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Der himmelblaue Wagen

Erstes Kapitel.
Der Bahndamm

Durch die trostlose Armseligkeit der weiten Ebene, in der nur kümmerliche Stauden und Unkraut um verschilfte Tümpel wucherten, zog ein Bahndamm seine schnurgerade Narbe. Auf seinen Böschungen blühten der Ginster, die Schlehe und die Dornstaude, und hundert namenlose Pflanzen webten ein buntes Muster aus Sternen und Glöckchen, Blättern und Ranken über ihn. Wilde Bienen, Mooshummeln, graue Wespen und gelbe Hornisse hatten da ihre Nester, und nirgends war es so einsam und menschenleer. Nur der Streckenwächter ging zu bestimmten Stunden über den Damm; der war aber selber ein Einsamer und durchbrach so eigentlich nicht diese Einsamkeit, weil er gleichsam zu ihr gehörte. Freilich polterten und ratterten jeden Tag acht Züge über die Schienen, aber die regelmäßige Folge ihres Heranbrausens und Entschwindens wurde zu einer selbstverständlichen, gewohnten Erscheinung, so wie etwa der Wächter zur Stunde seines Dienstganges oder wie Aufgang und Untergang der Sonne.

In diese Einsamkeit verlief sich Georg Sterngraber, als er vor den Gendarmen floh.

Die ersten zwei Nächte schlief er auf einem Lager aus Moos und vorjährigem Laub, das er sich unter einem Erlenbusch zusammengetragen hatte, und lebte von einem kleinen Vorrat Speck und Brot. Als er damit zu Ende war, verließ er am dritten Tag sein Versteck. Wo eine Kirche steht, ist auch ein Wirtshaus oder ein Krämerladen dabei. Weit drinnen in der Ebene hatte er einen Kirchturm gesehen.

Zu Mittag erreichte Sterngraber ein Dorf und ließ sich vom Krämer den Rucksack mit Esswaren füllen. Am schwarzen Brett des Gemeindehauses sah er seinen Steckbrief. Auch der pfiffigste Polizist hätte ihn nach dieser Personenbeschreibung nicht erkannt, so ungenau waren die Angaben.

Am Rückweg fand er in den Sümpfen, unweit des Bahndammes, auf einen Art Insel in dichtem Gestrüpp versteckt, eine Hütte. Da keinerlei Spuren eines Weges oder Steiges zu finden waren, musste sie sehr lange nicht benützt worden sein und war vielleicht ganz vergessen. Sterngraber freute sich unbändig über die Entdeckung dieses erwünschten Unterschlupfes und nistete sich auch sofort ein. Er beschloss, so lange hierzubleiben wie es ging, und verbrachte die nächsten Tage damit, die Hütte wohnlich einzurichten. Dazwischen streifte er stundenlang durch die endlosen Sümpfe oder lag irgendwo im Schatten der Erlenbrüche. Im Gefühl der Freiheit und sicher, hier nicht entdeckt zu werden, schlug er einmal plötzlich übermütige Räder und Purzelbäume über die Mooswiesen seines Reiches, von dem er Besitz ergriffen hatte mit dem Recht der Vagabunden und Strolche, deren einer er jetzt war. Solange niemand kam und ihn vertrieb oder aushob aus seinem Bau, war er hier unumschränkter Herrscher.

Anfangs, wenn er ins Dorf ging, war wohl etwas Unruhe in ihm. Der Krämer hatte ihn einigemal nach dem Woher und Wohin gefragt, war aber dann zufrieden, als er ihm sagte, er käme aus dem entlegenen Weiler jenseits des Moores. Später fühlte er sich schon so sicher in seinem Versteck, dass er sogar oft Lust bekam, den Streckenwärter anzusprechen. Aber dann wagte er es doch wieder nicht.

So galt Georg Sterngraber als spurlos verschwunden und wäre vielleicht noch lange nicht unter die Menschen zurückgekehrt, wenn nicht der Eisenbahndamm gewesen wäre.

Täglich brausten die Lokomotiven über die Schienen, und der Schein der Nachtzüge huschte durch das Gezweig bis zur Hütte. In der ersten Zeit versteckte sich Sterngraber, wenn ein Zug vorbeikam. Später zog es ihn zur Gewohnheit, die Züge zu erwarten und nach den Gesichtern hinter den Fenstern zu starren. Dabei spuckte er verächtlich aus und ballte die Fäuste oder fluchte über das »Gesindel« – so hasste er die Menschen. O, wie gut er sie kannte, diese Heuchler und Komödianten! Diese Verbrecher und Sünder! Durch alle Laster hatten sie ihn gelockt und unter den Händen, die so viel von ihm genommen hatten, war dann keine, die gab, als er nichts mehr besaß und Schande auf sich geladen hatte. Sie hatten ihn verkommen lassen bis zum Dieb. Er hasste auch den Damm, der diese Verhassten vorbeitrug und so die Ruhe störte, mit der ihn die Wildnis umgab. Aber manchmal wieder überfiel ihn die Stille und Einsamkeit wie Furcht. Und je einsamer er wurde, desto mehr reifte in ihm der Entschluss, sich an der Menschheit zu rächen. Und als ihm eines Tages aus einem Fenster des Mittagszuges ein fauler Apfel ins Gesicht flog – er wusste genau, dass es nur ein Zufall sein konnte – nahm er sich trotzdem mit grausamer Freude vor, seinen Vorsatz auszuführen.

Der Bahnwächter war kaum von seinem Streckengang von dem Nachtschnellzug zurück, da wälzte Sterngraber einen schweren Stein auf den Damm. Durch die Stille der Nacht kam zeitweise ein gedämpftes Stampfen – kam und verlor sich – und kam wieder, bis es blieb und immer deutlicher und mächtiger wurde. In wuchtigem Gleichmaß von ratternden Stößen brauste aus der Ferne der Schnellzug heran. Blendende Lichter zerrissen das Dunkel, und springende Schatten umgeisterten den Damm.

Nur noch zehn Sekunden … zwei Sekunden nur noch … dann …

Auf dem Damm kracht Eisen auf Stein, knirschen die Räder – einen Augenblick nur – dann rollt der schwere Steinblock über die Böschung hinab und bleibt mit dumpfem Aufschlag vor Sterngraber liegen. Der Zug rast weiter, es war nichts geschehen.

Die zwei Lampen am letzten Wagen verschwanden wie spottende Augen in der Nacht.

Da stürzte über Sterngraber plötzlich seine ganze elende Verkommenheit herein, und er warf sich, von Selbstverachtung gepackt, auf die Erde. »Schuft!« … zischte es ihm aus allen Schatten entgegen, und dies Wort brannte wie Feuer in seinem Hirn.

Er kauerte wie ein wundes Tier, halb in die Erde eingewühlt, bis der Morgen kam.

Über dem Damm lag die helle Frühsonne, und Sterngraber erkannte auf einmal das Wesen des Dammes. War er nicht eine Brücke, die das Leben über Sumpf und Ödland von Ufer zu Ufer trug? Die Einsamkeit hatte er hier gesucht und fand den Rhythmus lebendigsten Lebens an einem Bahndamm, der seine Spur so gerade und unveränderlich zog, wie ein aufrechter Mensch unbeirrbar seinen Weg geht.

Sterngraber stieg über die Böschung hinauf und stand erschauernd vor der Stelle seines gescheiterten Verbrechens. Die eine Schiene zeigte Schürfungen. Von den Bohlen waren ein paar Späne abgerissen, und durch den Ginster der Böschung hatte der niederrollende Stein eine schwache Spur hinterlassen. Das war alles.

Da wurde ihm seine ganze Schwäche und krankhafte Unvernunft bewusst, mit der er sich gegen die Menschen und das Schicksal aufzulehnen gewagt hatte.

Blank und glitzernd liefen die Schienen über den Damm, schnurgerade nach Westen und Osten. Ganz draußen am Horizont vereinigten sie sich nach beiden Richtungen und verloren sich dem Auge. Und doch wusste er, dass sie immer gleich liefen, stundenlang – und tagelang durch das ganze Land und weiter über das Festland bis in die Meere.

War das Leben anders?

Er hatte es freilich nur immer von seinem engen, selbständigen Gesichtsfeld aus betrachtet. Er hatte sein Teilstück für das Wichtigste gehalten und vergessen, dass hinter allen Enden wieder Anfänge liegen und jedes Wesen nur ein Glied in der Kette ist. Entfliehen wollte er den Gesetzen des Lebens. Selbst in dieser Einsamkeit noch hatte ihn der Wirbel des urewigen Kreislaufes erfasst und bezwungen.

Dies alles erkannte er. Da fielen auch die letzten Hemmungen von ihm, und als er den Bahnwärter von Osten her über den Damm kommen sah, ging er mit festen Schritten nach Westen.

 

Zweites Kapitel.
Der Stromer

Den ganzen Tag wanderte Sterngraber. Er war glücklich über seine innere Zuversicht und voll Hoffnung, dass es ihm gelingen werde, wieder in das rechte Geleise zu kommen. Gegen Abend tauchten vor ihm bereits die dunklen, langen Rücken des Böhmerwaldes über der Ebene auf. Dort war schon die Landesgrenze und dahinter Bayern, da wollte er in irgendeinem Nest für zwei, drei Jahre verschwinden. bis die Unterschlagung der lumpigen 50.000 Kè vergessen war.

Wenn er sich als Knecht verdingte, würde in ihm niemand den Bankbeamten Sterngraber suchen. In den Ferien seiner Gymnasialzeit hatte er daheim in der Wirtschaft immer fleißig mitgeholfen, und es war ihm keine Bauernarbeit fremd, wenn auch die Hände der Schwielen entwöhnt waren. Vielleicht konnte er in einen Hof einheiraten. Dann würde am Ende sein Fehlgang noch der Weg zum Glück.

Sterngraber blieb mit gespreizten Beinen mitten auf der Landstraße stehen und streckte die Hände zum Himmel. »Gut wird's! Alles wird wieder gut!« dachte er, »nur helfen musst du mit ein wenig, du Geheimnisvoller, du Herrgott oder wie du heißt.« Dann eilte er weiter und säbelte mit dem Wanderstecken die Blütenköpfe von den Gräsern am Straßenrand.

