mitten in meinem Geschäftswirrwarr erquickte. Du mußtest immer und täglich um mich sein, wie sonst meine Mathilde selbst, als ich sie noch nicht Deinem Vater zu meinem und ihrem Unglück vermählt hatte! – und ich sah ihr, mir zum Leben unentbehrliches Gesicht in dem Deinen, und schien getrösteter darüber, daß sie nicht mehr bei mir war. So lebtest Du mehr in meinem Hause als in dem Deiner Eltern. Aber wie hast Dich so plötzlich verändern können! Jenes schöne, treue Abbild Deiner Mutter glaubte ich an Dir mitzunehmen in meine Verbannung wie einen Sonnenabglanz aus glücklicher Vergangenheit, – und siehe! – welche fremde Erscheinung hat sich auf einmal zwischen uns eingeschlichen! Als ich so im Wagen, der uns mit einander davonführte, still neben Dir saß, und Du, von der Ermüdung der Reise in Schlummer gewiegt, Dich an meine Schulter lehntest, blickte ich Dich gerührt an und sah Dir in Dein harmlos ruhendes Antlitz, das im Schlummer 35 gelöst, wie ein vielversprechendes Buch menschlicher Gedanken offen vor mir dalag. Da, Dich so betrachtend, stieg es plötzlich in mir wie ein böses Phantom auf, und ein finsterer Geist flüsterte mir Etwas ein, wovor ich zusammenzuckte und laut seufzen mußte, so daß Du neben mir verwundert erwachtest. Ja, ich seufzte laut vor Schreck, denn ich hatte wahrgenommen, daß Du eigentlich Deinem Vater ähnlich sähest, und nicht mehr Deiner Mutter, nicht mehr dem Madonnengesicht meiner Mathilde! Du hast angefangen in Deiner Hinüberentwickelung zum Jüngling Dich zu verändern, und Du wirst es immer noch mehr, und wo ich sonst in Deinen jugendlichen Zügen der Mutter Bild wieder erblickte, beginnt mir jetzt Deines Vaters Gesicht in immer strenger heraustretender Aehnlichkeit allmählig aufzutauchen. Ja, Knabe, Du wirst Deinem Vater recht ähnlich werden! Ich habe Deine Veränderung in Deinem Schlaf belauscht, und der Schlaf ist der Verräther jedes menschlichen Gesichts, weil es sich in ihm nicht zu bewachen vermag im Ausdruck seiner leisesten Falten und Mienen, die alle arglos den Zwang der Verstellung aufgegeben haben. Die Gebärde des Schlafenden ist für den Physiognomen ein wichtiges Bild zur Aufnahme seiner Beobachtung. Daher hat es auch etwas Gefährliches an sich, die Gesichter unserer Freunde, während sie schlafen, zu 36 betrachten, und oft hat sich schon so die Zwietracht in mein Herz gestohlen, wenn der im Schlummer Dahingestreckte mir einen früher nie entdeckten Zug in seinem Antlitz entgegenwies, der mich mit einem unheimlichen Gefühl wider ihn erfüllte! So erkannte ich auch in einer unglücklichen Stunde den Zug der Veränderung an Dir! Deines Vaters Gesicht – ach! Deines Vaters Gesicht scheint jetzt aus dem Deinigen wie eine herzzerreißende Erinnerung mir heraus, und diese Erinnerung, die mich nun bei Dir nicht mehr losläßt, foltert mich, so oft ich Dich anblicke, mit tödtlichen Qualen. Wehe! wehe! warum verfolgt mich die Grausamkeit meines Schicksals mit so erfinderischem Spott, daß ich in den sonst so geliebten unschuldigen Zügen nun das Gesicht meines Todfeindes hervorschimmern sehen muß! O dieß Gesicht – diese glatte, freundliche Schlange, welche die Sünde und das Elend in das Paradies unsres Lebens gebracht! – dieß Gesicht! – ach! ach! ich kann mich nicht mehr halten, denn der grimmige Schmerz in mir wird zum Ungeheuer, das Höllenflammen ausspeit durch alle meine Eingeweide – dieß Gesicht! Fluch dem, der mich armen, alten, gescheiterten Mann an dieß Verräthergesicht erinnert, an dieß glänzende Verräthergesicht, das durch Schönheit berückt und durch Schönheit betrügt und mordet! Kein süßer Tropfen Rache hat mich gekühlt für 37 die Leiden, die mir dieß Gesicht schaffen, dieß triumphirende Verräthergesicht! Und nun soll ich noch sein junges Abbild stündlich neben mir sehen, sein junges aufsprossendes Abbild, und mich stündlich von ihm mahnen lassen an unbefriedigte Rache gegen dieß Gesicht, an die unbefriedigte Rache, an der meine alte heftige Natur im ungestillten Trieb noch verschmachten wird! O ihr hülfreichen Engel alle! breitet eure Flügel über diesen unschuldigen Knaben, daß ich ihn, der mir so Verderbliches in sich trägt, nicht in meinem Wahnsinn verletze!«

Er hielt inne, und schien Alles in sich aufzubieten, um sich zu fassen und seine innere Aufregung zu beschwichtigen. Erwin stand fern von ihm am andern Ende des Gemachs, bebend und bangend. Er hatte sein Haupt tief herniedergebeugt auf die Brust, die Augen, die er in seiner Furcht nicht mehr aufzuschlagen wagte, starr an die Erde geheftet, und verharrte so unbeweglich in dieser Stellung, wie Einer, der ein über ihn ergehendes Gericht erwartet.

Der alte Graf zog jetzt ein Kästchen aus der Tasche, das er hastig öffnete. Er nahm ein kleines Medaillon daraus hervor, und zu gleicher Zeit fielen mehrere Blätter an die Erde, die gezeichnete Portraits darzustellen schienen. Ohne ihrer zu achten, hielt er das in Brillanten gefaßte Medaillon, welches einen weiblichen Kopf abbildete, mit Aufmerksamkeit vor 38 das Auge, und je länger er es betrachtete, je mehr schien er sich wieder zu erheitern, ja an Milde, Ruhe und Fassung in allen Zügen seines Antlitzes zu gewinnen. Es war das Portrait seiner Tochter, das einen so wohlthätigen Eindruck auf ihn auszuüben begann.

Erwin kannte das Bild seiner Mutter, aber er wagte es nicht, sich zu nähern und den Wunsch, der ihm in der Seele lag, auszusprechen. Wie gern hätte er das geliebte und verehrte Mutterantlitz, zum Trost in dieser Stunde, in der er sich so verlassen und einsam fühlte, wieder einmal angeschaut!

»Hier ist ein ewiger Seelenfrühling in diesem Frauengesicht!« sagte der Graf, in die Anschauung des Bildes ganz versunken, mit einer immer sanfter werdenden Stimme. »Hier ist die Verheißung des Himmelsreichs und des ewigen Gottesfriedens, denn wenn in menschlicher Form solche Züge möglich sind, muß das Irdische auch mit dem Göttlichen verwandt sein. So wurde sie gemalt, als sie noch glücklich war. Seitdem hat sich in das lächelnde Glück dieses Angesichts ein bleicher Schmerz geschlichen, der es aber nur geistig verklärt, statt zerrissen hat!«

Erwin trat schüchtern einen Schritt weiter zum Großvater hin; er glaubte ihn freundlicher geworden, er wollte sich nähern, um auch einen Blick auf das 39 Bild der Mutter zu werfen, und um Versöhnung zu bitten.

»Und wahrhaftig wie unähnlich fängst Du an diesem Gesicht zu werden, Erwin!« fuhr der Graf wieder in einem feindlicher klingenden Tone fort.

Da zuckte es krampfhaft in dem Jüngling, er trat den Schritt, den er vorwärts gethan, wieder zurück und erhob mit dem Muth einer gekränkten edeln Seele von nun an freier und kühner das Auge gegen den Großvater.

»Du thust mir wehe!« sagte er in seiner offenen kindlichen Weise. »Wie oft, Großvater, hast Du schon die Physiognomik verwünscht, sonst Deine Lieblingswissenschaft, auf die Du immer soviel Gewicht gelegt, bis sie endlich zu einer unheilbringenden für Dich geworden! Du hast Dich in der letzten Zeit von allen ihren Einflüssen feierlich losgesagt, und nun willst Du doch die Liebe zu Deinem Erwin ihr zum Opfer bringen, bloß um seines armen, unschuldigen Gesichts willen!«

Der Graf antwortete nicht, er starrte finster den Enkel an.

»Ich habe auch Dein Schüler in dieser Wissenschaft werden müssen!« fuhr Erwin unbefangen fort. »Damals, als Du mich noch ganz lieb hattest, und ich meine Studien immer unter Deiner Aufsicht betreiben mußte, riefest Du mich einmal 40 zu Dir, und erklärtest mir in belehrender Unterhaltung die Bedeutung der Physiognomik. Du sagtest, daß Du mich frühzeitig vor Irrthümern in der Welt sichern und mir den zuverlässigsten Maßstab zur Kenntniß der Menschen in die Hände liefern wollest, damit ich in meiner Liebe und meinem Haß, in meinem Urtheil und Vertrauen ohne schmerzliche Erfahrungen durch's Leben ginge. Da lasest Du von nun an oft mit mir den Lavater, dessen Gesichterzeichnungen Du mir jedoch nach Deinen eigenen Ansichten erläutertest, denn Du hattest Dir nach Deiner reichen Welt- und Menschenbeobachtung ein eignes System in dieser Gesichterkunde gebildet. Ich mußte Dir zu solchem Zweck viele Portraits unserer Bekannten abbilden, und bei dieser Gelegenheit auch das Zeichnen üben, was mir eigentlich am meisten dabei Vergnügen machte. Denn jene Gesichterwissenschaft selbst hatte für mich immer etwas Abstoßendes und Gespensterhaftes gehabt und wenn ich auch, was Du mich lehrtest, glaubte, so sah ich doch oft, in unschuldiger Beobachtung meiner nächsten Umgebungen gerade das Gegentheil von Deinen systematischen Bestimmungen des menschlichen Gesichts zutreffen. Ich konnte diese gefährlichen und heimtückischen Studien der Gesichter selbst hassen, weil daraus so schreiendes Unrecht zu entstehen vermag, und dies war eigentlich ein nur zu gerechtfertigtes Vorgefühl in mir, denn 41 siehe! trifft nicht jetzt diese Ungerechtigkeit Deiner Kunst auch mich und treibt mich von Dir! – Ach, ach, siehe! da liegen auch die Bilder an der Erde – sie sind Dir herausgefallen – die Bilder, welche ich damals mit Kreide gezeichnet habe, für Deine Sammlung von Physiognomien, alle nach der Natur.«

»So mußt Du mich denn heut an Alles erinnern, was mir irgend aus meinem Leben verhaßt ist?« rief der Graf mit erneuter Heftigkeit. Zugleich bückte sich hastig zur Erde, hob die Blätter auf, die dort verstreut lagen, und beschäftigte sich eine Zeitlang damit, sie in kleine Stücke zu zerreißen. Dann öffnete er das Fenster, und warf die Trümmer der zerrissenen Gesichter hinaus, wo sie in alle Winde verflogen. –

»So endigen die Bestrebungen unserer Gesichterwissenschaft!« fuhr er zu sprechen fort. »O möchten so alle menschlichen Gesichter in die Lüfte, in das Wesenlose zerrinnen, daß ich keines mehr anzuschauen brauchte mit meinen lebensmüden Augen, mit diesen Augen, die so oft betrogen wurden von dem, was sie sahen!« –

»Die Kunst, von der Du sprachst, mein Freund!« – begann er nach einer Pause wieder – »diese Kunst ist tiefer im menschlichen Wesen begründet, als Du es noch einzusehen vermagst. Sie ist im Trieb des Menschen begründet, sich selbst das Unheil zu be 42reiten, und von der Wiege bis zum Grab unaufhörlich nach Lösung aller der Räthsel, die sein geheimstes Elend bedeuten, zu ringen. Der Mensch hat im Glück keine Ruhe, und will ihm auch die Freude lächeln, ja wollte auch die lächelnde Minute selbst zu einer seligen Ewigkeit sich für ihn ausdehnen, er macht sich auf und jagt davon, um das Unglück zu suchen, das er im Innersten seiner Natur mit sich herumträgt. Warum kann uns nicht der frohe Anschein der ganzen Schöpfung zufrieden stellen? Warum bleiben wir nicht bei dem Scheine, denn dem Scheine nach hat Alles ein gutes Gesicht in der Welt! Aber hinter jedem Frühling, der lebendig und in der Freudigkeit seines Wachsthums aufrauscht in der Natur, ahnen wir schon immer bange den Verwelkungskeim des Herbstes, der aus ihm nur dem Verdorren so prächtig entgegenblüht! Warum ist uns der Frühling nicht Frühling, warum ein gutes Gesicht nicht ein gutes Gesicht? Nein, wir suchen überall zu deuten! Bei der Knospe denken wir an die Blume, bei dem Kinde an den Mann, und nicht die Heiterkeit der Erscheinung reizt uns, sondern das dunkel Verborgene hinter ihr! Ein Verborgenes aufzusuchen, dahin zieht es den Menschen sein ganzes Leben hindurch, und er weiß nicht, ist es der Himmel oder die Hölle, was sein Streben meint, denn Beides ruht da unten in der Tiefe, zu 43 der es ihn hinreißt! Immer ist etwas verborgen hinter der weltlichen Form, sei es das Gute oder das Böse, und hinter der Decke der Erdenwolkennacht leuchten Sterne höheren Friedens, brennen verderbenschwangere Kometen. Die Verstellung ist Natur in der Welt. Da tritt aber die menschliche Wissenschaft im Verfolg der Zeiten immer gewaltiger auf, und sie hat es sich zur Aufgabe gestellt, das Verborgene mit der Erscheinung, die Form mit dem Innern, die Verstellung mit der Wahrheit, die äußere Blüthe mit ihrem inwendigen Keim zu vermitteln. Sollen wir an die guten Gesichter unserer Freunde glauben? Ach sie sind liebe Gestalten! Wohl Dem, der in dauernder Harmonie mit seinen Freundesgesichtern lebt, denn er hat eine sichere Umgebung an ihnen! Wohl Dem, den nie eines täuschte! Mich haben sie schon frühzeitig und oft getäuscht, und ich kam daher bald auf den Gedanken, auch hierin Trost bei der Wissenschaft, der alle Irrungen überwindenden, zu suchen. Die Physiognomik wurde ein wahrhaft philosophisches Studium für mich. Ich wollte die geheimen Verrätherfalten im menschlichen Gesicht, die das Verborgene in ihm verstohlen andeuten, auf Gesetze zurückführen, ich wollte diese Gesetze auf das Leben in Anwendung bringen und nur von ihnen mich leiten lassen. Auch hatte ich dem menschlichen Antlitz die moralische Schönheitslinie abzulauschen 44 gemeint, die überall zutreffen und sichtbar sein mußte, wo ich vertrauen und glauben sollte. Aber ach! Alles, Alles hat mich betrogen, und auch die Wissenschaft des Menschen ist nicht mehr als der Mensch selbst, sie ist nur das System seiner Täuschungen! Dennoch, wie sehr ich auch diese Gesichterwissenschaft verwünscht habe, weil sie am meisten den Keim des Unglücks in mein Leben gepflanzt, fühle ich nur zu deutlich, daß ich mich nie wieder ganz von ihr loszusagen vermag, denn Das hält uns am festesten und lockt uns am unwiderstehlichsten, was aus Wahrheit und Trug zugleich sich mischt, weil diese verführerische Mischung unserer eigenen Natur am meisten verwandt ist. Wie wäre es auch möglich, daß sich der Mensch der Bedeutsamkeit und Deutung der Gesichter, die ihn in der Welt ansehen, ganz entschlagen sollte! Die Gesichterkunde ist im Menschenleben, was die Wetterkunde in der Natur! Beide ruhen auf den Grundlagen der Wandelbarkeit und Veränderlichkeit. Wer legt sich nicht gern auf die Wetterkunde, und prophezeiht aus anscheinenden Zeichen einen schönen Tag, oder warnt die lustigen Spaziergänger vor der herandrohenden Gewitterwolke, wenn er auch weiß, daß durch einen einzigen Windstoß, der über den Horizont fährt, seine ganze Prophezeihung zu Schanden gemacht werden kann. Es liegt einmal im Schicksal des Menschen, beständig 45 auf Wetterbeobachtungen ausgehn zu müssen, und da, wo er vertrauend heitern Himmel voraussagt, die Hagelschlossen höhnend auf sich niederschießen zu sehn. Er ist dennoch so gutmüthig und leichtsinnig, das nächstemal wieder dem heitern Himmel nicht zu mißtraun. So geht es uns auch mit den Wetterbeobachtungen, die wir an den Gesichtern unsrer Mitmenschen anstellen. Wie wir dort nach dem Flug der Mücken absehen, ob es regnen wird, so merken wir hier auf den Zug der Lippen und Nasen, um auszuspähen, ob wir einen guten Tag von diesem Gesicht zu erwarten haben. Ach! in beiden Dingen greifen wir nach armseligen, nur zu oft dem Zufall unterworfenen Zeichen; aber zu forschen, zu vermuthen, zu argwöhnen, zu mißtrauen, zu glauben, zu lieben, sich hinzugeben, sich täuschen und doch wieder versöhnen zu lassen, darin beruht ja unser schmerzlich-süßes, lustig-leidvolles Lebensloos! Die abenteuerliche Romantik der Gesichterwelt, die uns auf Erden anschaut, bald anmuthig, bald abstoßend, bald gräßlich und gespensterhaft, bald freundlich winkend, sie ist die große Magie des Lebens, die uns Alle beherrscht und uns wie unbefriedigte Zauberlehrlinge umherirren läßt von einem anlockenden Gesicht zum andern, bis wir endlich des ganzen Bilderspiels müde werden, und unser Auge gern in Todesnacht versinken lassen, wo keine Gesichterwelt mehr 46 mehr ist, sondern das Reich der Geister in einfacher Wahrheit und Andacht des Daseins beginnt! Und es wird viele Unglückliche geben, die von hinnen scheiden, ohne ein einziges, liebes ihnen wohlthuend gewesenes Gesicht auf der Welt gehabt zu haben, dessen Bild sie als dankbare Erdenerinnerung in die Todesnacht mit hinübernehmen dürfen. So unglücklich bin ich nicht, ich, obwohl sonst der Unglücklichste unter Allen! Ich habe meine Tochter, und den, wenn gleich fernen, doch unvergeßlichen Himmelstrost ihrer vielgeliebten Gestalt!«

Er heftete seinen Blick wieder lange auf das Bildniß, das er noch in der Hand gehalten, und schien sich in sinnender Erinnerung ganz der Vergegenwärtigung Derer, an die er immer am liebsten gedachte, hinzugeben.

Da sagte Erwin, vor ihn hintretend: »Jetzt ist es wohl Zeit, daß ich gehe, Großvater. Ich muß Dich um Verzeihung bitten, wenn ich Deiner Weisung nicht Folge leiste, denn ich kann und werde nicht in das Haus Deines Freundes nach B. mich begeben, wie Du es gewünscht hast, sondern ich bin entschlossen, dorthin wieder zurückzukehren, von wo wir gekommen sind, um in der Hauptstadt nach wie vor meine Studien zu betreiben.«

Der alte Graf schien die Worte des Jünglings nicht gehört zu haben, sondern verharrte noch, in 47 seinen Gedanken Alles um sich her vergessend, in schweigender Betrachtung des Bildes. Dann steckte er es wieder sorgfältig in den Busen, und sagte, nachdenklich die Arme übereinanderfaltend, zu sich selbst: »Was an dem einen Gesicht wahr ist, ist an dem andern nur zu oft eben das Falsche und Trügerische. Was ich in meinem System die moralische Schönheitslinie zu nennen pflegte, schien es nicht herrlich ausgeprägt auch in dem Antlitz dessen, dem ich meine Mathilde zum Weibe gegeben? Schön wie ein Apollo, trat damals Graf Arno vor mich, ich erstaunte freudig vor der edeln Kraft, und dem Feuerkern der Jugend, der in ihm glühte und seine wahrhaft regelmäßige und feingebildete Gestalt beseelte. In seinem Gesicht kündigte sich ein ungewöhnlicher Geist an, und alle Züge desselben entsprachen so treu den Gesetzen meiner Gesichterwissenschaft, als wären sie zur Verherrlichung und Bekräftigung derselben geschaffen. Ja selbst die Profilprobe hielt das Gesicht bewundernswürdig aus, während manches Antlitz, das en face uns so vielversprechend anblickt, weil es durch seine Vollheit uns täuscht, in seinem Profil die innere Leere verräth oder einen verborgenen ungünstigen Zug sich ablauschen läßt. Arno erschien mir auch im Profil bedeutend. Er war gekommen, um ein Amt in meinem Ministerium nachzusuchen. O ich Wunderlicher besetzte damals alle Stellen eigent 48lich nur nach meiner Physiognomik, und maß nach den Gesichtern ab, wer der zuverlässigste Staatsdiener und Geschäftsmann sei. Was ist indes natürlicher, als daß gerade der Hof- und Staatsmann, wie ich, sich die Gesichterwissenschaft zu seinem Compaß erwählte, um eine Welt, die nur im verstellten Gesichterschneiden grimassirend sich darstellt, zu durchsteuern? – Ich gab also dem Arno das Amt, ich that noch mehr, ich führte ihn als meinen Liebling meiner Familie zu, und ach! ich vermählte ihn meiner Mathilde, die ihn nicht liebte! O wie hatten wir uns in der moralischen Schönheitslinie geirrt! Sie blieb zwar in seinem Gesicht unveränderlich, aber im Innern verzerrte sie sich ihm nur zu bald, und das häßliche Gemüth durchbrach die schöne Form, um verderblich daraus gegen uns hervorzutreten. Dieß Gesicht wurde nicht nur der böse Feind meines Lebens, sondern auch der Hohn meiner Wissenschaft und an ihm zertrümmerten sich mir Leben und Wissenschaft zugleich! Darum verhaßt mir Alles, was diesem Gesicht ähnlich sieht, oder an seine Züge mich erinnert! –«

»Ich will gehen!« wiederholte Erwin jetzt lauter, obwohl mit niedergeschlagenen Augen. »So lebe denn wohl, Großvater! ich sehe, daß ich nicht mehr bei Dir bleiben darf, denn ich bin Dir leider ein Dorn im Auge geworden. Ich werde zu den Eltern 49 wieder zurückkehren, die ich so schnell und unbedacht verließ, und sie werden es mir gewiß vergeben, daß meine Liebe zu Dir größer gewesen als zu ihnen, denn sie verehren Dich ja nicht minder, und auch der Vater – – ich glaube, Du thust ihm zu viel, – wenn Du ihn so sehr hassest!«

»Du willst zu Deinem Vater zurück?« sagte der Graf kalt und kaum aufsehend. »Es ist mir gleich, wohin Dich mein Wagen fährt. Vor dem Posthause steht er und wartet Deiner.«

»Ich werde nicht mit den Wagen fahren!« entgegnete der Jüngling mit Bestimmtheit, ohne die gewöhnliche Bescheidenheit im Ausdruck zu verlieren. »Der Wagen ist mir zuwider geworden, und ich würde in ihm immer daran gedenken, wie wir einander gegenüber saßen und sich hier zuerst die Abneigung in Dir regte gegen Deinen Enkel. Nein, draußen wehen warme Sommerlüfte, und ich kenne einen Weg, der fast nur durch herrliche Obstalleen und grünende Saaten zurückführt nach der Hauptstadt. Diesen Weg will ich gehn als einsamer Fußwanderer, wie ich sonst wohl in den Ferien oft gethan habe, und das frische Wandern und der Umgang mit den sonnigen Feldern und Wäldern soll mich stärken gegen alle Anfechtungen der leidigen Trübsal. Mir fehlt nur noch ein kräftiges Wanderstöcklein, und das will ich mir hier im Städtchen 50 kaufen. So gieb mir denn wenigstens einen recht lieben Gruß an die Mutter mit, wenn Du mir selbst auch kein gutes Wort mehr sagen magst.«

»Du wirst die Mutter nicht mehr dort finden!« entgegnete der Graf einsylbig.

»Die Mutter nicht mehr dort?« fragte Erwin bestürzt. »Ich bitte Dich, wo ist sie? Wo werde ich sie finden? Und warum ist sie nicht mehr dort?«

»Sie lebt einige Meilen von der Hauptstadt in der Einsamkeit unsres dortigen Waldschlosses!« antwortete Valerian.

»O laß mich nicht so unbefriedigt von Dir scheiden!« sagte Erwin dringend und bittend. »Ich weiß, es haben sich befremdende und unheilvolle Dinge ereignet, die räthselhaft an meinem arglosen Blick vorübergegangen sind. Es wurde Alles, was sich zugetragen, in ein entsetzliches Geheimniß gehüllt, das ich weder durchdringen konnte noch mochte, und nur Dein eigner Sturz, der sich mir daraus plötzlich vor die Augen stellte, beschäftigte meine Gedanken so schmerzhaft, da ich ausschließlich an Dir und Deinem Leid hing und mit ihm ging! So laß mich jetzt nicht länger unklar bleiben über den ganzen Zusammenhang der Ereignisse, die in unser Familienglück feindlich eingebrochen zu sein scheinen. O sage mir Alles, denn Du sollst mich stark finden, Alles zu hören!«

51 »Du sprichst thöricht, Knabe!« entgegnete der Graf. »Nur der ist stark, der zuvor in der Schule der Schmerzen abgehärtet worden. Vor der Schlacht giebt es keine Tapfern. Doch ist es allerdings Zeit, daß sich Dir bald alle Verhältnisse des Lebens schonungslos enthüllen, denn nur Der wird tüchtig, der nie geschont wird. Bisher warst Du noch immer glücklich, und den Blumenduft auf den Flügeln des Daseins hat Dir noch keine grausame Hand verwischt. Aber erst, wenn das Leben grausam gegen uns wird, fangen wir an es kennen zu lernen. Während Du die letzten Jahre über fast ausschließlich in meinem Hause wohntest, in der Stille emsig mit Lernen und Träumen beschäftigt, während Du Deine Mntter nur sahest, wenn sie zu mir kam, und Deinen Vater noch seltener und zuletzt wohl fast gar nicht, ging unterdeß die häusliche Tragödie unbemerkt vorüber, die sich bei den Deinigen seit Jahren vorbereitete, aber erst jetzt in ihrer schrecklichen Katastrophe auszubrechen drohte. Vielleicht habe ich Unrecht gehabt, und ich bereue es nun, daß ich durch die Uebernahme Deiner Erziehung Dich ferngehalten von dem Schauplatz des Erlebens und Erduldens, auf den Dich doch eigentlich die Natur durch Geburt und Familienbande zu weisen die Absicht gehabt. Der Kreis von Lebensverhältnissen ist nie zufällig, in dem wir geboren werden, und wer uns aus dem 52selben herausreißt, wäre es auch zu unserm scheinbaren Glück, beeinträchtigt uns doch vielleicht in unsrer eigensten Entwicklung. Ja, Du hättest Deine Mutter sollen leiden und ringen sehn, wie sie die abwehrende zarte Hand an den Dornen des herzlosen Mannes sich blutig stach. Ihre Thränen, von Dir getheilt, und wie ein mütterlicher Segen auf Dich niederthauend, würden Deine jugendliche Seele mehr befruchtet haben, als es meine vernünftige Lehrweisheit je an Dir vermochte. Ach! sie hatte ihn nie geliebt, den Mann, den sie nur nach meinem Willen sich gegeben. Edle Frauen verblendet fast nie die Schönheit des männlichen Gesichts, denn sie suchen am Mann eben etwas Anderes und mehr als dieses. Darum theilte Mathilde nie das günstige Vorurtheil für Arno, das sich mir aus meiner Gesichterwissenschaft zu einem festen Glauben gebildet hatte. Die Frauen haben kein Talent zur Physiognomik, aber sie sind dennoch die feinsten Gesichterkenner. Ihnen ist ein Seelentakt von Natur gegeben, gerade das Geheimste und Leiseste sinnig herauszuempfinden aus der Form der Erscheinung. Sie fühlen die Seele durch in einem Gesicht, sie sind die wahren Geisterseher der Physiognomieen. Das Urtheil der Frauen hat Schmetterlingsfühlhörner, die sie tändelnd ansetzen an die Gegenstände, die sie begreifen wollen, aber sie schmecken Alles mit einer scharfen Zunge. 53 Das Ahnungsvermögen, das in den Kindern so stark ist, wird in den Frauen zu einer fast wunderbaren Weissagekraft. Diese Kraft hat die Natur dem schwachen Geschlecht zu seinem Schutz gegeben, weil die Waffen der Gewalt nicht für die Frauen sind. Jedes verstellte Gesicht fürchte sich am meisten vor dem stillen Seherblick des weiblichen Auges. In ihrer Unschuld errathen die Frauen so bald die Sünde! Sie sind in ihrer einfachern Bestimmung der Seele des Lebens näher geblieben, und darum finden sie überall gleich die Seele in der Erscheinung auf, während der Mann noch mit der Form und um die Form streiten muß und sich verwirrt. War Eine unter den Frauen scharfsichtig für die Kunde des Seelenhaften im Menschen, so war es meine Tochter. Ach! sie war eine Kassandra, die das Unglück vorausgesagt hat, ohne gehört zu werden. Sie gestand so offen die innere Abneigung, die sie selbst nicht näher zu erklären wußte, gegen den Mann, den ich für vortrefflich ansah. Mich täuschte die Form, und ich wußte mir meine Täuschung selbst wissenschaftlich zu begründen, aber sie, in ihrer reinen, klaren Anschauung höher als alle Wissenschaft stehend, erkannte das Wahre an ihm. Dennoch ging Alles in den ersten Jahren ihrer Ehe noch glücklich. Ihr mildes, unangreifbares Wesen stand lange wie ein bewaffneter Engel mit bittenden und siegenden Augen ihm 54 gegenüber. Auch schien das feste Vertrauen, das ich auf ihn gesetzt, seiner Natur noch Fesseln anzulegen, denn man halte den Menschen nur entschieden für edel, und selten wird er so verworfen sein, daß er nicht wenigstens eine Zeitlang dem Schein unsrer Meinung zu entsprechen suchen würde; ja es kann sein, daß er aus modischer Ehrsucht Das wirklich wird, wofür wir ihn nur aus Irrthum gehalten haben. So aber nicht Graf Arno. Er hatte durch mich nur sein Glück im Staatsdienste machen wollen, und nachdem er sich fest genug in die Gunst des Fürsten eingeschlichen zu haben glaubte, hielt er es für Zeit, sich für die Verstellung, die er sich bis dahin auferlegt, durch einen um so muthigeren Ausbruch seines wahren Charakters zu rächen. –«

»Und der Fürst?« – fragte Erwin mit banger Stimme, als Valerian schwieg, und näherte sich dem Großvater wieder zutrauensvoller, von dem er das ganze Unglück der Seinigen vernehmen wollte.

»Der Fürst? Ja, der Fürst!« entgegnete der alte Graf und stampfte fast mit dem Fuße vor aufsteigendem Zorn. »Wie kommst Du auf den Fürsten, Knabe?«

»Ich weiß nicht!« flüsterte Erwin verlegen. – »War es mir doch, als hätte ich dunkel es gehört, daß er – daß er –«

»Ja, Er« – rief Valerian – »Er – er 55 liebt Deine Mutter, – und darum ist Dein Vater der Günstling des Fürsten geworden! O schrecklich ist es, Alles zu erzählen!«

»Und meine Mutter?« seufzte Erwin.

»Deine Mutter erröthete zum erstenmal wieder seit ihrem Hochzeittag, wo sie bleich geworden war!« sagte der Graf. »Sie erröthete und weinte, und erschien dem Fürsten nur noch begehrenswerther. Ach, sie war schön geblieben selbst eine mehrjährige unglückliche Ehe hindurch. Damals, wo sie als sechszehnjähriges Mädchen mit Deinem Vater vor den Altar trat, im blendenden Brautschmuck und weißen Kleide mit wankendem Fuß die feierliche Versammlung durchschreitend, scheint mir ihre Natur vor innerem Erbeben einen Stillstand der Entwickelung erlitten zu haben, denn sie hat sich seitdem nicht verändert, und noch heut ist es mir, wenn ich sie anblicke, als sehe ich die vom Leid verschönte Braut der damaligen Zeit. Sie blüht einer Himmelsbraut entgegen. Und der Fürst gerieth auf die Laune, auch einmal einem frommen, reinen Himmelsbild seine frevelhaften Wünsche zu weihen, und Arno war bereit genug, ihm die eigne Gattin verrathen zu wollen! –«

»O Du erzählst, was mir mein Herz zerschneidet!« klagte Erwin, und beugte sein Gesicht, wie Trost suchend auf die Hand des Großvaters nieder. Der gemeinsam Kummer machte ihn wieder zutraulich.

56 »Ja, so ist es, mein Sohn!« rief Valerian, und verhüllte sich schweigend.