Aus der Dämmerung leuchteten die fernen Lichter einer Ortschaft. »Dort wird mein letztes Nachtquartier herüben sein«, freute sich Sterngraber. »Morgen bin ich schon über alle Berge.« Er malte sich aus, wie er sich im Wirtshaus auftischen lassen würde, zur Feier des glücklichen Entwischens und zur Stärkung seiner neuerwachten, gesunden Freude am Leben.

Da kam quer durch das Getreide auf einem Feldsteig ein Gendarm.

Wenn er die Füße nicht tüchtig unter die Achseln nahm, musste er dort vorne, wo der kleine Fichtenschlag begann, mit ihm zusammen treffen. Sterngraber fing an, immer schneller zu gehen, und an der Stelle, wo der Gehsteig die Landstraße kreuzte, lief er beinahe. Jetzt erst fiel ihm ein, dass er einen Fehler gemacht hatte und dem Gendarmen gerade dadurch verdächtig werden musste. Wieder langsam zu gehen und sich einholen zu lassen, wagte Sterngraber nicht: er hastete weiter.

Nach ein paar Schritten bog die Landstraße in den Wald ein. Sterngraber sprang ins Dickicht und ließ mit verhaltenem Atem den Gendarmen vorbeikommen. Der ging ruhig seines Weges. Nichts deutete darauf, dass er ihn suche. Aber das konnte auch eine Finte sein. Der Spitzel tat nur so, um ihn dann umso sicherer zu erwischen. Jedenfalls durfte er in der nächsten Ortschaft nicht einkehren.

Da es schon finster war, musste er es dem Zufall überlassen, wohin ihn die steinige Schneiße, die im rechten Winkel von der Landstraße abbog, hinführte. Der Durchhau wurde bald immer schmäler und verlief zu einem Pfad, der sich auf einer Waldblöße ganz verlor.

Am Waldrand gegenüber sah Sterngraber den roten Schein eines offenen Feuers. Dahinter stand ein gedeckter Wagen, wie ihn Zigeuner und Wanderkomödianten haben. Vor dem Feuer hockten ein Mann und ein Weib. Auf der Wiese grasten zwei Pferde. Wenn nicht mehr Gesindel da war, brauchte er sich nicht zu fürchten. Er ging hin und sagte: »Guten Abend«. Der Mann schaute nicht auf. Das Weib dankte.

Sterngraber hatte erwartet, dass sie erschrecken würden; jetzt war ihm selbst beinahe ängstlich vor den Zweien, die sein Auftauchen für ganz selbstverständlich nahmen. Der Mann legte Holz nach, die Frau spickte ein Stück Fleisch, aber keines kümmert sich weiter um ihn. Sterngraber wusste nicht, sollte er gehen oder bleiben. Nach einer Weile sagte der Mann – seine Stimme klang heiser und abstoßend – »Komm her … oder schau, dass du weiter kommst!«

»Na, na«, sagte Sterngraber, um überhaupt etwas zu sagen.

Der Mann hob den Kopf: »Was willst du?«

»Ich habe mich verirrt und finde den Weg nicht mehr.«

»Wohin?«

»Wohin?« – Das weiß ich selbst nicht. Irgendwohin, wo ich übernachten kann.«

Sterngraber fühlte die scharfen Augen des Mannes auf sich.

»Du weißt also nicht, wohin du willst? Dann bleib da. – Wir wissen auch nicht, wohin wir wollen.«

Der Mann verzog sein stoppeliges, verlebtes Gesicht in höhnische Falten und schlug sich mit den blautätowierten Händen auf die Schenkel. »Setz dich her!«

Sterngraber sah, dass ihn dieser Kerl durchschaute und ahnte, dass mit ihm nicht alles im Rechten war. Er suchte nach einer Ausrede, um dem grinsenden Hundling einen Haken zu schlagen. Als der ihm aber verächtlich abwinkte, als wüsste er seine Gedanken, sagte er nur: »Bin halt auch so ein armes Luder.«

»So – so – also auch ein armen Luder. Na, dann setz dich nur her.«

Das Weib griff in den Schatten des Wagens und zog eine Sütte Stroh hervor. Sterngraber legte seinen Rucksack ab und setzte sich auf das Bündel. Wieder luschte ihn der Mann von der Seite an mit dem listigen Zwinkern von vorhin. »Ein armes Luder bist also auch – haha –. Bist auf der Walz oder gehst nur grad so herum? Ha?«

»Auf der Walz.«

»So. – Handwerk?«

»Handwerk? – Keines und jed's!«

»So. – Und warum suchst nicht, wenn's Nacht wird, in einer Herberge oder bei einem Meister unterzuschlüpfen?«

»Ich hab mich heut verirrt.«

»So. – Und wieso kommst du da grad über den Waldsteig daher, der einen Katzensprung vorm Dorf von der Straße abbiegt? Warum bist du nicht auf der Straße geblieben?«

Jetzt war's aus mit dem Latein Sterngrabers. Er zuckte mit den Schultern und schwieg.

Wie einen Schulbuben hatte ihn der Kerl ausgefragt, und jetzt grinste er ihn noch durchtriebener an. Sterngraber hätte ihm am liebsten eine in die Fresse gehauen. Auch das schien der Lümmel zu wittern, denn er schlug ihm begütigend auf die Schultern.

»Na, ist schon gut – ist schon gut. Der Zirkus-Ferdl ist kein Gendarm. Was du auf dem Kerbholz hast, geht mich nichts an. Gar nichts an. Aber ich weiß den Unterschied zwischen einer sauren Gurke und einem Eichkatzl. Weißt du den?«

»Nein.«

»Also, du legst beide unter einen Baum. Das Eichkatzl und die saure Gurke – das was hinaufkriecht« –

»Blödsinn! Was hat das mit mir zu tun?«

»Blödsinn! Ganz richtig. Aber ich hab doch gleich erkannt, dass du das Eichkatzl bist.«

»Na, und wenn schon! Wer ich bin, wissen Sie ja doch nicht.«

»Hab ich dich gefragt? Wozu? Wer braucht auf der Landstraße und im Wald zu wissen, wer der andere ist? Ich bin der Zirkus-Ferdl und bin's doch nicht. Wer weiß, wer ich bin? – »Sie weiß, dass ich der Zirkus-Ferdl bin – aber wer ich früher war, weiß sie auch nicht und braucht es auch nicht zu wissen. Na – nicht, Anna? Brauchst du das zu wissen?«

Das Weib hob nur ein wenig das Gesicht.

»Kannst du nicht reden? Mach auf das Maul!«

Da sagte sie leise: »Nein, ich brauch es nicht zu wissen.«

»Na, also«, sagte der Mann befriedigt, »da siehst du's! Und doch ist sie meine Frau.«

Sie schnitt Brot auf den Fleischteller und streifte das rote Kopftuch zurück. »Jetzt wollen wir essen.« Sie lud auch Sterngraber ein, mitzuhalten. Der hatte sie bisher nur flüchtig angesehen. Nun bemerkte er erst, wie schön sie war. Während sie aßen, schaute er immer wieder zu ihr hinüber. Wie kam dieser Strolch zu diesem Weib?«

»Die da, siehst du«, sagte der Mann, als hätte er wieder seine Gedanken gelesen, »die ist mir zugeflogen wie eine Taube. Vor zehn Jahren. Sie war sechzehn, ich war fünfunddreißig. Bis heute weiß sie nicht mehr von mir, als dass ich der Zirkus-Ferdl bin. Sie fragt mich auch nimmer. Weil das eben ganz gleich ist, wer einer war. Sie weiß, sie gehört mir und damit basta! Was einer war, ist Dreck! Nur was einer ist und einer wird – das ist etwas. Wenn du ein Graf warst und jetzt ein Stromer bist, so ist das Scheiße. Wenn du aber ein Stromer warst und bis jetzt ein Graf, so wäre das eine Sache. Aber man ist immer so etwas wie ein Graf gewesen und wird immer nur ein Stromer. Wozu also davon sprechen, was einer war?«

»Wenn's aber doch einmal umgekehrt wäre?«

»Nie, Menschenskind! Nie!! Das steht nur in den Romanen. Du kannst Graf bleiben, du kannst Stromer bleiben. Aber du kannst vom Stromer nicht aufwärts. Dafür kannst du vom Grafen abwärts.«

»Und die Menschen, die dazwischen sind – die Bürgerlichen, die aus der Gesellschaft, wie man sagt?«

»Die schwanken zwischen den zwei Extremen: Graf und Stromer.«

»Wieso?«

»Wieso? Sehr einfach. Solange die Menschen der Mittelklasse vermöge ihrer Veranlagung und Erziehung den gegebenen Gesetzen und Standesbedingungen entsprechen, können sie sich in ihrer Schichte halten. Unter günstigen Umständen auch eine höhere Kaste erreichen. Verletzten sie Gesetz und Ordnung irgendwie, so kommt die Standeszugehörigkeit ins Wanken und bei größerem Verschulden wird sie ganz zerstört.«

»Wie meinen Sie das?«

»Du kannst mich ruhig auch duzen«, sagte der Komödiant und setzte fort: »Solange du den Bedingungen und Pflichten deines Standes entsprichst, bleibst du Gelehrter, Beamter, Fabrikant, Arbeiter oder was weiß ich. Du kannst mehr davon haben, du kannst weniger davon haben. Du kannst einen höheren Titel erreichen, du kannst weniger werden. Aber du bleibst, was du in erster Linie bist: Unbescholtener Bürger des Staates. Verletzt du irgendwie die Ordnung, vergehst du dich gegen das Gesetz, so bist du nur mehr vorbestrafter Bürger des Staates. Brichst du aber das Gesetz und zerreißt du die Ordnung, dann stößt du dich selbst aus und wirst Gauner oder Stromer.«

Sterngraber dachte nach, dann fragte er: »Was willst du mir damit sagen?«

»Nichts Besonderes. Ich will damit nur gesagt haben, dass ein gewisser Grad von Schuld bei einer gewissen inneren Veranlagung jeden zum Stromer macht.«

»Das stimmt nicht. Danach gäbe es keine Besserung, und jede Reue wäre unnütz. Nichts mehr könnte gut gemacht werden.«

»Das meine ich nicht. Eine Schuld, die von Reue gedeckt ist und der Strafe nicht entzogen wird, ist gesühnt. Ich rede von der Schuld, die nicht abgebüßt wird. Die Reue und das Gutmachen allein genügen nicht. Du musst auch büßen.«

Sterngraber überlegte. »Gut. – Wenn nun einer zum Mörder wird und er flieht nach Amerika, bringt es dort zu Geld, unterstützt die Witwe und die Kinder in einem Maße, wie es der Tote nicht gekonnt hätte – bereut die Schuld aus tiefstem Herzen – ist das auch ein Stromer?«

»Gewiss. Weil er nicht gesühnt hat. Es ist ihm doch gerade durch den Mord und die Flucht der äußere Wohlstand gelungen.«

»Aber er macht doch alles wieder gut?«

»Wenn er das nicht tun würde, wäre er ein Gauner. Gerade das, dass er die Hinterbliebenen unterstützt, beweist, dass er ein Stromer ist.«

»Das verstehe ich nicht. Wie kann er ein Stromer sein, wo er doch reich, zumindest wohlhabend ist?«

Der Mann lachte auf: »Ah so, du erfasst nicht, was ich unter Stromer meine. Du verstehst unter Stromer einen armen Vagabunden. Nein: Stromer sind Menschen, die vor sich selber fliehen. Stromer sind die Gehetzten, hinter denen irgendeine ungesühnte Schuld liegt. Stromer können in den reichsten Schlössern sitzen und vor dem Uhrwerk ihres Gewissens doch keine Ruhe finden. Stromer ziehen verlumpt auf den Landstraßen und betäuben die Gedanken mit Fusel. Stromer sind überall zu finden. Stromer, das kommt von Strömen. Sie sind unaufhaltsam auf der Flucht vor einer Schuld – flüchtig vor sich selbst wie das Wasser vor der nachdrängenden Welle. Jeder wird von einer anderen Schuld getrieben. Oft nur ein kleines Vergehen, oft nur ein hartes Wort in das weinende Gesicht einer Mutter – seltener ein großes Verbrechen – aber es lässt ihn nimmer los und hetzt ihn unbarmherzig. Wie viele hat eine kleine Jugendsünde in den Wirbel der Gehetzten gezogen, wie viele andere fegt das Echo eines gebrochenen Wortes vor sich her, wie viele – aber was halt ich da lange Reden – mir und dir – und ihr – ja, ja, du gehörst ja auch dazu«, fuhr der Mann das Weib an.

Sterngraber war ergriffen von den Worten des Komödianten. Da saß einer mitten im Wald und philosophierte … Aber er ließ noch nicht los. »Kann denn eine Schuld nicht auch später, nach Jahren, gesühnt werden?«

»Selten. Weil die Möglichkeit dazu beinahe immer fehlt.«

»Wie meinst du das?«

»Weil du die Zeit nicht zurückschrauben kannst. Wenn du zum Beispiel den Weg zur Mutter, der du einmal auf das Herz getreten bist, erst findest, wenn sie unter der Erde liegt, dann ist es eben zu spät. Sühne muss der Schuld unmittelbar folgen.«

»Sagt man nicht, die Zeit heilt alle Wunden?«

»Gewiss. Bei Lumpen- und Gaunernaturen. Die sind herzlos und gewissenlos. Die sühnen mit schönen Gesten und Worten und reden sich auf die Zeit und die Umstände aus. Der Stromer aber kann ohne wahre Sühne keine Ruhe finden.«

»Warum gerade der nicht?«

»Weil er ein Herz hat, und wenn er sich auch selbst aus der menschlichen Gesellschaft ausschließt, doch Mensch bleibt. Und jetzt Schluss mit dem Gequatsche! Das wirst du erst verstehen, wenn du länger vor deinem »Ich war« auf der Flucht gewesen sein wirst.

»Woher weißt du, dass ich flüchtig bin?«

»Weil du hier sitzt und nicht im Dorf.«

»Wenn ich aber morgen umkehre und meine Strafe suche?«

Der Komödiant schaute ihn von der Seite an. »Wenn du es kannst, dann geh noch heute.«

Sie schwiegen jetzt lange, und jeder ging seinen Gedanken nach. Das Weib legte noch einmal Holz auf und stieg in den Wagen.

Dem Sterngraber war alles seltsam und rätselhaft. Wer war dieser Mensch da vor ihm? Aus welcher Welt brachte er solche Gedanken mit? Was war sein Schicksal? – Warum weckte er etwas, das er bisher nicht einmal um oder in sich geahnt hatte?

Der Komödiant holte aus dem Wagen eine große Flasche und tat einen langen Zug. Sterngraber roch, dass es Rum war.

»Da trinkt auch.«

»Dank schön, ich mag keinen Rum!«

»Wirst ihn auch noch mögen«, lachte der Komödiant. »Merk dir das: Zum reichen Stromer gehört der Champagner, zu unsereinem der Rum.«

Sterngraber brauste auf: »Ich bin aber kein Stromer!«

»Dann geh ins Dorf. Dort ist der Weg.«

Sterngraber senkte den Kopf. »Das hat keinen Sinn, in der Nacht weiter zu gehen. Kann ich nicht da schlafen?«

Der Komödiant stand auf, drückte ihm die Flasche in die Hand und sagte langsam: »Trink nur, Bruder – trink nur.«

Sterngraber ekelte sich – aber er trank.

Als er die Flasche absetzte, sagte der Komödiant befriedigt: »So – und jetzt leg dich dort ins Stroh.« Er warf ihm eine Pferdedecke zu und verschwand im Wagen.

Sterngraber rief ihm nach: »Wer bist du?!« Aber es kam keine Antwort.

Es graute schon der Morgen, als Sterngraber endlich einschlafen konnte; so lange jagten sich seine Gedanken im Kreise, kämpfen seine Entschlüsse gegeneinander. Und plötzlich stand das Bild dieser schönen, seltsamen Frau des Komödianten vor ihm, an der alles rätselhaft und geheimnisvoll war wie um eine Verzauberte.

 

Drittes Kapitel.
Der himmelblaue Wagen

Über der Waldblöße stand schon die Sonne, als Sterngraber erwachte. Er kroch unter dem Wagen hervor und streckte sich.

Von den Zirkusleuten war keines zu sehen.

Im Wald hörte er ein Wasser rieseln. Er nahm Seife und Handtuch aus dem Rucksack und fand nach ein paar Schritten einen kleinen Tümpel. Das kalte Wasser erfrischte ihn, und er fing wieder an, nachzugrübeln, wozu er sich entschließen sollte. In die Stadt zurückkehren und sich der Behörde stellen, das hätte er schon früher tun können. Dir Schande war nun einmal da, und seine Eltern wussten es durch die Zeitung gewiss auch schon.

Die Mutter – die wird Tage lang weinen … Und der Vater – der würde ihm ja doch die Tür weisen, wenn er um Verzeihung bitten käme. Es gab nur mehr eines, so wie er es gleich geplant hatte: irgendwo unerkannt in der Fremde wieder Wurzel zu fassen und später alles gut zu machen.

»Ohne Sühne erlischt keine Schuld …« Was der Komödiant ihm da gestern abends von Stromer eingeblasen hatte und vom Gewissen, das war doch alles nicht wahr. Wenn er, statt zwei Jahre abzusitzen, zwei Jahre rechtschaffen arbeitete, musste das vom menschlichen und göttlichen Standpunkt aus richtiger sein, als auf der Landstraße herum zu lungern. War er denn ein Mörder? Die Bank konnte die 50.000 Kè gar nicht spüren. So viel zahlte sie einem ihrer Direktoren im Monat aus.

Freilich – die Mutter –

Und ganz vergessen wird man seine Verfehlung doch nicht. Wenn er sich auch stellen würde, es wäre ja doch nimmer aus der Welt zu schaffen, dass er Geld unterschlagen hatte. Und so viele haben das schon getan, und es ist ihnen verziehen worden, und sie haben weiter ihren Platz in der Gesellschaft behauptet.

Weil sie sich auch innerlich darüber hinwegsetzen konnten. Aber der Stromer kann nicht über sich hinweg, er wird zum Richter über sich selbst. Deshalb bleibt er ja nicht, sondern flieht. Vor sich selber. Der Gendarm allein ist's nicht, was ihn hetzt.

Sterngraber geriet in Zorn, dass ihm auch am helllichten Tag die Ansichten des Komödianten in die Quere kamen. Der Schwätzer schlief wohl noch ruhig, trotz seiner grausamen Philosophie. Sterngraber drehte sich nach dem Wagen um und sah ihn jetzt eigentlich zum ersten Mal. Gestern war es schon zu finster gewesen, als dass er mehr als die Umrisse hätte erkennen können, und vorhin, beim Aufstehen, hatte er ihm gleich den Rücken zugewendet.

Das war ja die reinste himmelblaue Romantik!

Der kobaldblau gestrichene Wagen, mit weißen Vorhängen in den Fenstern, stand vor einem großen Wildrosenbusch, der über und über rot war von leuchtenden Blüten. Dahinter glänzten die weißschwarzen Schäfte von Birken auf einem wolkenlosen, meerblauen Sommerhimmel. Und rundherum das tiefe Grün der Waldwiese. Herrgott – das so hinmalen können mit der ganzen Stimmung des kirchenstillen Morgens!

Und der Sterngraber fuhr gleich ein wenig spazieren in dem himmelblauen Gefährt, mitten hinein in die wolkenfernen Wünsche und Pläne seiner Phantasie.

Da ging die Tür des Wagens auf, und er sah das Weib heraustreten. Sie hatte einen Krug in der Hand und kam zum Wasser herunter.

Hinter dem Tümpel war ein dichter Busch von Erlen. Dort versteckte sich Sterngraber; er wusste selbst nicht, warum er das tat.

Das Weib kam langsam über die Blöße. Sie war zarter und schlanker, als er sie von gestern in Erinnerung hatte. Und noch schöner.

Sie beugte sich über das grüne Wasser des Tümpels, streifte Bluse und Hemd ab und fing an, sich zu waschen. Über den weißen, bildhaft geformten Körper fielen die blonden Haare, wie Honig über hellen Marmor rinnt. Sterngraber musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien vor diesem Wunder – Weib. Hätte er jetzt hinüber springen können zum Wagen und dem Mann die Gurgel eindrücken – er hätte es getan. Ein unsäglicher Hass setzte wie ein Raubtier in ihm zum Sprung an.