»Ja, so ist es, Großvater!« begann der Jüngling nach einer Pause wieder. »Ich hatte es gewußt und geahnt, obwohl es mir in's Verborgene entrückt worden war. Aber ich wagte es nie auszudenken, und mir als ein Gewisses klar vorzustellen. Nun hast Du mir einen entsetzlichen Blick in's Leben eröffnet!«

»O, Dein Vater ist nicht unbelohnt geblieben!« fuhr der Graf mit bitterm Lächeln fort. »Er thut nichts, wo er nicht Vortheil sieht. Er liebte längst die ehemalige Favoritin des Fürsten, und der Fürst trat sie ihm ab, weil er gern Mathilden dafür eingetauscht hätte. Seine Besinnung war weniger niedrig, denn er wollte das Göttliche für das Gemeine sich aneignen. Zugleich hatte Dein Vater Aussicht, Minister zu werden, wenn ich erst gestürzt wäre, und der Fürst schien seines alten Rathes, dem er sonst unbedingt vertraut, überdrüssig geworden zu sein, weil ich ihn täglich ernst anblickte wegen meiner Tochter.«

»Ach, und die Mutter? Wer schützte sie täglich und stündlich?« fragte Erwin.

»Sie schützte zuerst ihr flehendes, blaues Auge, dem der Fürst lange keine Gewalt entgegenzustellen wagte!« entgegnete Valerian. »Mich aber schützte 57 nichts vor den ruchlosen Verleumdungen, die bald immer kühner ihr Haupt gegen mich zu erheben anfingen. Es war darauf abgesehn, mich fortzudrängen noch am Abend meines Lebens aus dem ehrenvoll behaupteten Amte, und der Fürst, der von nun an nur den Einflüsterungen seines neuen Lieblings Arno folgte, verhehlte den Vorwurf nicht, daß ich durch meine Grillenhaftigkeit in Besetzung der Stellen dem Lande geschadet. Dieser Vorwurf, von Graf Arno gerade ausgegangen, traf mich mit tödtlicher Ironie, und ich hätte mich selbst vor Ingrimm vernichten können, denn allerdings durch ihn, dem ich auf sein trügerisches Gesicht hin ein Amt gegeben, hatte ich dem Lande geschadet!«

»Die Mutter aber« – sagte Erwin leise – »wie erging es ihr ferner?«

»Sie wurde plötzlich krank« – fuhr Valerian fort – »oder sie schützte vielmehr eine Krankheit vor und der wackere Arzt des Hauses zeigte sich ihrem Plan behülflich. Als Kranke konnte sie sich nämlich ungehindert in der Stille ihres Zimmers verbergen, sie konnte vor den frechen Nachstellungen der Welt auf eine Zeitlang gesichert in einsamer Klause sitzen, und die Fieberleidende, wofür sie ausgegeben wurde, beunruhigte so lange wenigstens kein unziemliches Andringen, kein peinigendes Gesicht. Man ließ sie allein, weil sie es wollte, und so schien der 58 edeln Seele die qualvolle Verwirrung der Verhältnisse wieder fern gezogen zu sein. Wie gönnte ich ihr diesen augenblicklichen Frieden, den die weibliche List ihr errungen, war es auch nur ein Friede, um ungestörter dem geistigen Leid nachhängen zu können. Aber auch in diese zurückgezogene Ruhestatt ihrer Schmerzen, in dieses einsame Heiligthum ihres trauernden Herzens, drang endlich der Frevel ihrer Verfolger ein. Man hatte wohl längst Argwohn geschöpft, daß ihre Krankheit nur verstellt sein könne.«

»Ach, und was geschah?« fragte Erwin, sich zitternd an den Großvater schmiegend.

»Einstmals gegen Abend ging ich wie gewöhnlich aus« – fuhr Dieser fort – »um Mathilden zu besuchen. Ich wählte immer diese Stunde, in der Graf Arno nie zu Hause zu sein pflegte. Ich konnte ihn längst nicht mehr ansehn, und darum vermieden wir, uns zu begegnen. Du hattest damals gerade eine kleine Reise mit Deinem Hofmeister unternommen, und begleitetest mich daher diesmal nicht.«

»O, wäre ich mit Dir gewesen!« rief Erwin ahnungsvoll.

»Nein!« sprach Valerian. »Es war die entscheidende Stunde unsres Unglücks. Dein Vater war diesmal wider seine Gewohnheit zu Hause geblieben.« –

»Was that der Vater?« flüsterte Erwin.

»Er war zu Hause geblieben, um dem Fürsten 59 dem Anschein nach Gelegenheit zu geben, ihn zu besuchen. Der Fürst war im Hause. Ich wußte es anfangs nicht.«

»Ach, und dort trafest Du mit dem Fürsten zusammen?«rief der Jüngling.»Wehe, wehe, nun ist mir Alles erklärlich!«

»Höre, höre! wie es sich zugetragen!« fuhr der bewegte Greis fort. »Ich wollte, wie sonst, nach dem Zimmer meiner Tochter eilen. Im Gange steht der Jäger des Fürsten. Er hält mich zurück und will mir den Eintritt wehren. Er will den Eintritt mir wehren mit schnöden Bedientenworten, und ich staune ihn an, bis mir die Hitze heraustobt. Da ergreife ich den Elenden, und schleudere ihn gegen die Wand, daß er niedertaumelt. Ich nähere mich dem Zimmer Deiner Mutter. Sie spricht – ich höre sie – sie spricht mit bittender und weinender Stimme. Ach, warum weint und fleht sie so, die geliebte Dulderin?«

»Ach! Ach! Dunkle Wendung des Geschicks!« klagte Erwin vor sich hin. »Mit wem sprach die Mutter?«

»Ich trat ein, um zu sehn, mit wem sie spreche?« versetzte der Graf. »O, sie sprach mit dem Fürsten. Durch eine geheime Thür ihres Gemachs, die nur Deinem Vater bekannt gewesen, hatte er den Fürsten plötzlich in das Zimmer Mathildens eintreten lassen. 60 Der Fürst hatte von Deinem Vater eine geheime Unterredung mit Deiner Mutter begehrt. Nichts Arges war dabei, und darum ließ Arno getrost seine Gattin allein. Der Fürst des Landes war ja zu ihrem Schutz zugegen. Der Fürst aber wollte dringend die alten Wünsche äußern, die Mathilde immer verachtet hatte; er wollte von Neuem kühn um sie werben, indem er sie in ihrem Gemach zu überraschen, zu verwirren meinte. Ach, wie war es möglich, ihrer leidenden Engelgestalt ungestüm gegenüber zu treten! Sie aber beschwor ihn ernst, sie zu verlassen, sie flehte ihn an fortzugehn, sie mahnt an Pflicht und Sitte, und beklagt händeringend ihr unglückliches Loos. Da wird seine Leidenschaft zur Wuth; er ergreift sie und schlingt gewaltsam die Arme um ihren Leib. Mathilde schreit laut auf, und in diesem Augenblick werd' ich beiden zuerst sichtbar. Meine Tochter springt mir entgegen, sie fällt mir weinend um den Hals und verbirgt das scham- und zornglühende Gesicht an mir. Der Fürst steht zitternd vor Ingrimm da. Er schien mich durchbohren zu wollen mit seinen rollenden Augen. Er nannte mich einen thörichten Graukopf, der sich zur Unzeit erkühnt, in seine Nähe zu dringen. So nannte er mich!«

»So nannte er Dich, Großvater?« sagte Erwin, auffahrend.

»So nannte er mich, und ich griff an mein Herz, 61 um das alte brausende mit aller Anstrengung niederzuhalten. Ich thörichter Graukopf litt und leide freilich noch immer an Herzstürmen. Er aber trat heftig auf uns zu, und sagte, daß er die schönste Frau dennoch küssen wolle, selbst in ihres Vaters Armen. Da zog ich« – –

»Da zogst Du?« – fragte der Jüngling leise.

»Siehst Du, da zog ich ihm den Degen von seiner Seite, und zückte ihn gegen den jungen verblendeten Mann. Er stürzte dennoch rasch uns entgegen, und aus seinem Arm träufelte das Blut in großen Tropfen. Es sprützte dunkelroth auf meiner Tochter weißes Kleid. Doch hatte er sich selbst die leichte Wunde beigebracht. Mir aber kehrt jetzt die Besinnung zurück, ich stürze auf meine Knie nieder, und verbinde dem auf einen Stuhl Hingesunkenen mit meinem Schnupftuch den Arm, der nur obenhin gestreift war. Er erholt sich schnell wieder von einer vorübergehenden Betäubung, er sieht mich vor ihm kniend, und meint, daß ich die Verzeihung von ihm erbitten wolle. ›Du hast schwer gefehlt!‹ sagt er, und scheint durch seinen milden Ton Alles begütigen zu wollen. – ›Die geringere Schuld ist mein!‹ antwortete ich, denn mich trieb die innere Ueberzeugung so zu antworten. Da fuhr er auf und blickt mich lange sprachlos an. Ich wußte es, daß er mich nun mit der Verbannung und Amtsentsetzung 62 bestrafen würde, denn darauf hatte Graf Arno längst bei ihm gedrungen. Er that es mit höhnenden Worten, und eilte dann fort, um sich in seinem Wagen davon tragen zu lassen. Einige Tage darauf war Graf Arno Minister. Der Verbannte aber traf Anstalt abzureisen, nachdem die nöthigsten Angelegenheiten geordnet waren. Deine Mutter floh auf meinen Rath die Residenz, und begab sich mit ihrer kleinen Tochter auf ihr nahe gelegenes Landgut, von wo sie nun auf gesetzlichem Wege ihre Scheidung von dem unwürdigen Manne betreibt; wo sie jedoch, fürchte ich, nicht sicher sein wird. Du aber, Erwin, kehrtest gerade in dem Augenblick von Deinem Reiseausflug zurück, als ich mich anschickte, die Stadt zu verlassen. Ich nahm Dich mit mir. Du weißt jetzt, warum wir ausgewandert sind aus der alten Gewohnheit unsrer Leiden und Freuden, und wie sich diese über unsern Häuptern zertrümmert hat!«

»Ach, was ist das Leben!« rief der Jüngling klagend aus. »So früh hat es sich mir verzerrt in den theuersten Gestalten, die es auf Erden gibt, und nicht nur das heilige Bild des Vaters hat es mir schon aus dem Herzen gestohlen, in dem es einen schönen Platz ausfüllte, – auch von Dir, Großvater, bin ich jetzt verlassen, und Du hast Dich losgesagt von mir! Ach, ich hatte mir den Jugendfrühling länger und reicher gedacht! Will er schon 63 im Mai anfangen, mir mit seiner hellen Blüthenlust zu vertrocknen? Warum lassen mich alle die geliebten Bilder meines Lebens, die zu verehren mein Glück sein würde, nun einsam, und warum will es schon leer an großen Bildern werden in meinem sehnenden Herzen? – Doch ich will zur Mutter gehen. Ich weiß, sie denkt noch meiner!« –

In diesem Augenblick vernahm man aus dem anstoßenden Zimmer, in welchem der bereits bekannte Aufenthalt der Thiere der Menagerie war, das laute Gebrüll des Löwen, das durch einen besondern Anlaß jetzt so stark erregt zu werden schien. Es erinnerte die Beiden plötzlich an die seltsame Umgebung, in der sie sich hier befanden, und die ihnen für den Augenblick in dem lebhaften Gespräch, dem sie sich hingegeben hatten, fast wie entschwunden war. Der alte Graf horchte aufmerksam auf die Thierstimme, um sich der Verlegenheit zu entziehen, in die ihn jetzt der bevorstehende Abschied von seinem Enkel versetzen mochte.

»Ja, ich will die Mutter auf ihrem einsamen Landgute aufsuchen!« fuhr Erwin mit fester, aber sanfter Stimme fort. »Ich fühle ein Bedürfniß in mir, in ihrem Leid um sie zu sein, und fortan mitzudulden, was ihr das Schicksal bringt. Du willst zwar auch dorthin, wie Du mir gesagt, Großvater! aber da Du der Meinung bist, daß ich Dir schaden 64 und hinderlich sein könne, wenn ich in Deiner Nähe bliebe, so will ich allein vorauswandern, und noch heut, obwohl es schon gegen den Abend zu dunkelt. Nicht länger soll Dich die Anwesenheit Deines armen Erwin beunruhigen.«

Der aus dem Nebenzimmer herüberdringende Lärm der wilden Thiere schien jetzt immer allgemeiner zu werden. Besonders ließ sich die dröhnende Stimme des Löwen nieder vernehmen, die jedoch, wenn man näher darauf hörte, mehr einem Winseln ähnlich klang, wie es die Thiere in der Freude auszustoßen pflegen. Der Graf, ohne auf die Worte seines Enkels Etwas zu entgegnen, trat schnell hinaus, um den Gegenstand wahrzunehmen, der draußen die Thiere ohne Zweifel beschäftigen mußte, und Erwin folgte ihm in stillen Gedanken.

Hier stellte sich ihnen ein unerwartetes Schauspiel vor Augen. Das junge Mädchen, das man während der Auction gesehen und das besonders von Erwin mit Theilnahme bemerkt worden war, stand vor dem geöffneten Käfig des Löwen, und schien sich mit dem schöngestalteten Thier wie mit einem längst vertrauten Bekannten zu unterhalten. Sie streichelte ihm liebkosend die flatternde goldne Mähne, und rief ihm viele Schmeichelworte zu, die er alle zu verstehen und mit freudigem Wedeln des Schweifes, sowie durch den lauten Ausdruck seiner kräftigen 65 Stimme zu beantworten schien. Er war so zahm gegen sie wie ein Hündchen, und leckte ihr die kleinen Hände, die sie ihm furchtlos entgegenbot. Doch standen Thränen in des lieblichen Mädchens Augen, und neben ihr an der Erde lag ein kleines Bündel Kleider zusammengeschnürt, das sie sich bereits zurecht gelegt haben mochte, da das harte Geschick ein so junges Kind zum Fortpilgern in die Fremde nöthigen zu wollen schien. Sie hatte sich jetzt noch einmal die Thiere ihres verstorbenen Vaters betrachten wollen, und vor Allem nicht umhin gekonnt, den Käfig ihres innig befreundeten Lieblings zu eröffnen, und von ihrem Löwen, der stets sein Futter von ihr zu empfangen gewohnt war, den letzten traurigen Abschied zu nehmen.

Der alte Graf war verwundert in der Thür stehen geblieben, und schien ein Interesse daran zu finden, das Mädchen zu beobachten. Auch Erwin lauschte mit klopfendem Herzen, und fühlte, wie ihn ihr Anblick, der unter der Seltsamkeit der obwaltenden Umstände fast geheimnißvollen Reiz für ihn gewann, immer wunderbarer anziehe.

Sie schien unserm Erwin an Alter gleich zu sein und, wie er, noch kaum das fünfzehnte Jahr erreicht zu haben, doch war sie fast größer anzusehen als er, da sich jetzt ihre schlanke Gestalt, die sie zu dem Löwen herniedergebeugt hatte, ganz in die Höhe 66 richtete. Ihre Gestalt aber, so wie ihr Gesicht erinnerten beide durch einen gewissen kräftigen Ausdruck an die härtere, aber auch frischere Lebensweise, die man an einem Mädchen ihres Standes voraussetzen mußte, und wenn auf ihren braunen Wangen auch nicht die Rosen und Lilien glänzten, die bei andren Mädchen, denen eine zartere Entwickelung ihres begünstigteren Daseins vergönnt ist, am liebsten an dieser Stelle aufzublühn pflegen, so war doch auch auf ihnen die Blüthenspur der Jugend anmuthig genug hingehaucht. Aber es war, wenn wir so sagen dürfen, wie eine wilde Waldblume, was man an diesem Antlitz blühend nennen konnte, doch lag in dem Wilden, welches ihr anhaftete, zugleich das Freie und Edle, ja etwas Süßes, das man nicht ungerührt betrachtete. Man sah wohl selten ein Mädchengesicht, in dem so viel derbe Natürlichkeit mit so vieler Gutmütigkeit, so viel Entschlossenheit und Keckheit der Züge mit einem so unverkennbaren Ausdruck eines tiefen weiblichen Gefühls sich begegnet und dies Gefühl lag im trauerndsten Ausdruck, der dem Tod ihres Vaters galt, über ihr ganzes Antlitz innigst bewegt ausgegossen. Das schwarze stechende Auge war feucht von Weinen, aber selbst durch diesen thränengewobenen Schleier schimmerte der scharfe, schnelle, glühende Blick hindurch, der sie eigentlich am meisten charakterisirte. In ihrem 67 Trauerkleide, das zugleich ihr dürftiges Pilgerkleid war, und dessen kurze Aermel die schön geformtesten Arme sehen ließen, glich sie einem heimathlosen Nachtschmetterling, der abenteuernd durch die einsame Haide auszufliegen im Begriff steht, um sich ein Vaterland zu suchen. –

»Mein guter Hyacinth!« sagte sie jetzt zu ihrem Löwen, ihn klopfend und streichelnd. »Wir werden uns jetzt beide ein Adieu sagen müssen. Vater ist todt, und du schnaubst vergebens umher nach allen Ecken, um ihn noch auszuwittern, denn tief unten schläft er unter der Kirchhofserde, und über ihm fängt schon der Rosmarin an zu blühen. Ja sieh, Freund Hyacinth, wie du die Tatze erhebst, aber das hilft dir Alles nichts! Starke Nägel hättest du genug, Freund, um ein Grab wieder aufwühlen zu können, aber die Gestorbenen müssen dennoch unten bleiben, denn der liebe Gott will nicht, daß ihnen die Sonne mehr scheine. Auch Du wirst die Sonne nicht mehr oft schmecken, armer Löwe, denn Isabelle muß auch fort, und sie wird Dich nun nicht mehr, wie sonst, am Gängelfaden hinaus in's Freie führen, damit Du Dir die Mähne sonnen kannst. Fremde Leute haben Dich gekauft, die Du nicht kennst und die Dich nicht kennen, und sie werden Dir nicht trauen, daß Du so zahm und folgsam bist wie ein Lamm, sie werden Dir nicht so trauen wie Isabelle, 68 die Dich geliebt hat. Doch auch Isabelle muß nun unter die fremden Leute und sich Dienst bei ihnen suchen, damit sie leben kann. Das leidige Leben ist an sich noch nicht qualvoll genug, es kommt auch noch die armselige Angst um Essen und Trinken dazu, und von den vielen Schmerzen, die man hat, kann man nicht einmal leben und sich satt zehren. Aber sei nur ruhig, mein Hyacinth! sie werden Dir Dein Futter schon immer reichen, denn ein Thier kommt immer noch eher durch im Leben, als ein Mensch. Doch ich fürchte, Du wirst nicht mehr so munter und lustig bleiben, wenn künftig nur fremde Leute um Dich sind, und Du wirst Dich, wie Du es einmal vorm Jahr gethan, stets mißvergnügt und schläfrig in den Winkel werfen, denn Du hast Anlage zur Trägheit, Du fauler Knecht! So komm denn noch einmal heraus zu guterletzt, und spiele mit mir, und sei vergnügt!«

Sie trat schnell einige Schritte von dem Käfig zurück, schlug mit den Händen lockend auf ihr Knie, und Hyacinth schwang sich mit einem mächtigen Sprunge aus seinem Gefängniß heraus, daß der Boden, den er berührte, unter ihm dröhnte. So stand er ganz frei neben ihr, streckte den Schweif hoch empor, und dehnte sich im Gefühl seiner Freiheit mit einer sichtlichen Wollust alle Glieder aus. Sie aber zog einen Faden ihres Strickgarns aus 69 dem Busentuch hervor, band das Garn an der Mähne des geduldig stillhaltenden Löwen fest, und behielt das andere Ende des Fadens, den sie lang ausbreitete, wie einen Zügel in der Hand.

»So sind wir oft miteinander spazieren gegangen!« sagte sie, und ihr schmerzvolles Gesicht schien sich ein wenig durch ein leises Lächeln zu erhellen. »Aber Du weißt, wenn Du zerreißest, bekommst Du Schläge!«

Der Löwe war indeß gewohnt, den dünnen Faden, an dem ihn seine junge Gebieterin lenkte, so sorgsam und ängstlich zu tragen, als ob er sich durch eine starke Kette gebunden fühle. Er streckte die linke Vordertatze spielerisch aus, und bewies dadurch daß er bei guter Laune sei. Sie führte ihn einigemal im Zimmer auf und nieder, indem er mit bewundernswürdiger Geduld ihrem Faden folgte, wohin er auch gelenkt ward, und nur zuweilen durch ein übermäßiges Schnauben und Schütteln sein Wohlgefallen über diesen Spaziergang ausdrückte.

»So trage mich auch einmal wieder, guter Hyacinth!« rief sie alsdann, und setzte sich in solcher Stellung auf seinen Rücken, wie man sich eines Damenpferdes zu bedienen pflegt. Hyacinth aber ließ sich die angenehme Last gefallen, und ging mit dem Mädchen, das sich an seiner Mähne festhielt, einige Schritte vorwärts, dann stand er jedoch plötz 70lich still, sperrte den Rachen weit auf und gähnte so fürchterlich, daß seine Herrin unwillig von seinem Rücken wieder herabstieg. »Du gähnst schon wieder und langweilst Dich!« sagte sie. »Fort denn mit Dir, geschwind wieder hinaus in Deinen Käfig! Es ist das letzte Mal gewesen, daß wir beisammen waren, und Du hast Dich doch gelangweilt! Fort! Fort! spring' in Dein Haus hinein!«

Sie gab ihm einen Schlag, und zeigte mit der Hand auf das Gitter, in das er sich auch wieder gutwillig einschließen ließ. Dann stand sie eine Zeitlang da, im Stillen seufzend, und war eben im Begriff, ihr kleines Bündel unter den Arm zu nehmen und fortzueilen, als Valerian, und hinter ihm Erwin, jetzt hervortraten und das Mädchen freundlich begrüßten.

Sie erschrak, als sie der Fremden ansichtig wurde, und wollte, nach einer kurzen Erwiederung des Grußes, sich hastig fortbegeben. Der Graf aber faßte sie bei der Hand, und redete ihr durch milde und ermunternde Worte zu, die sie mit schüchtern niedergesenkten Blicken anhörte. Endlich schien sie ihre natürliche Unbefangenheit wieder zu gewinnen, und, das Auge hell und freundlich zu dem alten Grafen aufschlagend, obwohl sie es noch vermied, Erwin anzusehn, beantwortete sie die an sie gerichteten Fragen wegen ihres Namens, ihres Vaters und ihres Schick 71sals ganz offen in ihrer lebhaften Ausdrucksweise. Valerian schien diesem verwaisten Naturkinde eine besondere Theilnahme zu widmen, und bemühte sich augenscheinlich, ihr Zutrauen einzuflößen.

»Du lebst mit Deinem Löwen Hyacinth auf einem recht vertraulichen Fuße, Isabelle!« sagte er wohlwollend, und strich ihr schmeichelnd die dunkeln, krausen Locken von der Stirn, die in natürlicher Unordnung darüber hinflatterten.

»Der Löwe ist gut und zahm!« entgegnete sie ernsthaft. »Ich habe ihn schon gekannt, als er noch ganz klein war, und ich war damals auch noch ein kleines Kind, wie er. Er ist in der Thierbude meines Vaters auf die Welt gekommen, und so spielten wir Beide von Jugend auf miteinander, doch bin ich um mehrere Jahre älter als Hyacinth. Als er noch klein und niedlich war, habe ich ihn noch mehr lieb gehabt als jetzt. Aber man kann nicht immer klein bleiben, und wenn man groß wird, spielt Keiner mehr mit uns so gern, und Keiner sagt mehr ›liebes Kind!‹ sondern es heißt: ›großes Mädchen! fort mit dir in die fremde, kalte Welt hinaus, und pilgre, und arbeite!‹«

Bei diesen Worten machte sie wieder Miene fortzueilen, und wollte schnell an Erwin vorüberschießen, der im Wege stand, und, indem er ihr ausbog und sie ihm wieder, sie im Laufe hinderte, 72 so daß sie verwirrt ihm gegenüber stehen blieb und ihn bald mit den glänzenden Augen bedeutsam anblickte, bald verlegen und ungewiß zur Erde niedersah. Der Jüngling war ebenfalls hochroth geworden, und hätte das Mädchen gern auch, wie der Großvater, mit einigen freundlichen Worten jetzt angeredet, aber, schüchterner noch als sie, schien er für den Augenblick nicht den Muth dazu gewinnen zu können.

Valerian näherte sich der fliehen wollenden wieder. »Bleibe bei mir, Isabelle!« sagte er. »Bleibe bei mir! Du sollst es gut haben wie bei einem Vater! Dein Gesicht gefällt mir!«

Isabelle kehrte sich rasch nach ihm um, und betrachtete ihn lange, als wolle sie ihn prüfen, ob es sein Ernst sei. »Ich soll bei Dir bleiben?« fragte sie dann. »Soll ich Dir dienen?«

»Du sollst mir nicht dienen!« entgegnete Valerian. »Ich möchte Dich gern bloß um mich sehen, denn ich bin ein einsamer Mann, und habe viele trübe Stunden. Da sollst Du mich erheitern durch Deine Nähe und durch Dein liebes, trautes Gesicht!«

»Du hast ja Deinen Sohn!« versetzte sie sich besinnend, und ließ wieder einen verstohlenen Seitenblick auf den in Erwartung dastehenden Erwin hinübergleiten.

»Ich habe keinen Sohn!« sagte der alte Graf trübe lächelnd. »Willst Du bei mir bleiben, Isabelle?«

73 »Bleibt der Löwe auch bei uns?« fragte sie noch.

»Wir reisen fort, mein Kind!« entgegnete der Graf – »und nehmen den Löwen und alle Thiere Deines Vaters mit uns.«

»Das ist schön!« sagte sie, und reichte dem Grafen nun zutrauensvoll die Hand. »Dann bleibe ich bei Dir! Laß mich Deine treue Dienerin sein, denn ich fühle Ehrfurcht vor Dir im Herzen, Du alter, freundlicher Mann!«

Valerian drückte ihre Hand in der seinigen, und küßte das liebe Mädchen, das so schnell seine wahrhaft väterliche Zuneigung gewonnen, auf die Stirn. Es war indeß nichts zu bezweifeln, daß den Grafen hier, außer seiner alten und im Leben oft von ihm geübten Neigung, sich ein bebendes Wesen in seiner Umgebung aufzuerziehn, das ganz an ihm hinge, auch noch ein anderer Umstand bewegen mochte, sich Isabellens anzunehmen, wodurch ihm dieß neue Verhältniß gewissermaßen nothwendig schien. In der Ausführung seines Planes, unter dem erborgten Namen und in der Kleidung des verstorbenen Thierwärters sich unerkannt auf den Schauplatz, von dem er durch die fürstliche Verbannung verwiesen worden war, wieder zurückzubegeben, um dort heimlich zu wirken, mußte es ihn offenbar unterstützen und zu seiner Unkenntlichmachung dienen helfen, wenn er die Tochter jenes Mannes als die seinige mit sich 74 führte. Er konnte dadurch am leichtesten jede Spur eines Verdachtes gegen seine Person von sich abwenden.

Unterdeß sich aber Valerian und Isabelle so miteinander befreundeten, stand der arme Erwin traurig bei Seite, und sah, wie die ihm entfremdete Zuneigung des Großvaters nun bereits ihren anderen Gegenstand gefunden und auf denselben übergegangen war. Er hätte fast einige Eifersucht gegen das schwarzbraune Mädchen empfinden können, das den Platz eines Lieblings, den er sonst eingenommen, nun ausfüllte, aber doch, fühlte er, könne er ihr niemals gram werden. Ja er meinte bei sich, daß er an der Stelle des Großvaters ebenso gehandelt und das verlassene Kind durch jeden Beweis der Liebe zu trösten gesucht haben würde. Er selbst aber schickte sich nun an, von hinnen zu ziehen und seine Wanderschaft anzutreten. Der Graf hatte sich doch eigentlich, in der wunderbaren Veränderung seines Sinnes, so hart und streng gegen den Jüngling erwiesen, daß auch er es nun in seinem Busen plötzlich etwas kühl werden fühlte, und das Bewußtsein der Selbstständigkeit, das in diesem Jugendalter am entschiedensten durch ein erlittenes Unrecht erweckt wird, sich in ihm zu regen begann.

Das Lebewohl, das er jetzt zum Abschiede sprach, schien ihm deshalb fast leichter zu werden. 75 Aber da blitzte einmal ein vielsagender Augenstrahl zu ihm herüber, – er kam aus Isabellens Blicken, die den seinigen fragend begegneten. Ach, er wäre doch lieber beim Großvater geblieben!

Valerian legte beide Hände auf die Schultern des Enkels, und entließ ihn dann mit kurzem Wort.

Erwin ging langsam auf die Thür zu.

»Warum bleibt Dein Sohn nicht hier?« fragte Isabelle leise aber heftig den Grafen.

Erwin wandte sich noch einmal um und blieb stehen. Sie hatte gesprochen, sie hatte nach ihm gefragt.

»Warum lässest Du ihn fortreisen allein?« fuhr sie dreist fort, zu Valerian gewandt. »Bald wird es Nacht werden draußen. Laß ihn wenigstens bis morgen früh hier! Soll Dein Sohn durch die finstre Nacht fortwandern in die Fremde? Oder ist er nicht Dein Sohn?«

Der Graf sagte, wie zu Beiden sich kehrend und ihnen antwortend: »Der Jüngling muß wagen und Gefahren bestehen, damit er zum Manne werde! Finstere Nächte muß er einsam durchwandern, damit er das Licht finde! Zaget nicht! Wir sehen uns wohl Alle noch einmal wieder!«

Nach diesen Worten ging er schweigend in das kleine Cabinet zurück, und winkte Isabellen, ihm zu folgen.

76 Sie aber zögerte noch. Eine Zeitlang standen sich Erwin und Isabelle noch still einander gegenüber. Dann nickten sie sich wehmüthig lächelnd zum Scheiden zu. Es war der erste Gruß, den sie sich boten. –

Draußen auf der Straße blickte sich Erwin noch einmal nach dem Fenster des Häuschens um. Isabelle stand am Fenster und sah ihm nach. Es war ihm, als schimmerten Thränen in ihren Augen. –


– Wer in Schmerzen den Wanderstab ergreift, um auszuziehen mit seinem Leid über Berg und Thal, der trete, wie Erwin es that, seine Wanderschaft an einem milden traulichen Sommerabend an. Früh des Morgens auswandernd mit dem ersten Lerchenschlag, während prächtiger Sonnenaufgang das Haupt des Pilgers umglüht, bekommt dem Glücklichen gut. Wer noch ganz glücklich und ganz frisch ist, wandre mit Sonnenaufgang aus in die versprechende Ferne, und genieße es jauchzend, daß ihn die naturkräftige Heiterkeit der Schöpfung wie auf ihren Flügeln von dannen trägt durch Gottes Welt. Dem Unglücklichen thut jedoch die Morgenröthe wehe, und er wandert lieber dem scheidenden Abendroth entgegen, das im Westen über den Bergen glimmt, wie ein schöner, milder Traum der einschlummernden Natur. Auch er will wieder heiter und gesund werden durch die Reise, denn dem Men 77schen zittert immer noch eine unverwüstliche Begierde nach Glück in seiner Brust, selbst wenn ihm die Brust schon zerfleischt und zerrissen ist durch die Schläge des Lebens. Das Leben ist aber auch eben so reich an Mitteln der Versöhnung, als der Qual. Wenn es sein schleichendes Gift ausgeströmt hat, zeigt es sich auch wieder erfinderisch an Heilkräften aller Art, und der Mensch muß erstaunen, welche Anstrengungen es sich die Natur kosten läßt, ihm die Wunden wieder zu lindern, die sie ihm selber geschlagen hat.

Darum wandre getrost der Nacht entgegen, schmerzbedrückter Pilger! Biete dein müdes Haupt links und rechts den warmen Abendlüftchen entgegen, und wiege deine Gedanken ein in der Stille der Schöpfung, die rings auf den Fluren, als wären sie in Andacht versunken, ruht! Alles um dich her, was du siehst, kann dich auch heilen, wie es dir Leid verursachen kann. Selbst aus dem Abendlüftchen fliegt der Friede in des Wanderers Gemüth wieder hinüber, und du weißt selbst nicht, wie dir geschieht, wenn unversehens aus der Abendstille dich ein Gefühl von Lebensglück wieder anweht! Die Heerdenglocken läuten heimwärts dir zur Seite, die Vögel singen oben von den grünen Bäumen zu dir herab, die Blüthengesträuche schütteln sich leise im Nachtwind, die Bienen ziehen summend um dein Haupt, die Käfer 78 leuchten glänzend durch den Busch, der Waldbach treibt in der Ferne rauschende Wellen, und über Allem steht hoch und unendlich ein klarer, ruhiger, unbewegter Himmel da. Es läßt sich gut wandern in der Nacht und wenn es später wird, kommen die Sterne. An ihnen zünde gute und reine Gedanken in dir an, denn ein guter Gedanke ist der beste Pilgertrost auf Erden. Sternenglanz über dem Haupte, und einen gotterkennenden Gedanken in der Brust, so wanderst du sicher und blickst hell in die Zukunft. Alle deine Schmerzen werden untertauchen und sich mildern, wenn du in guten Gedanken wanderst, und die Sterne als günstige Wegweiser über dir stehn!