Das Weib zog sich wieder an, füllte den Krug und ging zurück zum Wagen.

Sterngraber war von diesem Erlebnis benommen und verwirrt, als wäre er vom Weine trunken. Gedankenlos rupfte er die Blätter des Huflattichs aus dem Boden und murmelte immer wieder vor sich hin: »Warum – warum?« Er meinte sich, die Frau und den Mann und alles um sich und in sich.

Beim Wagen stand der Zirkus-Ferdl und brüllte: »Hallo du! Adam, wo bist du?!«

Sterngraber trat aus seinem Versteck und ging langsam, als käme er aus dem Wald, zum himmelblauen Wagen.

»Na, schon auf?« empfing ihn der Zirkus-Ferdl.

»Schon lange.«

»Und wohin heute?«

»Über die Grenze nach Bayern.«

»Das sind noch gute zehn Stunden Marsch. Und wenn sie dich abfangen, bevor du drüben bist?« –

»Weißt du was«, sagte der Mann, »fahr mit uns, wir wollen auch ins Bayerische hinüber. Wenn's brenzlich wird, kriechst du in den Wagen. Da sucht dich kein Teufel. Wir sind gut angeschrieben bei den Gendarmen. Und abends hilfst du uns bei der Vorstellung. In ein paar Tagen sind wir auch drüben. Kannst du ein Rad schlagen und Handstand machen?«

»Kann ich!«

»Na also! – Anna komm heraus!«

Das Weib erschien in der Tür des Wagens.

»Wir haben wieder einen dummen August! – Na, schau nicht so blöd! Er kann Radschlagen und Handstand machen, das genügt für die Bauern. Dazwischen dreht er die Orgel, und wir zwei können wieder gleichzeitig arbeiten. Also pass auf, du – wie heißt du eigentlich?«

»Georg Sterngraber.«

Der Mann dachte eine Weile nach, dann sagte er eintönig, als würde er einen Zeitungsartikel lesen: »Der Bankbeamte Georg Sterngraber unterschlug innerhalb eines Jahres 50.000 Kè Als durch eine Buchrevision die Sache aufgedeckt wurde, entzog er sich der Verhaftung durch Flucht. Bisher fehlt von ihm jede Spur. – Also du warst der Georg Sterngraber. Na – das macht nichts! Von jetzt an bist du der Josef Bliml. Das war nämlich dein Vorgänger als dummer August. Ein tüchtiger Spaßmacher, aber ein Luder auf die Weiber. Hat sich auch in die da verschaut. Na, ich hab ihn davon geheilt – gründlich geheilt. Hat nicht einmal mehr Zeit gefunden, seine Dokumente mitzunehmen, haha!« Er griff in die innere Rocktasche und zog einen zersetzten Pass heraus. Das Bild darin war so verschmiert, das es einfach auf jeden Menschen stimmte. »Also der bist jetzt du – einverstanden?« In Gegenden, wo sie ihn kennen, werde ich dir den Wisch von seinem Vorgänger geben. Der ist auch hinausgeflogen.«

Sterngraber musste auf einmal hellauf lachen.

»Was gibt's da zu lachen?« fuhr ich der Zirkus-Ferdl an.

»Das ist ja auch zum Lachen, wenn man so über Nacht zum dummen August wird.«

»Wenn du nicht willst, lass es bleiben. Ich wollte dir damit nur helfen.«

»Aber ich will doch!«

»Na also. Dann hilf mir jetzt einspannen.«

Sie fingen die grasenden Pferde ein, schirrten sie an und spannten sie vor den Wagen. Das Weib hatte inzwischen alles in Ordnung gebracht.

»Wüoh«, und los ging's. Der Mann lenkte die Pferde. Das Weib und Sterngraber gingen hinter dem Wagen. Der Weg führte eine Weile durch den Wald und bog dann auf die Landstraße ein. Sterngraber und die Frau hatten bisher kein Wort gesprochen. Als zwischen Obstgärten das erste Dorf auftauchte, sagte sie: »Steig ein jetzt! Man kann nicht wissen.« – Sterngraber machte die Wagentür auf und kroch hinein.

Wie oft hatte er als Bub von Weitem nach den Fenstern eines Komödiantenwagens gestarrt, hinter dem so viel Geheimnisvolles, Unbekanntes lag. Wenn Komödianten oder Zirkusleute im Dorf waren und unter den Linden beim Hof des Vaters lagerten, umschlich er sie oft stundenlang. Er wollte hinter das Rätsel kommen, wieso diese Leute bei Tag so zerlumpt und zerrissen herumgingen und abends, wenn die Lichter um die Zelte und Wagen aufleuchten, goldene und silberne Kleider anhatten wie die Könige und Prinzessinnen im Märchen. In den Wagen drinnen war bestimmt alles von Gold und Silber. Einmal fragte ihn ein kleines Zigeunermädchen, warum er immer so herumgaffe. Stockend verriet er ihr, dass er gar so gern einmal sehen möchte, wie ein Wagen inwendig war. Das Zigeunermädel versprach ihm, er dürfe sich alles anschauen, wenn er ihr dafür einen Hut voll Eier bringe. Sich von der Mutter die Eier ausbetteln, getraute er sich nicht, wegen der Hiebe, die er für einen solchen Einfall bekommen hätte. So schlich er von Hühnernest zu Hühnernest und plünderte sie gründlicher als ein Iltis. Zitternd vor Aufregung über den Diebstahl und begierig auf die Wunder, die er nun sehen sollte, zählte er dem Zigeunermädchen dreißig Eier in die Schürze. »Wart ein wenig«, sagte das fremdäugige Kind und lief davon. Als es schon Abend wurde und das Lausmädel immer noch nicht aus dem Wagen kam, sah er, dass er bei dieser Geschichte der Dumme war. Daheim hatten sie die leeren Hühnernester entdeckt. Das konnten nur die Zigeuner gewesen sein. Wer anders würde sich getrauen, am helllichten Tag die Eier abzunehmen. Ob er nicht wen von dem Gesindel im Hof gesehen hatte? Nein, er hatte niemanden gesehen … Abends im Bett aber betete er: »Lieber Gott, verzeih mir das mit den Eiern! Ich tu es gewiss nimmer und bestraf das schlimme Mädel, weil es mich nicht in den Wagen hineingenommen hat.«

Und jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren, wurde der Wunsch des Buben plötzlich erfüllt. Sterngraber saß in einem Komödiantenwagen und war diesen Menschen sogar zugehörig. Wie weit gehen doch die Kreise unserer Wünsche, und wie weit holt die Kurve einer Sehnsucht aus, bis sie sich zurückbiegt …

An der rechten, fensterlosen Wand lehnten zwei Bettgestelle; sie waren aufgeklappt. Daneben war eine Drehorgel eingebaut. In der vorderen rechten Ecke stand ein Ofen, in der linken Ecke ein Tisch mit zwei Hockern. An der linken Wagenwand, unter den zwei Fenstern, lagen lange, schmale Kisten mit Zirkusgeräten. In den beiden hinteren Ecken standen Kästen. Zwischen den Fenstern kleine Schränke für den Hausrat. Alles war blitzblank und sauber. Sterngraber kam es ganz heimelig an, und er konnte sich gut vorstellen, immer da zu leben. Wenn's auch kreuz und quer durchs Land ging und hinüber und herüber die Grenzen, so war der Wagen diesen Menschen – diesem versoffenen Athleten und dem verzauberten Weib – doch auch ein Haus und ein Daheim.

Draußen tauchten die ersten Gehöfte des Dorfes auf. Sterngraber fand es recht lustig, ungesehen hinter den Vorhängen hinausschauen zu können.

Der Wagen blieb stehen. Sterngraber las an einem Schilde: »Gasthaus zum Hirschen«. Aber darüber war noch eine Tafel. Da stand: »Gendarmeriepostenkommando«. – Wenn ihn der Kerl am Ende verriet und daher gefahren brachte wie ein Händler das Kalb zum Fleischer? –

In der Laube vor dem Wirtshaus saß ein Fuhrmann. Der begrüßte den Zirkus-Ferdl: »Hallo, auch einmal wieder in der Gegend, alter Galgenstrick!« schob ihm das Glas zu. Ferdl tat Bescheid und trank es auf einen Zug leer.

»Na, na, du hast ja einen Zug wie ein Ochs!«

»Bestellst halt noch eine Halbe«, lachte Ferdl.

»Heda!« schrie der Fuhrmann ins offene Fenster, »noch zwei Halbe – aber g'schwind – sonst verdürstet mir der da. – Wohin machst denn?«

»Ins Bayrische nüber.«

»Ist es da besser?«

»Zählt auch nicht viel. Aber wennst ein paar Markls drüben zusammenbringst, kannst nachher herüben wieder eine Zeit besser leben.«

Der Wirt brachte zwei Gläser Bier und begrüßte den Ferdl. »Ja, du lebst auch noch? Wo bist denn die ganze Zeit gewesen?«

Ferdl reichte dem Wirt wie einem alten Bekannten die Hand: »Grüß dich Gott, alter Schwed. Hast gemeint, mich hat schon der Teufel geholt? Nein, nein, vor dem Zirkus-Ferdl hat er noch Respekt! Bin nur ein bissl im Böhmischen drinnen gewesen.«

»Gute Geschäfte gemacht?«

»Dass man halt grad leben kann und was zum Saufen hat.«

Der Wirt schlug ihm anerkennend auf die Schultern: »Ja, Ferdl, das Saufen, das kannst! Wo hast denn dein Weib?«

»Dort steht sie eh beim Wagen. Komm her, Anna! Trink!«

Sterngraber sah, wie das Weib zu den Männern ging, einen kleinen Schluck Bier nahm und wieder zurückkam.

»Die ist noch immer so scheu wie früher«, sagte der Wirt, »aber wird allweil sauberer.«

Aus einem Fenster oben beugte sich ein Gendarm. Ja, was seh ich – der Zirkus-Ferdl! Auch wieder einmal im Land?« Ferdl sprang auf, nahm Haltung und salutierte: »Herr Wachtmeister, melde gehorsamst – ein Mann, ein Weib und zwei Pferde zur Stelle.«

»Wo hast du denn deinen dummen August?«

»Melde gehorsamst, wegen Subordinationsverletzung im Dienst, begangen durch versuchtes Anbandeln mit meiner Frau, davongejagt.«

Der Gendarm lachte über den militärischen Ton des Zirkus-Ferdl.