Dort über den Feldweg zieht unser Erwin hin und schwingt den Pilgerstab muthig wie einen Zauberstab, der die ersehnte Ferne heranflügeln soll. Für ihn und den Kummer, in dem er auswandert, fürchte ich noch nicht. Gesunder Jugendmuth schwellt ihm den Busen, und in seinem Alter vergißt man noch in einem glücklichen Augenblick ganze Jahre voll Schmerzen. Der Jüngling kann der Hoffnung noch nicht entsagen auf die Zukunft, weil er noch auf keiner Vergangenheit feststeht, die ihn mit ihren Bildern fesselte an einen abgeschlossenen Kreis, und was er bis jetzt Trübes erlebte, möchte er immer noch kaum für ernst halten von Seiten des Schick 79sals. Süße Vergessenheit folgt noch den Schritten des jungen Reisenden, und je weiter er wandert in der schönen warmen Nacht über die monderhellten Wiesen und Thäler, je schwerer wird es ihm, schon zu glauben, daß er unglücklich sei. Gott! die Welt ist ja noch so herrlich, die Jugend so jung, das Herz so kräftig in seinem Schlag, der Fuß so plastisch im Wanderschritt über die blühende Erde! – er kann, er mag es sich nicht denken, daß es ihm nicht auch bestimmt sein solle, noch manche Freude zu erleben und glücklich zu sein! Vertraue nur, und wenn deine kindlichen Ahnungen dich auch alle täuschen, so hast du doch vertraut, und hast vorahnend dein Glück empfunden, das du nie erlangen wirst! Erwin will auch vertrauen, und den dunkeln Gestalten, die vor kurzem befremdend in sein Leben geblickt, will er noch keine Macht über sich einräumen. Der frohe, träumende Leichtsinn, den das Wandern mit sich bringt, ergreift ihn allmählig, er springt und hüpft über Bach und Graben, und dem stillen, ruhenden Buchenwald sich nähernd, den er durchschreiten muß, möchte er lachen und weinen zu gleicher Zeit in der Seligkeit seines Herzens. O es muß noch Alles einmal besser werden.

Er singt sich ein Liedchen, und begrüßt damit den dunkeln Wald, der ihn in seine lange Baumschatten aufnimmt Hier regt sich nichts, und nur 80 die Strahlen des Mondes zittern glänzend auf den Laubkronen oben, die aus dem Wasserspiegel des Sees dort wie geisterhaft wieder hervorleuchten. In tiefe Einsamkeit ist Alles eingewiegt, aber der Wanderer fühlt sich nicht einsam. Es ist ihm selbst nicht klar, was ihm so süß Gesellschaft leistet im Innersten seiner Gedanken. Er setzt sich einen Augenblick nieder auf einen großen moosigen Stein, der am See lag, und sinnt still nach bei sich über den Gegenstand, der ihm am meisten jetzt die Seele erfüllt. Isabelle ist es, an die er immer wieder denkt. Das Bild des wunderbaren Mädchens mit den schwarzen, brennenden Augen, mit dem Schmerz und der Gluth im Blick, ist ihm unmerklich nachgefolgt bis an diese Waldstelle, wo es ihm selbst erst anschaulich wird, daß er daran den traulichsten Reisebegleiter gehabt und habe. Nun weiß er, wie er den Schatz in seinem Busen, der ihn nicht untergehen ließ in Trostlosigkeit, zu nennen hat, und es macht ihm unaussprechliches Vergnügen, oft zu nennen und sich zu sagen, was er in seinen Gedanken besitzt. Warum schwebt sie nicht hervor aus dem Nebelglanz, der über der Seefläche spielt und in seinen magischen Bewegungen menschliche Formen annehmen zu wollen scheint? Er nickt ihr bedeutsam zu, wie damals beim Scheiden; er ergreift ihre Hand, und ihr Mund athmet heiß und lebhaft auf dem seinigen in Lust 81 und Leidenschaft! Dann blickt sie ihn ernsthaft an mit ihrem klugen, ausdrucksvollen Gesicht, sie reißt sich von ihm los und streckt den Zeigefinger hoch in die Wolken wie eine junge Prophetin, und verkündet ihrer Liebe eine unglückliche Zukunft. Sie erzählt ihm von vielen Schmerzen, die in der Welt sind, und zeigt ihm ihr schwarzes Kleid, welches das Schicksal ihr über die zarten Glieder geworfen. Der Wanderer erschrickt über die Träume seiner Einbildungskraft, steht auf und verläßt den See, und setzt seinen Pilgerstab weiter. Isabelle geht mit ihm, und der Gedanke an sie verläßt ihn nicht mehr. Ein mildes Schicksal walte über beiden Kindern! –

Endlich steckt er sich für heute ein Ziel seiner Reise und die freundlichen alten Leuten in der Waldschenke bereiten dem schönen jungen Herrn, der noch so spät bei ihnen einspricht, ein trauliches Nachtlager, so gut sie es vermögen, von frischduftendem Heu. Am andern Morgen, nachdem er herrlich ausgeschlafen und glücklicher geträumt hat, als den Abend zuvor am See, sehen wir ihn gestärkt weiter schreiten, und er hoffte, wenn er noch diese Tagereise zurückgelegt, am nächsten dann bei guter Zeit das ihm wohlbekannte Landgut zu erreichen, wo er die einsam trauernde Mutter durch seinen Besuch überraschen will.

Es war ein heißer, schwüler Nachmittag, als 82 Erwin, von der Sonnenhitze des Tage etwas ermattet und mit Durst gequält, sich dem Dörfchen näherte, das dem Landsitz seiner Mutter zugehörte. Er ging langsam an den freundlichen, weißen Bauernhäusern vorüber, und war bald an das Enden des Dörfchens gelangt, das, in einem fruchtbaren Thalgrund liegend, ringsum von einem dichten, dunkeln Waldkranz umhegt war. Etwas entfernt davon sah man erst auf einer Anhöhe das alterthümliche Schloß sich erheben, das mit seinen grauen Thürmen und Erkern selbst die höchsten Wipfel der Eichen, die es wie hundertjährige Wächter feierlich umstanden, weit überragte. Es schien, wie sein verfallener Zustand vermuten ließ, schon seit längerer Zeit nicht mehr zum wohnlichen Aufenthaltsort gedient zu haben, bis es jetzt dazu gewählt worden, ein von der Welt zurückfliehendes und sich gebrochen fühlendes Herz in der Stille seiner Mauern zu verbergen.

Erwin stand vor der ernsten, hohen Pforte des Waldschlosses, und sein Fuß zögerte, er wußte selbst nicht, warum, die steinerne Halle zu betreten. Das Herz klopfte ihm, und nicht, wie bisher, vor Freude, eine geliebte Mutter wiederzusehn und ihr jetzt so nahe zu sein, daß er in einem Augenblick in ihre Arme stürzen konnte, sondern eine gewisse Bangigkeit, die ihm unerklärlich war, hatte sich des Jünglings bemächtigt. In der langen Vorhalle, die den 83 Eintretenden zuerst aufnahm, und in der von den dunkeln Wänden her ihn seltsam geformte Bildsäulen aus Stein ansahen, war, außer dem Pförtner, der in seinem Verschlag eingeschlafen da saß, Niemand anzutreffen. Doch ließen sich Stimmen vom Hofe her vernehmen, denen Erwin nachging, in der Meinung, sich dort erst einem der Diener kenntlich zu machen. Warum eilte er nicht gleich die Wendeltreppe dort hinauf, um den Gegenstand seiner kindlichen Sehnsucht ohne Zögern aufzusuchen? Warum klopfte er nicht dreist und rasch an das erste Gemach, und rief laut mit dem Posaunenton jugendlich ungestümer Freude: »Mutter, ich bin da! Mutter, laß mich an deinen Busen sinken! –« so hatte er thun wollen, und jetzt fühlte er sich in trüben Empfindungen so beklommen und seinen Muth gehemmt, daß er es noch hätte aufschieben mögen, sich zu erkennen geben.

Er war die Halle so weit durchschritten, daß er jetzt einen Blick in den Schloßhof thun konnte, in dem er zu seiner Verwunderung eine glänzende Equipage stehen sah, mit deren Ausspannung einige Diener beschäftigt waren. Erwin kannte den Wagen, so wie die Leute, welche denselben zu besorgen hatten, nur zu gut, und der mit großen goldenen Buchstaben auf dem Schlage sichtbare Namenszug des Grafen Arno nebst dessen Wappen ließ ihm keinen 34 Zweifel mehr übrig, daß dieß die prächtige Staatscarosse seines Vaters sei, die auf den Straßen der kleinen fürstlichen Residenz stets ein so bedeutendes Aufsehen erregt hatte. Es war jedoch mehr als unwahrscheinlich, daß seine Mutter sich derselben bedient haben sollte, um diesen Zufluchtsort ihres Kummers zu beziehen, und da er außerdem noch den Lieblingsjäger seines Vaters, von dem sich dieser nie zu trennen pflegte, ebenfalls hier erblickte, so konnte er kaum noch die Meinung unterdrücken, daß sich Graf Arno gegenwärtig auf dem Schlosse befinden müsse. Um Alles in der Welt hätte jedoch Erwin jetzt seinem Vater nicht begegnen mögen!

Es trieb ihn plötzlich ein dunkles, aber mächtiges Gefühl der Notwendigkeit, das Schloß wieder zu fliehn. Fast mit Angst, und leise, damit nicht sein Fußtritt auf dem knisternden Boden gehört werde, eilte er die Schritte durch den langen Bogengang wieder zurück, die er vorwärts gethan hatte. Er schlüpfte bei dem schnarchenden Pförtner wieder vorbei, athemlos draußen ankommend, und pries sich in Gedanken glücklich, daß er ungesehen dem düstern unheimlichen Schloß entronnen war. Hier im Freien beruhigten sich die laut pochenden Schläge seines Herzens wieder. Wie kam aber der Vater auf das entlegene Waldschloß, das er sonst nie besuchte? War die Mutter auch dort oder hatte der Groß 85vater sich geirrt, als er ihm diesen Ort als Asyl der Trauernden bezeichnet, und hatte er nicht vielleicht absichtlich den Enkel in eine falsche Gegend gewiesen, um nicht mit ihm wieder zusammenzutreffen und in seinen Plänen, von denen er gesprochen, durch ihn gehindert zu werden? Doch nein! diesen Argwohn konnte und wollte der Jüngling nicht sich aufkommen lassen! Er glaubte, ja er fürchtete jetzt, daß die arme Mutter sich im Schlosse befinden möge, und er erinnerte sich, wie ihm der Großvater gesagt, sie sei hier nicht sicher! Um so befremdender fiel ihm nun die muthmaßliche Anwesenheit seines Vaters an diesem Orte auf, sie versetzte ihn in eine doppelte Besorgniß. Erwin mußte den Vater fürchten um der Mutter willen und um seiner selbst willen, da sich ihm seit Kurzem das ganze Räthsel der Zwietracht und Verwirrung in den Verhältnissen der Seinigen so entsetzlich klar gelöst und vor Augen gestellt hatte; auch um seiner selbst willen, denn er war ja eigentlich, ohne den Willen des Vaters zu erfragen, mit dem verbannten Greis ohne Abschied geflohn! –

Er eilte jetzt, wie ein verschüchtertes Reh, in die Tiefe des angränzenden Waldes, ohne noch zu wissen, wohin er nun seinen Lauf richten werde. Ueber dem Walde lag eine drohende Gewitterschwüle, und das von der Hitze des Tages gedörrte Grün der 86 Bäume und Gräser schmachtete dem Ausbruch der Wolke entgegen, die finster den Himmel überzog. Bald wurde es ganz dunkel im Hain und ein gelber Blitz schlug sausend in die Nacht des zitternden Waldes hernieder. Da zerriß der Sturm den dunkelrothen Wolkenschleier, hinter dem er noch verborgen gelegen, und unter langen dröhnenden Donnerschlägen raschelten die stürmenden Ströme des Regens herab.

Erwin stand an einen Baum gelehnt, unter dessen starken Zweigen er für den Augenblick Schutz gefunden, und blickte traurig dem Ungestüm des Wetters zu. Verlassen, ohne ein menschliches Wesen in der Nähe, von der Reise ermattet, von Hunger und Durst geplagt, und ungewiß, wohin er sich wenden solle, verfiel der arme Knabe jetzt in immer trübere Gedanken über seine Lage. Dazu kam, daß der heftiger und heftiger werdende Regen, das Laubdach des Baumes durchdringend, ihn in seiner leichten Sommerkleidung so zu durchnässen anfing, daß er die zarten Glieder, die an rauhe Eindrücke zu wenig gewohnt waren, von einem empfindlichen Fieberfrost geschüttelt fühlte. Er begann sich jetzt selbst Vorwürfe zu machen daß er das Schloß wieder verlassen, ohne wenigstens nach der Mutter gefragt oder sich erkundigt zu haben, ob sein Vater wirklich auf demselben zugegen sei. Dieß Letztere erschien ihm immer unwahrscheinlicher, und wie leicht konnten ihn 87 die Anzeichen, aus denen er darauf geschlossen, getrogen haben.

Das Unwetter verstärkte sich statt aufzuhören, und Erwin faßte den Entschluß, durch die unerträgliche Nässe seiner Kleider auf's Aeußerste gebracht, nach dem Schlosse zurückzukehren, von dem er sich noch nicht allzuweit entfernt hatte. Er fühlte ein Bedürfnis nach hülfreicher Nähe der Menschen, er fühlte, daß seine zarte Jugend noch nicht stark und selbständig genug sei, um in der unwirthlichen Oede derWildniß allein, und nur auf sich gewiesen, auszudauern. So eilte er schnell, unter möglichstem Schutze der Bäume sich forthelfend, den Waldsteg wieder zurück und betrat die düstre Pforte des Schlosses von Neuem.

Den früher so wenig wachsam befundenen Thürsteher hatte der Donner jetzt aus seinem Schlafe geweckt. Freundlich zog er sein Käppchen vor dem Jüngling ab, als er ihn näher angesehen, nachdem er zuerst nicht übel Lust gehabt, ihn in seinem durch den Regen entstellten triefenden Anzug für einen jungen reisenden Handwerksburschen zu halten und als solchen abzuweisen. Erwin erinnerte sich, den Mann früher schon im Dienst seines Vaters in der Stadt gesehen zu haben. »Ei, junger Herr Graf, sind Sie auch da?« redete ihn der Alte schmunzelnd an. – »Und in 88 diesem Wetter, Gott sei bei uns! wo man denkt, der Wald wird ersäufen unter all dem Wasser das vom erzürnten Himmel gießt. Nun, der gnädige Herr Graf, Ihres Vaters Excellenz, sind auch erst vor einigen Stunden aus der Residenz hier angekommen. Gotts Blitz! das wird ein Freudenleben werden auf dem alten rumpeligen Schlosse, dessen Kastellan ich jetzt seit Ihrer gnädigsten Frau Mutter Anwesenheit hier zu sein die Ehre habe.«

»Mein Vater ist also hier?« fragte Erwin mit dem leisen Ton der Bestürzung.

»Was werden denn seine Excellenz nicht hier sein?« entgegnete der Pförtner, ihn verwundert ansehend. »Seine Excellenz wollen ja morgen Dero erlauchtesten Geburtstag durch ein großes sogenanntes ländliches Fest hier feiern und darum sind sie angefahren gekommen; sollen auch morgen früh noch mehrere andere Herrschaften kommen, für die ich den linken Seitenflügel des Schlosses habe in Stand setzen müssen, so gut oder so schlecht es in der Eile gehen wollte, denn es kam mir ja Alles so unversehens auf den Hals. Mein Seel'! wissen denn das der junge Herr Graf nicht? Habe ich doch glaubt, der junge Herr Graf hätten sich hinter Dero gnädigstem Papa jetzt bloß verspätet und wären nun in aller Eil auf dem Donnerwetter draußen nachgeritten gekommen!«

89 Der Mensch lachte über seinen plumpen Witz, und zog dann das Ziehfenster seines Stübchens wieder zu, in der Meinung, Erwin werde sich, wie zu erwarten stand, die Treppe hinaufbegeben, welche zu den Wohnzimmern führte.

»Halt! Noch Eins!« rief ihm Erwin zu. »Wo ist meine Mutter?«

»Die gnädigste Frau Gräfin bewohnen die Erkerzimmer, die hinten nach dem Schloßgarten hinausgehn!« erwiederte der Redselige, und legte seinen weißen Kopf wieder gutmüthig heraus. »Ach!« fuhr er achselzuckend fort – »die liebe gute Frau Gräfin müssen wohl unpaß sein, denn die ganze Zeit über, wo sie hier sind, haben sie noch mit Keinem von ihren Leuten, wie sonst, ein freundliches Wort gesprochen. Die liebe gute Frau Gräfin! Ein Jeder, der sie einmal gesehen hat, muß für sie beten, und wäre es auch ein so alter Sünder, wie ich selbsten.« –

Erwin stand einen Augenblick unschlüssig, und sann bei sich nach. Da war es ihm, als höre er oben auf der Treppe die scharftönende Stimme des Vaters, die immer näher zu kommen schien. Diese Stimme war ihm so wohlbekannt. Aber nein! nein! er konnte es nicht über sich gewinnen, zu ihm hinaufzugehn! Nein! Nein! Die Bangigkeit drückte ihm das Herz ab. Er mußte sich verbergen.

Er wollte nicht wieder bei dem Fenster des Pfört 90ners vorüber, und eilte in den Hof. Dort sah ihn jetzt Niemand, aber das Unwetter tobte noch unerbittlich auf ihn herab. Eine Stallthür stand offen, er trat hinein und sah, daß er sich unter dem Hühnerschlag eine Zuflucht genommen habe. Ueber seinem Haupte war der bretterne Boden mit diesen Hausthieren dicht angefüllt, die, wie sie beim Gewitter zu thun pflegen, in einem Winkel still zusammengedrückt neben einander dasaßen. Beim Eintritt des Ankömmlings erhob jedoch ein Hahn ein lautes Geschrei, und trat mit geschwungenen Flügeln an die Sprosse der Leiter vor, um seinen Zorn über den Störer ihrer Ruhe auszudrücken.

Erwin achtete anfangs nicht darauf, und blickte nur ängstlich nach den in starken Bewegungen vorüberziehenden Gewitterwolken, ob sie sich nicht bald ihres gewaltsamen Stoffs über der Erde entladen hätten. Die Donnerschläge begannen auch wirklich immer schwächer und ferner zu tönen, ein heller Lichtstreif überflog im Osten den Horizont, und der Regen verdünnte sich nachlassend zu einzelnen Tropfen, die in dem gebrochenen Sonnenschein, der allmählich wieder aufzutauchen begann, wie funkelnde Perlen herabstürzten.

Das aufhörende Gewitter schien den erzürnten Hahn oben auf seiner Leiter jetzt muthiger gemacht gemacht zu haben, so daß die Feindschaft, die er gegen unsern 91 Erwin wegen dessen Anwesenheit im Stalle hegte, nun in offenen Kampf auszubrechen drohte. Mit hochaufgeplustertem Gefieder stand das böse Thier auf der Sprosse, streckte mit entsetzlichem Krähen den stattlichen Sporenfuß gegen Erwin aus, und machte Miene, ihm in's Gesicht zu fliegen.

»Auch Du willst mir das Leben sauer machen?« sagte Erwin halb scherzend, und unterhielt sich eine Weile damit, die possierlichen Bewegungen des mit geschwollenem Kamm ihm gegenüberstehenden Thieres zu betrachten und seinen lächerlichen Grimm durch einen Schlag, den er mit der Hand durch die Luft that, noch mehr zu reizen, obwohl er wußte, daß die Natur gerade den Hähnen seltsamer Weise eine solche Stärke der Bosheit eingepflanzt, daß sie in ihrer Wuth selbst lebensgefährlich zu werden vermögen. Der Hahn zögerte auch nicht, mit Blitzesschnelle auf seinen Feind herabzuspringen, und Erwin hatte Mühe, sich die Angriffe, die er mit starken Flügeln gegen ihn richtete, abzuwehren. Er wollte fort, Stall und Hof zu verlassen, und trat durch die Hinterpfote des Hofes, die nach dem Felde hinausführte ins Freie, wo es unterdeß wieder ganz klar und hell geworden war.

Dem Aufruhr der Elemente war, wie gewöhnlich, ein stiller, kindlicher Friede in der Natur gefolgt, der mit sonnenlächelndem Blick noch die übrige Zeit 92 des Tages verschönen zu wollen schien. Erwin ging über den Weg, der sich durch das Korn hin erstreckte, immer weiter in's Feld hinaus. Es trieb ihn, er mußte das Schloß fliehen, das er aufzusuchen gekommen war; es trieb ihn vorwärts und alle Fernen der Welt, sei es auch wo es sei, traten, zwar in banger Ungewißheit, aber doch bei weitem lockender vor des Jünglings Seele, als die Nähe des hinter ihm liegenden Schlosses, das ihm ein räthselhaftes Unglück in sich zu verbergen dünkte.

Da hörte er hinter sich Etwas rascheln, und wie verwunderte er sich, da er Niemand anders als den Hahn erblickte, der ihm, ohne daß er es bisher gemerkt, vom Schloßhofe aus nachgefolgt sein mußte. Der Hahn, der den Gegenstand seiner Wuth nicht aufgeben konnte, hatte ihn, indem es ihm schien, daß derselbe vor ihm fliehe, bis hieher verfolgt, und erneuerte jetzt, unserm Erwin mit aller Gewalt auf den Nacken springend, seine heftigen Angriffe. Der Jüngling schleuderte ihn mehrmals erfolglos von sich zurück, und seine Hände bluteten bereits von dem scharfen Schnabel des Thieres. Während dieses Kampfes mit dem Hahn suchte er jedoch seinen Weg immer fortzusetzen, aber das Thier ließ nicht ab, mit ihm zu gehen, ihm hinten aufzufliegen und auf alle Weise Den, der ihm so hassenswerth schien, zu verletzen.

93 Unter diesen seltsamen Anfechtungen gelangte Erwin bis an den Dorfkirchhof, der hinter den Saatfeldern auf einem kleinen Hügel lag. Die Thür der Kirchhofsmauer stand offen und er trat hinein. Der Hahn folgte krähend und flatternd, und sprang seinem Feinde selbst über die Gräber nach.

Da verlor Erwin endlich die Geduld, wandte sich zornig um und ergriff den Hahn mit aller Kraft seines Armes bei der Kehle, um ihn zu erwürgen. Dieß gelang ihm indeß nicht so bald, aber er bemeisterte sich doch des Thieres insoweit daß er es fassen und gegen einen Leichenstein schleudern konnte, an dem es sich auch sogleich den Kopf zerschmetterte.

Erschöpft setzte sich Erwin auf einen Grabhügel nieder. Er fühlte, daß er der Ruhe, tiefer Ruhe bedürftig sei. Der Rasen um ihn her war noch feucht vom Regen, aber er konnte sich kaum länger auf den Füßen erhalten, er mußte sich einen Augenblick hier niederlassen. Dagegen begann die wieder wolkenfrei strahlende Sonne von oben herab wohlthätig auf ihn zu wirken und ihm die nassen Kleider, die der Bedauernswerte noch an sich trug, allmählig zu trocknen. Der helle Nachmittagssonnenschein umfloß in magischen Lichtern den grünen Kirchhof mit seinen geisterstillen Gräbern. Kein Laut wurde hörbar im ganzen Umkreis, und nur sanfte Sommer 94lüftchen regten sich in den Blumen und Trauerweidenzweigen, welche die Stätte der Todten umwehten.

Erwin drückte müde beide Hände vor die Augen, die ihm fast vor Ermattung zufielen. Er hätte gern ein wenig geschlummert, aber er erwehrte sich dessen mit Absicht, um nicht auf einem Grabe einzuschlafen, was für seine Vorstellung etwas Schreckhaftes hatte. Um sich zu ermuntern, blickte er wieder um sich. Seine Augen fielen auf die Inschrift an der Tafel des Grabhügels, über dem er saß. Es war ein junges, früh gestorbenes Mädchen, die hier ruhte. Ihr Vorname hieß Isabelle. Erschreckt wandte er sich ab und mußte doch zugleich über sich sich selbst wehmüthig lächeln, daß ein zufälliger Namensgleichklang einen solchen Eindruck auf ihn gemacht. Dann las er die Inschrift an den Kreuzen der gegenüberstehenden Hügel, und erkannte mit einem leisen Anflug von Schauer, daß er ringsum unter Gräbern der Kinder und Frühgestorbenen sitze. Hinter sich aber sah er in einiger Entfernung ein neues Grab aufgeworfen, das vielleicht ebenfalls aus den frischen Reihen der Jugend und Kindheit seinen ihm gewissen Bewohner erwarten mochte.

»Warum wohnen die Kinder schon unten in den Gräbern?« sagte er nachdenklich zu sich selbst. »Sie haben nichts gethan als gespielt und getän 95delt im Leben, und mit diesem lachenden Kindergesicht mußten sie schon in die große ernste Zukunft der Ewigkeit blicken! Oder setzt sich die Kinder- und die Jugendseligkeit auch jenseits der Gräber hinaus fort? Blühen die Kinderträume der Frühgestorbenen oben im Himmel noch einmal auf? Und spielen, tändeln, küssen sie in ewiger Freude, und der große milde Vater baut ihnen im höheren Leben die Weihnachtslichter wieder auf, die in der kurzen Erdenlust ihnen zu bald verloschen waren? Oder begreifen die Frühgestorbenen die Ewigkeit leichter, weil ihnen kein zu langes Leben mit seinem schweren Druck den Flug der Seele abgemattet hat? Ja, darum fanden sie den Himmel sobald, weil sie ihm so nahe geblieben waren! O, schläfrig flüstert das Rauschen der Friedhofsbäume auf mich nieder!« –

Er stützte das schwarze Lockenhaupt in die Hand, und heiße Thränen rannen ihm über die Wangen. Dann schloß er die Augen wieder und wehrte einem leisen Schlummer nicht, der ihn unwiderstehlich befiel. –

Er hatte jedoch nicht lange so gesessen, als er sich durch einen Schlag auf die Schulter erweckt fühlte. Ein kleiner freundlicher Mann stand vor ihm. Es war der Todtengräber; wie man aus der verhängnißvollen Wurfschaufel entnehmen konnte, die er in der Hand hielt.

96 »Ei, ei! junger Freund!« sagte der Mann mit dem Spaten. »Im nassen Grase sitzt Ihr da und macht hier in meinem Revier Euer Nachmittagsschläfchen. Das kann Euch einen ganz miserabeln Schnupfen zuziehen.«

Erwin stand auf und dankte ihm, daß er ihn in dieser wohlmeinenden Absicht geweckt habe.

»Ja, es hätte Euch schlecht gehen können!« fuhr der Alte lächelnd fort. »Den Vortheil haben nur die Todten, daß sie sich im feuchten Rasen keinen Schnupfen mehr zuziehn. Und dennoch, wenn sie um Mitternacht zuweilen spazieren gehn, wollen die alten Leute drüben im Dorfe sie niesen hören, und dann sage ich immer, das ist von dem scharfen Nachtthau, der ihnen in den ehrwürdigen Gespensternasen kribbelt.

»Höre, guter Mann!« sagte Erwin zu ihm. – »Du siehst in mir einen verirrten Reisenden, der Hunger und Durst hat und müde ist. Willst Du mir wohl für heut ein wirthliches Obdach in Deinem Todtengräberhäuschen gewähren? Es ist mir zu weit, noch bis zu einem Gasthause zu gehn, und es soll Dir für Deinen Dienst nicht an Erkenntlichkeit fehlen.«

»Warum in aller Welt das nicht?« entgegnete der Todtengräber bereitwillig. »Kommt nur, junger Wandrer, gleich mit mir, und meine liebe Ehehälfte 97 soll Euch einen warmen Kaffee kochen, damit Ihr wieder ein wenig aufthaut, denn Ihr seid ja ganz verklammt hier bei meinen Todten. Auch mein alter Schlafpelz wird Euch zu Diensten stehn, wenn Ihr etwa Eure nassen Kleider vom Leibe thun wollt.«

Erwin nahm das Anerbieten des gastfreundlichen Mannes mit Erkenntlichkeit an, und sie wollten eben mit einander fortgehn, als das Auge des Todtengräbers auf den Hahn fiel, der, von Erwins gerechter Rache getroffen, neben einem Leichenstein zerschmettert dalag. Er stutzte, hob den todten Hahn auf und betrachtete ihn lange nach allen Seiten, als ob er eine ihm auffallende Aehnlichkeit daran entdeckte.

»Was ist das?« sagte er dann. »Das ist ja leibhaftig mein Hahn, der mir heute früh aus dem Gehöft weggeflogen. Den ganzen Tag über bin ich nach ihm herumgelaufen, und habe ihn gesucht mit meiner Frau, diesen unsern einzigen unschätzbaren Hahn, und nun finde ich ihn hier unter den Gräbern, wo ihn mir ein böser Bube erschlagen haben muß! Ach, mein Hahn! mein Hahn! wie ihm der stolze Kamm jetzt blutet, den er sonst so majestätisch erhob!«

»Das ist nicht Dein Hahn, guter Freund! Er gehört auf den Schloßhof, von wo er mir bis hieher nachgeflogen!« sagte Erwin und erzählte ihm darauf 98 kurz den ganzen Hergang der Sache, um ihn zu beruhigen.

»Das lügst Du, junger Wanderer! das lügst Du, so wahr ich Nicolai heiße!« schrie der erzürnte Todtengräber, indem er wüthende Blicke auf Erwin schoß. Die bisherige Freundlichkeit und Gutmüthigkeit war plötzlich ganz aus seinem Gesicht verschwunden. Er stand mit geballter Faust vor dem Jüngling, als wolle er diesen wegen der That zur Rechenschaft ziehn.

»Du hast mir meinen Hahn erschlagen!« fuhr er grimmig fort. »Aha, Patron! steht es so mit Dir? ich hielt Dich für einen guten jungen Menschen, der mir beim ersten Anblick gefiel. Und Du warst böse genug, einem alten Mann seinen einzigen, unschuldigen Hahn zu erschlagen!«

Erwin bemühte sich vergebens, ihn zufrieden zu stellen, und bot ihm endlich, da er ihn nicht überzeugen konnte, daß dieß ein fremder und ihm nicht zugehöriger Hahn sei, eine nahmhafte Summe an, um ihm seinen Verlust dadurch zu ersetzen. Aber auch dies Beruhigungsmittel wollte sich der einmal in Harnisch gebrachte Todtengräber nicht gefallen lassen.

»Ich will den Hahn wieder haben!« rief er unaufhörlich.»Schafft mir den Hahn, den Ihr mir umgebracht habt. Einen neuen zu kaufen, davon 99 will ich nichts wissen! Wie dieser Hahn, war kein andrer Sterblicher! Seht ihn an, es war eine Pracht, wenn er seine bunten Federn schüttelte und noch jetzt ist er als Leiche fett, rundlich und liebenswürdig, wie Ihr keinen andern finden werdet für all Euer Geld! Er war mir lieber, als die Sonne am Himmel, denn er stand früher auf als sie, und weckte mich regelmäßig alle Morgen durch sein unwiderstehliches Krähen, wenn die Sonne noch nicht daran dachte aufzugehn. Den Hahn will ich wieder haben! – Und nun kommt nur, Patron, mit mir, wohin Ihr gehört, denn ich muß Recht und Gerechtigkeit nachsuchen gegen Euch! Recht und Gerechtigkeit muß sein gegen einen Hahnmörder!«

»Was willst Du mit mir thun?« fragte Erwin, und suchte sich von dem Erbitterten loszumachen, der ihn heftig beim Arm ergriffen und ihn mit sich fortschleppen wollte.

»Ja, kommt nur, kommt nur, junger Wandrer,« schrie Nicolai, den Jüngling gewaltsam mit sich fortziehend. »Aus dem warmen Kaffee, und meinem alten Schlafpelz, den ich Euch zu Haus versprochen, wird nun nichts. Ich muß Euch nach dem Schloß hinauf bringen. Dort will ich meine Sachen gegen Euch vor unserm Herrn Grafen selbst anhängig machen, denn unser Richter im Dorfe ist krank und liegt auf den Tod, und würde mir jetzt 100 kein Gehör geben. Ein Glück, daß unser Herr Graf heut gerade hier angekommen sind. Der soll Gericht halten, denn er ist strenge, über Euch und meinen unschuldig ermordeten Hahn, und soll entscheiden, ob ich den Hahn nicht wieder haben muß!«

»Bringe mich nicht nach dem Schlosse hinauf,« sagte Erwin, und versuchte den Mann noch einmal durch freundliches Bitten zu bewegen, indem er ihm mit der Hand die Wange strich. Ihm war so matt und mühselig zu Muthe, daß er sich wie ein hinfälliges Kind in die Gewalt seines rücksichtslosen Gegners gegeben sah. Unsäglich aber ängstigte ihn die Aussicht, jetzt, und in dieser Weise, vor seinen eignen Vater geführt werden zu sollen.