Dann sagte er: »Hast du nicht irgendwo den Josef Wondra gesehen?«

»Kenn ich nicht.«

»Aber ja. Den ›Schuster-Pepi‹ kennst doch.«

»Ja, den schon! Was ist's mit dem?«

»Raubmord. – Les dir dort den Steckbrief auf der schwarzen Tafel.«

Der Zirkus-Ferdl ging zum Kundmachungsbrett, das beim Gasthauseingang an der Wand hing und studierte den Steckbrief. Er schüttelte den Kopf: »Also, Herr Wachtmeister, dass der Schuster-Pepi so eine Kanaille ist, das hätt man sich doch nicht träumen lassen. Haben Sie schon eine Spur?«

»Bis jetzt nicht. Deswegen frag ich ja, ob du ihm nirgends begegnet bist.«

»Das letzte Mal hab ich ihn gesehen – vor einem Jahr. Also noch vor dem Mord. Na hoffentlich erwischen Sie ihn!«

Der Zirkus-Ferdl überflog die anderen Zettel des schwarzen Brettes. Auf einmal sagte er: »Den Sterngraber haben Sie ja auch noch da, Herr Wachtmeister. Haben Sie den noch immer nicht?«

Sterngraber duckte sich hinter den Fenstern wie ein Rebhuhn vor dem stehenden Hühnerhund.

Jetzt verriet er ihn, dieser Judas!

»Wir suchen ihn so nimmer«, hörte er den Gendarmen, »wer weiß, wo der schon ist.«

»Wo der ist? – Ich glaub – ich weiß beinah, wo er sein könnte.«

Dem Sterngraber stockte das Blut. Dieser Schuft!« – Jetzt gab er ihn preis.

»Was weißt du?«

»Ich bin vor drei Tagen an der niederösterreichischen Grenze einem begegnet, auf den die Beschreibung passt. Ich möchte wetten, der hat Richtung nach Wien genommen. Defraudanten und solche Leute suchen immer in der Großstadt zu verschwinden.«

»Hast du ich gut angesehen?« fragte der Gendarm.

»Aber ganz genau. Ich setze hundert zu eins, es war der Sterngraber.«

»Na, ist gut. Ich werde Meldung erstatten. Also – danke für den Wink.«

Sterngraber atmete auf. Das war ein Prachtkerl, dieser Zirkus-Ferdl. Schwätzt dem Gendarmen gerade die verkehrte Richtung auf. Sicherer konnte er gar nicht aufgehoben sein als bei diesem – Stromer.

Sie brachen wieder auf. Als sie ein Stück hinter dem Dorf waren, stieg Sterngraber aus dem Wagen und drückte dem Zirkus-Ferdl wortlos die Hand.

 

Viertes Kapitel.
Der dumme August

Mittags kamen sie in eine kleine Bezirksstadt. Der Zirkus-Ferdl holte sich vom Gemeindeamt Spielerlaubnis für den Abend. Die Arena war bald hergerichtet. Sie bestand einzig und allein aus einem kleinen Podium, das mitten auf dem Marktplatz vor dem Wagen aufgestellt wurde. Für Sitzplätze trugen sie aus den nächsten Häusern ein paar Bänke zusammen und stellten sie im Halbkreis um die Bühne auf.

Dann bekam Sterngraber im leeren Nebenzimmer eines Gasthauses Schnellunterricht in der Kunst des Stumpfsinns. Er probierte die drei Hauptübungen des Clown: das Radschlagen, das Auf-den-Händen-Gehen und das täppische Hinfallen. Als Student war er ein gewandter Turner gewesen, so fiel ihm nicht schwer, und der Zirkus-Ferdl war außerordentlich zufrieden mit ihm.

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, lobte er, »jetzt brauchst nur mehr ein saudummes Gesicht dazu schneiden und mir alles recht ungeschickt nachmachen, und der dumme August ist fertig. Wenn ich mit der Anna zusammen arbeite, drehst du das Werkl, und sonst gehst du mit dem Teller fleißig einsammeln, das ist alles.«

Gegen Abend zogen sie alle drei Zirkuskleidung an. Das Weib ein flitterbenähtes, knallrotes Fähnchen, wie es Kunstreiterinnen tragen, der Mann ein Ringkämpfertrikot, das die Muskeln freiließ, und Sterngraber schlüpfte in das bunte Kostüm des dummen August. Der Mann und das Weib ritten auf den Pferden voran. Er blies von Zeit zu Zeit in ein Horn, sie schlug auf ein Tamburin. Hinterdrein watschelte Sterngraber, begleitet von johlenden Kindern und kläffenden Hunden. Alle hundert Schritte blieben sie stehen, und der Zirkus-Ferdl lud die »wohledlen Herrschaften«, die vor die Haustüren geeilt waren oder aus den Fenstern schauten, zu seiner einzigen und gleichzeitig unwiderruflich letzten Vorstellung ein, die er heute Abend geben werde. Man würde nicht nur ihn in seinen unerreichten Kraftstücken, Feuer- und Zauberkünsten bewundern können, sondern auch Sylvia Bombastlli, das beste Medium aller Zeiten, und den dümmsten August, den es jemals gegeben habe.

Nachdem sie das ein Dutzendmal verkündet hatten und genügend vorbestaunt worden waren, kehrten sie wieder zum Wagen am Marktplatz zurück.

Der Spätsommerabend war warm und lind. Als es dämmerte und der Zirkus-Ferdl und Sterngraber die ersten Windlichter an die Pfähle um das Podium anstellten und die Geräte für die Vorstellung zurechtstellten, fanden sich schon die ersten Neugierigen ein, halbwüchsige Burschen und Mädchen, die sich gute Stehplätze sichern wollten. Bald kamen die Leute aber schon dichter, und zwar nach den Ständen geordnet, so wie in einem richtigen Theater.

Zuerst Arbeiter und Knechte, die ziemlich abseits stehen blieben, um gegebenenfalls dem Sammelteller zu entkommen. Dann Kleinhäuslerinnen, Arbeiterfrauen und Mägde, die sich um ihre Wortführerinnen, die Kramerin und die Hebamme, gruppierten und knapp hinter den Bänken Aufstellung nahmen. Dann kamen Bauern und Handwerker mit ihren Frauen und besetzten die beiden letzten Bankreihen. Die vorderen drei Reihen blieben noch eine Weile leer. Aber nicht lange. Wie auf ein Zeichen füllten sich die Plätze mit Lehrern, Beamten, Schreibern, Werkführern, Handelsangestellten und anderen Mittelständischen. Grüße und Worte wurden getauscht, Scherzworte flogen auf, von dankbarem Gelächter begleitet. Man wollte in Stimmung sein und es auch zeigen.

Es surrte auf dem Platz wie in den Linden, wenn die Bienen eintragen. Dann wurde es ein paar Sekunden beinahe still. In den Lichtkreis der Fackeln trat der Apotheker mit Frau und Kindern, der Doktor mit seinen Töchtern, der Baumeister mit seiner großen Familie, und als auch noch der Bezirksrichter, die Fabrikanten und die Kaufleute mit Kind und Kegel anrückten, war auch die erste Reihe rasch besetzt. Die Kramerin und die Hebamme zischten noch rasch ein paar Spitzfindigkeiten auf die Großkopferten in die Umstehenden, noch einmal stärkeres Gekicher und Gesurre und – los ging's.

Klingelingeling!

Auf den Stehplätzen und den hinteren Bänken war es sofort atemstill, als die Glocke schellte. In den vorderen Reihen unterhielt man sich weiter, denn man wusste, was sich gehört. Der junge Apotheker fing sogar noch einen neuen Witz zu erzählen an. Da sagte hinten ein Knecht so laut, dass es am ganzen Platz zu hören war: »Halt die Goschen!« Das war peinlich für die Apothekerischen, denn die Leute fingen schadenfroh zu lachen an.

Waren aber schon wieder still.

Die Drehorgel setzte ein. Aus der Türe des Wagens stolzierte der Zirkus-Ferdl auf das Podium, machte seinen Begrüßungs-Kratzfuß, spannte ein paarmal in Habacht-Stellung die Muskeln und griff nach einer Hantel. Blitzschnell warf er sie in die Luft, fing sie auf, warf sie wieder in die Höhe – drehte sich um sich selber und fing sie wieder auf. Die Kramerin machte »th! th!« und die Hebamme »huh!« – ihr Anhang klatschte kräftig, und damit war die Vorstellung des Erfolges sicher. Was die Kramerin und die Hebamme für gut fanden, dagegen hätte sich nicht einmal die Apothekerin und die Bezirksrichterin durchsetzen können.

Der Zirkus-Ferdl fasste nun ein großes Gewicht, riss es mit einer Hand auf, hielt es mit gestrecktem Arm hoch, ging so in Hockstellung, nahm mit der linken Hand ein zweites Gewicht, schnellte empor und riss auch das hoch. Dieses Kunststück belohnte ein buckeliger Schneider mit einem kräftigen »Sakra«. Damit war auch die Partei des Kleingewerbes gewonnen, und der Beifall war noch lauter.

Während Ferdl die Gewichte und Hantel für seine dritte Nummer zurecht legte, betrat Sterngraber als dummer August das Podium. Vielleicht war ihm wirklich ein urdummes Gesicht gelungen – die Schminke allein konnte es nicht gewesen sein – jedenfalls klatschten die Leute, als hätte er wer weiß was für einen guten Spaß gemacht. Wie ein Stein fiel ihm sein ganzes furchtbares Elend auf die Seele. Am liebsten hätte er geschrien, als man ihn mit Applaus empfing. Er stand einen Augenblick über sich selbst entsetzt da und stierte verloren in die Menge. Von unten sah das aus, als wäre er vor dem Beifall erschrocken, und das wirkte so komisch, dass auch die erste Reihe der Zuschauer mitzuklatschen begann.

Sterngraber blickte wie ein Irrer um sich und sprang plötzlich in den Wagen zurück.

Draußen wuchs der Beifall, dass es von den Häusern dröhnte. Die Leute lachten Tränen.

Sterngraber aber wollte auf und davon und wäre vielleicht so, wie er war, als dummer August, in die Nacht hinausgelaufen, wenn ihn nicht das Weib, als er an ihr vorbei wollte, gerade noch am Arm festgehalten hätte.