»Nur nicht nach dem Schlosse, guter Mann!« wiederholte er dringend. »Ich habe viele Gründe, für den Augenblick noch nicht dorthin zurückzukehren. Nimm Vernunft an, und laß Dich eines Bessern belehren. Bringe mich zu irgend einem andern billigen Schiedsrichter, und er soll darüber entscheiden, was zwischen uns obwaltet. Ich habe mich ja nicht geweigert, Dich für Deinen Verlust zu entschädigen, den ich Dir vermeintlich zugefügt habe. Was kannst Du mehr verlangen?«

»Hilft Euch alles nichts!« entgegnete der hartnäckige Todtengräber. »Fort, fort mit Euch! Ich muß Euch aufs Schloß bringen! der Handel ist 101 ganz außerordentlich, und in dieser Gegend noch nie vorgekommen. Darum muß ich den Herrn Grafen selbst, unsern Erb- und Gerichtsherrn, um eine Audienz deshalb ansprechen.« –

So sah sich unser armer Erwin unerquickt, unausgeruht und zu neuer Plage auserlesen, gegen seinen Willen und mit Gewalt wieder zurückgeführt zu den Pforten des Schlosses, die ihn erst innere Bangigkeit zu fliehen getrieben hatte. Wankend schritt er am Arme des Todtengräbers den dunkeln Mauern zu. –


In dem ehemaligen Prunkzimmer des alten Schlosses bewegten sich heut nach langen Jahren wieder vornehme und schöne Gäste. Der Saal war groß und geräumig, und verrieth noch durch die altmodischen, aber prachtvollen Tapeten, mit denen die hohen Wände ausgeschlagen waren, die Spuren seines früheren Glanzes, welche in ihrer jetzigen Verfallenheit freilich mehr einen öden als heitern Eindruck zu machen im Stande waren.

Auf einem etwas unförmlichen, mit goldenen Leisten beschlagenen Kanapee, saß eine reich geschmückte junge Dame, von blendender Schönheit. Sie ließ den hellen Blick zuweilen etwas spöttisch durch das altertümliche Gemach hinfliegen, in dem sie es 102 sich heut aus einer besonderen Laune gefallen zu lassen schien.

Es war Malwine, einst die erklärte Favoritin des Fürsten, jetzt die Geliebte des Grafen Arno.

Graf Arno saß ihr gegenüber auf einem Sessel. Ein gedeckter Tisch stand zwischen ihnen, und sie schienen so eben beim Dessert ihres Mittagsmahles zu verweilen. Der Graf mochte seine Gesellschafterin in ein mutwilliges Gespräch verwickelt haben, denn sie lachten unaufhörlich beide zusammen, und die Schöne verstand es, durch eine reizende Ausgelassenheit den Scherz des Mahles zu beflügeln. Sie konnte in der That für eine der schönsten Frauen gelten, wenn nur von sinnlicher Liebenswürdigkeit die Rede ist. Alles an ihr war Gluth und Fülle der Formen, sowohl in dem wie in rosenrotes Feuer getauchten Gesicht, als in den verführerischen Bewegungen einer glänzenden Gestalt, der man es ansah, daß sie einst als Theater-Terpsichore an der Hofbühne die Augen Aller hingerissen hatte. Wer der Schönheit solcher Gestalten eher zürnen als huldigen möchte, mag Recht haben, aber es gibt dennoch in Wesen dieser Art meistenteils ein Etwas, das, weil es die Eigentümlichkeit ihrer Natur erklärt, sie eben deshalb auch rechtfertigt und uns wenigstens nach einer gewissen Seite hin damit versöhnt. Dieß ist der ungemein bewegliche, fröhliche 103 Leichtsinn, der ihr ganzes Leben und Alles was sie thun, umgiebt und lustig und luftig durchdringt. Dieser angeborne Leichtsinn ist ihre Seele, und nach Gedanken zu leben, hat ihnen ihr Schicksal versagt; sie denken an Nichts, oder sie denken eben an Alles, und darum flattern sie mit dem Talent der Zerstreuung, das sie besitzen, von einer Blumenstelle der Welt zur andern, und suchen nichts als den lachenden Genuß des Augenblicks. Der Augenblick ist der Weltverführer; ihm opfern die Menschen oft Vergangenheit und Zukunft auf. Aber der Augenblick blüht auch herrlich und unwiderstehlich mit tausend süßen Früchten, und er lockt immer, daß wir sie brechen und kosten sollen, doch dem tiefer Strebenden bangt meist davor an den Früchten der Gegenwart, den frischduftenden, sich zu sättigen, weil das Menschenloos und Menschenglück stets auf die Zukunft weist, und, sei es ein Wahn oder eine heilige Stimme des Innern, von den Früchten der Ewigkeit predigt. Dies lachende Mädchen hat nie an die Früchte der Ewigkeit gedacht. Sie schmückt sich reizend mit den Gaben des Augenblicks, der ihr hold ist, und sie gefällt sich darin so wohl, Du siehst sie immer heiter. Sie ist nicht böse von Herzen, aber sie kann den Leichtsinn, den die Natur diesem Herzen anerschaffen hat, nicht überwinden, und so genießt sie da, wo der strenge Richter, der gegen sie 104 den Stein aufheben wird, um der Tugend willen darbt. –

Graf Arno war ein Mann im blühendsten Alter. Groß und schlank gewachsen, den Anflug der Jugend mit dem kräftigem Ausdruck der Mannesjahre vereinend, bestach er in der That auf den ersten Blick durch die einnehmende Bildung seines Aeußern. Ueber seinem feinen und regelmäßig geformten Gesicht, in dem es die Natur auf eine selten von ihr erreichte Harmonie der Züge abgesehen zu haben schien, lag ein beständiges freundliches Lächeln ausgebreitet, das bei vornehmen Gestalten dieser Art, die immer in einem gewissen heiter glänzenden Schein aufzutreten wissen, mehr eine Folge der Erziehung als des Gemüths ist. Sein Wesen war indeß gemessen, kalt, berechnet und in Allem, was er that und sprach, selbst bei unbedeutend scheinenden Anlässen, lag eine versteckte Absicht. Aber nie, auch wo er feindlich und verletzend heraustrat, verlor er in seiner Persönlichkeit die schöne Form und Haltung, die ihm natürlich war, und man hätte von ihn sagen können, daß er es verstehe, mit Anstand zu sündigen. Charaktere wie er, kennen indeß kaum eine andere Sünde als die gegen die Form. Gegen die Seele des Lebens zu fehlen, scheint ihnen nur eine unterhaltende Intrigue, welche die leeren Stunden der langweiligen Tage belustigend ausfüllt. An ihrer 105 Seele kann man sie nie vernichten, und erst, wenn die äußere lächelnde Form ihres Daseins, in der sie sich gesichert glaubten, über ihnen zusammenbricht, fühlen sie sich zerschmettert. So erschoß sich ein Hofmann wegen der Ungnade seines Fürsten, nachdem er den ihm fluchenden Todesseufzer seiner Gattin, deren Herz er gebrochen, ruhig überlebt hatte. Doch so lange das Glanzgeschmeide der äußern Form noch zusammenhält, mit dem sie sich wappnen, wähnen diese Gestalten, irdischen Göttern zu gleichen, und sie finden Anbeter ihrer Herrlichkeit. –

Graf Arno war diesmal auf die Laune gekommen, seinen auf den nächsten Tag fallenden Geburtstag in dem entlegenen Waldschlosse festlich zu begehn, in demselben Schlosse, wo seine ihn geflohene Gattin Mathilde so lange einen ungestörten Zufluchtsort zu finden gehofft, bis ihre bereits gerichtlich anhängig gemachte Scheidung von dem Manne, von dessen Gemeinschaft sie sich auf ewig lossagen wollte, erfolgt wäre. Dies Schloß nebst dem daran grenzenden Landgut war die väterliche Mitgift Mathildens, und die edle Frau hatte deßhalb um so mehr geglaubt, unter dem obwaltenden Verhältniß, in dem sie zu ihrem Gatten stand, gerade hier auf dem ihr zugehörigen Besitzthum vor jeder Annäherung von seiner Seite gesichert zu sein. Es war deshalb ein schneidender Hohn des Grafen, daß er sich dem 106ungeachtet diesen Ort ausgewählt, wenn nicht andere und von höherer Mitwirkung an die Hand gegebene Absichten dabei im Spiele waren, die ihn bestimmten, die auf morgen vorbereitete geräuschvolle Lustbarkeit, zu der noch viele Theilnehmer aus der Residenz erwartet wurden, gerade hieher zu verlegen. Er war mit Malwinen, deren Umgang seit einiger Zeit einen solchen Reiz für ihn gewonnen hatte, daß er sich nicht mehr von ihr trennen konnte, schon heut hier angekommen. Die Gräfin Mathilde aber hielt sich sorgfältig auf ihrem Zimmer verborgen und abgeschlossen, und suchte, in die Stille ihres Leids zurückgezogen, und ohne eine Spur ihrer Anwesenheit zu verrathen, in Ergebenheit diese neue Anfechtung vorübergehn zulassen. – –

Jetzt erhoben sich beide von der Tafel, und traten zusammen vor eines der hohen länglichten Bogenfenster, von dem sich die reizendste Aussicht über Wald und Fluß auf mehrere Stunden weit den Blicken darbot. Malwine wollte den untern Flügel des Fensters öffnen, unterließ es aber schmollend, als sie bemerkte daß sie sich den weißen seidenen Handschuh, der die zarten Finger bedeckte, an dem alten bestäubten Gesimse schmutzig mache.

Der Graf überhob sie endlich der Mühe. Er schaute einen Augenblick hinunter in den Wald, und schien dort eines Gegenstandes ansichtig geworden zu 107 sein, der sein Interesse erregte. Dann nahm ein kleines Jagdgewehr von der Wand, das geladen war, trat mit demselben wieder vor die Fensteröffnung, und hielt es zielend an das Auge, wie es schien, die Entfernung zu prüfen.

»Was hast Du da?« fragte Malwine, und sah ihm neugierig über die Schulter.

»Nichts als einen simplen Bauer, mein Kind!« entgegnete er, und setzte das Gewehr wieder ab. »Es fiel mir nur eben ein, ob ich wohl jenem Burschen dort, der seinen Nachtigallenkäfig so sicher auf dem Kopfe vorbeiträgt, den Käfig vom Kopfe herunterschießen könnte, ohne den Burschen selbst zu verletzen. Was meinst Du dazu, Liebchen? Wollen wir eine Wette darauf eingehn?«

»Ach, das thu' nicht Arno!« rief sie lebhaft. »Es sind ja Nachtigallen! Du wirst dem Bauer die armen Thierchen in seinem Käfig erschießen!«

Der Bauer unten, der nach der Sitte der Landleute sein Vogelhaus auf dem Kopfe tragend, über den Waldsteg herangekommen war, stand jetzt stille und betrachtete sich das hohe Portal des Schlosses. Wie es schien, hatte er die Absicht dort einzutreten, und seine Nachtigallen bei der gräflichen Herrschaft zum Verkauf anzubieten.

»Jetzt ist die beste Zeit zu dem Spaß!« rief der Graf 108 hastig. »Ich bin zwar sonst kein glücklicher Jäger, aber diesen Schuß traue ich mir zu. Nun, wollen wir wetten?«

»Nein! Nein!« entgegnete Malwine, ihn am Arm festhaltend. »Du sollst nicht schießen! Du wirst fehlen, und den unglücklichen Menschen treffen!«

»Ich werde nicht fehlen!« rief er, und legte wieder an. »So wette denn!«

»Nun, um eine Ohrfeige, aber um eine zärtliche!« sagte sie nachgebend und trat vom Fenster zurück, während der Schuß fiel.

»Ein wahrer Wilhelm-Tellsschuß ist mir gelungen!« rief der Graf, warf die Flinte weg, und klatschte sich vor Behagen in die Hände. »Sieh nur her, Malwinchen, wie dem Burschen der Kopf leichter geworden ist!«

Dem armen Landmann war sein Vogelbauer in der That wie im Nu über das Haupt weggeflogen, ohne daß er selbst eine Beschädigung erlitten, und nur die gewaltsame Erschütterung, die ihn betroffen, betäubte ihn so sehr, daß er rücklings gegen einen Baum taumelte. Mehrere Schritt weit von ihm lag der zerschmetterte Käfig mit den Nachtigallen. Der Schuß war mitten hineingefahren, und mochte die Vögel großentheils getötet haben, denn man hörte bis zum Schloßfenster hinauf die kreischenden Angst 109töne, in denen sie die letzten Accorde ihres wohllautenden Lebens aushauchten. Noch lauter aber erhob sich bald die Klage des Bauern, der, als er zur Besinnung gekommen, den Verlust seiner Vögel, von deren Verkauf er sich einen guten Ertrag versprochen, nicht genugsam bejammern konnte.

»Grausamer Schütz!« sagte Malwine zum Grafen, indem sie ihr Köpfchen an seine Schulter lehnte und wie traurig auf die Scene hinunterblickte. »Du machst es mit den Nachtigallen, wie mit den Frauenherzen! Du wilder Jäger sendest Deine Pfeile in jedes stille Heiligthum, und wohl dem Herzen, das dann, von ihnen getroffen, so schnell sich zu Tode seufzen kann als dort diese armen Nachtigallen!«

Sie äußerte dies mit viel anscheinender Empfindsamkeit, obwohl ihr helles munteres Gesicht, dem man es bei jedem Ausdruck ihrer Züge dennoch ansah, daß nur ein flatterhafter Muthwille auf ihm einheimisch sein könne, Alles in ihr nur als artige Koketterie erscheinen ließ.

Der Graf aber kniff ihr lachend in die Wangen und sagte: »Ei, ei, Malwinchen! so sentimental? oder ärgert Dich die verlorene Wette, und die Aussicht auf eine Ohrfeige von zärtlicher Hand?«

Dann warf er das Fenster zu, und bekümmerte sich nicht weiter darum, wie der unglückliche Bauer 110 für den ihm zugefügten Schaden einen Ersatz langen werde.

»Nur keine Ohrfeigen heut!« rief Malwine und warf sich in das Kanapee.

Arno folgte ihr schnell und setzte sich neben sie. Sie aber bedeckte sich die rothen Wangen dicht mit den Händen, um jede feindliche Annäherung an dieselben zu verhüten. So saß sie kichernd ihm gegenüber und sah ihn herausfordernd an.

Da griff er scherzend nach ihrer rosafarbenen Busenschleife und drohte sie mit den Fingen aufzuziehn. Nun ließ sie das Gesicht mit den Händen los, um ihre Schleife zu retten, und gab so die scheuen Wangen in seine Gewalt, die er einige Male sachte klopfte. Nachdem er aber dies gethan, stellte sie sich als ob sie weine, und sie schien sich wunderbar genug bald so sehr in diese aus Uebermuth angenommene Rolle zu verlieren, daß aus dem Uebermuth fast ein Ernst wurde und ihr wirklich helle Tränen in den Augen standen.

Der Graf sah sie ertaunt an. Sie aber fuhr fort auf das Anmuthigste zu schluchzen, nachdem sie einmal so weit hineingekommen war, daß sich ihre wandelbar rege Natur auf jener Gränzlinie des Ernstes und Scherzes befand, wo sie selbst sich nicht bewußt ist, ob die Thränen dem Lachen oder dem Weinen fließen.

Der Graf nahm sie in seine Arme und bemühte 111 sich, sie zu trösten. Sie reichte ihm endlich lakonisch ihr Schnupftuch hin, und ließ sich von ihm die Thränenperlchen, die ihr so unbegreiflicher Weise aus den Augen gestürzt waren, sorgfältig von der Wange wegwischen.

Nachdem er dieß Geschäft kosend beendigt hatte, stieß sie ihn wieder von sich, und sagte: »Ihr seid ganz unausstehlich heut, Graf! Mich so melancholisch zu machen! Wißt Ihr denn nicht, daß ich immer schwermüthig werde, wenn ich Nachtigallen sterben sehe? Untersteht Euch nicht noch einmal, in meiner Gegenwart eine Nachtigall zu schießen!«

»Ich entdecke immer neue Reize an Dir, Kind!« sagte der Graf lachend. »Nun auch noch die Schwermuth, die ich früher nie bei Dir vermuthet hätte, sie steht Dir gut!«

»Schwarz steht mir immer gut!« erwiederte sie trocken. »Darum benüht Euch nur nicht, mir immer so viel weiße oder bunte Kleider zu schenken. Aber hört, ich will Euch eine ganze Geschichte von meiner Schwermüthigkeit erzählen, die, sonderbar genug, mit dem Tod einer Nachtigall zusammenhängt.«

»Ich bin begierig, Malwinchen!« sagte Arno. »Erzähl, aber schnell, denn ich möchte heut noch ein wenig auf die Jagd reiten und Du sollst mich 112 begleiten. Nach dem Gewitter ist noch ein schöner Tag draußen geworden!«

Sie schmiegte sich zärtlich in seine Arme und hub dann an: »Vor mehreren Jahren, mein lieber Herr Graf, als ich noch ein sehr, sehr junges Mädchen im elterlichen Hause war, hatte ich einen Geliebten. – –«

»Kommt schon wieder ein anderer Geliebter von Dir zum Vorschein?« unterbrach sie der Graf. »Unerhört! Und das erzählst Du mir so ganz traulich in meinen eignen Armen?«

Sie wollte sich jetzt vor Lachen ausschütten, und fuhr dann fort: »Ich hatte einen Geliebten, wie gesagt, einen jungen, braven Mann, der um mein Hand anhielt. Er hatte weiter keinen Fehler, als daß er nichts zu sagen wußte, was sich gut anhörte. Er war zu still und schweigsam für mich, und ich war zu wild für ihn. Der schenkte mir einstens zu meinem Geburtstag eine schöne Nachtigall in einem goldnen Käfig. Er war selbst ein ungemeiner Nachtigallenfreund, der sich den Tag über fast mit nichts anderem beschäftigte, als solche Vögel aufzuziehen, zu warten, zu pflegen u. dgl. Mein stiller Bräutigam, – denn so weit waren wir schon – hätte es gar zu gern gesehn, wenn auch ich so fromm und sanft wie eine Nachtigall gewesen wäre, und er sagte mir das einmal gerade heraus, ja er nannte 113 mich in seinen überspannten Gedichten, die er an mich machte, in bester Hoffnung seine

›Dennoch einst zu Philomele
sich entwickelnde geliebte Seele!‹

Weiß Gott, ich war unschuldig daran, denn meine Natur konnte zu nichts weniger Hoffnung geben, als zu einer Philomele. Ich hatte keine Nachtigallenkehle an mir und liebte auch nicht die Einsamkeit! Die Lust des Lebens war für mich überhaupt weniger in der Kehle und in der Seele, als vielmehr in den Füßen. Leicht auf den Füßen, wie ich immer war, machte es mir Vergnügen, daß mir Gott gegeben, sie gebrauchen zu können, und so begab ich mich schon früh auf meine lieben Füße, um nach allen Herrlichkeiten der Welt, nach großen Gesellschaften, Concerten, Bällen, Redouten und glänzenden Festen herumzulaufen. Das war meinem stillen Bräutigam ein Stich in's Herz, und wir zankten uns oft darüber. Er machte mir lebhafte Vorwürfe über das, was er meinen Charakter nannte. Wenige Tage vorher, ehe er mir das Geburtstagsgeschenk brachte, hatten wir uns auch erzürnt und ich war so heftig gegen ihn gewesen, daß ich glaubte, er würde nicht wiederkommen. An meinem Geburtstag kam er dennoch mit seiner Nachtigall, und schien mich durch dieß Geschenk versöhnen zu wollen. Mich aber machte gerade dieß Geschenk unbeschreiblich wü 114thend. Ich war der Meinung, und vielleicht nicht mit Unrecht, daß er mich durch den Vogel wieder erinnern wollte, daß ich fromm und sanft wie Philomele werden müßte! Der goldene Nachtigallenbauer stand auf dem Tisch, die Nachtigall drinnen war still, und auch mein Liebster stand schweigend neben mir und sagte nach seiner Gewohnheit nichts. Ich aber war ebenfalls stumm vor Wuth. Da wurde mir endlich doch die Sache zu still um mich her, und ich konnte das verdrießliche Schweigen nicht länger ertragen. Kann denn die Nachtigall nicht singen? – fragte ich ihn – damit ein wenig Lärm in der Stube wird! Er zuckte die Achsel, und sagte nichts. Da ging ich, nur noch verdrießlicher geworden, auf den Käfig los, und schrie. Singe! Singe! Frau Nachtigall! – Die Nachtigall aber saß im Winkel ihres Käfigs, und sagte nichts. Nun stieg mein Aerger so, daß ich ganz außer mir gerieth. So will denn Keiner heut ein vernünftiges Wort sagen! rief ich, und griff wie eine Besessene nach dem Käfig, und schleuderte ihn mit aller Gewalt gegen den Fußboden, so daß fast die Stäbe zersprangen. Da drang ein wunderbar heller Ton aus dem Käfig hervor, wie ich ihn nie wieder vernommen habe. Es klang mir gerade wie eine Menschenstimme, die sich zu Tode klagt. Dann war alles wieder still. Es wurde mir in demselben Au 115genblick schon leid, was ich gethan, und ich stürzte auf meine Knie nieder, um nach der Nachtigall zu sehn. Sie lag lang ausgestreckt auf dem Boden in ihrem Bauer. Der Fall und der Schreck mußten das arme Thier getödtet haben. Laut weinend nahm ich sie nun heraus, ich drückte sie an meinen Busen, um sie wieder zu erwärmen, ich wusch sie mit meinen heißen Thränen, aber die Nachtigall war todt und blieb todt. Ich blickte mich nach meinem Freund um, ob er mir zürne. Mein Freund, der war längst fort, er hatte das Zimmer verlassen, und kehrte nie wieder. Und was meint Ihr wohl, Graf, was er für eine Rache wegen der todten Nachtigall an mir nahm? Er sandte mir den andern Tag mein Stammbuch zurück, das ich ihm vor einiger Zeit zum Einzeichnen übergeben hatte. Darin las ich auf einem Blatt einen Spruch, von seiner Hand geschrieben, der damals einen solchen Eindruck auf mich machte, daß ich ihn noch heut behalten und auch bis an meines Lebens Ende immer auswendig behalten werde. Den Spruch müßt Ihr hören, Graf, da auch Ihr heut einen solchen Nachtigallenfrevel begangen habt, und ich will ihn Euch ganz feierlich vordeclamiren.«

Sie stand auf, hob gegen den Grafen, der ihr bewegliches Wesen mit Vergnügen zu betrachten schien, ernst und drohend die Hand empor, und begann:

116 »So lebe denn fort in gedankenloser Wildheit, und kein süßer Nachtigallenton soll je mehr Dein Dasein schmücken, das am frechen Lärm des Tages sich vor der Zeit müde stürmen wird! Und hörst Du einmal in bangen Nächten, die Du, nach entnervenden Festgelagen Dich auf Dein Bett werfend, schlaflos hinbringst, die einsame Sängerin an Deinem Fenster vorüberflüstern, dann schlage sie mit ihren Liederfugen wie ein quälender Gewissensruf Dir an Ohr und Herz, und lehre Dich, wenn Du ihren Träumen wider Willen lauschest, das Unglück eines an Traum und Gefühl armen Lebens mit Verzweiflung empfinden!«

Malwine schien bei diesen Worten, die sie mit vielem Nachdruck recitirt hatte, wirklich ernsthaft geworden zu sein, und auch den Grafen überflog augenblicklich ein leiser Zug von Nachdenklichkeit, den er jedoch bald wieder im Scherz mit ihr zu zerstreuen suchte.

»Seht Ihr, das ist die Geschichte von meiner Schwermuth!« sagte sie, sich wieder zu ihm setzend. »Und seit dieser Geschichte kann ich keine Nachtigall mehr sterben sehn, und wenn ich des Nachts eine singen höre, überfällt es mich oft wie ein geheimes Grauen und ich kann dann die ganze Nacht über 117 nicht schlafen, und weine, ich weiß selbst nicht warum. Eine so große Närrin bin ich!«

»Dein Geschichtchen war recht artig, Malwine!« entgegnete der Graf, sie auf die weiße Stirn küssend. »Du hast mich gut damit unterhalten. Aber nur die Nutzanwendung schimmert zu sehr in's Trübselige.«

Er stand auf und ergriff seine Flinte, die er jetzt zu dem bevorstehenden Jagdausflug mitnehmen wollte.

In diesem Augenblick trat sein Leibjäger in's Zimmer, und meldete, daß der Todtengräber aus dem Dorfe den Grafen in einer seltsamen Angelegenheit zu sprechen begehre und sich durchaus nicht abweisen lassen wolle. »Er hat einen jungen Vagabunden, der ihm seinen Hahn erschlagen, auf dem Kirchhof eingefangen« – erzählte der Jäger – »und ihn gleich her auf's Schloß gebracht, da der Amtmann krank ist. Er besteht durchaus darauf, daß Euer Excellenz ihm Gehör verleihen und über seine Sache Recht sprechen möchten.«

»Laß ihn warten!« befahl der Graf. – »Dieß scheint ein Handel, der Belustigung verspricht!« fuhr er, zu Malwinen gewandt, fort nachdem der Diener gegangen war. »Ehe wir auf die Jagd fahren, wollen wir uns noch daran ergötzen, den Todtengräber und seinen Spitzbuben zu verhören. 118 Du sollst Gerichtsbeisitzerin sein, Malwine. Hast Du Lust, Dich damit u amüsiren?«

»Geht mir mit Todtengräbern und Spitzbuben! Ich habe mich hier in Eurem alten, an der Welt Ende gelegenen Waldschloß längst vor Spitzbuben und Räubern gefürchtet!« sagte sie, und nahm ihm im Scherz die Jagdflinte aus der Hand, die leicht genug war, um von ihr gehandhabt werden zu können. Sie legte das Gewehr anmuthig über die Schulter, und exercirte einige Male damit, im gemessenen Tritt auf- und abschreitend. Dann ergriff sie die Jagdmütze des Grafen, drückte sie sich auf die Locken, und stellte sich vor den Spiegel, um zu sehn, wie artig ihr das stehe.

»Seh' ich wohl so schrecklich genug aus« – rief sie – »um durch meinen bloßen Anblick Räuber zu verjagen, wenn sie uns hier überfallen sollten?«

»Nein, im Ernst!« fuhr sie fort, Flinte und Mütze wieder ablegend – »mich graut hier in diesem öden Schloß vor Räubern! Ich weiß nicht, wie das kommt, aber meine Phantasie ist schon seit unserer ersten Ankunft unaufhörlich mit Bildern von Rauberüberfällen und dergleichen beschäftigt. Das Schloß liegt so einsam, der Wald macht ein so finstres und unheimliches Gesicht, und so oft die alten Eichen draußen sich gegen das Fenster neigen, ist es mir, als klopfte Abällino, der große Bandit, 119 an die Fensterscheiben, und mir schlägt das Herz hier in der Seite fast hörbar!«

»Das kommt von Deiner eifrigen Romanlektüre her!« bemerkte der Graf lächelnd.

»Ach, lieber Gott, Romane und Novellen sind noch meine besten Freunde auf dieser Welt!« entgegnete sie lebhaft. »Ich wäre längst vor Langeweile gestorben, gäbe es nicht Romane zu lesen und Romane zu spielen auf dieser Erde. Wie gern würde ich es sehen, wenn mich einmal ein Romanschreiber nach meinem Tode in einem seiner Romane vorbringen, und mich mit sammt meiner ganzen lustigen Personage darin abconterfeien wollte. Das wäre die einzige Unsterblichkeit, die ich eigentlich verdient habe! Leid thut es mir aber, Graf, daß ihr so ganz und gar kein Vergnügen an der Lectüre findet!«

»Da hast Du Recht, mein Kind!« versetzte Arno. »Lectüre gibt es für mich nicht. Meine Lectüre ist das praktische Leben. Das Leben durch die gefärbte Brille der Schriftsteller anzusehn, würde einem Staatsmann nicht ziemen.«

»Aber mit Deiner Furcht vor Räubern kannst Du nicht Unrecht haben!« fuhr er, um sie ein wenig zu ängstigen, fort. »Die Umgegend ist hier in der That nicht ganz sicher, und man ist einer vollständigen Räuberbande auf der Spur, die, wie man vermuthet, hier im Walde ihre Schlupfwinkel haben 120 soll. Du hast ja gehört, daß der Todtengräber bereits einen auf dem Kirchhof gefangen genommen hat. Und wie leicht ist es möglich, daß morgen unsere fête champêtre im Walde durch einen Räuberüberfall gestört wird! Es scheinen verdächtige Menschen um das Schloß herum zu schleichen, wie ich vor Kurzem bemerkt zu haben glaube!«

»Geht, geht! Nun wollt ihr mir Angst machen!« rief sie, ihn ungewiß anblickend. »Das soll euch aber gerade nicht gelingen. Im Gegentheil, ich will jetzt die Muthige spielen! So kommt nur, wir wollen nun den Spitzbuben unten verhören, den der Todtengräber eingefangen hat. Vielleicht kommen wir dadurch der ganzen Räuberbande auf die Spur. Ich will eure Gerichtsbeisitzerin sein. Laßt nur den Spitzbuben in den Garten führen, vor die große Jasminlaube. Dort werde ich hinkommen.«

Sie hing sich an den Arm des Grafen, um sich hinabführen zu lassen. Doch jetzt fiel ihr ein, daß sie sich erst noch dazu umkleiden müsse, und so sprang sie eilends fort, nach ihrer Kammerjungfer rufend. – –

 

Unterdeß hatte der beklagenswerte Erwin so lange in der mühseligsten Lage auf dem Schloßhofe stehen und warten müssen. Der unerbittliche Todtengräber, 121 den entseelten Hahn unter dem Arm, hielt ihn wie eine Beute, die ihm noch entrinnen könne, fortwährend an den Kleidern fest, während der arme, in seinem tiefsten Wesen ermattete Jüngling sich bereits geduldig in sein Schicksal ergeben hatte, und fast theilnahmlos abwartete, was sich auch mit ihm ereignen möge. Die Diener und Leute, welche von Zeit zu Zeit über den Hof gingen, und von denen ihn mancher kannte, sahen ihn verwundert und staunend an, doch wagte Keiner das, was er vermuthete, laut werden zu lassen, da der junge Graf ihnen in einem solchen Aufzug erschien, in dem sie die Gleichheit seiner Person unwahrscheinlich finden mußten. Auch bemühte er sich absichtlich, sein Antlitz zu verbergen. Er wollte von Niemandem erkannt sein, er wollte sich Keinem zu erkennen geben, und eine schmerzliche Kälte gegen menschliches Leiden und Leben legte sich um sein Herz, wie ein böser Nachtthau, der auf die junge Blüthe fällt, daß sie zusammenschrumpft vor der Zeit.

Jetzt wurden sie durch den Bedienten in den Garten geführt. Erwins Vater hatte sich bereits durch eine Hinterthür des Schlosses dorthin begeben, und in der duftigen Jasminlaube saß Malwine, die mit einer weiblichen Handarbeit beschäftigt, den bevorstehenden Prozeß wie eine lustige Unterhaltung erwartete.

122 Graf Arno stand am Eingang der Laube, und sah den langsam Herankommenden entgegen. Der Todtengräber schien bei dem Anblick des Grafen, der die Ehrerbietuug und Unterwürfigkeit in ihm aufrief, einigermaßen die Fassung zu verlieren, und die Wuth gegen seinen Delinquenten zu zügeln. Er ließ Erwin jetzt los, und zog schon in weiter Entfernung tief den Hut ab, noch ehe sie den Gang zu Ende und dem Grafen nahe gekommen waren. Dann stand er still und versuchte unter unaufhörlichen Scharrfüßen einige Worte zu stammeln.

Als Erwin vor seinen Vater hintreten mußte, drangen ihm unwillkührlich die Thränen aus den Augen. Er hielt sich jedoch und senkte den Blick still zur Erde, ohne im Umkreise Jemanden anzusehn. Der Graf fuhr indeß befremdet zurück, als er seiner ansichtig wurde, musterte ihn darauf noch einmal scharf, und strich sich einen Augenblick nachdenkend mit der Hand über die Stirn. Dann schien er zu einem Entschluß gekommen zu sein und die gewohnte sichere und vornehm Heiterkeit verbreitete sich wieder über seine Züge.

»Tritt vor, Kläger!« befahl er – »und bringe Deine Klage vor uns an!«

Da warf sich der von Ehrfurcht überwältigte Todtengräber auf seine Knie nieder. »Gnade! Gnade! Eure Excellenz!« schrie er. »Dieser junge Tauge 123nichts hier hat mir meinen Hahn erschlagen. Einem armen Mann hat er seinen einzigen Hahn erschlagen! Er muß auch sonst noch viele Betrügereien verübt haben, denn er hat viel Geld bei sich, das er mir anbot, wenn ich ihn nicht her aufs Schloß führen wollte! Aber ich mochte das Sündengeld nicht! Ich will meinen Hahn wieder haben, meinen schönen, großen, fetten, bunten Hahn, damit meine Hühner zu Hause wieder Eier legen können! Und so habe ich Euer Excellenz diesen jungen Hauptspitzbuben hieher gebracht, damit er der Welt nicht länger gefährlich werde und Recht und Gerechtigkeit über ihn geschehe!«

»Steht auf!« befahl der Graf. – »Was hat der beklagte Theil darauf zu erwiedern?« fuhr er, sich halb gegen Erwin wendend, mit einer fremden, gleichgültigen Stimme fort, die diesem schneidend durch Mark und Bein ging.

Erwin schwieg still. Er fühlte seine Zunge wie gelähmt, noch gelähmter aber sein ganzes Herz, und es wäre ihm um keinen Preis in der Welt möglich gewesen, jetzt auch nur ein Wort vorzubringen.

»Der ist verstockt!« sagte der Todtengräber. »Er ist auf alle Schliche ausgelernt wie ein alter Dieb. Lügen kann er auch, wie gedruckt, und vorhin hat er behaupten wollen, dieser Hahn gehöre eigentlich auf den Schloßhof, wo er sich heut Nachmittag vor dem Regen untergestellt. Der Hahn sei ihm nach 124geflogen und habe ihn so sehr gereizt, daß er ihn in der Wuth gegen einen Stein geworfen. So unschuldig weiß sich ein so junges Blut schon anzustellen!«

»Man rufe den Schloßökonom!« sagten der Graf zu einem der umstehenden Diener. »Er soll das corpus delicti hier besichtigen. Kläger, wie willst Du beweisen, daß dieser Hahn wirklich Dein Eigenthum gewesen?«

Der Todtengräber stutzte, und wußte nicht gleich, was er antworten sollte. »Ich werde doch meinen Hahn kennen, Euer Excellenz!« versetzte er stotternd. »Dieser Hahn hat dasselbe Gesicht, wie mein entlaufener Hahn hatte, und folglich ist es mein Hahn! Woran soll man denn seine Angehörigen wieder er kennen, wenn nicht an ihrem Gesicht? Halten zu Gnaden, Euer Excellenz! ich habe einen Sohn, der vor dreizehn Jahren mit in den Krieg ging, und nicht wiedergekommen ist, weil ihm die Kugeln der Feinde wahrscheinlich ein Grab gegraben haben. Aber käme er noch heute, so würde ich ihm blos in sein ehrliches Gesicht sehn und es ihm auch auf sein Gesicht glauben, daß er mein Sohn ist. Ja, Du bist es, Töffel! würde ich sagen, und ihn umarmen, und meine Frau müßte ihm gleich einen Eierkuchen backen zur Bewillkommnung. Wie aber, wenn meine Frau verlangte, ich sollte ihr erst beweisen, daß dies 125 unser Sohn sei, ehe sie den Eierkuchen backte? Frau! würd' ich sagen – sieh ihm nur noch einmal in sein gutes ehrliches Gesicht! Hat der Mensch da nicht ein Gesicht, daß ihm Vater und Mutter gleich um den Hals fallen müssen? Und Du willst ihn so dastehen lassen, ohne Gruß und Labsal, wie er matt von der Reise kommt? Schäme Dich, Du willst Deinen Sohn nicht erkennen? Das ist Dein Sohn! – Sehen Euer Excellenz, so ist es auch gerade mit meinem Hahn! Sollte ich ihn denn nicht an seinem Gesicht an seinen Federn, an seinen Füßen erkennen, daß es mein Hahn ist? Es ist ja mein Hahn!«

»Schon gut, Freund! Wartet nur ein wenig!« sagte der Graf, und trat in die Laube, um sich mit der lachenden Malwine zu unterhalten. –

Jetzt erhob Erwin den Blick freier. Da fiel sein Auge drüben auf den hohen Erker des Schlosses, dessen Fenster in den Garten hinunterführten, und er erinnerte sich, wie man ihm gesagt, daß diese Zimmer seine Mutter bewohne. Man konnte von den Fenstern oben den breiten Mittelgang des Gartens völlig übersehn, in welchem sich Erwin an einer nicht allzu entfernten Stelle vor der Laube befand. Das eine der Fenster war geöffnet, und Erwin bemerkte jetzt ganz deutlich, daß eine weißgekleidete, weibliche Gestalt vor demselben stehe und sich halb 126 herausneige. Ach, es war niemand anders als die theure Mutter! Er erkannte sie mit seinem scharfen Auge ungeachtet der Ferne, die ihn von ihr schied, und er hätte die Arme ausstrecken und zu ihr hinaufrufen mögen: Mutter! Mutter! Kennst Du mich auch nicht mehr? – Aber er ahnete mit banger Freude, daß sie ihn gesehen, daß sie ihn als den Ihrigen erkannt haben möge, denn ihr geliebtes Haupt neigte sich unverwandt herunter, und sie schien mit Aufmerksamkeit den Garten zu durchspähn. O, sie stand oben, wie in hoher Himmelsbläue ein verklärtes stilles Madonnenbild, und blickte ernst und gedankenvoll hernieder. –

Der Graf trat jetzt wieder aus der Laube hervor, und durch den unterdeß herbeigerufenen Schloßökonom schien die verhandelte Sache nun eine andere Wendung zu nehmen.

Der getödtete Hahn, über den die Untersuchung schwebte, wurde von dem Ökonomen an allen Anzeichen für den erkannt, der denselben Nachmittag aus dem Schloßhofe entflohen war, und der Todtengräber, der seine Ansprüche an denselben nicht entschiedener darzuthun wußte, sondern in der genaueren Beschreibung, die ihm von seinem eigenen Hahn zu machen aufgegeben wurde, sich nur immer mehr verwirrte, und in offenbare Widersprüche gerieth, mußte sich auf einen ferneren Bescheid vertrösten lassen.

127 »So sehr kann man sich irren!« sagte er, indem er sich betrübt entfernte. »Hätte ich doch nie geglaubt, daß ich noch einmal meinen eigenen Hahn verkennen würde. Aber die alte babylonische Verwirrung bricht immer mehr wieder in der argen Welt aus, und man erkennt am Ende seine nächsten Blutsverwandten nicht mehr wieder, so wie Petrus den Herrn Jesum verläugnete.« – »Guter junger Mensch, fuhr er fort, sich zum Abschied noch gegen Erwin wendend. »So habe ich auch Dir wohl Unrecht gethan, indem ich Dich als den Mörder meines Hahns angeklagt und fast geprügelt habe. Nun vergieb mir, so wird Dir auch vergeben werden, und es gehe Dir noch wohl auf Erden! Jetzt will ich gehn, und meinen eignen Hahn suchen, der vielleicht noch am Leben ist und sich in den Kornfeldern verlaufen hat.«

»Die Entscheidung über den jungen Delinquenten bleibt noch ungewiß und einer weiteren Untersuchung vorbehalten!« sagte jetzt der Graf, hervortretend, ohne jedoch Erwin geradezu anzureden. »Der Aussage des Todtengräbers zufolge hat er den Hahn, der auf den Schloßhof gehört, muthwillig getötet, und da er, stumm und trotzig, wie er ist und bleibt, diese Aussage nicht widerlegt hat, so wollen wir sie als ein argumentum ex silentio gegen ihn zeugen lassen. Wahrscheinlich ist er ein junger Landstreicher, 128 der heimlich seinen Aeltern entlaufen, und sich auf eine widerrechtliche Weise der väterlichen Ohnmacht entzogen hat, um sich schon in seinen jungen Jahren auf unerlaubten Wegen in der Welt umherzutreiben. Es wird ihm daher gut thun, wenn wir ihn hier einige Tage bei Wasser und Brot einsperren, damit er in sich geht und von jetzt an auf bessere Gedanken kommt!«

Erwin schrak bei diesen Worten zusammen. Es wurde ihm jetzt nicht nur unwiderleglich klar, daß ihn sein Vater gleich auf den ersten Blick erkannt haben müsse, sondern er sah auch, warum ihm derselbe eigentlich zürne, und daß seine heimliche Entfernung mit dem verbannten Großvater die Ursache davon sei. Er schwieg jedoch, und wollte kein Wort zu seiner Vertheidigung sagen. Es war ihm zu Muthe, als beginne von diesem Augenblick ein öder, entblätterter Herbst in seinem Leben, es war ihm, als müsse er sich von nun an fallen lassen mit jeder ehemals blühenden Hoffnung. Nur darin fand er jetzt einen süßen Trost, zu dem Erkerfenster drüben hinaufzublicken, wo er die Gestalt der geliebten Mutter wußte, aber indem er das Auge verstohlen wieder dorthin wandte, bemerkte er traurig, daß auch die Gestalt der Milde plötzlich verschwunden und das Fenster oben leer geworden war. Nun fühlte er sich ganz einsam, und stand wie ein zagender Missethäter da.

129 Da ließen sich leise, eilende Tritte den Gang herunter vernehmen, und es rauschte an den Gesträuchen vorüber, wie wenn Jemand hastig herannahe. Es war Mathilde, und Erwin erblickte die Mutter nur noch zehn Schritte weit vor sich. Sie war es wirklich, und ein banges, freudiges: Ach! Ach! drängte sich unwillkührlich über seine Lippen. Sie hatte die heiße Ungeduld der Mutterliebe nicht länger zügeln können, sie hatte sich überzeugen wollen, ob es wirklich ihr Erwin ist, den sie von oben gesehen. Selbst die Gegenwart des feindlichen Gatten vermochte sie in diesem Augenblick ihres aufgeregten Gefühls nicht zurückzuhalten, und die Sehnsucht, ihren Sohn wieder an's Herz zu drücken, machte sie stark, alles Uebrige, das ihr sonst unmöglich gewesen wäre, zu ertragen. So trat sie, eine hohe rührende Erscheinung, ein schönes leidendes Bild, überraschend, wie aus einer andern Welt, unter die Anwesenden hin. Aber ihr sanftes, blaues Auge suchte mit dem zärtlichen Mutterblick nur ihren Erwin, und keinen andern Gegenstand gab es für sie hier. Sie richtete dies Auge so ausschließend auf ihn hin, daß sie Niemanden sonst im Kreise zu sehen schien, am allerwenigsten den Grafen.

Nun konnte sich Erwin nicht länger halten. Schluchzend rief er ihr entgegen »Mutter! Meine 130 Mutter! Nimm mich in Deine Arme! Dein Sohn ist krank!«

»Erwin! Du bist es! Ja!« flüsterte Mathilde und eilte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.

Da trat Arno einige Schritte zu ihr hin, so daß ihr Blick auf ihn fallen mußte. Von der Verlegenheit, die ihn anfänglich bei ihrem plötzlichen Anblick betroffen, schien er bereits wieder frei, aber mit einer unbeschreiblichen Kälte und Härte in der Stimme sagte er zu ihr: »Ich bitte Dich! Diesen schmutzigen und zerlumpten Landstreicher hältst Du für Deinen Sohn?«

Sie stutzte, sie blickte Erwin noch einmal an, sie richtete ein ernstes Auge halb fragend, halb zürnend auf den Grafen, und die Arme, die aufgehoben gewesen waren, ihren Sohn zu umfangen, glitten bewegungslos wieder herab. Sie stand und sann nach; es schien ihr zu ahnen, was hier vorgehen müsse.

Erwin seinerseits sah sich durch diese Worte des Vaters auf sich selbst aufmerksam gemacht. Er betrachtete sich beschämt und nahm wahr, wie durch seinen Aufenthalt auf dem Kirchhofe, wo er sich auf einem feuchten Grabhügel ausgeruht und durch die Gewaltthätigkeit des Todtengräbers, der ihm in seiner Wuth die Kleider zerrissen, sein Aeußeres in der That so gelitten hatte, daß er die Benennung, die 131 er sich geben hörte, nun wohl begreifen konnte. Nichts ist am Menschen so unbedeutend, das nicht auf seine Stimmung zurückwirkt, und so fühlte sich unser Erwin, nachdem er jetzt erst jene Entdeckung an sich gemacht, nur um so niedergeschlagener, und kam sich ganz wie ein Verstoßener vor.

Mathilde aber blickte spähend in dem Kreise umher, und sie fühlte nun erst deutlich und zitternd, was sie unternommen, da sie sich von ihrem Muttergefühl fortgerissen, hierher gewagt. Sie zweifelte jedoch nicht, daß sie ihren Erwin dort vor sich sähe. Hatte er ja doch zu ihr gesprochen und sie beim Namen gerufen mit seiner wohlbekannten herrlichen Stimme, die an ihm nicht zu verkennen war. Sie streckte noch einmal die Hand nach ihm aus und trat einige Schritte weiter vorwärts.

Dadurch war sie dem Eingang der Laube näher gekommen und ihr Aug fiel jetzt auf Malwinen, die dort auf der Bank saß. Da stieß sie einen lauten gellenden Schrei aus, als wäre sie beim Anblick derselben von einer Schlange im Herzen gestochen worden. Diese hatte sie nicht im Garten vermuthet, diese, nur diese konnte sie nicht sehn. Die Gegenwart aller andern feindlichen Gestalten hatte sie hier ertragen zu können geglaubt, nur nicht die Gegenwart der Buhlerin. Vor ihr fühlte sie sich getrieben, zu entfliehen, es ließ sie nicht länger 132 weilen. Dies ist ein Charakterzug des weiblichen Herzens.

Sie wandte den Rücken und eilte fort, nachdem sie den weißen, flatternden Schleier, der ihr das Haar durchflochten, hastig über das Gesicht heruntergelassen. Sie eilte fort, den Gang des Gartens wieder hinab, nach dem Schlosse zu. Selbst ihren Erwin mußte sie jetzt seinem Schicksal überlassen. Sie konnte nicht anders. – –

Der Graf war feuerroth geworden, und eine ungewöhnliche Heftigkeit, wie sie ihm sonst nicht eigen zu sein pflegte, durchzuckte sein Gesichtsmuskeln.

»Führt ihn nun fort, daß wir mit der Sache einmal zu Ende kommen!« befahl er darauf nach einer Pause den umstehenden Dienern, auf Erwin deutend. »Führt ihn ins Schloßgefängniß!«

Die Diener, denen bei dem halb räthselhaften, halb durch Vermuthungen ihnen aufgehellten Hergang unheimlich zu Muthe schien, standen einen Augenblick zögernd still, ehe sie dem Befehl Folge leisteten. Dann bedeuteten sie dem Jüngling schweigend, ihnen zu folgen.

Er ging schwankend, und sich nur noch mit Mühe auf seinen Füßen erhaltend, hinter ihnen her. Sie führten ihn durch den Garten nach dem Hofe zurück. Dort wurde eine eiserne Kellerthür aufge 133schlossen, die zu dem im Erdgeschoß befindlichen Gefängniß hinunterführte.

Auf dem Hofe gelangt, mußte er vor Erschöpfung still stehen, und wankte halb ohnmächtig in die Arme seiner Begleiter, die ihn mitleidig unterstützten. Während man so mit ihm beschäftigt war, kam auch der Graf in den Hof, und bestieg, ohne sich um die zur Seite stehende Gruppe zu bekümmern, das für ihn in Bereitschaft gehaltene Pferd, auf dem er in wildem Ungestüm davon jagte, wie man selten an ihm zu sehen gewohnt war. Es währte nicht lange, so stieg auch Malwine in den ihrer harrenden glänzenden Jagdwagen, der dem vorangesprengten Reiter eilends nachzukommen suchte.

Erwin, der sich wieder ein wenig zu erholen begann, ließ sich jetzt in das ihm bestimmte Gefängniß geleiten. Er schauderte anfangs zusammen, als ihn die dumpfe Kellerluft anhauchte, in die er hinuntersteigen mußte. Das Kerkerzimmer, in das er gewiesen ward, war jedoch weniger abschreckend, und wurde durch ein vom Waldgestrüpp draußen umflochtenes Fenster, das in den Forst hinausging, mit einigem Dämmerlicht erhellt.

»Wehe über mich!« rief er verzagend aus, als er allein gelassen wurde, und reckte sich zusammensinkend auf das für ihn zubereitete Strohlager hin. Seine völlige Ermattung versagte ihm jedoch jetzt, 134 über sich und sein Schicksal nachzudenken, und des armen Verfolgten, dessen die Menschen sich nicht erbarmt hatten, erbarmte sich bald ein milder Schlaf, durch den sich die noch rege Jugendkraft in ihm zu retten und wiederherzustellen suchte. Er schlummerte und lag einige Stunden in beruhigenden Träumen. – –

 

Alle Welt hat ihn noch nicht vergessen. Seine Mutter gedenkt seiner mit untröstlicher Besorgniß.

Sie hat selbst noch den schmerzhaften Kampf in ihrem Herzen zu bewältigen, nachdem sie jener Scene im Garten mit leidenschaftlicher Angst entflohen war.

Auf ihrem Zimmer angelangt, warf sie sich athemlos in einen Sessel, und lehnte das Haupt lange und schweigend in den Arm, ohne sich zu regen. Ihre kleine Tochter Tony, ein vierjähriges Mädchen, kletterte an der Mutter herauf, um zu sehn, was ihr ihr fehle, und bemühte sich mit kindlicher Geschäftigkeit, ihr den Schleier vom Gesicht herunter zu ziehn. Mathilde ließ es ruhig geschehn, und das Kind betrachtete erschrocken das geisterbleiche Antlitz der Mutter, über das stille Thränen herunter rollten.

»Mutter, bist Du unartig gewesen, daß Du so weinst?« rief die Kleine, und schlang die Aermchen schmeichelnd um den Hals ihrer schönen Mutter.

135 »Du hörst und siehst mich gar nicht!« fuhr Tony klagend fort. »Bist Du mir denn nicht mehr gut? Was hat Tony Böses gethan? Die Puppe hab' ich heut noch nicht geschlagen. Ich habe sie in die Wiege gelegt und in den Schlaf gesungen. Da liegt sie und schläft. Wollte Gott, Mutter, Du schliefst auch so ruhig und fromm, wie meine Puppe. Soll ich Dich auch in den Schlaf singen? Du weißt ja, ich kann ein hübsches Lied!«

Mathilde sah auf und blickte wehmüthig lächelnd auf ihr Kind, das ihr der einzige und süße Trost in ihrer sonst nur dem Kummer gewidmeten Einsamkeit war, und unter dessen traulichem Geplauder und Spielen sie die hinschleichende Last der Stunden weniger drückend fühlte. Sie preßte es an ihren Busen, und hielt es lange mit beiden Armen fest umschlungen wie einen letzten Schatz, den man sich um nichts in der Welt entreißen lassen möchte.

»Ach! wie laut Dir Dein Herz schlägt!« sagte Tony, und faßte mit der kleinen Hand auf den stürmisch wogenden Busen der Mutter. »Höre, Mutter! Du sagst immer, daß ich auch ein Herzchen hier hätte. Warum macht meines nicht auch eben solchen Lärm in mir, wie Deines? Oder ist meines noch zu klein dazu? Dein Herzchen schlägt Dir ja aber gerade, wie dort die große Wanduhr! 136 Laß mich einmal horchen bei Dir? Wie viel ist es denn an der Zeit?«

»Es ist böse Zeit, wenn das Herzchen so schlägt, mein Kind!« sagte Mathilde, und küßte die Kleine. Dann stand sie auf, und trat, mit ihrer Tony auf dem Arm, vor das Fenster, mit stiller Trauer in die weite reizende Aussicht hinausblickend, die von hier aus Garten und blühende Felder und in blauer Ferne großartig hingelagerte Berge übersehen ließ. An diesem Fenster pflegte sie den Tag über meistentheils zu sitzen, mit einer Stickerei arbeitsam beschäftigt, und sowohl durch den Fleiß ihrer kunstgeübten Hand, als an der Fernsicht über die ihr liebgewordene Landschaft hin sich in ihrem Asyl unterhaltend.

»Bist Du im Garten unten gewesen, Mutter?« fragte Tony, zum Fenster hinaussehend. »Warum hast Du mir keine Blumen mitgebracht? Sind nicht unten noch die schönen Blumen? Du gehst jetzt gar nicht mehr mit mir hinab. Und doch müssen die kleinen Kinder auch einmal in die Welt hinaus kommen, hast Du selbst gesagt, wenn sie artig sind, damit sie sich weit und breit umsehen, was der liebe Gott gemacht hat. Sieh' einmal hübschen grünen Bäume an, die da unten in der Welt stehen. Ach, das ist eine Pracht! Und dort, dort eine ganze Strecke lang, nichts als bunte, hübsche Blumen, gerade solche, wie sie uns der 137 Gärtner neulich hergebracht hat, Du weißt doch? Sage mal Mutter, wie viel schöne Blumen gibt es denn eigentlich in der Welt?«

»Im Garten stehen viel schöne Blumen, mein Kind, aber auch viel Dornen, die Dich blutig stechen werden!« sagte Mathilde.

»Sind auch viele Menschen da unten?« fragte das Kind in seiner Einfalt weiter. »Stechen mich die Menschen auch blutig? Ich denke, im Garten unten ist's alle Tage wie Sonntag, und man freut sich blos über die Bäume und die Blumen alle und den Sonnenschein, den der liebe Gott gemacht hat. Höre, Mutter, wie sehen die Dornen aus, die unten in der Welt sind? Sag' es mir und ich will mich schon vor ihnen hüten, daß sie mir keinen bösen Finger machen sollen. Und noch Eins mußt Du mir sagen, bitte! bitte! Gibt es mehr Dornen, mehr gute Menschen oder mehr hübsche Blumen draußen im Garten?«

»Ach, es gibt viele gute Menschen!« entgegnete Mathilde mit ihrem schmerzlichen Lächeln. »Siehst Du, da war Dein Bruder Erwin unten im Garten.«

»Ei, das ist ja herrlich!« rief die Kleine, in die Händchen schlagend. »Warum kommt mein guter Bruder Erwin nicht herauf? Hat er mir nichts mitgebracht?«

138 »Bruder Erwin wird wohl kommen!« entgegete die Mutter seufzend. »Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Du stöhnst schon wieder, Mutter!« sagte das Kind. »Ist Bruder Erwin kein guter Mensch?«

»O, der ist lieb und hold, wie ein himmelblauer Maitag!« entgegnete Mathilde, indem sich ihr die schönen Augen von neuem mit Thränen netzten.

»Und doch weinst Du, Mutter?« fragte das Kind, traurig werdend. »Haben den guten Bruder Erwin vielleicht auch die Dornen draußen blutig gestochen? So laß ihn Zunder auflegen, wenn er einen bösen Finger davon bekommen hat. Ueber die häßlichen Dornen! Warum läßt sie denn der liebe Gott eigentlich wachsen?«

»Ach! Du zerstichst mir das Herz noch mehr mit Deinem kindischen Geplauder!« rief Mathilde, setzte das Kind an die Erde nieder und lehnte sich still weinend in den Sessel zurück. – –


Es war Abend geworden, und im Dörfchen herrschte noch mehr Bewegung und lautes Treiben, als man sonst hier zu finden gewohnt war. Die Landleute standen vor ihren Thüren, und erzählten sich untereinander neugierig von den auf den morgenden Tag bevorstehenden Festlichkeiten, welche, wie 139 das Gerücht ging, zur Feier des gräflichen Geburtstages einmal die öde Stille des Waldschlosses und seiner Umgegend beleben würden. Noch mehr beschäftigten die Aufmerksamkeit für den Augenblick die vor Kurzem auf zwei Wagen angelangten Habseligkeiten einer Thierbude, welche jetzt am Ende des Dorfes auf einem freien Platze aufgeschlagen wurde, und Einige kamen auf die Vermuthung, daß dieselbe ebenfalls dazu bestimmt sein müsse, zu den Ergötzlichkeiten der gräflichen Herrschaft morgen beizutragen. –

Auf einem Stein mitten im freien Felde saß eine hohe Männergestalt in vermummter Tracht, düster vor sich hinstarrend. Ein feuriger Schimmer des verglühenden Abendroths zuckte, ehe es hinter die immer nächtlicher werdenden Wolken verschwand, noch einmal erhellend über die unkenntlich eingehüllte Figur des Pilgrims. Es war der alte Valerian, den wir jetzt an dieser Stelle erblicken.

In einiger Entfernung von ihm waren seine Diener beschäftigt, ein bretternes Haus aufzuschlagen, wie es zu einer Thierbude dienen sollte. Die Käfige der wilden Thiere standen noch abseits auf dem Wagen, auf dem sie fortgeführt worden waren, und von Zeit zu Zeit drangen einzelne schreiende Stimmen aus denselben hervor, deren Gebrüll weit in der stillen Gegend umher wiederhallte.

140 Der alte Graf hatte die grobe Tracht des ehemaligen Besitzers dieser Thiere angelegt, und glaubte in solcher Verkleidung, und unter dem Schutz seiner Umgebungen, die ihn vor jeder Nachforschung verbergen sollten, sicher genug zu sein, um seine geheimen Pläne mit Erfolg zur Ausführung bringen zu können. Zunächst war es ihm darum zu thun, hier in der Nähe Mathildens unbemerkt einen festen Sitz zu gewinnen, und in der Stille sorgfältig zu beobachten, was um seine über Alles von ihm geliebte Tochter vorging, und ob ihre Verfolger etwas Neues ihr zu Leide unternehmen möchten. Von der Anwesenheit Arnos und dem Feste, zu dessen Schauplatz das alte Schloß nicht ohne einen Anschein zweideutiger Absichten bestimmt war, wußte und ahnete er in diesem Augenblick seiner Ankunft noch nichts.

Er hatte seine früheren Diener sämmtlich entlassen, um auf jede Weise einer möglichen Entdeckung vorzubeugen, und dagegen eine neue und zahlreichere Dienerschaft angenommen, die nur zur Pflege und Wartung der Thiere bestimmt schien. Es waren treue, wohlerprobte Leute, welche er sich durch besondere Mittel zu gewinnen gewußt, und außer jenen unverdächtigen Zweck hatten sie offenbar die Bestimmung, wie sich schon nach ihrer ungewöhnlichen Anzahl vermuthen ließ, ihm im Verfolg seiner weitern Unternehmungen zu dienen. Auch in 141 Bezug auf diese Pläne war der Ort, an welchem sich Valerian hier befand, wegen der Nähe der nur zwei Meilen davon entfernten Residenz der günstig gelegenste, indem er sich von hier aus mit seinen dortigen Freunden am zweckmäßigsten in eine geheime Verbindung setzen zu können meinte.

Einige Schritte von Valerian stand Isabelle, in ihrem schwarzdunkeln Kleide. Sie blickte aufmerksam nach den Arbeitern, welche das Haus errichteten, und trat dann zuweilen zu den Thierkäfigen heran, um nach ihrem Liebling, dem Löwen Hyacinth, zu sehn, oder sie hatte, ab- und zugehend, den Dienern Anordnungen zu geben, damit Alles nach den Wünschen ihres Beschützers in der häuslichen Einrichtung ihrer herumziehenden Wirtschaft gemacht werde. Ernst und klug wie sie war, konnte sich Valerian in dieser Hinsicht ganz auf sie verlassen, und sie strebte absichtlich danach, ihm in allen Dingen zuvorkommende Dienste zu erweisen. Aber von jedem zutraulicheren Verhältniß hielt sie sich mit einer gewissen ängstlichen Scheu entfernt, so sehr sich auch Valerian bemühte, dem verwaisten Mädchen, für das er immer mehr Zuneigung faßte, durch freundliche und innige Begegnung eine Stellung zu sich zu geben, die erheiternder und wohlthätiger auf sie zurückwirken könne. Sie war indeß nicht mehr Kind genug, um noch in unbefangener Hingebung 142 die Schranke zu durchbrechen, die sie zwischen sich und Valerian obwalten fühlte, und so beharrte sie mit der wunderbaren Strenge ihres Charakters fast eigensinnig darauf, daß sie sich nur als seine Magd betrachtet wissen wolle. Sie that ihm oft, ohne daß er es wehren konnte, die niedrigsten Dienste, zu deren Ausübung sie selbst durch die bessern und höheren Anlagen ihrer Natur nicht bestimmt zu sein schien. Als er sie einst deshalb liebevoll zur Rede stellte, antwortete sie mit Heftigkeit : »Ein armes Mädchen, dem ihr Vater gestorben, ist nicht wie glücklicher Leute Kind. Sie muß arbeiten, sie muß trauernd in der Welt umherlaufen, sie muß schweigen, dulden und sich nicht freuen!« Dann verneigte sie sich demüthig vor ihm, und ihr blitzendes Auge drang dabei sehnsüchtig in die weite Ferne, als wünsche sie sich in eine unbekannte Gegend fort. Hatte sie ihre Arbeiten, von denen man sie nicht abhalten konnte, gethan, dann verbarg sie sich auch oft den übrigen Theil des Tages, und Niemand wußte, wo sie war. Selbst des Nachts, hatte Valerian bemerkt, sprang sie von ihrem Lager auf, wenn draußen heller Sonnenhimmel war, der überhaupt eine besondere Anziehung auf sie ausübte. Sie kleidete sich dann an und eilte allein in's Freie, in den einsamen Wald hinaus. Hier schien sie das Andenken ihres todten Vaters auf stillen gedankenvollen Spaziergängen zu 143 begehn, denen sie sich mit der ihr eigenen Furchtlosigkeit auf nächtlichen Wegen überließ, und da sie am Morgen stets wohlbehalten und sichtlich erfrischt wieder zurückkehrte, so ließ sie Valerian endlich gewähren, nachdem er gesehn, daß er sie durch seine Ermahnungen, die alle bei ihr vergeblich waren, nur noch mehr gegen sich verschüchtere. –

»Hier sitz ich« – sagte jetzt Valerian zu sich selbst, sinnend und sorgenvoll in die Abendwolken starrend – »im wunderlichen Thun und Treiben begriffen! Ein grober Kittel umhüllt meine Glieder, und auf Verstellung und Vermummung bin ich ausgegangen, um mich den Menschen unkenntlich zu zeigen in meiner eignen Gestalt! So treibe ich Fastnachtskomödie mit mir selbst und meinem Aussehn, und verkleide mich trügerisch in ein anderes Bild meiner selbst! O, daß der Mensch doch unaufhörlich mit seinem Aeußern betrügen muß, er trage nun bloß die Maske seiner Erschaffung an sich, oder setze noch künstlich Maske auf Maske, wie ich heut! Und doch beurtheilen sich die Menschen noch einander nach ihrem Aeußern, und lassen es sich angelegen sein, ja machen eine Wissenschaft daraus, sich an den Gesichtern abzulauern, was in ihren unsichtbaren Gedanken vorgeht, und ob man sich Gutes oder Böses von einander zu versehen habe. O ungeheure Narrheit, die mich verblendete! Was ist des Men 144schen Gesicht anders als ein dunkel vorüberfliegender Schatten des Augenblicks, den er selbst nicht beherrscht! Schreiende Ungerechtigkeit übst Du aus, wenn Du den Menschen nach seinem Aeußern würdigst, und das Unsterbliche in ihm nach seinem sterblichen Theil an ihm richtest! Das Aeußere kann kein klarer Spiegel des Innern sein, weil die menschliche Natur überhaupt kein Ganzes ist, sondern in tausend unwillkürlichen Strahlen sich bricht und verliert! Ausgesetzt dem scharfen Lebenswind, der es verkümmert, und den peitschenden Ruthenschlägen des Unglücks, die es durchfurchen, kann unser Aeußeres längst einer verfallenen und umgestürzten Göttersäule ähnlich sehn, während doch noch an einer tief verborgenen Frühlingsstelle der Seele die Gottheit in uns ihren Altar hat. O über die Trüglichkeit der menschlichen Erdenerscheinung! Hinter der spöttischen Verzerrung unseres Gesichts verbergen sich oft unsere schönsten und weichsten Gefühle, die wir aus falscher Scham nicht auftreten lassen mögen, wie sie sind, in der Welt, welche uns meistenteils zu vornehm und zu nüchtern dünkt für Gefühle! Möchten sich doch die Menschen oft verkleiden, wie jetzt, und in Faschingstracht abwechselnd einhergehn, um die Unwahrheit und Lügenhaftigkeit unserer äußern Gestalt recht lebendig zu empfinden!« –

In diesem Augenblick fühlte er sich von einer 145 weichen Hand berührt, die ihn sanft auf die Schulter klopfte. Isabelle stand vor ihm und sagte mit ernsthafter Gebärde, ohne ihn jedoch in ihrer Anrede zu nennen, was sie immer vermied: »Sieh! Dort spricht schon lange ein fremder Mann mit Deinen Dienern. Er sagt ihnen etwas Geheimes, denn er flüstert verborgen mit ihnen. Ist das recht?«

Valerian blickte nach der bezeichneten Stelle hin, wo sich seine Leute befanden, und sah einen Unbekannten, der in einem eifrigen Gespräch mit denselben begriffen schien. Der alte Graf stutzte, und trug dem wachsamen Mädchen auf, ihm einen der Diener herbeizurufen.