»Was hast denn? Bist denn närrisch geworden! – Wo willst hin? Geh doch hinaus! Hör doch, wie die Leute klatschen!«

»Ich kann nicht. Ich kann nicht«, stammelte Sterngraber zitternd.

Da hob ihm das Weib den Kopf in die Höhe und sagte langsam: »Ich muss es auch können. – Geh nur hinaus.«

Sterngraber spürte die Frau in allen Nerven. Die verstand ihn. Noch jemand, der nicht hinaus wollte und doch ging.

Da überkam ihn ein fesselloser Galgenhumor. Er sprang auf die Bühne, stand Kopf, lief im Handstand herum, schlug Räder und Purzelbäume und blieb mit einem schweren ungeschickten Plumpser liegen.

Wieder toste der Beifall.

Doch was vorher der Ausdruck seiner Seelennot war, das warf er jetzt als Spiel und Maske zum Lachen hin. Er sprang auf, starrte, als wäre er mit seinen Sprüngen und Rädern bei einem verbotenen Spiel ertappt worden, hilflos ins Publikum und rannte, als fürchtete er eine schwere Strafe, schusselig und überall anstoßend, in den Wagen zurück.

Die Zuschauer kreischten und schrien vor Lachen, und der Athlet musste lange warten, bis sich die Leute beruhigt hatten.

Er legte sich nun eine schwere Hantel auf den Nacken, hob ein großes Gewicht mit den Zähnen auf und zog zwei noch größere bis in die Armbeuge hoch. Das war allerhand und der Applaus wohl verdient, der Athlet dankte mit großen Gesten und trat ab.

Jetzt schlich der dumme August aus dem Wagen, um das Kunststück nachzumachen. Natürlich mit einer Garnitur leichter Papierhanteln und Gewichte, die, deutlich als solche erkennbar, bereit lagen. Sein Hereinschleichen, Umschauen und Hinzutasten war allein schon eine Glanznummer. Das Publikum begriff aber sofort, dass es jetzt nicht durch Applaus stören durfte. Bei jedem verhaltenen Aufkichern schreckte der Clown zusammen. Er war immer fluchtbereit. Nach vielen Ungeschicklichkeiten hatte er endlich das Kunststück nachgeahmt. Wie von sich selbst hingerissen und erstaunt, stand er in der Schlussstellung da und fing auf einmal vor Freude über das gelungene Kraftstück – mit allen Gewichten auf sich – zu tanzen an.

Ein alter Spaß, den man in den kleinsten und größten Zirkussen und Varietees zu sehen bekommt. Aber wie ihn dieser dumme August da brachte, so voller Komik, hatten ihn nicht einmal die Herren und Damen der ersten Reihe in der Großstadt gesehen. Die Zuschauer bogen sich vor Lachen, und der Beifall war so gewaltig, dass in den Höfen rundum die Hunde vor Angst zu winseln und zu heulen begannen. Sterngraber musste immer wieder hinaus und erschrak immer wieder vor dem Applaus. Dieses entsetzte Erschrecken war seine Nummer. Das war ihm jetzt klar. – Sooft er in den Wagen kam, umarmte ihn der Zirkus-Ferdl, und als sich das Toben endlich verlor und Sterngraber einen Augenblick verschnaufen konnte, sagte der Ferdl begeistert: »Mensch, du hast ja eine Zukunft! Du bist ja der geborene dumme August!«

Dann trat die Frau als Medium auf. In lange, weiße Schleier gehüllt, saß sie auf einem Sessel mitten auf der Bühne. Ein Herr oder eine Dame aus dem Publikum sollte ihr die Augen zubinden. Der junge Apotheker meldete sich, um seine Schlappe von vorhin wieder wett zu machen. Er besorgte das Verbinden der Augen gründlich und umständlich und überzeugte das Publikum, dass nun kein Schwindel mehr möglich sei. Die Apothekerin blähte den Busen, so stolz war sie auf ihren Sohn.

Der Zirkus-Ferdl trat nun unter das Publikum und erbat sich beliebige Gegenstände. Er stellte zwei, drei Fragen an das Medium und Sylvia Bombastelli erriet jeden Gegenstand, den man ihm gereicht hatte. Ja, sie sagte sogar Namen, Geburtsdatum und Personenbeschreibung einer Legitimation mit verbundenen Augen herunter.

Das Publikum starrte vor Staunen mit offenen Mündern, nur in der ersten Reihe brach ein Streit über die Echtheit der Leistung aus. Einer von den Baumeistersöhnen hatte gesagt, dieses sichere Erraten wäre zwar fabelhaft, aber ein Schwindel müsse doch irgend dabei sein. Der junge Apotheker fühlte dadurch auch seinen Ruf angezweifelt: bei Augen, die von ihm verbunden wurden, gab es kein Sehen! Er nahm entschieden Stellung für das Medium. Schließlich begannen auch die Alten zu streiten, und das Gesicht der Apothekerin war das einer Löwenmutter, die ihr Junges in Gefahr sieht. Da sich der Wortwechsel der beiden Familien zu einem kleinen, öffentlichen Skandal zu entwickeln drohte, versuchte der Tierarzt abzulenken. Er gab dem Athleten eine 20-Kronen-Note und eine Visitkarte. »Wenn das Medium binnen fünf Minuten weiß, was da drauf steht, gehören die 20 Kronen Ihnen.«

Der Zirkus-Ferdl überflog die Karte, gab sie einem der Fabrikanten zur Kontrolle in die Hand und fragte das Medium:

»Was das?«

Sylvia Bombastelli zuckte zusammen: … »Papier«.

»Wie Papier?«

»Visitkarte.«

»Kannst du den Namen geben?«

» … Karl … Geb …«

»na?«

» … Schau her!«

»Ich seh ja nichts.«

»Mach! – Alevant!«

»Beruf?«

»Fabrikant.«

»In?«

Das Medium schien angestrengt nachzudenken.

»Also wo zu Haus?« fragte der Athlet scharf.

»Wien.«

»Rate Bezirk.«

»Erster.«

»Wo?«

»Rathaus …«

»Na?«

»… gasse …«

»Numero?«

»Drei.«

Die Karte wurde herumgereicht. Es stimmte alles auf den Buchstaben. Die Baumeisterin, die sich viel mit Patiencelegen und Kartenaufschlagen beschäftigte, war vor Staunen ganz stumm. Sie musste, koste es, was es wolle, hinter das Geheimnis des Mediums kommen. Nach der Vorstellung würde sie mit dem Weibsbild schon irgendwo allein sprechen können. Die Apothekerin würde zerspringen, wenn sie beim nächsten Kaffeekränzchen als Medium etwas zum Besten geben könnte.

Dass das Medium nur durch die geschickt gestellten Fragen des Mannes alles erriet, darauf kamen die Leute nicht. Dieses Frage- und Antwortspiel verblüfft immer, wenn es blitzschnell durchgeführt wird. Ganze Wortgruppen sind durch Übereinkommen festgelegt, jede abweichende Satzstellung und Betonung hat ihre Bedeutung. Das Ganze ist nichts als Fleiß und Übung.

Sterngraber war inzwischen nicht müßig gewesen und graste die Stehplatzbesucher mit dem Sammelteller ab. Er schnitt fleißig Gesichter und ließ geduldig Bemerkungen und Witze über sich ergehen. Wenn die Leute nur fest in die Taschen griffen! Die Kramerin gab ihm eine ganze Krone, dafür hätte sie sich auch einen Sitzplatz kaufen können. Aber der Kaspar gefiel ihr so gut, und die Umstehenden sollten sehen, dass sie auch nobel sein konnte. Als Sterngraber in den Wagen zurückkam, hatte er die Taschen voll Kupfer und Nickel.

In der nächsten Nummer produzierte sich der Athlet als Feuerfresser und Schwertschlucker. Diese Künste verfehlen nie ihre Wirkung auf ländliche Zuschauer. Dass Ätherflammen wenig Hitze entwickeln und, in den Mund gesteckt, durch den Mangel an Luft sofort in sich zusammensinken, woher soll das ein Bauernknecht oder ein Dorfschuster wissen. Und dass die Klinge eines Dolches statt in den Schlund hinunter, in den Griff hinauf rutscht, auf diesen einfachen Gedanken kommen nur ganz Gescheite.

Der dumme August trieb inzwischen allerhand Allotria, und so fand auch diese Nummer wieder reichen Beifall.

Nach einer kleinen Pause traten der Athlet und Sylvia Bombastellti in einem Jonglier- und Balanceakt gemeinsam auf. Das Weib wirkte weniger durch ihre Geschicklichkeit als durch ihre Schönheit, die selbst vor den kritischen Augen der Kramerin und der Hebamme bestehen konnte.

Sterngraber bediente den Leierkasten. Auch damit erfüllte sich wieder einer seiner brennendsten Jungenwünsche. Wenn damals ein Dudelkastenmann ins Dorf kam und von Hof zu Hof zog, wich er keinen Schritt von seiner Seite. Einmal wanderte er sogar bis ins Nachbardorf mit, was ihm allerdings ein paar Kopfstücke eintrug. »Grad einmal wenn mich der Mann umdrehen ließ – grad einmal!« hatte er sich oft gewünscht. Und jetzt gehörte das Orgeldrehen sogar zu seinem Beruf. Wenn ihn die Mutter so sehen würde. –

Die Vorstellung schloss mit einer langen Reihe von Zauberkunststücken, bei denen Sylvia ihrem Manne assistierte.

Die Zuschauer gingen befriedigt heim.

Die drei Komödianten räumten die Geräte in den Wagen. Nun hatten sie wieder Zeit, zu sprechen, und der Zirkus-Ferdl lobte Sterngrabers »Dummen August« über alle Maßen.