Es war Stephan, der Jäger des Grafen Arno, der sich mit Valerians Leuten, denen er unvermuthet hier auf dem Felde begegnet war, in eine Unterredung eingelassen. Stephan hatte von seinem Herrn den Auftrag erhalten, zur Beihülfe bei den morgenden Festlichkeiten noch einige geschickte Leute aus der Umgegend anzuwerben, denen besonders die Ausführung eines noch nachträglich von Arno ersonnenen Scherzes mit Vertrauen übertragen werden konnte. Graf Arno war nämlich nach jener Unterredung mit Malwinen, in der sie ihm ihre naive Furcht vor Räubern auf dem öden Schlosse gestanden, auf den Gedanken gekommen, sich nach seiner Weise an dieser ihrer Furchtsamkeit ein Ergötzen zu bereiten, und 146 demgemäß einen künstlichen Räuberüberfall gewissermaßen theatralisch zu veranstalten, der auch die übrige Gesellschaft, deren Besuch morgen erwartet wurde, mitten im rauschendsten Lärm der Freude unterbrechen, und nachdem dadurch die festliche Stimmung in ein plötzliches Schrecken übergegangen war, zuletzt lächerlich enden und so wieder eine allgemeine Heiterkeit hervorrufen sollte. Dieser Plan war zugleich darauf berechnet, den anwesenden Herren Gelegenheit zur ritterlichen Beschützung ihrer Damen zu geben, und ihnen durch Beweise der Tapferkeit, die sie alsdann ablegen konnten, Ansprüche auf Gunst und Dank bei denselben zu erwerben; und es fehlte nur noch an einer hinreichenden Anzahl tauglicher Leuten die, dazu sich benutzen lassend, zur rechten Stunde aus dem Walde hervorbrechen mußten, um die neben dem Schloß im Freien versammelte Gesellschaft zu überfallen, ohne jedoch mehr als durch die Ueberraschung und schreckhafte Drohungen zu wirken. Die weitere Veranstaltung dieses im Einzelnen noch mannigfach ausgeschmückten Scherzes hatte Arno seinem vertrautesten und gewandtesten Diener Stephan überlassen, der in der Eil, die ihm auferlegt war, sich vor Allem zuerst bemühte, die dazu passenden Leute aufzufinden. Indem er den Dienern der eben angelangten Thierbude begegnete, welche durch ihr ungewöhnlich kräftiges und stämmiges Aussehn und zugleich in der niedrigen 147 und schmutzigen Tracht, in welche sie Valerian aus Absicht gekleidet hatte, ihm ganz außerordentlich zu diesem Zweck geeignet schienen, suchte er sie jetzt seiner Absicht bekannt zu machen, und durch ansehnliche Versprechungen dafür zu gewinnen. Die Leute Valerians, über die Sonderbarkeit des ungewöhnlichen Antrags lachend, verwiesen ihn an ihren Herrn, ohne dessen Erlaubniß sie nichts unternehmen dürften.

Stephan näherte sich dem alten Grafen, der, noch auf dem Feldstein dasitzend, ihm mit argwöhnischen Blicken entgegen sah, und sich bei seiner Ankunft den Hut tiefer in die Stirn herabdrückte. »Guten Abend, Freund!« grüßte der Jäger. »Was bewegt Dich, hier bei dem abgelegenen Dorf Deine Bude aufzuschlagen, wo Du keinen Zuspruch finden wirst für Deine wilden Thiere und andern Sehenswürdigkeiten?«

»Ich mach hier einige Tage Rast!« entgegnete Valerian. »Ich bin unterwegs krank geworden. Dann ziehe ich weiter in die Residenz, wenn ich mich ausgeruht. Was fragst Du danach? Wer bist Du?« Stephan gab sich zu erkennen und brachte sein Gesuch an, ihm die Leute zur Ausführung der betreffenden Lustbarkeit, von der er kurz erzählte, herzugeben, indem er ihm dafür den Dank seines Herrn verhieß.

148 »Dein Herr heißt Graf Arno!« rief Valerian, indem er sich zuckend in den Busen griff, faßte sich aber schnell, und suchte ein gleichgültiges Ansehn zu behaupten. »Bewohnt Dein Herr für immer das Waldschloß, von dem Du sprichst, oder hält er sich nur für diesen Augenblick hier auf?« fuhr er, in unbefangener Absicht fragend, fort.

»Er begeht hier nur ein Fest!« war die Antwort – »und es ist ihm sonst das ganze Jahr nicht in den Sinn gekommen, hier einzukehren, und die Eulen und Uhus auf dem alten Schloß aufzustören. Große Herrn haben ihre Launen.«

»Er ist hier!« rief Valerian, der sich bei dem Gedanken, daß Arno mit seiner unvermutheten Anwesenheit auf dem Schlosse eine neue Absicht auf Mathilden verbinden könne, nicht mehr zu halten vermochte, und sprang so wild auf, daß der Andere betroffen vor ihm zurücktrat.

»Es ist gut!« sagte er dann nach einigem Besinnen. »Ich will Dir meine Leute nicht vorenthalten. Du kannst sie benutzen und zu Deinem Zweck vorbereiten, wie Du willst. Ich werde sie Dir schicken, wann sie ihre nötigsten Arbeiten hier gemacht haben.«

Der Jäger dankte und ging, nicht ohne einen scheuen Seitenblick auf den seltsamen Fremdling zurückzuwerfen, dessen Wesen ihm mehr als räthselhaft erschien.

149 Valerian rief nach Isabellen. Sie aber war fort und nirgends zu sehen. Der schöne große Abendstern, an den sie immer am liebsten ihr Auge hing, und der eben über dem nahen Buchenwald auftauchte, mochte sie herausgelockt haben zu einem einsamen Spaziergang.

Er ging mit unruhigen Schritten auf und nieder und schien sich lebhaft mit Dem zu beschäftigen, was er in seinen Gedanken herumtrug. –


Der andere Tag war herangekommen, und mit ihm das glänzende Fest, zu dessen auserlesener Feier Graf Arno seine ganze Erfindungskraft in Bewegung gesetzt hatte.

Schon früh gegen Morgen begann es in dem Umkreis des Schlosses lebendig zu werden. Zahlreiche Equipagen langten aus der Hauptstadt an und führten eine reichgeschmückte Gesellschaft schöner und vornehmer Damen und Herren herbei. Später kamen einige Wagen, angefüllt mit Tänzern und Tänzerinnen des fürstlichen Hoftheaters, welche durch ihre beliebten Talente zur Erhöhung der heutigen Lustbarkeiten beitragen sollten. Arno hatte eine solche vorherrschende und leidenschaftliche Neigung für Tanz und Tänzerinnen, daß er sich nicht leicht bei irgend einer festlichen Gelegenheit freuen konnte, ohne seine Lieblingsunterhaltung dabei befriedigt zu sehn, und 150 da seine Vorliebe in dieser Hinsicht mit der seines Fürsten glücklich zusammentraf, so fehlte es ihm deshalb in der Residenz nie an Mitteln, sich ihr zu seinem Ergötzen hinzugeben. Heut vornehmlich sollten die tanzenden Grazien eine ganz besonders reizende Leistung ihrer verführerischen Kunst bei der ländlichen Feier zur Schau bringen.

Rauschende Festmusik klang in Schloß und Wald wieder, und begrüßte mit jubelnden Tönen die Ankunft der Gäste. Eine Schaar Neugieriger aus der Umgegend hatte sich vor dem Schlosse versammelt, und bildete hier eine gedrängte Zuschauerreihe, die sich in Erwartung und Bewunderung auf- und abwegte. Unter diesen stand auch Isabelle, vom Schall der Musik herbeigelockt, einen Augenblick, und erhob lauschend ihr Köpfchen, um zu sehn, was hier vorging.

Dann verließ sie in sich gekehrt den Kreis und wandte sich, um von dem geräuschvollen Ort wieder zu entkommen, auf einen wenig betretenen, engen Fußsteig, welcher, von Gestrüpp und Gebüsch durchwachsen, sich dicht an der Schloßmauer herumschlängelte. Solche Wege waren ihr die liebsten, und es machte ihr Freude, auf ihren einsamen Spaziergängen statt der gebahnten Pfade immer diejenigen einzuschlagen, auf denen sie sich mit Anstrengung durch Busch und Strauch hindurchwinden mußte.

151 Sie fand sich diesmal auf dem mühsamen Wege, den sie in der Meinung verfolgte, daß er um das Schloß herum und zu einem auf das Feld abbiegenden Ausgang führen müsse, durch eine reiche Ausbeute für ihre Lieblingsneigung entschädigt. Diese bestand darin, Waldblumen zu suchen, und es boten sich ihr hier, mitten unter wucherndem Unkraut versteckt, die schönsten dar, die sie wohl je gesehen hatte. Sie drang, sich dieselben pflückend, tiefer und tiefer in das Gebüsch hinein, und die Musik tönte von der Vorderseite des Schlosses her immer ferner und schwächer zu ihr herüber.

Jetzt schien sie an ihrem Fund genug zu haben, und drückte sich erfreut den duftigsten Waldblumenstrauß, den sie zusammengelesen hatte, in das Busentuch. Da war es ihr, als höre sie plötzlich leise, aber deutlich ihren Namen rufen. Sie blickte sich verwundert nach allen Seiten um, konnte aber in dem dichtesten Buschwerk, das sie rings umgab, Niemanden gewahr werden. »Wer ruft mich?« entgegnete sie endlich laut mit der entschlossenen Dreistigkeit, welche sie nie verließ.

»Isabelle!« wiederholte dieselbe Stimme, die ganz in ihrer Nähe befindlich schien, mit klagendem Ausdruck. »Biege nur den großen Hambuttenstrauch zurück, und Du wirst sehn, wo ich bin.«

Isabelle überzeugte sich jetzt, daß die Stimme, 152 die ihr so wunderbar bekannt klang, aus dem Kellergeschoß des Schlosses kommen müsse vor dem sie sich befand. Sie versuchte, sich hinter den Strauch zu drängen, der ihr bezeichnet worden war, und nachdem es ihr nicht ohne große Mühe gelungen, sah sie hier plötzlich ein mit ehernen Stäben beschlagenes Fenster vor sich, das aus dem untern Gewölbe des Schlosses heraufführte.

Hinter dem eisernen Gitter saß unser Erwin. Es war sein Gefängniß, in dem er seit gestern verlassen und einsam schmachten mußte. Da wurde ihm, als er heut zu seinem trüben Kerkerfenster emporgeklettert war, um nicht immer auf dem öden Strohlager unten zu sitzen, eine große, unverhoffte Freude zu Theil, von welcher der über die Ungerechtigkeit des Geschicks Seufzende in diesem Augenblick kaum zu träumen gewagt hatte. Er erblickte durch eine Ritze des Gesträuchs, das sich vor seinem Gitter aufrankte, jenes ihm so liebenswerth geschienene Mädchen wieder, dessen stiller eigentümlicher Zauber seit der ersten seltsamen Begegnung nie wieder aus seinem Andenken verschwunden war. Sie selbst konnte ihn nicht eher sehn, als bis sie sich durch die das Fenster verdeckenden Zweige hindurch gewunden hatte.

Jetzt stand sie vor ihm, und er streckte ihr die Hand durch das Gitter entgegen, das wenigstens so viel Freiheit ihm zuließ. Sie schien noch immer halb 153 zweifelhaft, für wen sie die dunkle Gestalt, die drinnen in dem finstern Gewölbe keine Beleuchtung empfing, halten solle. Da sagte er zu ihr. »Du kennst mich wohl nicht mehr, und kannst mich nicht erkennen. Ich bin der arme Erwin.« »Ja, Du bist es!« rief sie freudiger, als man sie je zu sehen gewohnt war. – »Aber wie kommst Du hieher? Wer hat Dich hier eingesperrt in dem häßlichen Loch?« fuhr sie, wieder ernst werdend, fort.

»Ach Isabelle!« entgegnete er: »frage doch danach nicht! Ich bin ja schon so glücklich, daß ich Dich wiedersehe.«

»Ich habe wohl auch Tag und Nacht gewünscht, Dir wieder einmal zu begegnen!« sagte sie leise, und ließ ihm ihre Hand in der seinigen. »In Thränen sahen wir uns das erste Mal, und in Thränen sehen wir uns jetzt wieder. Denn ich muß weinen, wenn ich denke, daß Du da drinnen sitzest hinter dem schwarzen Gitter. Junge Leute, wie wir, müssen schon so viel weinen. Ach, wer hat Dir das zu Leide gethan, mein trauter Erwin?«

»Nenne mich noch einmal Deinen trauten Erwin!« sagte er voll inniger Freude »dann ist's mit all meinem andern Leid nicht viel werth!«

»Ich werde Dir Deine Aussicht frei machen!« erwiderte sie ablenkend, und riß mit ihrem kräftigen Arm das Gestrüpp nieder, das vor dem 154 Fenster des Gefangenen aufgeschossen war. – »Nun erzähle mir, was Dir begegnet ist, und ob ich Dir helfen kann?« sagte sie dann, mit hochrothen Wangen wieder zu ihm hintretend.

»MeinVater! Mein Vater!« entgegnete Erwin mit abgebrochner Stimme; – »er ist jetzt hier auf dem Schlosse! Er hat mich nicht gekannt, als ich kam, und hat mich als einen Landstreicher hier einsperren lassen in diesem Gefängniß!«

»Ach,« sagte sie, gen Himmel blickend; – »soll ein Vater seinen Sohn für einen Landstreicher halten? Doch warte nur! Du sollst nicht länger hinter Deinem Gitter sitzen, armer Freund! Ein Mensch gedeiht nicht in einem Käfig! Ein Mensch muß frei sein!«

»Laß mich, laß mich nur, Isabelle!« seufzte er. »Der ganze schöne Lebensmuth ist mir doch nun einmal gebrochen! In der stillen Verborgenheit des Gefängnisses will ich mich in Klagen sättigen über meinen Kummer.«

»Hast Du Kummer und Klagen, Freund?« entgegnete sie – »dann geh lieber in großen stillen Wald hinaus, und schweife so lange, bis Du müde wirst, über Berg und Thal! Da kannst Du klagen und trauern, bis das Morgenroth kommt, und kein Mensch wird Dir ansehn, daß Du die ganze Nacht geweint hast, so frisch und froh macht 155 Dich Dein Kummer, den Du unter freiem Himmel Dir muthig aus dem Herzen klagst! O den freien Himmel mußt Du Dir nie nehmen lassen! In einem Gefängniß ziemt es sich nicht für Dich, zu klagen und zu trauern! In deinem Gefängniß könnte ich nur zornig sein! Das mußt Du zerbrechen, aber Deine Klagen und Dein Kummer müssen nicht gegen die engen, schmutzigen Wände eines Gefängnisses schlagen; des Menschen Kummer ist groß genug, um gegen den hohen Himmel hinanzuschlagen, der ihn ruhig und mild anhört.«

Nachdem sie dies gesagt, ergriff sie mit der Hand prüfend die Eisenstäbe, welche das Fenster umgitterten. Sie schüttelte einige Male heftig daran, um sich von ihrer größeren oder geringeren Festigkeit zu überzeugen. Dann stand sie nachdenkend, und schien über ein Mittel zu sinnen, wie sie ihrem gefangenen Freund helfen wolle.

»Wie gern schweifte ich an Deiner Seite über Berg und Thal!« entgegnete Erwin jetzt ihre obige Rede. »Bis das Morgenroth kommt und geht, wollte ich mit Dir wandern, und nie müde werden, Dich anzusehn, und zu Dir zu sagen: Du geliebte Freundin!«

»Laß uns nur erst bedenken, wie wir Dich befreien!« erwiederte sie. »Die eisernen Stäbe vor Deinem Fenster sitzen sehr fest, und ich kann sie mit 156 meiner kleinen Hand nicht erschüttern. Sie müssen aus der Mauer herausgeschlagen werden, und dazu will ich nur erst die Werkzeuge herbeiholen. Doch wird es nöthig sein, daß wir die Nacht abwarten, denn draußen bei Tage lärmt jetzt Alles und freut sich, und wir könnten leicht verrathen und betroffen werden. In der Nacht vollbringt sich Alles schöner und leichter. Die Nacht ist gut und ernst und feierlich. Sie deckt und schützt uns mit ihren tiefen Schatten!«

»Und Du willst schon wieder von mir gehn?« klagte Erwin, da sie ihm die Hand wie zum Abschiedsgruße noch einmal durch das Gitter reichte.

»Ja!« versetzte sie – »soll ich nicht Deinem Großvater davon erzählen, daß Du hier bist? Dort hinter dem Dorfe ist er und wir sind gestern angekommen. Ich diene ihm. Er wird zürnend sein Haupt schütteln, wann er hört, was sie Dir gethan haben, denn es ist ein großer Zorn in ihm, vor dem ich so viel Ehrfurcht fühle, wie ich als Kind immer vor dem Donner hatte. Er wird mir helfen, Dich aus Deinem Kerker zu führen!«

Erwin versank bei der Erinnerung an seinen Großvater in ein langes sinnendes Schweigen. »Nein! Nein! Isabelle!« sagte er dann – »erzähle meinem Großvater Nichts von mir. Er hat mehr und Größeres auszuführen, als seinem armen Erwin zu helfen. 157 Es könnte ihn nur hindern in Dem, was er sonst zu thun vorhat. Ich will auch nicht, daß noch um meinetwegen, um eines zerknickten Bäumchens willen, Aufsehn und Streit in der Welt entsteht. Du sollst die einzige Freundin sein, der ich mein Leid anvertraue!«

»So will ich Dich denn allein befreien,« rief sie mit leuchtenden Augen. »Lebe wohl! Ich kehre wieder, wann es dunkelt und die Nachtschatten kommen. Lebe wohl!«

»O könntest Du bleiben!« entgegnete Erwin. »Der Tag wird mir lang werden, bis ich Dich wiedersehe.«

»Ich muß schnell fort!« versetzte sie. »Ich muß noch arbeiten und Dienste thun, um nicht dem lieben Gott den heutigen Tag abzustehlen. Lebe wohl!«

»So schenke mir Deinen Blumenstrauß, den Du im Busen verwahrst!« bat er darauf. »Er soll mir Trost und Unterpfand sein, daß Du bald wiederkehrst.«

Da nahm sie die schönen frischduftenden Waldblumen aus dem Busentuch hervor, drückte einen Kuß darauf, und gab sie ihm dann beschämt durch das Gitter hin. Er konnte nicht aufhören, den Strauß zu küssen, als er ihn aus ihren Händen empfing.

»Ich habe die schönen wilden Blumen selbst 158 hier gepflückt!« sagte sie. »Aber nun laß mich auch gehen. Lebe wohl!«

»Lebe wohl! Lebe wohl!« rief er ihr noch lange nach, als sie schon pfeilschnell hinter den Gebüschen verschwunden war. –


Mit dem herannahenden Abend sollte der glänzendste Theil der Festlichkeiten beginnen, die zur Unterhaltung der im Schlosse versammelten Gäste vorbereitet waren. Nachdem man sich nach aufgehobener Tafel in getrennten Paaren durch den Wald vertheilt und in den schönsten mit allen Reizen einer romantischen Natur geschmückten Partieen desselben umherwandelnd ergangen und ergötzt hatte, sahen sich Alle plötzlich an dem Ufer eines Sees vereinigt, der den Wald an dieser Gegend nach seiner Breite hin durchschnitt. Der kühle, blinkende Wasserspiegel lockte Jeden zu den Fluthen hin, die in der gaukelnden Sommerlust ihrer Wellen immer die Sehnsucht zu rufen scheinen, mit ihnen spielende Ausflüge zu machen in die Ferne und Weite, und siehe da! ehe es die am Ufer Verweilenden noch erwartet hatten, wurde hinter der mit Erlen gewachsenen Krümmung des Sees, welche eine Bucht bildete, eine Anzahl festlich geschmückter Gondeln sichtbar, die mit ihren flatternden bunten Wimpeln fröhlich näher zu schwimmen begannen, und wie dienstfertige 159 Delphine den Damen und Herrn ihre Rücken darboten, um auf ihnen die einladendste Spazierfahrt zu unternehmen.

Die Gesellschaft stieg ein und ließ sich auf den anmuthig dahingleitenden Fahrzeugen in den See hinaustragen. Wie sprühende Rubine schimmerten und bewegten sich die Wellen in der feurigen Abendsonnengluth, die von dem wolkenfrei lächelnden Himmel herab weit über Wasserspiegel und Waldufer hin ihren feierlichen Wiederschein leuchten ließ. Sanftathmende Westwinde setzten sich in das leichte Segelwerk der Gondeln und beflügelten im raschen Takt ihren Wandellauf durch die Wogen; aber in demselben Augenblick, wo sich die Fahrzeuge bewegten, ertönte zugleich das Geflüster einer nahen Musik in einer rauschenden Fülle von Accorden, von denen Luft, Himmel und Erde wie geisterhaft wiederzuklingen schienen. Man blickte sich überrascht um, aber gewahrte zuerst nichts, als im Wasser eine Anzahl ziehender Schwäne, die der Spur der Gondeln in einiger Ferne folgten, und denselben wie ein bestelltes Geleit rudernd nachschwammen, so daß es den Anschein hatte, als gingen von ihnen die lispelnden Harmonien aus, welche plötzlich die lustfahrenden Kähne zu umtönen angefangen.

»Schwanenmusik! Schwanengesang!« rief die lebhafte Malwine. »Bedeutet das kein Unglück? Mir 160 wird schon ganz schaurig und ahnungsvoll zu Muthe, als sollte diese Wasserpartie mein Schwanenlied sein, und mein letztes Labsal!«

Man lachte, und war unterdeß über den Ursprung der Musik in's Klare gekommen. Es waren nämlich Windharfen in den Segeln der Fahrzeuge versteckt angebracht, welche, sobald der Luftzug in die Wimpel blies, den lieblichsten Sphärenmelodieen gleich zu tönen begannen. Diese neue und angenehme Unterhaltung schien jedoch bald wieder, nachdem man sich an ihr gesättigt hatte, ihren Reiz zu verlieren, und die Damen beklagten sich allgemein über Kopfschmerzen, die ihnen das beständige und fein die Nerven berührende Klingen der Windharmonica über ihren Häuptern verursachte. Man begnügte sich, den See zur Hälfte durchschnitten zu haben, die Kähne wurden umgewandt, und kehrten wieder eiligeren Laufes nach dem Ufer zurück, von wo man ausgegangen war. –

Hier die Gesellschaft, nachdem sie ausgestiegen, wie durch einen Zauberschlag Alles verändert und umgeschaffen. Prächtige Zelte hatten sich unterdeß am grünen Seegestade erhoben und luden sowohl zu einer behaglichen Ruhestelle, als zu willkommenen Erfrischungen ein, mit denen sie reichlich versehen waren. Man ließ sich nieder und erfreute 161 sich des schönen Platzes, der die mannigfachsten Annehmlichkeiten in sich vereinigte.

Die Gondeln stießen in den See zurück, über dem indeß das immer mehr sich verdunkelnde Abendroth, mit der Dämmerung im Streite, ein wallendes Netz von gegen einander kämpfenden Lichtern, Farben und Schatten ausgesponnen hatte. Die in die Wasserferne hinausrudernden Kähne machten jedoch in einiger Entfernung vom Ufer plötzlich wieder Halt, rückten in horizontaler Richtung mit ihren Seiten neben einander, und ehe man es noch vom Gestade aus bemerkte, hatte sich aus ihnen mit Hülfe des geschickten Maschinenmeisters, der sein Werk mit magischer Eile zu betreiben wußte, eine neue Wundererscheinung hervorgebildet. Die Wimpeln der Gondeln waren plötzlich abgenommen, und ihre neben einander gerückten Verdecke dergestalt zusammen befestigt und mit einem Teppich überbreitet worden, daß sie einen erhöhten, aber ebenen Boden darstellten. Es hatte den Anschein, als sei durch das Walten einer Meerfee auf Einmal eine Zauberinsel im Wasser emporgestiegen, von deren duftigen Orangerieen, mit denen sie geschmückt war, nach allen Seiten hin Wohlgerüche ausströmten, und die eigentümlich färbende Abendbeleuchtung sowie der Standpunkt der Zuschauer am Ufer begünstigten die reizende Täuschung auf das Vollständigste.

162 Es währte auch nicht lange, so belebte sich die Feeninsel mit schönen Nymphengestalten. Luftige Naiaden schienen ausgestiegen zu sein und ihre Feierstunde in entzückenden Tänzen zu begehn. Ein anhaltender Beifallsruf hieß sie von Seiten der Zuschauer willkommen. Es waren die allbeliebten Tänzerinnen, die im Begriff standen, ein glänzendes Ballet unter ganz neuer Scenerie hier auszuführen.

Die schwimmende Insel, welche den hüpfenden Grazien zur Bühne diente, war unterdeß dem Ufer wieder so nahe gerückt worden, daß keine ihrer wie von Flügeln getragenen Bewegungen den hingerissenen Zuschauern entging. Indeß vertiefte sich der Abendhimmel bald immer mehr in sein schwärzeres Nachtdunkel, und dieß schien nur das Zeichen zu einer neue Wendung der Scene zu sein. Die tanzenden Najaden erschienen plötzlich mit leuchtenden Fackeln in den Händen, und begannen nach dem leichtern Vorspiel ihrer Kunst, durch das sie bisher nur die Erwartung gespannt hatten, jetzt einen pantomimischen Fackeltanz darzustellen.

Die Nacht fing an sich wieder künstlich zu erhellen, und im Wasserspiegel blitzten phantastisch die Lichterscheine und die schwebenden, schlanken Gestalten wieder, die sich in ihrem Tanzspiel unnachahmlich schön, bald pathetisch ernsthaft, bald tändelnd und scherzend, bald melancholisch langsam und leise, 163 bald trunken im bacchantischen Taumel und mit leidenschaftlicher Schnelligkeit, gegen und durch einander bewegten und in abwechselnden Paaren traumbilderartig in einander schlangen. Die Schönheit der Körper gewann in der sie umfließenden geheimnisvollen Stille der nächtlichen Natur einen fast geistig Reiz, und es schien eine Feier der Schöpfung von begeisterten Priesterinnen begangen zu werden, die, von dem heiligen Dienst berauscht, durch ihren Enthusiasmus sich hätten hinreißen lassen zu dem wunderbaren Reigen, in dem sie sich drehten. Der Wald umher ruhte wie in stille Betrachtung des schönen Abenteuers versunken, das sich in seinem Revier ereignete, in dem er sonst um diese Stunde nur schwankende Nachtgespenster zu sehen gewohnt ist. Wie reizend aber waren die Nachtgespenster heut erschienen! Unter der zuschauenden Gesellschaft in den Zelten schwieg die Bewunderung nicht, sondern that sich vom leisen Ach! bis zum lauten Händeklatschen immer stürmischer kund.

In diesem Augenblicke erhob sich jedoch plötzlich von den naheliegenden Gebüschen her ein dumpfer Lärm, der Anfangs von den mit ihrer Freude Beschäftigten nicht beachtet wurde. Er schien aber bald näher und näher zu kommen, Waffengeklirr wurde vernehmbar, und ein wilder Haufe vermummter Männer stürzte mit schreckenerregendem Geschrei auf 164 das erste der Zelte hervor. Noch ehe man Zeit hatte, sich über die unerwartete Veränderung der Scene zu besinnen, sahen sich Herren und Damen von den Räubern dicht umzingelt, die unter entsetzlichen Drohungen sich nur die Auslieferung aller Schmucksachen der Damen ausbedungen und dann friedlich und ohne Gewalttätigkeit wieder abzuziehn versprachen.

Die Tänzerinnen, mitten in ihren herrlichsten Bewegungen plötzlich wie angewurzelt, hatten vor Schreck ihre Fackeln in den See gleiten lassen, in dem sie knisternd verloschen. Alle Zauberstimmung, die in den Gemüthern geherrscht, fing an vor der kläglichen Wirklichkeit zu weichen, von der man sich jetzt bedroht sah, und es entstand ein allgemeines Getümmel und rathloses Umherbewegen, man wollte sich zur Wehre setzen, während Andere Miene machten sich zu ergeben, und alle Hülfsmittel, die in der Eile ergriffen werden sollten, dienten zu Nichts als die unbeschreibliche Verwirrung des ganzen Kreises nur noch mehr zu erhöhen.

Graf Arno weidete sich mit sichtbarem Behagen an dem Getümmel, in dem er selbst mit eingeschlossen war. Mit übereinandergeschlagenen Armen stand er ruhig da, und lachte fast laut, als er die Gebärden einiger jungen Officiere von der Gesellschaft wahrnahm, die, von ihren heldenmütigen Schönen zum Widerstand aufgefordert, sich bisher noch ver 165geblich bemüht hatten, ihre Degen aus der Scheide zu bringen.

Malwine näherte sich ihm und schmiegte sich ängstlich an seine Seite. »Siehst Du!« sagte sie; »habe ich nicht Recht gehabt? Du hast uns alle in's Verderben gestürzt hier in Deinem öden unheimlichen Walde! Nun rette mich, schaffe Rath. Denn Du wirst doch nicht zugeben, daß ich meine Preziosen, die ein Andenken der Liebe von Dir sind, an die Räuber ausliefern soll?«

Sie sagte diese letzten Worte fast weinend, und hing sich mit beiden Armen fest an die Schulter des Grafen. Dies vermehrte die lustige Stimmung Arnos noch, in welche ihn der ganze Vorgang versetzt hatte, und er erwiederte, sie tröstend: »Du wirst Dich doch nicht vor diesen Räubern fürchten, Malwinchen? Sie sind sicherlich nicht schlimmer, als die, welche in Deinen Der Erstdruck hat hier »Deinem«. - Anm.d.Hrsg. Lieblingsromanen vorzukommen pflegen!«

»Nun, Sie sehen mir nicht aus, wie Lieblingsromanenräuber!« versetzte sie schmollend, obwohl sie selbst in ihren Thränen halb lächeln mußte. »Sieh nur, was haben diese Menschen nicht für grimmige Gesichter und Knebelbärte. Ach, beim Himmel! Ich fürchte mich vor ihnen, als könnten sie mich verschlingen!« –

»Nun wohlan! meine Herren!« rief darauf 166 Arno, indem er seinen Hirschfänger zog und sich zu der übrigen Gesellschaft wandte. »Es ist jetzt Pflicht jedes Mannes von Herz und Muth, unsere Damen selbst mit der Gefahr unseres Lebens zu vertheidigen, und nicht zu dulden, daß ihnen auch nur eine Fingerspitze an ihren schönen Händen gekrümmt werde. Folgen Sie mir, meine Herren, zum Angriff! Sollte es Ehrenmännern nicht gelingen, eine feige Räuberrotte im Nu zurückzuschlagen?«

Da trat ein langer, starker Mensch von verwegenem Aussehn der mit allen Insignien eines Räuberhauptmanns geschmückt war, aus der Reihe seiner Genossen hervor, und suchte durch eine eindringliche Rede darzuthun, daß aller Widerstand fruchtlos sei. Dann näherte er sich mit so vieler Artigkeit, als ihm seine Rolle nur irgend verstattete, Malwinen, und indem er sie beim Arm ergriff, ermahnte er sie, den Anfang machen, und ihm die von den kostbarsten Edelsteinen blitzenden Ringe an ihren Fingern nicht länger vorzuenthalten. Er mochte sie jedoch bei dieser Gelegenheit unsanfter berührt haben, als er selbst beabsichtigte, denn sie stieß bei seiner Annäherung einen fürchterlichen Entsetzensschrei aus und rief, sich halb ohnmächtig in die Arme des Grafen flüchtend: »Rettet mich, Graf! Er will mich erwürgen!«

»Tölpel! Du hast Deine Rolle übertreten!« 167 schrie Arno, und schlug im aufwallenden Zorne, in dem er alle Rücksichten zu vergessen pflegte, mit dem Hirschfänger auf den unschlüssig dastehenden Mann los. Er traf ihn nur zu gut, und der Verwundete taumelte besinnungslos zurück, denn der Hieb hatte ihm die linke Hand zerschmettert.

Unterdeß erhob sich im Rücken der Umstehenden ein neuer Tumult. Einige mit Blendlaternen herzugeeilten Leute von der Dienerschaft Arno's, die von dem eigentlichen Zusammenhang der Sache ununterrichtet geblieben waren, hatten sich in der Meinung, daß sie es mit wirklichen Räubern zu thun hätten, in ein Handgemenge mit diesen eingelassen, die anfangs nicht wußten, ob sie sich ernstlich vertheidigen sollten. Als indeß die Diener aus der Thierbude Valerians, denen die Räuberkomödie, zu der sie sich hatten brauchen lassen, mit solchem Undank vergolten wurde, sahen, daß bereits einer ihrer Genossen vom Grafen verwundet worden war, regte sich in ihnen außer der Gegenwehr, zu der sie sich durch den Angriff von Arnos Dienern genöthigt fanden, noch die Erbitterung, welche sie trieb, sich zu rächen. Ein Schlag erzeugte den andern, die Leidenschaft wuchs im Getümmel, und die Verwirrung wurde bald so groß, daß Arno, so sehr er sich auch jetzt darum bemühte, sie nicht mehr zu beschwichtigen vermochte.

168 Der Verwundete, den wir Holm nennen wollen, raffte sich unterdeß wieder auf, und schlich sich heimlich aus dem ihm so gefährlich gewordenen Gewühl fort, in den Wald zurück. Hier verband er sich selbst die zerschlagene Hand, und eilte dann, um einen von ihm gefaßten Racheplan auszufüllen, durch Wald und Feld, nach der Thierbude seines Herrn, wo seine Ankunft zur Begünstigung seiner Absichten von Niemandem bemerkt wurde. Er öffnete darauf die Käfige des Bären und Löwen, und nachdem er den Thieren zuvor ein Gebiß umgelegt, um selbst so lange vor ihnen sicher zu sein, bis er sie an den Ort gebracht, wo er sie freilassen und zu einer grausamen und unbedachten Rache gebrauchen wollte, führte er sie an einem Halfter mit sich fort, nach dem Seeufer im Walde zu. Die Thiere schnoben, und begannen durch das Einathmen der frischen Waldluft bereits wild zu werden. –


Während die Festlichkeit im Walde Alles dorthin gelockt und das Schloß selbst einsam gelassen hatte, glaubte Mathilde, um diese Stunde einmal ungestört eines Abendspaziergangs im Garten sich erfreuen zu dürfen. Sie drückte einen mütterlichen Kuß auf die Stirn ihrer kleinen Tochter, die bereits friedlich in ihrem Bettchen schlummerte, hing 169 einen Shawl um und begab sich dann, von einer sanften Gemüthsruhe erfüllt, hinunter.