»Sowas an Talent ist mir noch nicht untergekommen. Ich hab bei den größten Zirkussen gearbeitet – was, Anna? – aber deine Mimik hätte dir nicht einer von den Clowns nachmachen können. Kannst mir's glauben!«

Sterngraber wehrte sich: »Ich kann doch nichts wie Handstand machen und Radschlagen.«

»Um das geht's ja auch gar nicht beim dummen August, was er technisch kann. Dafür sind die Exzentriks da und die Akrobaten. Über den guten Clown muss man lachen können – nicht schmunzeln – lachen, brüllen muss das Publikum!! – Über dich haben sie geschrien! Weißt du, was das heißt, gleich beim ersten Auftreten so einen Erfolg zu haben? – Das beweist, dass du der geborene Clown bist, den man noch mit Gold aufwiegen wird. Hab ich recht, Anna?«

»Ja, er – könnte es wohl zu einem großen Clown bringen.«

»Könnte – könnte! Er kann, sag ich dir!«

»Das muss er wissen, ob er kann.«

Sterngraber verstand, was sie meinte. »Clown kann man nicht werden. Entweder ist man's – oder nicht«, sagte er.

»Wie meinst du das?« fragte der Komödiant.

»Ich mein, die Maske und die Miene allein genügen nicht. Man muss auch über sich selbst Sprünge machen können, und das ist das Schwerste dabei. Ich weiß nicht, ob ich das immer können würde.«

»Ah, daher pfeift der Wind? Du schämst dich als dummer August vor dem Bankbeamten Sterngraber.«

»Vielleicht.«

»Den lass begraben, der ist tot.«

»Glaubst du!«

»Du musst das vergessen.«

»Ich will es versuchen.«

Als sie mit dem Einräumen fertig waren, gingen sie in ein Wirtshaus. Da saß ein großer Teil ihrer Zuschauer. Sie wurden nochmals gehörig begafft. Die Bauern und Handwerker am großen Tisch luden sie ein, bei ihnen Platz zu nehmen. Die Baumeisterin kam aus dem Nebenzimmer und machte einen fruchtlosen Versuch, dem Medium das Geheimnis zu entlocken.

Sterngraber hing seinen Gedanken nach und wurde so die große Enttäuschung des Abends. Von ihm hatte man sich noch eine kleine Nachvorstellung erhofft. Sylvia, das schöne Medium, war noch einsilbiger und nicht einmal durch Wein und Likör umzustimmen. Dafür legte der Zirkus-Ferdl los und führte das große Wort in der Wirtsstube. Zuerst zergliederte er den augenblicklichen Stand der Tagespolitik, wobei er justament an den Bauern und Handwerkern kein gutes Haar ließ. Er bezeichnete sie rundweg als Spießer und Eigenbrötler. Als vollwertige Menschen ließ er nur die Künstler und allenfalls die Gelehrten gelten. Unter »Künstler« verstand er nicht nur Dichter, Musiker, Maler und Bildhauer, sondern auch die drohnenträge Boheme und das ganze Heer der Theater- und Zirkusleute, Wanderkomödianten und Schausteller, Zigeuner und Bettler und die großen Lebenskünstler – die ewigen Handwerksburschen und die Vagabunden. Nur diese erfassten den Sinn des Daseins, sagte er. Alle anderen seien stumpfsinnige Herde.

Der Komödiant sprach laut und schlug dazwischen bekräftigend mit den Fäusten auf den Tisch. Dabei trank er ein Glas ums andere leer. Seine lärmenden Ausführungen gingen den Männern am Tisch natürlich bald gegen den Strich, zumal Ferdl jeden Einwand mit einem beißenden Witz verächtlich abtat.

Sterngraber saß teilnahmslos dabei. Er hatte zu viel mit sich selbst zu tun. Morgen – übermorgen und noch ein paar Tage den »dummen August« spielen – gut. Aber was dann? Clown bleiben? Unausdenkbar! – Er ließ sich Schnaps bringen.

Der Zirkus-Ferdl polterte indessen weiter. »Ihr seid ja nur Maulaffen auf der Welt, denen die Augen heraushängen, wenn unsereins Kopf steht, als wenn da ein großer Unterschied wäre, ob einer auf den Füßen steht oder auf dem Kopf. Wir getrauen uns eben einmal anders zu stehen. Wenn ihr nicht zu feige wäret, würdet ihr's auch tun, um die Welt einmal anders zu sehen. Aber so habt ihr immer die Hosen voll und bleibt immer am selben Platz stehen, solange ihr lebt. Wenn es dann endlich einer bis zum Sarg gebracht hat, dann macht ihr einen Summs mit ihm, als dürfte der liebe Gott selbst gestorben sein, statt dass ihr froh wäret, dass wieder einer weniger bei der Schüssel sitzt.«

Als Sterngraber den dritten Schnaps hinuntergoss, sagte das Weib leise, dass nur er es hören konnte: »Warum trinkst du?«

Sterngraber fing den Blick ihrer Augen auf.

Sie deutete auf ihren Mann: »Der trinkt schon Jahre und hat seines auch noch nicht vergessen.«

Sterngraber schwieg. Die Frau stieß ihren Mann an. »Komm, Ferdl, gehen wir heim.«

»Was soll ich? Heimgehen? Jetzt, wo ich grad in Stimmung bin! Kannst ja heimgehen! Ich bleib da! – He, dummer August! Bring sie nach Hause, dass ihr nicht so ein paar Kerle nachlaufen.«

Das Weib und Sterngraber standen auf, sagten gute Nacht und gingen.

Draußen sagte Sterngraber: »Wenn er so weiter mit ihnen umspringt, werden sie ihn noch verprügeln.«

»Das gerade nicht. Sie fürchten ihn. Wenn er trinkt, wird er immer streitsüchtig.«

»Trinkt er oft?«

»Wenn er Geld und Gelegenheit dazu hat, oft eine ganze Woche, Abend für Abend.«

»Warum tut er das?«

»Frag ihn!«

»Was drückt ihn?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie sind doch seine Frau.«

»Ja, ich bin seine Frau.«

Als sie zum Wagen kamen und die Frau hineinsteigen wollte, hielt sie Sterngraber zurück. »Wer ist er?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er war doch nicht immer der Zirkus-Ferdl.«

»Ja und nein.« – Das Weib setzte sich auf die Wagenstiege. – »Meine Eltern waren angesehene Bürger. Einmal – ich war 16 Jahre alt – kam ein großer Zirkus in die Stadt. Da war ein Artist dabei, dem alle Frauen und Mädchen nachliefen. Er sah keine – nur mich, und ich bin ihm zugeflogen wie – eine Taube. Er zog mit dem Zirkus weiter und schrieb und schrieb, bis ich von daheim durchbrannte. Ich war sehr glücklich. Ganz glücklich! Bis ich sah, dass er ein Trinker und Spieler war. – Es ging dann schnell mit ihm bergab. Die großen Zirkusse konnten ihn bald nimmer brauchen, da seine Leistungen nach den durchzechten Nächten immer schwächer wurden. Bei den kleinen Varietees war er auch bald erledigt. Mit dem letzten Geld haben wir uns diesen Wagen gekauft und ziehen jetzt seit fünf Jahren auf der Landstraße herum.«

»War er denn immer einer vom Zirkus gewesen? War er nicht früher vielleicht etwas ganz anderes?«

»Bestimmt war er nicht immer Artist.«

»Ja, hat er denn nie darüber gesprochen?«

»Nie.«

»Haben Sie ihn nicht danach gefragt?«

»Schon. Im Anfang lachte er immer und sagte, er sei ein Lohengrin, den man nach Woher und Wohin nicht fragen dürfe – später wurde er bös, wenn ich fragte.«

»Ein seltsamer Kauz.«

»Und grundgut, wenn er nüchtern ist. Aber wenn er trinkt, dann ist's ein Elend mit ihm.«

Aus dem Gasthaus hörte man erregte Stimmen und das Poltern der Stühle.

Sterngraber wollte hinüber, doch das Weib hielt ihn zurück: »Lass nur, lass nur. Er macht sich solche Sachen schon selber aus. Er fürchtet sich vor der Hölle nicht. Wenn du ihm zu Hilfe kämst, würde er nur wild werden.«

Im Gasthaus wurde es wieder still.

Das Weib sagte gute Nacht und stieg in den Wagen. Sterngraber kroch zwischen die Räder, wo er sich eine Schlafstelle hergerichtet hatte.

Er hätte auch im Gasthaus übernachten können. Aber er wollte seinem neuen Beruf in allem gerecht werden und so leben, wie es sich für einen Wanderkomödianten gehört. Es war ja vielleicht Unsinn und eine überflüssige Selbstdemütigung, wie ein Hund hier unter dem Wagen zu schlafen, aber zugleich befriedigte es ihn auch, dass er es tat.

Die sternhelle Nacht war so still, dass er den schlaftiefen Atem des Weibes aus dem Wagen hörte.

»Wie eine Taube war sie dem Manne zugeflogen – wie eine Taube.« Seine Gedanken umkreisten – ein Schwarm Mücken – die Frau und ihr Schicksal.

Aus dem Wirtshaus kam torkelnd und gröhlend der Zirkus-Ferdl. Hinter ihm schimpften einige Männer. Der Komödiant kümmerte sich nicht darum und wankte dem Wagen zu. »He, du – dummer August – schläfst du schon?«

Sterngraber gab keine Antwort.

»Du bist ein guter Kerl – jawohl – ein gutes dummes Luder – Ich bin auch ein guter Kerl – aber ein Schwein – jawohl ein Schwein. – Aber das macht nichts – gar nichts – macht das.« –

Der Betrunkene stolperte über die Stiege in den Wagen und warf sich auf das Lager, dass es nur so krachte.

Sterngraber horchte: wenn der Kerl jetzt das Weib –

Aber der Mann schnarchte schon.

Sterngraber wühlte sich tiefer ins Stroh; endlich schlief auch er.

 

Fünftes Kapitel.
Die Landstraße

Mit der Morgensonne fuhren sie weiter. Die Landstraße nahm sie wieder auf und führte sie über die Hügel und Täler des Vorlandes dem Gebirge zu. Auf den sonnigen, südseitigen Lehnen stand das Getreide schon in Mandeln. In den Wiesen lagen graue Grummetschober, und auf den Brachen und zwischen Wachoderstauden und Birken der Sandbühel graste Weidevieh. Das silbern klingende Lied der Sicheln und Sensen stieg aus Feldern und Wiesen und mischte sich mit dem Summen und Surren der Fliegen, Mücken und Bremsen zu dem gottnahen Akkord eines erntefrohen Werktages. Pferdegewieher und Hundegebell, Hü und Hott der Knechte und kreischendes Lachen der Mägde hallten von den Waldrändern und aus den Flussauen wider.