Das trauliche Halbdunkel, das sie unter den Blüthenalleen des Gartens empfing, sprach ihre Stimmung wohlthätig an, und, mit einer frommen Andacht im Herzen umherwandelnd, fühlte sie sich von dem Trost erhoben, der edlen gebildeten Frauen aus der Seelenklarheit, mit der sie sich der Duldung eines Geschicks hinzugeben vermögen, wunderbar erwächst. Aus der Duldung entsteht ihnen eine innere Stärke, die auf keiner andern Macht beruht, als auf den schönen Gedanken von Gott und Tugend, mit denen die weibliche Natur eigentümlich gesegnet ist.

Mathilde durchstrich frohbewegt die stillen Gänge des Gartens. Ziehende Bienen summten um sie her, Nachtschmetterlinge flatterten in niedrigen Flügen über die Blumenbeete, Vögel grüßten sie aus den Gesträuchen hier und da mit einem abgebrochenen Liederton. Ihr war innig wohl. Nur der Gedanke an Erwin wollte sie zuweilen beunruhigen, doch ahnete sie nichts weniger, als daß er ihr so nahe innerhalb der Mauer des Schlosses eingesperrt sich befinde. Sie wähnte vielmehr, daß er, mit dem Vater wieder versöhnt, ebenfalls dem Feste im Walde beiwohne.

Sie ließ sich auf einer Moosbank nieder, und 170 begann mit ihrer schönen Stimme sich ein Abendlied zu singen. Es tönte fromm und klar recht aus der Seele hervor, und schwebte in reinen hellen Tönen wie eine sanfte Feiermelodie zu den Wolken aufwärts In diesem sinnigen Thun begriffen, hatte sie eben die letzte Strophe ihres Gesanges von den Lippen verhallen lassen, als sie in demselben Augenblick plötzlich ein Geräusch neben sich vernahm, und eine Männergestalt aus dem nahen Gebüsch zu ihr hervortrat. Mathilde schrack zusammen und wollte entfliehen, aber noch ehe sie sich in ihrer Bestürzung von der Stelle bewegen konnte, erblickte sie den Fremden zu ihren Füßen und erkannte mit einem lauten Schrei den Fürsten in ihm.

»Verzeihung, schöne Frau!« rief der junge, kecke Mann, indem er mit leidenschaftlichem Ungestüm ihren Leib umfaßte. »Ich bin Ihnen nachgefolgt, und werde Ihnen immer folgen, so lange es noch eine Spur der Erinnerung von Ihnen gibt! Muß ich Sie stets meiner Liebe, die mir das Herz verzehrt, unerbittlich verschlossen finden? Ich weiß es, Sie sind die Heilige und ich bin der Sünder, aber in Ihrer Macht steht es, den Sünder zu dem glücklichsten und besten Menschen zu erheben, wenn er von Ihrem Munde die Gewährung seiner höchsten Wünsche sich holen darf. Heut sollen Sie mich entschlossen sehn, nicht ehe von dieser Stelle 171 zu weichen, bis Sie mich mit schöneren Aussichten entlassen werden!«

Er sprang auf, und wollte sie in seine Arme schließen, aber sie entwand sich ihm so schnell, daß ihr Shawl zerriß, den sie in seinen Händen zurück ließ. Da raschelten wieder Fußtritte im Gebüsch und eine hohe vermummte Gestalt wurde in einiger Entfernung sichtbar, wo sie hinter einem Baume verborgen gestanden zu haben schien. Mathilde glaubte einen Genossen des Fürsten zu sehn, und in der Meinung, daß ihr Gewalt geschehen solle, rief sie mit durchdringender Stimme nach Hülfe, obwohl ihr nur der Wiederhall in der einsamen Gegend antwortete.

Der Fürst selbst aber blickte ungewiß dem Herannahenden entgegen, und sagte: »Noch gab ich Dir kein Zeichen, Severin! Was soll das?«

»Ihr irrt Euch in mir nur zu bitter!« entgegnete der Vermummte, als er näher getreten war, und warf den Mantel zurück, der ihn unkenntlich gemacht hatte.

»Graf Valerian?« rief der Fürst erstaunt, einen Schritt zurücktretend. »Ihr seid es, Ihr wagt es, vor meinen Augen zu erscheinen?«

»Mein Vater!« rief Mathilde, in ihrem plötzlichen Uebergang von der Angst zur höchsten Freude 172 Alles um sich her vergessend, und schlang ihre Arme um ihn.

»Ihr seht mich überall als den alten Ehrenwächter meiner geliebten Tochter erscheinen!« sagte Valerian ernst und ruhig, zu dem Fürsten gewandt – »heut, wie damals, wo ich so, wie jetzt, zwischen Euch und mein Kind trat! Vergebt mir, daß ich sie umschwebe, wie ihr Schutzgeist!«

Der Fürst stand mit übereinandergeschlagenen Armen, und betrachtete beide mit einem zornsprühenden Blick. Dann sagte er kalt und schneidend »Ihr seid des doppelten Hochverraths schuldig, Graf Valerian.«

»Mir geschehe, wie Gott will!« entgegnete dieser, sein weißes Haupt entblößend, und vor dem Fürsten neigend. »Ich ehre in Euch immer noch den Fürsten, sonst würde ich Euch andere Antwort geben!«

»Ihr seid der Verbannte!« rief wüthend der Fürst, mit dem Fuße stampfend. »Um Eurer Tochter willen sei Euch noch einmal der unerhörte Frevel verziehen, daß Ihr von Neuem Euer geächtetes Haupt über unsere Grenzen zu tragen gewagt habt! Jetzt entfernt Euch in diesem Augenblick, und wo man Euch noch binnen zwölf Stunden im Lande antrifft, soll alle Schonung gegen Euch aufhören, die Euch in dieser Stunde durch meine überschwengliche Milde 173 und in Betracht der nützlichen Dienste, die Ihr früher geleistet habt, noch widerfährt!«

»So sei es!« entgegnete Valerian. »Erlaubt mir nur, daß ich meine Tochter erst zu ihrem Hause zurückgeleite, wie es dem Vater ziemt, und dann soll Euch keine Spur mehr von mir begegnen!«

Der Fürst aber hatte ihnen bereits den Rücken gewandt und war in einer Seitenallee des Gartens verschwunden.

Vater und Tochter gingen schweigend mit einander fort, sie an seinem Arm hangend, bis sie den Garten durchschritten und sich dem Flügel des Schlosses und der Thür genähert hatten, welche Mathilden zu ihren Zimmern hinaufführte. Hier standen sie still und blickten sich noch einmal einander mit liebenden Augen an. Da stürzte Mathilde laut weinend an seinen Busen, und er drückte sie, stumm vor Schmerz und Entzücken, in einer langen zärtlichen Umarmung an sich. Jetzt erst begrüßten sie sich so, wie sie es in dem ersten bangen Augenblick der Begegnung nicht vermocht hatten, und »Mein Vater!« – »Meine Tochter!« waren die einzigen süßen Worte ihres Gefühls, mit denen sie das schmerzliche Glück der Wiedervereinigung aussprachen.

»O komm, Vater, mit mir hinauf!« sagte sie endlich. »Willst Du nicht meine Tony sehen?«

174 »Ich folge Dir!« sagte er, und sie schritten die Stiege hinauf.

In ihrer Wohnung angekommen, zündete Mathilde Licht an, da der Abend bereits das Zimmer verdunkelt hatte. Dann setzte sie sich liebkosend zu dem Vater, der sich wie erschöpft in einen Sessel niedergelassen.

»Hier wohnst Du, Mathilde?« sagte Valerian, sich in dem kleinen, freundlich ausgeschmückten Zimmer umblickend. – »Ach!« – fuhr er darauf fort, sein Haupt an ihre Schulter lehnend – »ich fühle, es könnte mich alten Mann wieder jung machen, wenn Du immer so, wie jetzt, mit Deiner trauten Nähe mich erquicktest, meine Tochter! Wenn ich Dich anblicke, wie Du so hold und freundlich bist, geht durch mein Herz eine sanfte Regung, als könnte Frieden darin werden!«

Sie küßte ihm die Hand, und er sagte weiter: »Aber meine Feinde werden den Frieden in diesem Herzen nie erstehen lassen! Sie werden mir dies Herz bald abdrücken, denn schon die Erinnerung an sie ist mir tödtlich! Ja, Mathilde, ich habe vielleicht eine zu heiße Empfindlichkeit gegen meine Feinde, doch wer kann ändern, wie die Natur in ihm sich regt! Einem meiner Feinde bin ich heut schon wieder begegnet, und ich habe mich bezwungen, seinen Anblick, sein Angesicht zu ertragen. O ich 175 armer Dulder! Aber noch Einen giebt es, dem ich nimmer heut noch begegnen möchte, weil ich heut nicht mehr stark genug mich fühle zum Dulder! Einen gibt es, von dem wir in dieser Stunde, wo wir glücklich neben einander sitzen, nicht sprechen wollen!«

»Still! Still!« entgegnete Mathilde ernst, indem sie mit einer bittenden Gebärde den Finger auf den Mund legte. »Ja, Vater, nicht sprechen davon, nicht sprechen! Still und stumm denkt man an Den, den man nie mehr nennt, und wünscht keine Rache, sondern nur Vergessenheit, stille, stille Vergessenheit!«

Sie saßen darauf schweigend neben einander, indem er ihre Hände in den seinigen hielt. Die kleine Tony schlief auf ihrem Bett im Hintergrunde des Zimmers, und da jetzt kein Laut ringsumher sich regte, hörte man vernehmlich das Athmen des schlummernden Kindes gehn. Dadurch aufmerksam geworden, stand Valerian auf, und Mathilde führte ihn sanft lächelnd an das Bett ihrer kleinen Tochter, indem sie das Licht so rückte, daß ein erhellender Strahl auf die Schlummernde fallen mußte.

Valerian betrachtete das liebliche Kind, in dessen Zügen ein heitrer Traum spielte, mit sichtlichem Wohlgefallen. Er drückte ihm einen leisen Kuß auf die frische rothe Kinderwange, und setzte sich dann gerührt auf einen Sessel vor dem Bett nieder, in 176 ein unverwandtes Anschaun des Kindes versunken. Mathilde stand auf der andern Seiten ihm gegenüber, mit gefalteten Händen auf ihre Tony herabblickend.

»Uns zieht hier der Friede dieses Kindergesichts an!« sagte Valerian bewegt! – »und wir sind um dasselbe wie in einer Kirche versammelt. Ein schönes Gesicht! Ein schöner Friede! Alle gütigen Engel, die im Menschen sind, umschweben noch das Kinderantlitz sichtbar, und zeigen uns, die wir längst in verworrene Lebensbestrebungen uns verloren haben, das ursprüngliche Paradies des menschlichen Gesichts in der ersten keuschen Blüthe! Ach vor diesem Kindergesicht könnte ich, ausruhend von allen meinen Verirrungen, wie vor einem Altar meine Andacht und Buße verrichten!« –

Er schwieg und ging dann mit langsamen Schritten im Zimmer auf und nieder.

»Wo ist Erwin?« fragte er darauf leise Mathilden. »Ich glaubte ihn auch in Deiner Nähe zu finden. Ich habe dem Guten, der sich so innig an mich schloß, ein Unrecht zugefügt, und bin jetzt bekümmert um ihn, so oft ich seiner gedenke. Er ging von mir, um Dich aufzusuchen. Hat sich Dir keine Spur von ihm gezeigt?«

Mathilde erzählte, was sie von Erwins Schicksal wußte und vermuthete und was nicht geeignet sein konnte, Valerian zu beruhigen oder aufzuklären.

177 »Das ist der menschlichen Pilgerfahrt Schicksal,« – seufzte er, – »daß die, welche zusammengehören, von einander verschlagen werden und sich in die Irre zerstreun, und nur zu oft durch eigne Schuld und Leidenschaft! Auch wir müssen uns jetzt trennen, Mathilde! Doch wir sehen uns noch einmal, bevor ich diese Gegend verlasse. Sei unbesorgt um mich, mein Kind, es wird mir Nichts geschehen! Ich habe mich gesichert gegen die Verfolgungen unsrer Feinde!«

»Ach, Du gehst Vater! und ich soll bleiben?« rief Mathilde, ihn bei der Hand festhaltend.

»O diese Töne aus Deinem Munde erinnern mich an schöne vergangene Zeit!« entgegnete Valerian mit sanft bewegter Stimme. »Als Du noch ein kleines fröhliches Mädchen warst, sagtest Du immer, wenn ich allein ausging ohne Dich, ›Du gehst Vater! und ich soll bleiben?‹ in derselben süßen Redebetonung, wie heut! Viele Jahre sind seit jener seligen Zeit über unsre Häupter hingegangen. O ist es denn wahr, Mathilde, daß wir seitdem so unglücklich geworden sind?«

»Als ich noch ein junges Mädchen war,« – sagte Mathilde mit ihrem verklärten Lächeln, indem sie ihr Gesicht an seinen Busen schmiegte – »war ich muthwillig und ausgelassen, und habe Dir wohl oft Noth gemacht, Väterchen, der Du gern eine 178 sinnende Philosophin aus mir gebildet hättest! Seitdem hat in jenen schweren Jahren, die über uns hingegangen, das tiefe Leid mich mild und klar und nachsinnend gemacht, und ich kann mich nur noch mit Mühe in jene vergangene Zeit wieder zurückdenken, wo mir die Flügel des Muthwillens in die Höhe flatterten!«

»Der Mensch verliert sich selbst, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Sein und Werden zertheilt!« sagte Valerian, von ihr Abschied nehmend. »Nur dies Glück ist gewiß, und für diesen gegenwärtigen Augenblick mir unentreißbar, daß ich Dich jetzt in meinen Armen halte, und Dein unaussprechlich geliebtes Antlitz mit meinen Küssen bedecke, o meine Tochter!« –


Unterdeß hatte Isabelle mit vor Ungeduld klopfendem Herzen die Nachtstunde kaum erwarten können, um unsern gefangenen Freund Erwin, zu dessen fernerem Schicksal wir uns jetzt hinwenden, in seiner Verborgenheit und Verlassenheit tröstend und hülfreich aufzusuchen.

Sie begrüßte freudig die ersten über den Horizont fliegenden Streifen des Nachtdunkels, und dann eilte sie wie beflügelt, mit den nöthigen Werkzeugen versehen, die sie sich am Tage klug zu verschaffen gewußt, dem Schlosse zu. Ihr Scharfblick ließ sie 179 leicht den mit Disteln und Dornen verwachsenen Weg wiederfinden, den sie einschlagen mußte, um sich dem Gefängniß des einsam harrenden Jünglings zu nähern.

Erwin saß längst in banger Erwartung hinter seinem Gitter, und sein Herz schlug der Stunde entgegen, die ihm seine Isabelle, mit deren Bild und Andenken er sich inzwischen traulich unterhalten hatte, wieder herführen würde. Sein Körper fühlte sich matt und krank, aber doch war ihm im Grund seiner Seele wohl, und es schien ihm, als könne er fast wieder heiter und lustig werden, sobald nur Isabelle käme. Zuweilen bewältigte ihn seine körperliche Ermüdung so, daß er halb einschlummernd den Kopf auf die Brust niedergleiten ließ, und seine Vorstellungen unwillkürlich in Träume überzugehen begannen. Dann war es ihm im Traum, als sei sie schon da, und indem er laut ihren Namen rief, erwachte er darüber, und keine befreundete Stimme antwortete ihm. Er legte das Ohr lauschend an die Eisenstäbe seines Fensters, und so oft der Nachtwind rauschend durch die Hecken draußen fuhr, glaubte er ihren herannahenden Fußtritt zu hören.

Endlich bogen sich die Gesträuche in seiner Nähe auseinander, und eine dunkle Gestalt schlüpfte gewandt durch die Büsche zu ihm daher. Sie war es, die vor ihm stand, sie rief leise, aber mit unendlich süßklingendem Ton für ihn: »Erwin!«

180 »Isabelle! Isabelle!« antwortete er, vor Freude fast außer sich. »Du strahlst mir in der Nacht auf, Du meine Sonne!«

»Ich komme wieder, wie ich versprochen habe!« entgegnete sie. »Ich bringe zwei Feilen und einen Hammer. Hier nimm die eine Feile, Freund, und versuche damit, diesen Stab zu durchsägen. Ich will an dem andern dasselbe tun. Sind die Stäbe durchgefeilt, schlagen wir sie vollends mit dem Hammer heraus. Dann wirst Du frei sein, und kannst wandellustig wieder Wald und Stadt durchschreiten, wohin Dich Dein Schicksal zieht!«

»Habe Dank, daß Du mich frei machen willst!« erwiederte er. »Aber nicht nur mein Körper ist eingekerkert, auch mein Gemüth war ein Gefangener der Schwermuth geworden, und wird nur wieder frei, fühle ich, wenn Du mir Deine Liebe schenkst. Nur die Liebe macht wahrhaft frei!«

»Nur wer frei ist, kann lieben!« versetzte sie.

Darauf legte sie die Feile an den Eisenstab des Gitters, und begann mit aller Anstrengung daran zu arbeiten. Auch Erwin versuchte jetzt, seinerseits das übergebene Werkzeug zu gebrauchen und damit an einem der anderen Stäbe seine Kraft zu üben, aber er mußte bald davon abstehen, und zu seiner eigenen Bestürzung wahrnehmen, wie schwach und hinfällig er seit kurzer Zeit geworden war. Seine 181 Hand versagte ihm für die angreifende und ungewohnte Beschäftigung den Dienst, er ließ die Feile aus den Fingern gleiten und hielt erschöpft inne. Unterdeß war Isabelle schon mit der Durchfeilung des einen Stabes fertig geworden.

»Ich bin matt und kraftlos, Isabelle!« seufzte Erwin. »Habe Geduld und Nachsicht mit mir Armen!«

»Du bist zu zart für solche Arbeit, Freund!« sagte Isabelle, in ihrem Geschäft eifrig fortfahrend. »Ich bin mehr an rauhe Arbeit gewöhnt. Laß mich nur allein machen, was hier nöthig ist, und ruhe Dich aus, lieber Freund!«

Sie hatte bald auch auch den dritten und letzten der Eisenstäbe ergriffen, und während sie ohne Unterlaß daran feilte, und er still sie gewähren ließ, wie sie allmählig ein Hinderniß nach dem andern aus dem Wege räumte, das ihn von ihr trennte, wurde er plötzlich auf ein dumpfes Geräusch in der Ferne aufmerksam, das so eben die Richtung des Windes weit aus dem Walde in verworrenen Tönen herübertrieb.

»Was ist das«, fragte er Isabellen.

Sie horchte einen Augenblick, und sagte dann: »Sie haben ein großes Fest im Wald an dem schönen See. Sie freuen sich, und toben, aber sie sind uns sehr fern. Mögen sie sich freuen und toben, 182 wir arbeiten und feilen hier, und haben auch unsre stille Freude dabei!«

»Aber es fallen Schüsse! Hörst Du nicht, Isabelle?« sagte Erwin weiter, indem er sein Ohr anstrengte, in die Ferne lauschen.

»Sie machen sich ein Vergnügen daraus zu schießen!« entgegnete sie. »Schade um die schöne stille Nacht, daß ein so wilder Lärm darin vorgeht!«

Dann ergriff sie den Hammer, und that einige kräftige Schläge gegen das durchgefeilte Gitter, daß es zusammenstürzte. Da jubelte sie laut vor Freude, und rief mit ihrer starken glockenhellen Stimme triumphirend: »Nun bist Du frei, nun steige heraus, nun komm, daß wir schnell mit einander fortwandeln von diesem widerwärtigen Ort, der Dich gefangen gehalten!«

Erwin zögerte nicht, diesem lockenden Ruf zu folgen. Er trat auf das Gesims und schwang sich dann mit Leichtigkeit heraus, so daß er plötzlich vor ihr stand, und sie zum ersten Male in solcher Nähe begrüßen konnte. Noch ehe er Worte gefunden, um ihr seinen Dank auszusprechen, hatte sie ihn schon bei der Hand mit sich fortgezogen, und führte ihn so rasch, als der beschwerliche Weg zuließ, aus dem Gebüsch heraus.

Nachdem sie eine Weile schweigend neben einander fortgegangen waren, fiel es Isabellen auf, daß 183 Erwin an ihrer Seite zu wanken und zu taumeln begann. »Was fehlt Dir, Freund?« sagte sie. »Ist Dir nicht wohl?«

»Ich bin matt und müde!« entgegnete er ihr; »Laß mich ein wenig hier niedersitzen und ausruhen, und ich will Dir Alles erzählen, Du meine einzige Freundin!«

Er ließ sich auf einen im Wege liegenden Baumstumpf nieder, und Isabelle blieb vor ihm stehen, indem sie ihn sorgend betrachtete.

»Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen!« sagte er darauf leise.

»Sie gaben Dir nichts?« fragte Isabella auffahrend

»Sie ließen es daran nicht fehlen, aber ich wollte nicht!« versetzte er. »Ach, Isabelle! seitdem mein Vater mich wie einen Verbrecher behandelt, hat sich ein Trotz in meinem Herzen festgesetzt, und ich gelobte mir, im Gefängniß nichts von der Kost zu nehmen, die sie mir reichen würden, weil Gefängnißkost nur für die Verbrecher sei! Die guten Diener versorgten mich reichlich mit Speisen, aber ich rührte nichts davon an!«

»Ich hätte es auch so gemacht!« rief Isabelle, vor Zorn mit dem Fuße stampfend. »Doch« – fuhr sie darauf milder fort – »um so mehr ist es Zeit, Erwin, daß wir uns nach einem sichern Ort 184 umsehn, wo Du Dich wieder erquicken und stärken kannst. Soll ich Dich nicht zu Deinem Großvater geleiten? Er wird jetzt wohl wieder zurückgekehrt sein nach unsrer Thierbude. Er hatte nur einen Spaziergang gemacht.«

Erwin schwieg einen Augenblick und sagte dann lebhaft: »Ja, Isabelle, ich will den Großvater wieder aufsuchen, denn ich weiß sonst nicht mehr, wohin? in der Welt. Er wird mich nicht von sich weisen, und wenn er auch hart gegen mich ist, so muß man es ertragen und ich muß überhaupt, sehe ich wohl, allen meinen Trotz gegen das Leben fahren lassen. Habe ich doch Dich jetzt, Isabelle! Mögen die andern Menschen mir übel mitspielen, ich frage nichts mehr danach, wenn ich nur Deine Stimme höre, und Deine Augen glänzen sehe, dann bin ich glücklich!«

»Es scheinen ferne Lichter durch die Nacht des Waldes!« sagte sie. »Es ist, als wenn der Lärm von dort näher herüberkäme. – Willst Du Dich an meinen Arm hängen, wenn Du müde bist, und Dich von mir führen lassen, damit wir fortkommen?«

Er stand auf und hing sich gern an ihren dargebotenen Arm. So wanderten sie wieder eine Strecke mit einander fort. Sie stützte ihn, und hatte mit der größten Sorgsamkeit auf jeden seiner Schritte Acht.

185 »Willst Du nicht einen Augenblick wieder still stehen, und Dich erholen?« fragte sie ihn nach einiger Zeit wieder.

»Ach, wie Du so gut und hold bist!« entgegnete er, und drückte ihre Hand fest in der seinigen. »Diese süße Stunde kehrt uns wohl so bald nicht wieder. O verstatte zur trauten Feier dieser Stunde mir von Deinen Lippen einen einzigen Kuß! Er wird nachglühen bis in die Ewigkeit!«

Sie breitete die Arme aus und ihre Herzen schlugen an einander, ihre Lippen berührten sich zu einem langen innigen Kuß. Er war ihre erste Liebesfeier, dieser in wehmüthiger Freude gegebene und genommene Kuß, und das erste frohe Fest ihrer sich begegnenden Seelen mischte sich mit einer bangen Vorausahnung der Zukunft.

Sie entriß sich plötzlich seinen Armen, und sagte in ihrer ernsten Weise: »Horch, da ist Gefahr! Hörst Du nicht die wilden dumpfen Stimmen? Sie schreien, man schießt durch den Wald, sie kommen herbei! Es ist wie ein heranbrausendes Meer! Fackeln tanzen durch die Finsterniß, wie leuchtende Irrwische! Es muß sich ein großes Unglück zugetragen haben!«

»Ja! Schuß auf Schuß fällt!« sagte Erwin, sich nach der Richtung, von welcher der immer fürchterlicher werdende Lärm herkam, hinwendend. »Der 186 Erdgrund scheint zu dröhnen, ein Dampf umhüllt den ganzen Forst! Mich dünkt, dort sehe ich schon fliehende Gestalten, die aus der Waldschlucht hervor stürzen! Was ist das, Isabelle?«

»Horch! Horch!« fuhr die aufmerksam lauschende Isabelle fort, indem sie weiter vortrat. »Es brüllen Thiere. Hörst Du nicht? Hörst Du nicht? – Bei Gott, das ist mein Löwe, der dort brüllt! – Ich glaube meinen Löwen Hyacinth im Getümmel zu hören!« –

Noch ehe Beide sich von ihrem Schrecken zu erholen oder der Ursach desselben nachzuforschen vermocht, sahen sie schon den verworrenen Haufen fliehender, hülfeschreiender und verfolgender Menschen, der sich aus dem Walde hervorwälzte, in ihre unmittelbare Nähe gerückt, und sich selbst dem Getümmel und der Gefahr, vor der Alle sich flüchteten, preisgegeben. –

Der unglückliche Ausgang, den das Fest im Walde genommen, stellte sich jetzt in den entsetzlichsten Scenen dar, und wir sehen die in gränzenloser Verwirrung auseinander getriebenen Gäste, Rettung suchend, von allen Seiten dem Schlosse zueilend. Jeder erstrebte sein Heil nur in der schleunigsten Flucht, Männer wie Frauen, denn zwei wilde Thiere waren urplötzlich in ihrer Mitte losgelassen worden, von denen Jeder zerfleischt zu werden fürchtete, und 187 die bereits blutiges Unheil genug um sich her verbreitet hatten.

Jener durch Arnos unbedachte That verwundete Diener, von dessen abscheulichem Racheplan wir bereits gehört, hatte sein grausames Vorhaben nur zu geschickt ins Werk zu setzen gewußt. Nachdem er die beiden Thiere, die er aus ihren Käfigen fortgeführt, unvermerkt an den Ort gebracht, wo sich seine Genossen noch mit den Dienern Arnos im Handgemenge befanden, während die Uebrigen vergeblich bemüht waren, die Verwirrung zu lösen und eine friedlichere Ausgleichung herbeizuführen, gab er sie frei, und hetzte sie zuerst auf eine abseits am Ufer stehende Gruppe, unter der er den Grafen Arno befindlich glaubte. Die Thiere zögerten anfangs mit ihrem Angriff, theils weil sie zuvor ihre hinlängliche Sättigung erhalten, theils weil sich durch lange Einsperrung ihre Wildheit gemäßigt zu haben schien. Dadurch gewannen die von der neuen Gefahr Ueberraschten Zeit, das drohende Unheil durch die Flucht und andre Rettungsmittel möglichsten sich abzuwenden, und Arno lud schnell eine Kugel in seine Flinte und legte bereits auf den Bären an, der schon am meisten Miene machte, seine Wuth losbrechen zu lassen. Aber das ergrimmende Thier hatte sich schon seine Beute ausersehen, und hervor stürzend, ergriff es mit seinen Tatzen die fliehende 188 Malwine im Rücken, und schlug die Zusammensinkende zu Boden. Arnos Kugel schoß fehl, und der Bär rannte heulend den andern Fliehenden nach durch den Waid. Der Graf blieb verzweifelnd bei Malwinen zurück, die, in ihrem Blute schwimmend, kaum noch zu athmen vermochte, und ihm aus den gebrochenen Augen den letzten Gruß zuwinkte.

Der Löwe eilte mit hoch emporgeworfenem Schweif brüllend dem Haufen nach, ohne jedoch eine Feindseligkeit auszuüben. Als das Getümmel in die Nähe des Schlosses und bis an die Stelle sich hingezogen hatte, wo sich Erwin und Isabelle befanden, wurde Letztere jetzt deutlich gewahr, daß es ihr Löwe Hyacinth sei, der entfesselt mitten in dem Gedränge umher lief. Sie sagte zu Erwin: »Halte Dich, Freund, hier hinter der großen Eiche verborgen! Hier bist Du sicher! Ich will unterdeß fort, um meinen Löwen an mich zu locken. Weiß der Himmel, wie er sich losgerissen haben muß, oder wie er sonst hieher gekommen! Er kann Schaden anrichten. Aber mir folgt er! Ich bin den Augenblick wieder hier.«

Sie eilte davon, dreist in den dichtesten Haufen hinein, und als sie ihrem Löwen nahe gekommen, rief sie ihn laut. Sobald das Thier die wohlbekannte Stimme vernahm, sprang es freudig zu seiner jungen Herrin heran und ließ sich an der Mähne 189 folgsam aus dem Getümmel leiten. Unterdeß hatte das Gedränge, in dessen Mitte sich der noch immer nicht erlegte Bär befand, sich der Stelle genähert, wo Erwin seinen Zufluchtsort genommen. Mit Erschrecken gewahrte dieß Isabelle, und sah sich zugleich dadurch von ihren Freund abgeschnitten, den sie allein der Gefahr ausgesetzt wußte. Athemlos arbeitete sie sich durch die Menge hindurch, um ihm wieder nahe zu kommen, und noch ehe es ihr völlig gelungen war, glaubte sie einen Angstruf von der Gegend der großen Eiche her zu vernehmen, der ihr wie aus Erwins Munde erschütternd ins Ohr drang. In demselben Augenblick erschallte nicht weit davon ein neuer Schuß aus der Büchse Eines der Jäger, und Alle schrien: »der Bär ist niedergeschossen!«

Isabelle aber hatte sich nicht getäuscht. Sie fand ihren Erwin nicht mehr lebend wieder!

Neben dem Baume lag er hingestreckt, aus einer Kopfwunde blutend. »Mein Gott! Mein Gott! Er ist todt!« rief Isabelle, und warf sich neben ihm auf die Erde nieder.

Er war wie eine vom Sturm zerrissene Frühlingsblüthe. Obwohl er gewaltsam geendet hatte, war doch über das erbleichte Gesicht sein letztes Lächeln wie ein sanfter Engel hingezogen, und die halbgeöffneten Lippen schienen noch einmal nach ihr gerufen zu haben, daß sie zum letzten Mal zu ihm 190 herbeikomme. Ein entsetzlicher Tod hatte ihn nach kurzer und nur halb genossener Jugendlust, eben als seine Hoffnungen auf das Leben sich ihm wieder neu aufzurichten begannen, dahin raffen sollen! Er war das schmerzlichste Opfer dieser verwirrungsvollen Nacht geworden. Kurz zuvor, ehe die Schüsse der Jäger den von ihnen verfolgten Bär zu erlegen vermocht, hatte sich das wutentbrannte Thier, das nach der Gegend hingetrieben wurde, wo sich Erwin verborgen hielt, auf den Jüngling gestürzt und dem Armen die schnell tödtende Wunde geschlagen. So endete ihm der früh verfinsterte Jugendtraum schrecklich und plötzlich, aber er hat ihn mit verklärter Miene von sich abgestreift, den Traum, um zu höheren Bildern zu erwachen!

»Er blickt mich nicht wieder an aus seinen lieben schönen Augen!« klagte Isabelle. Sie hatte sich lange bemüht, noch ein Lebenszeichen an ihm zu erspähn. Ihre Lippen saugten sich fast krampfhaft an seinem Munde fest, um durch das Feuer ihres Kusses den geliebten Athem in ihm noch einmal aufrufen. Sie legte ihre Wange an seine Wange, sie drückte seine kalte Hand fest an ihren schlagenden Busen. Dann sprang sie auf.

»Nein!« rief sie laut weinend, und trat einige Schritte weit von ihm zurück. »Du bist nicht mehr hier, wo ich Dich suche! Du fühlst und regst Dich 191 nicht, Du sprichst und antwortest nicht, Du kennst mich nicht! Du lächelst bloß, und Dein Lächeln scheint mich zu rufen. Ja, Dein Lächeln ruft mich dorthin, wohin Du gegangen, o geliebter Freund.«

Sie setzte sich nieder, dicht neben ihm, auf den grünen Rasen, und betrachtete ihn still mit unverwandter Aufmerksamkeit. – »Wenn die Todten nur nicht so kalt wären!« sagte sie dann zusammenschaudernd. »Es ist sonst ein Frieden bei ihnen, der ganz unaussprechlich anziehend ist! Ruhe, ruhe, mein Erwin, fern entrückt, fern, fern und weit von hier ins selige Leben fortgezogen! Ach, hier ist es Dir doch nicht wohlgegangen! Hier haben sie Dich eingesperrt, Du hast Hunger und Durst gelitten, sie haben Dich von den wilden Thieren zerreißen lassen!« – –

Unterdeß war es ringsumher stiller geworden. Der größte Theil der Gesellschaft hatte sich in das Schloß zurück begeben, und das wüste Getümmel zerstreute sich und verhallte allmählig, nachdem der Gegenstand des Schreckens, der Bär, der das blutige Unheil dieser Nacht verursacht, getödtet worden. Den Dienern Arnos war es gelungen, sich Desjenigen zu bemächtigen, den sie als den Urheber des beispiellosen Frevels bei der That ertappt hatten; und jetzt durchstreiften Einzelne mit Lichtern den 192 Wald, um dort, wo etwa noch ein Unglück geschehen sein möchte, Beistand zu gewähren.

Auch um Isabelle und den regungslos daliegenden Jüngling, dessen Todesschlummer sie gewissermaßen zu bewachen schien, hatte sich bereits eine Gruppe Umstehender gebildet, die noch zur möglichen Rettung Erwins Anstalten zu treffen sich bereit zeigten. Isabelle, in ihre schmerzlichen Gedanken vertieft, bemerkte lange nicht, daß außer ihr und dem Todten noch Jemand in ihrer Nähe sei. Erst als Erwin von Einem der Umstehenden emporgehoben wurde, nahm sie es wahr, und ihr Schmerz schlug jetzt in eine so laute und durchdringende Klage aus, daß Alle sich befremdet nach ihr umsahen. Einige der herzugeeilten Diener aus dem Schlosse hatten jedoch Erwin erkannt. Es waren dieselben, die ihn auf Befehl des Grafen, ihres Herrn, in sei Gefängniß hatten abführen müssen, und wenn sie damals die in ihnen aufgestiegene Vermuthung, daß der Graf in ihm keinen Andern als den eignen Sohn auf eine neue grausame Weise bestrafe, aus Furcht unterdrückten, so ließen sie jetzt ihre Bestürzung bei diesem herzzerschneidenden Anblick um so lauter werden. Ein dumpfes Geflüster lief umher, daß der junge Graf erschlagen liege!

In diesem Augenblicke sah man einen Zug mit Fackeln sich nähern, der langsam dem Schlosse zu 193schritt. Männer trugen auf einer Bahre die entseelte Malwine dahin, die das erste Opfer des wilden Thieres gewesen war. Der Bär hatte ihr die Brust zerrissen, und in den Folgen der entsetzlichen Wunde war sie auf der Stelle gestorben. Arno folgte der Bahre, und hob von Zeit zu Zeit die über sie hingebreitete Decke noch einmal auf, um ihre gebrochenen Züge zu betrachten. Die Träger schritten eben die Schloßtreppe hinan, als Arno die immer weiter sich verbreitende Kunde empfing, daß man seinen Sohn im Walde getödtet gefunden.

»Man führe mich an den Ort!« befahl er Dem, der ihm die Nachricht gemeldet. Er trat in den Kreis, wo man um Erwin beschäftigt war, und der helle Fackelschein fiel erleuchtend auf das Antlitz des verblichenen Jünglings. Da erkannte Arno, im sichtlichen Schreck zusammenzuckend, seinen Sohn, und stand erstarrt, ohne daß eine Sylbe über seine sich verzerrende Lippe kam. »Seine Wunde ist tief! Er ist nicht mehr zu retten!« klagten die Umstehenden. Arno beugte sich zu ihm hernieder und wandte sich wieder von ihm ab. Kein Wort vernahm man aus seinem Munde.

In diesem Augenblick hörte man den Hufschlag eines Rosses. Ein Reiter sprengte durch den Wald. Er lenkte sein Pferd nach der Gruppe hin, um den Vorfall, der sich dort ereignet, zu erkunden. Es 194 war der Fürst, der auf der Heimkehr von seinem fehlgeschlagenen Abenteuer begriffen, jetzt dieser nächtlichen Scene begegnete, deren auffallender Anblick seine Neugier reizte und ihn herbeizog.

Er überlief, nachdem er herangeritten war, mit erstaunten Blicken die Versammlung. Arno erkannte den Fürsten zuerst, und indem er ihn grüßte, gab er ihm in kurzer und abgebrochener Rede Aufschluß über den Zusammenhang der Dinge, und bemerkte, daß man die Schuldigen, welche dieß Unglück herbeigeführt, bereits verhaftet habe, um sie den Händen der Gerechtigkeit zu überliefern.

»Dieser Vorfall ist höchst entsetzlich!« rief der Fürst. »Es soll mit aller Schärfe des allmächtigen Gesetzes geahndet werden, was hier wider jedes göttliche und menschliche Recht verbrochen worden ist. Ich lade die Schuldigen vor mein Tribunal, und der Racheengel des Gesetzes wird seine verderblichen Blitze auf Den schleudern, der nicht rein befunden wird in der höchst höchst blutigen Verwickelung dieser Sache! Graf, ich verlasse mich darauf, daß Ihr mir morgen alles Nähere anzeigen und das Weitere in der Untersuchung selbst einleiten werdet!«

Damit wandte er sein Pferd und sprengte davon. Arno blieb unbeweglich stehen, und blickte zu, wie dem Todten eine Tragbahre bereitet wurde.

195 Jetzt erhob sich aus der Ferne eine dumpfe, fragende Stimme: »Wo ist er? Wo ist mein Erwin?« Man wieß den neu Herzugekommenen zu der Gruppe hin.

Es war der alte Valerian. Nach dem Abschied von seiner Tochter umher wandelnd in der Umgegend, hatte er aus den umlaufenden Reden der Leute, die überall durch die vorgehenden Ereignisse in Bewegung gesetzt waren, die Schreckenskunde vernommen, die ihn mit überwältigender Macht treffen mußte.

Er hatte sich an den Ort hinführen lassen. Alle zärtlichen Gefühle für seinen ehemaligen Liebling waren neu in ihm erwacht. Jetzt kam alle menschliche Liebe zu spät für den armen Erwin.

Valerian trat hastig mitten unter die Versammlung. Alle wichen vor seiner ehrfurchtgebietenden Erscheinung zurück, die zugleich in der Aufgeregtheit des Schmerzes Jeden wunderbar befremdete. Sein Blick aber fiel allein auf Erwin, auf dessen Leichnam sich der klagende Greis mit der ganzen Leidenschaft seiner Empfindung niederwarf.

»Bist Du todt, mein süßer Junge?« rief er aus – »Mein zartes Blümchen, haben sie Dich zertreten? Haben sie dem jungen hoffnungsvollen Stamm die Herzwurzel abgenagt? Haben sie den Duft Deines Lebens, die kostbare Blüthenstätte verwüstet? Ach, ich muß mich selbst anklagen, indem 196 ich Dich so liegen sehe, und Deine stumme Miene greift wie ein Vorwurf in mein altes thörichtes Herz! O mein altes thörichtes Herz! Wie oft habe ich es schon beschuldigen müssen! Ja, Dir habe ich zu wehe gethan, Erwin! Und jetzt – jetzt – jetzt vermag ich nichts mehr, es wieder gut zu machen! – Aber o! wie konnte das Schicksal seine zerschmetternde Donnerkeile aufbieten gegen dieß zarte Knabenhaupt und seine gewaltsamsten Wetter toben lassen gegen die unbewehrte Stirn, die nichts als ihre fromme Unschuld entgegenzustellen hatte dem Kampfe! Ach! Ach! Und ich war so verblendet, ihn von mir zu stoßen, als er sich an mich schließen wollte, und ihn allein hinauszutreiben in die wilden Wirren der Welt!«

Er verhinderte die Träger, den Todten fortzuführen. Er blieb lange über ihn hingebeugt liegen, wie überwältigt von dem Ausbruch seines maßlosen Schmerzes. Da vernahm er eine leise weinende Stimme hinter sich, die ihm zuflüsterte: »Er hat Dich sehr geliebt! Er wäre wieder zu Dir gekommen heut noch, wenn ihn nicht der Bär hingestreckt hätte, wie er jetzt liegt!« Valerian wandte sich um. Isabelle stand dicht hinter ihm. Sie blickte ihn aus trauernden Augen bedeutsam an, aber sie schien in ihrem Leid ruhiger und gefaßter geworden zu sein.

197 »Er war ein Kleinod der Jugend!« fuhr Valerian zu klagen fort. »Ich hatte ihn immer über Alles gern um mich gehabt! Als Kind war er mir wie ein frischer Morgenstrahl in meinem Leben, und sein Gemüth ging lieblich vor mir auf, und entfaltete sich zu einer schönen, glücklichen Bildung! Als heranwachsender Jüngling flocht er frohe Kränze in mein graues Haar durch die Liebenswürdigkeit seiner Talente, durch die Anmuth seines Geistes, und nur das einzige Mal, in einem dunkel verworrenen Wendepunkt meines eigenen Lebens trieb mich ein unglücklicher Wahn, ihm Unrecht zu thun, und meinen treuen Liebling von mir zu weisen! – Ach! wie sein Gesicht jetzt im Tode wieder so ähnlich sieht dem süßen harmlosen Ausdruck, den es als Kind immer hatte, und durch den es mich entzückte! In den stillen Gesichtern der Todten verblassen und verschmelzen alle falschen und fremden Lebensfarben, die ihnen angehaucht hatte die Welt, und aus den verdunkeltsten Zügen tritt der helle, reine Grund der verklärten menschlichen Form hervor, wie ein leuchtender Friedensbogen aus stürmischen Nächten! Jetzt jetzt ist er wieder ganz mein Erwin, und doch ist er nicht mehr mein! Die Gesichter der Gestorbenen rühren uns zur Liebe, aber wir lieben, was uns nicht mehr gehört! Ueber den Gesichtern der Todten scheint in heimlichen winkenden Zügen eine lesens 198werthe, inhaltsvolle Schrift zu stehn! Wir beugen uns über sie und können sie nicht lesen, aber wir ahnen, daß das todte Antlitz mit uns von seiner Zukunft sprechen und daß es uns sagen möchte: ›In meinen Mienen ist kein falsches Leben mehr! Ich bin ein Angesicht des Geistes und der Wahrheit geworden! Ich leuchte freudig im Schimmer Dessen, der unser Aller Herr ist! Ich bin in den himmlischen Gesichterfrieden eingegangen, der süßer ist, als alle heitern und lächelnden Mienen dieser Welt!‹ Ja! Ja! Erwin, Du bist eingegangen in den Gesichterfrieden! Friede sei mit Deinem trauten Gesicht! Wäre er es erst mit uns Allen!«

»Friede sei mit seinem trauten Gesicht und mit uns Allen!« wiederholte Isabelle kaum hörbar. Jetzt erhob sich Valerian und blickte im Kreise um her. Sein Auge traf auf Arno, der, einer sprachlosen Bildsäule gleichend, noch immer erstarrt dastand, und mit eiskalter Miene den auf ihn gehefteten Blicken Valerians begegnete. Er hatte ihn längst erkannt. Valerian aber bebte krampfhaft zusammen, als er dieser Gestalt in diesem Augenblick ansichtig werden mußte. Alle seine Leidenschaft loderte von Neuem in ihm empor, und wuchs, je länger er den Gegendüberstehenden betrachtete.

Er tmt einen Schritt zu ihn vorwärts, und wankte in demselben Moment, wie von der innern 199 Gewalt seines Zornes hintenüber gerissen, wieder zurück. »O! O!« rief er dann, sich abwendend und seine Augen mit der Hand bedeckend. – »Nur dieß Gesicht nicht! – Nur dieß Gesicht nicht. Muß es mir doch noch einmal begegnen? – Ich hatte geglaubt, von ihm frei zu sein, aber es kommt immer wieder, und grinst mich an mit seiner schönen, glatten Regelmäßigkeit, als wolle es mich von Neuem verführen und berücken! Nein! Nein! es ist noch nicht Friede mit uns Allen! – O weh! Schafft mir denn Keiner dieß schöne Medusenhaupt aus den Augen? Hu! Es erstarrt ja mein Herz zu Stein, dieß Medusenantlitz, – aber aus dem steingewordenen Herzen in mir schlagen schon brennende Funken heraus, und die Funken schwellen an zu Flammen der Rache! Ich ertrage es nicht länger!« –

Er schritt auf Arno zu, und ergriff ihn beim Arm. – »Komm! Komm!« sagte er zu ihm mit gedämpfter Stimme »Wir wollen es allein ausmachen, was zwischen uns waltet! Komm, komm in das dunkelste Gebüsch, wo wir mit einander sprechen können, ohne uns anzuschaun!« –

Er zog ihn hastig mit sich fort, und der Andre, wie willenlos ihm folgend, sträubte sich nicht. Die Uebrigen blickten ihnen entsetzt nach. Man vergaß 200 fast über dem neuen räthselhaften Auftritt die vorher erlittenen Schrecken. –

Valerian führte seinen Gegner lange mit sich fort, tief durch den Wald, an die ödeste Gegend. Beide schwiegen, während sie so nebeneinander schritten, und der Eine noch nicht ahnete, was des Andern befremdendes Thun im Sinne habe, aber Jeder schien es zu scheuen, die gegenseitige Stille zuerst wieder zu unterbrechen. Arno fragte nicht, was Valerian mit ihm wolle.

Endlich stand Valerian still, und sagte: »Wir müssen wie Männer die zwischen uns herrschende Lebensfrage für immer entscheiden! Wir können nicht beide zugleich leben! Ich kann nicht sein, wo Du bist, und Duldung liegt nicht in meinem Charakter! Darum fordere ich Dich jetzt zum Zweikampf! Wir müssen uns schlagen! Du hast ja mir und meiner Tochter schon so manche tiefe Wunde geschlagen, an der unser Lebensglück sich verblutet hat! Jetzt triff mich mit der letzten Wunde, denn Deine Hand ist jung und die meine führt nur noch zitternd das Schwert! Aber gekämpft muß werden, und der Kampf soll uns endlich von einander scheiden! Das Leben führt uns doch immer wieder zusammen, und nur der Tod scheidet ganz die Todfeinde auseinander. Durch einen Irrthum hatten wir uns liebgewonnen, und als wir die Wahrheit erkannten, 201 war aus der Liebe ein Haß geworden! Es wird Jedem süß sein, wenn wir uns nie wieder zu begegnen fürchten dürfen! Darum komm! Ich streite zugleich für Mathildens Ehre, die noch ungerächt gegen Dich klagt! Darum komm!«

»Du findest mich bereit, jede Genugtuung zu geben!« erwiederte der Andre finster und einsylbig. »Laß uns also einen geeigneten Ort aufsuchen, um Deinen Wünschen zu willfahren!« –

Nach diesem Zwiegespräch drangen sie weiter durch das Dickicht vor um an einer lichtern Stelle des Waldes ihren Kampfplatz zu wählen. – –

Unterdeß hatte Isabelle an dem Ort, wo wir sie eben verlassen, ihren Erwin forttragen sehen. Der entseelte Körper des Jünglings war in das Schloß gebracht worden, und die Uebrigen, welche Neugier und Entsetzen hier versammelt gehalten, folgten entweder dorthin oder zerstreuten sich. Isabelle folgte nicht. Sie war allein zurückgeblieben, und fand sich, als sie aus ihrem trauernden Nachsinnen erwachte, plötzlich ganz einsam in der öden Umgegend.

Sie blickte sich nach ihrem Löwen um, der sich inzwischen im Gebüsch verborgen gehalten, und jetzt auf ihren Ruf wieder zu ihr herangesprungen kam. Er schmeichelte mit wedelndem Schweif seiner Herrin, 202 und sie strich liebkosend die Mähne, indem sie zu ihm sagte: »Du sollst mit mir gehn, Hyacinth! Fort, fort, in die verschwiegene Nacht hinaus!« –

Sie ging langsam von dannen, und das getreue Thier folgte ihr nach. Sie durchschritt weit den Forst, bis sie an die verlassenste und wildeste Gegend desselben gekommen war, wo eine gebirgige und felsige Erhöhung des Bodens begann. Sie erkletterte, ohne zu ermüden, einen Hügel nach dem andern, und gelangte so an den Fuß eines hoch emporragenden Felsens, den sie mit größter Anstrengung erstieg, indem der Löwe folgsam immer hinter ihr blieb. Oben angelangt auf der Felsspitze, die in grotesker Höhe über dem nächtlichen Walde hing, stand sie still, und freute sich über die ganz von aller Welt abgeschiedene, feierliche Einsamkeit, welche sie hier umgab. Die größten und schönsten Sternbilder waren hell am Himmel aufgetaucht, und leuchteten auf das schmerzenvolle Haupt des Mägdleins hernieder, die sich ihren geliebten Sternen, an denen immer sehnsuchtsvoll ihr Auge hing, näher als je an diesem Orte befand.

Sie blickte mit gefalteten Händen gen Himmel, und ließ ihr Auge ahnungsvoll über die hohe unbewegte Fläche des Horizonts hinschweifen. Dann schaute sie hinunter in den vor ihr liegenden Abgrund, 203 der sich dicht zu ihren Füßen am Rande des Felsens eröffnete. Ein Schritt weiter vorwärts gethan, mußte sie rettungslos in die jähe Tiefe hinunterstürzen. Sie aber schauderte nicht davor zurück, sondern sagte ruhig zu sich selbst: »Nun weiß ich, was ich will! Der Friede und das Ende wird kommen, und die Sterne scheinen mir dazu, wie sonst auf meinen Wanderungen durch schöne Nächte! Ich bin ein ganz verlassenes Mädchen, und habe nur unter den Todten Die, welche ich liebe! Mein Lieben zieht mich in den Tod hinunter!« –

»Ach,« fuhr sie fort – »daß ihn gerade eines von den Thieren meines Vaters zerreißen mußte! Aber still! still! es soll nun nicht mehr gejammert werden um den geliebten Freund! Muthig, aber schmerzvoll, fließen die letzten Thränen dahin, die letzten Thränen, sanfte Thränen, und der kühle Nachtwind trocknet sie mir tröstend von der Wimper! Rauscht nur, ihr Nachtwinde! sie quillen wieder nach, die Thränen, die ihr von des armen Mädchens Wangen fortgefächelt habt! Rauscht! rauscht! ich will weinen! Ich denke an Erwin und an meinen Vater! Ich denke und sinne und trauere und das Herz springt mir entzwei. Ach, ich muß beten!« –

204 Sie sank auf ihre Knie nieder, und der eben hinter Wolkenschleiern aufgehende Mond bestrahlte ihr andächtiges Gesicht, das sich flehend empor richtete. Sie betete: »Unser Vater, der Du bist im Himmel und auf Erden! Verzeih, verzeih! wenn ein einsames Kind nicht länger Ruhe hat zu wandeln durch Deine Tage, durch Deine Nächte, auf Deinen Triften und unter Deiner Sonne! Verzeih, verzeih! wenn es andere Ruhe sucht, denn es will eingehen, o Herr! in Deinen Frieden, zu dem Du längst Die, denen ich angehöre, versammelt hast! Keine Kirchenglocken werden läuten, keine Freunde werden klagen, wenn Isabelle gefallen ist. Sie wird zerschmettert ruhn unten in der Felskluft, aber sie wird sanft ruhn, wenn sie in Deiner Gnade ruht!« –

Sie stand wieder auf und sagte: »Ich kann nicht länger beten, mir wird so angst! – Sonst, sonst, als ich noch klein war, konnte ich am schönsten beten, wenn ich still und fromm in meinem Bettchen lag, und der Vater mich die Hände falten lehrte und die Mutter das Abendlied sang. Dann betete ich, bis ich einschlief. Heut hab' ich vor der großen Sternennacht gebetet! Könnte ich doch auch nun einschlafen wie sonst, wenn ich gebetet hatte, zum ewigen Schlummer! Ach, Vater und Mutter, die mich fromm sein lehrten, sind ja todt, und Erwin ist hin, den ich zuletzt geliebt! Er, er, er, ohne 205 den ich nicht mehr wandeln mag im Sonnenschein und auf den Frühlingsbeeten der Erde! O, was ist der Frühling ohne ihn, und was ist der Tagesglanz ohne seine Gestalt und sein Antlitz! Darum zieht es mich, darum zieht es mich hinunter, ehe der neue Tag noch wiederkehrt, der Tag ohne ihn!« – –

»Willst auch Du mit mir sterben?« fuhr sie, zu ihrem Löwen gewandt fort, der sich ruhig neben ihr hingelagert hatte. – »Armer Hyacinth, was willst Du noch allein in der Welt zurückbleiben? Sie werden Dich fangen, und Dich doch wieder in einen Käfig sperren, und Du wirst vergebens um Freiheit schrein! Sie werden Dir nicht glauben, daß Du so zahm und friedfertig bist. Komm, komm, Gespiele meiner Kindheit! Wir haben oft zusammen gescherzt, wir wollen nun zusammen sterben!« –

Sie führte ihn an den Rand des Felsens, dicht vor den Abgrund. Dann legte sie sich mit ihren Körper ganz über ihn hin, und klammerte sich an seiner langen Mähne fest. Hierauf schloß sie die Augen, drängte das folgsame Thier einen Schritt vorwärts, und stürzte mit ihm in die Tiefe hinunter.

Weithin dröhnte das Gebrüll des zerschmetterten Löwen durch die Nacht, im dumpfen Wiederhall der Felskluft sich vervielfältigend, und übertönte das leise Ach des sterbenden Mägdleins, die unter ihrem 206 letzten Seufzer bald ausgeathmet hatte. Wilde Gesträuche, wie sie der Felsboden trieb, bogen sich mit traurig rauschenden Zweigen über ihr Grab zusammen, und gewährten den gebrochenen Gliedern eine heimliche Ruhestätte.

Da rissen sich allmählich vom Horizont die Schatten der Nacht los, und begannen in fahle Lichtstreifen zu verblassen. Der Mond ging unter, die Sterne verloren sich in bleiche Puncte, es fing an zu tagen. Die ersten Dämmerscheine des anbrechenden Morgens flogen über die Gegend. Der blinkende Frühnebel wälzte sich in starken Bewegungen über den Wald hin. Der Tag ging auf über Isabellens Grab. –

Es traten zwei Gestalten aus dem Wald heraus. Jeder trug sein gezücktes Schwert in der Hand. Sie hatten sich im nächtlichen Forst verirrt, und erst jetzt den Ort gefunden, den sie suchten. Sie näherten sich dem Hohlwege, der sich unter dem Felsen hinstreckte, und sagten zu einander: »Hier ist der beste Platz, um uns zu schlagen!«

Valerian erhob das Schwert und Arno stellte sich ihm in abgemessen er Ordnung gegenüber. Sie standen nur wenige Schritte von dem Ort, wo Isabelle lag.

Da traf Valerians Blick, indem er eben auf seinen Gegner losgehen wollte, auf den Kopf des ent 207seelten Mädchens, der, im Falle noch unversehrt geblieben, aus dem Gebüsch hervorragte, das die übrigen Theile des Körpers bedeckte. Der Kopf sah deutlich und unverkennbar zu ihm herüber. Er stutzte und ließ sein Schwert niedersinken, indem er dem andern sprachlos auf die Stelle hindeutete. Dann stürzte er zu dem Leichnam hin, zog ihn hervor, betrachtete ihn lange, und blickte dann laut aufseufzend gen Himmel.

»Auch dieß liebe gute Mädchen!« rief er klagend. – »Dieser Anblick giebt meinem Herzen den letzten Stoß, und macht mich todesmatt.« – Er setzte sich wie erschöpft auf ein hervorspringendes Felsstück nieder, und hing sein Haupt in sich versunken auf die Brust herab. Arno war in einiger Entfernung von ihm stehn geblieben, und hatte die Spitze seines Schwertes gegen den Erdboden gekehrt.

»Wo ich gehe, stoße ich auf zertrümmertes, hingesunkenes, gestorbenes Glück! Ich bin wie ein Leichenvogel!« fuhr Valerian fort. – »Bald möchte ich glauben, es sei nichts als ein Blendwerk meiner trüben altersschwachen Augen, das mir überall nur noch die abgeblühten Gesichter des Unglücks zeigt. O ich alter unheilvoller Gesichterseher! – Dieß arme Mädchen war eine ernste wunderbare Trauerblume, die früh ihrem Ende entgegenblühte! Es war ein seltener Geist in ihr! 208 Jetzt liegt sie entseelt, und ihr Löwe dort neben ihr zerschmettert, wie sie selbst! O welch ein grausames Verhängniß hat hier gewaltet?« –

In diesem Augenblick begannen sich Vorboten der aufgehenden Sonne am Morgenhimmel zu zeigen. Einige rothe Strahlen ließen von Osten her die Umgegend in immer hellerem Glanze auftauchen. Valerian schauderte unwillkürlich vor dem kommenden Tag zurück, der es ihm jetzt erst ganz fühlbar zu machen schien, welche Nacht er heut durchwacht hatte.

Da beleuchtete ihm der Tagesschimmer Arnos fernstehende Gestalt. – »O!« rief er aus, sich schüttelnd. – »Der Tag ist grausam! Er zeigt mir auch diesen noch, er zeigt mir deutlich in der Sonnenhelle das verhaßteste Gesicht meines Lebens! Drinnen in der Wäldernacht konnte ich es dulden, aber jetzt, da der Tag es bescheint, hell und grell, fühle ich, überkommt mich sein Anblick wie Todesqual!«

»Hu!« fuhr er fort – »wie er dort steht, kalt und finster auf mich herschauend, während er sonst immer so gleißnerisch heiter war! Habt Mitleiden mit mir armen Mann! Schafft mir doch dort den Basilisken aus den Augen, der durch seinen giftigen Anblick mich tödten will! Es sticht mir die Augen aus, wenn ich ihn ansehn muß! O! O! 209 An diesem Gesicht sterbe ich! Ja, ich weiß dieß Gesicht ist mein Tod!« –

»Er weicht nicht von der Stelle, der Basilisk – er steht starr und unbeweglich!« sprach er weiter in sich hinein, indem er vor innerer Aufregung krampfhaft zitterte. – »Ich wollte mich mit ihm schlagen, um es auszufechten, daß Einer von uns den Andern nicht mehr sieht! Aber jetzt, da der Tag in sein Gesicht scheint, jetzt graut mich davor, mich mit ihm zu schlagen! Jetzt kehre ich lieber die Waffe gegen mich selbst, um ihn nie mehr zu sehn, nie, nie, nie mehr zu sehn! Dann habe ich mich für die Ewigkeit befreit von diesem Gesicht, das, will ich zu Gott bitten, weder meinen Himmel noch meine Hölle, je mit mir theilen mag!« –

Im dunkeln, unseligen Wahn, der sein Gemüth hingerissen, zückte er das Schwert, das er noch in der Hand gehalten, und stieß es sich zweimal in die Augen. »Nun sehe ich sein Gesicht und kein Gesicht je wieder!« schrie er, und sank von dem fürchterlichen Schmerz der blutenden Augen zu Boden geworfen, ohnmächtig nieder.

Arno trat entsetzt zu ihm hin, und hob den Greis in seinen Armen empor. Dann ließ er ihn bebend wieder zur Erde gleiten.

In diesem Augenblick ertönten Hüfthörner durch den Wald. Es waten Arnos Diener, die, von 210 banger Besorgniß um ihren Herrn getrieben, ihn die ganze Nacht hindurch im Forst gesucht hatten. Arno erwiederte ihr Zeichen, um ihre Aufmerksamkeit hierher an diesen Ort zu lenken, wo er ihrer Hülfe bedurfte. Endlich traten sie herzu und empfingen staunend die Befehle ihres Herrn, der ihnen auftrug, den ohnmächtig daliegenden Valerian ins Schloß zu bringen und überall nach Aerzten umher zu senden.

Während sie den Greis auf ihre Schultern luden, um ihn fortzutragen, sagte Arno, indem er schaudernd auf seine Wunden blickte, die sich Jener selbst geschlagen: »Hu! Hu! Mein Haar sträubt sich empor vor Entsetzen ob dem Allen, was ich in dieser Nacht hörte und sah! Graun hat sich für meine ganze Lebenszeit mir in die Seele geschlichen. Ich werde fliehen und nie wiederkehren in diese Gegend. In entlegnen Ländern, jenseit des Meeres, soll alle Spur von mir sich verlieren!« –

Er eilte von dannen, wie ein von den Furien Getriebener, und war bald hinter den Gebüschen verschwunden. Er hielt Wort, und wurde nie wieder gesehn, noch vernahm man Kunde von seinem ferneren Schicksal. –

Valerian war in ein Zimmer des Schlosses gebracht worden und lag im heftigsten Wundfieber, 211 wie es schien, besinnungslos, auf einem Ruhebett. Einige der Diener waren nach ärztlicher Hülfe ausgesandt, während Andere nach dem Ort in der Felsschlucht zurückkehrten, um Isabellens Leichnam einzuholen. –

Der geblendete Greis schien jetzt von seinem krankhaften Schlummer leise zu erwachen. Seine Tochter Mathilde, mit ihrer kleinen Tony an der Hand, stand vor seinem Lager, und beugte sich jetzt weinend zu ihm herunter, als er sich zu regen begann:

»Mein Vater!« flüsterte sie ihm zu – »wie ist Dir? – O kann ich nichts zu Deiner Linderung thun?«

»Ach, bist Du es, meine Tochter?« entgegnete er schwach, indem er sich ein wenig emporrichtete. – »Deine Stimme, die süßklingende, die immer mein Herz trifft, würde mich stets wieder zum Leben aufrufen, so lange noch Athem in mir ist! O laß mich Deine Hand küssen, Mathilde!«

Sie legte schluchzend ihre Wange an die seine, und vermochte ihrem gränzenlosen Schmerz keine Worte mehr zu geben.

»Selbst unter den Riesenschmerzen meiner Augen« – fuhr er stöhnend fort, »selbst unter 212 den fürchterlich brennenden Schmerzen dieser zerstochenen Augen freut es mich noch, Dein liebes, gutes, weiches, warmes Gesicht, dessen Anblick mir immer Lebensstärkung gewesen, so an dem meinigen zu halten. – Aber ach! ich kann Dich nicht mehr schaun! – Ach! Ach! auch dieß Gesicht kann ich nun nicht mehr schaun! – Ich alter eifriger Physiognom, kann kein Gesicht mehr schaun!« – –

Seine körperlichen Schmerzen, die ihn dem Tode immer näher führten, ergriffen ihn jetzt wieder so stark, daß er hintenübersank und in ein fieberhaftes Phantasiren sich verlor.

»Sie rauscht vorüber« – rief er, wie vor sich hinträumend – »sie rauscht an mir vorüber, die ganze irdische Gesichterwelt – kein Bild bleibt in meinen dunkeln Augen zurück! – Aber sieh! dort oben schwebt es, hoch im Himmelblau, da sehe ich es schweben, das Menschenantlitz, in verklärten Zügen! – Das Zeitalter der Stürme hat sich beruhigt in den streitenden Formen – den Gottesfrieden seh' ich angebrochen im Menschenantlitz, und das Menschenantlitz leuchtet hoch oben im Himmelblau, vergeistigt zu einer sanften, lächelnden Sonne! So, so sieht es zurück auf die Welt, wo es unruhige Form gewesen! – – Ah! Dank, daß ich diese Apotheose der irdischen Gesichter erlebe! – Ah! Mir ist wohl! Mir wird so hell! – Selbst 213 mein zertrümmertes Auge beginnt wieder zu sehen!« – –

»Ich sehe euch, ihr milden tröstlichen Gestalten, die ihr immer die schönsten und die liebsten mir gewesen!« fuhr er fort, indem er, in der letzten Erregung seiner Natur wie mit geistiger Sehkraft erfüllt, sich wieder emporzurichten suchte, und die Umstehenden anzublicken schien. – »Ich sehe Dich, ich sehe Dich, Mathilde! und der Versöhnungsengel grüßt mich aus Deinen blauen Augen! – Ich sehe – ich sehe – ach! ach! der Versöhnungsengel – aus blauen Augen« – –

Mit diesen Worten war er hinübergeschlummert, und die Tochter hielt den entseelten Vater in ihren Armen. –

Aus der unendlichen Trauer erweckte sie zuerst ihr Kind, das weinend die Händchen nach ihr ausstreckte. Sie nahm es auf ihren Arm, küßte es und sagte: »Ja, Du bist mir geblieben, liebliches, theures Kind! An Dir will ich halten, da Alles sonst mich verlassen hat, und in stiller Schmerzensandacht das Gedächtniß des Vaters und meines Erwin bewahrend, will ich doch leben und thätig sein für Dich! Deine Pflege, Deine Erziehung und Bildung soll mein tröstender Beruf sein, und wird, wenn Gott seinen Segen gibt, lindernd die Länge der Stunden ausfüllen!« –

214 Das Kind schmiegte sich an den Nacken der Mutter, und sagte, auf das verklärte Antlitz des Todten hinweisend: »Jetzt ist der Mann dort recht still, und sieht so schön aus. Worüber freut er sich so?« – –


 


 << zurück