Sterngraber legte sich der Atem dieses Sommertages schwer aufs Herz. Daheim waren sie jetzt auch beim Schnitt. Vielleicht mähten sie gerade heute das große Bergfeld, wo ganz oben auf einem Streinriegel der große Holzbirnbaum in den Brombeerstauden stand. Von dort sah man weit hinein ins Land bis zu den grauen Türmen der Kreisstadt. Wenn er als Bub auf den Birnbaum stieg, kam es ihm vor, als sähe er noch viel, viel weiter – bis ans Ende der Welt. Dorthin wollte er einmal, wenn er groß war, um über die Bretterwand zu schauen, von der ihm der Großvater erzählt hatte.

Stand er nicht gerade jetzt davor? – Ihm war plötzlich, als könnte er nicht weiter.

Von den Schnittern schrie einer herüber: »He, Faulenzer, kommt helfen!«

Sterngraber zuckte zusammen. Ja, das war es. Von der Arbeit war er ausgeschlossen. Landstraßenbummler war er geworden. Zielloser Stromer ohne Lebensaufgabe, unwürdig, auch nur trockenes Brot zu essen.

In jäher Steigung führte die Straße in den Wald. Nun ging es steil bergan, und Sterngraber und das Weib mussten mit anschieben, wollten sie mit dem schweren Wagen nicht stecken bleiben.

Die Pferde fingen zu schwitzen an und legten sich in die Stränge, dass sich die Haut an den Schenkeln in Falten spannte. Immer wieder musste man sie verschnaufen lassen. Sie wieherten und pusteten erlöst auf, als es am Kamm eben wurde. Aus dem Tal klang eine Mittagsglocke. Es war Zeit, ans Rasten zu denken.

Der Mann lenkte das Gespann auf einen Holzschlag und hielt bei einem Steinloch, in dem eine Quelle ihr klares Wasser sammelte. Die Pferde wurden ausgeschirrt und durften weiden. Sterngraber trug einen Haufen dürres Fallholz zusammen. Das Weib machte ein Feuer an und stellte den Kessel darüber. Der Mann legte sich in das schattenkühle Moos unter den jungen Lärchen am Waldrand.

Sterngraber setzte sich auf einen Baumstrunk und hing seinen Gedanken nach. Ein Irrgänger war er, der die große Straße fürchtete und sie doch immer wieder suchte, weil dort das Leben vorbei zog. Er floh die Menschen und konnte doch nicht ohne sie sein. Er war nicht allein und doch einsam: einer, der sich stündlich fand und stündlich verlor; sich selbst Verfolger und Verfolgter.

Zu seinen Füßen schleppten Ameisen mühselig ihre Lasten zu einem Haufen. Ob da wohl auch ein Sterngraber darunter war, so ein unseliger Außenseiter? – Nein und nein. Das Tier lebt seinem Gesetz und seiner Ordnung. Nicht der Mensch, sondern das Tier ist das Ebenbild Gottes, der das Gesetz und die Ordnung selbst ist.

Eine der emsigen Arbeiterinnen versuchte vergeblich einen Spahn Faulholz über einen Halm zu heben, der quer über ihrem Wege lag. »Zehn, zwanzig, dreißig Mal umsonst«, zählte Sterngraber. Beim einunddreißigsten Mal ging es. Die Ameise rastete einen Augenblick und schleppte die Bürde weiter. Wieder kam ein Hindernis: die steile Kante eines Steines. Nicht höher als ein Zentimeter. Für das apfelkerngroße Geschöpf aber die Wand eines Hauses. Sterngraber zählte von Neuem die Misserfolge. Über vierzig Mal purzelte die Ameise mit der schweren Last zurück. Da nahm Sterngraber den Spahn behutsam zwischen die Finger und legte ihn mitsamt der Ameise, die sich daran festgebissen hatte, auf die obere, flache Seite des Steines. Das Tierchen löste die Zangen aus dem Holz, lief zum Rand zurück, neigte sich über die Kante: es sah aus, als wollte es sich das Unglaubliche der Leistung noch einmal bestätigen. Sterngraber lächelte. – Hatte er jetzt nicht ein wenig den lieben Gott gespielt? Der hilft uns manchmal auch behutsam über eine Sorge hinweg, doch wir merken es nicht und sehen ihn nicht – so groß ist er.

Aber warum hatte er ihm nicht geholfen?

Die Ameise war längst daheim im Haufen, als Sterngraber noch an sie dachte; zehn, zwanzig, dreißig Mal hatte sie vergeblich das Hindernis zu nehmen gesucht, dann erst hatte er ihr geholfen. Am Ende zählt Gott auch so mit, bevor er hilft. Sterngraber stand langsam auf und sagte vor sich hin: »Jetzt versteh ich ihn.«

Er setzte sich neben das Feuer auf die Erde und sah der Frau beim Kochen zu. Jede ihrer Bewegungen war schön, jeder Griff, den sie tat, war sicher und wie von unendlicher Güte gelenkt. Um den Mund aber lag ein leiser Widerschein von Wehmut, kaum merklich, so wie eine ferne Feuersbrunst am nächtlichen Himmel steht. Wer in dieses Herz schauen könnte! »Auch eine Stromerin« – hatte der Mann gesagt. Warum blieb sie? Warum lief sie nicht davon? War sie schon so stumpf und ergeben in ihr Schicksal, dass sie ihm hörig war?

Sterngraber fragte auf einmal laut: »Warum bleiben Sie bei ihm?«

Das Weib legte die Hände in den Schoß und sah ihn an. Dann sagte sie: »Weil ich sein Weib bin.«

»Lieben Sie ihn noch?«

»Nein.«

»Warum bleiben Sie dann?«

»Muss man einen Menschen verlassen, wenn man ihn nicht mehr liebt?«

»Aber dieses Leben!«

»Meinst du, dass es wo anders besser wäre? – Vielleicht braucht er mich. Soll ich ihn allein lassen, damit er zum Verbrecher wird?«

»Sie lieben ihn also doch.«

»Nein – aber er liebt mich und braucht mich.«

»Das nennen Sie Liebe, wenn der Sie anbrüllt wie eine Magd?«

»Das ist seine Art. Er kann es nicht zeigen, dass er einen gern hat. Wenn du ein paar Tage bei uns sein wirst, wird er dich auch anschreien. Er kann dich gut leiden.«

»Das ist mir gleich, ob er mich leiden kann oder nicht. Wir sprechen jetzt von Ihnen.«

»Wozu?«

»Weil Sie bei ihm langsam zu Grunde gehen! Weil Sie ihr Leben bei ihm versäumen! – Weil es schade um Sie ist.

Das Weib blickte starr vor sich hin und sagte dann: »Und wenn ich davon ginge, was wären damit getan?«

»Alles! – Sie sind noch jung, Sie sind schön – Sie können noch ihr Glück finden!«

»Was für ein Glück …?«

»Ein Ihrer Schönheit würdiges Leben.«

»Lebe ich nicht?«

»Ja, aber wie! Von heute auf morgen, abhängig von einem Sammelteller.«

»Wohin soll ich gehen?«

»In die Welt.«

»Bin ich nicht in ihr?«

»Ich meine die Welt der sesshaften Menschen, der Gesellschaft – die Welt des Geborgenseins.«

»Meinst du, dass man hier nicht geborgen sein kann?«

»Nie!«

»Ich bin's aber doch.«

»Das ist nicht wahr. Auf der Landstraße ist man nicht geborgen.«

»Warum hast du dann die Landstraße gewählt?«

»Weil – weil…«

»Weil du geborgen sein wolltest.« Das Weib legte die rechte Hand auf sein Knie. »Sterngraber merk dir das: die Welt ist überall, auch auf der Landstraße. Geborgensein aber findest du nirgends, wenn du Stromer bist – wie mein Mann gesagt hat. Äußerlich bist du am ehesten noch auf der Landstraße sicher, weil du da wenigsten von den Menschen deine Ruhe hast.«

»Haben Sie nie Sehnsucht nach einem Daheim, nach einer netten Wohnung, nach schönen Kleidern, Musik, Theater …«

»O ja. Ich habe oft vor Sehnsucht danach geweint.«

»Leben Ihre Eltern noch?«

»Ja.«

»Warum kehren Sie nicht zurück zu ihnen?«

»Warum sind Sie hier und nicht zu Hause?«

»Ich bin ein Verbrecher. Mein Kommen wäre keine Freude. Ihnen aber würde verziehen werden, und alles wäre wieder gut. Warum gehen Sie nicht nach Hause?«

»Weil ich nicht kann.«

Sterngraber wurde ärgerlich. »Das ist ein dummer Trotz! Fürchten Sie das Gerede der Leute? Die Eltern würden es gerne überhören.«

»Ich kann aber nicht!«

»Warum nicht?!«

»Ich weiß keinen Grund dafür – aber ich kann nicht. Vielleicht – weil ich mich vor mir selbst schämen würde.«

»Das tun Sie doch jetzt auch.«

»Ja, aber hier hab ich das nur vor mit auszumachen, nicht vor den Eltern.«

»Die würden Ihnen doch verzeihen.«

»Eben deswegen. Würden sie mich daheim nur dulden, meinetwegen versteckt vor den Menschen, so fände ich auch zu Hause wieder Ruhe. Aber gerade Verzeihung … das könnte ich nicht ertragen.«

»Unsinn! Weiberphilosophie!«

Die Frau biss sich in die Lippe. »Dir würde doch auch verziehen werden. Geh du heim, wenn du es kannst. Warum gehst du nicht?«

Stockend sagte Sterngraber: »Ich könnte die Mutter nicht weinen sehen.«

»Siehst du! Du kannst auch nicht heim. Vor dir selber wagst du dich nicht heim. Mein Mann hat schon recht: wir sind Stromer. Weil uns auf der Flucht vor uns selbst Zeit und Raum zu eng werden, ist die endlose Landstraße unsere unbegrenzte Heimat. Schäm dich nicht, dass du auf ihr gehst, sie ist gütiger als die Straßen und Gassen der Städte. Sie verpflichtet dich zu nichts anderem, als dass du ihr treu bleibst, ihr angehörst und zeitlos wirst.«

Was gab ihr solche Worte ein?

Sterngraber musste an den Bahndamm denken, der ihm den Sinn des Lebens geoffenbart und ihn an neue Ansätze hatte glauben lassen. Warum sollte nicht auch die Landstraße in ein neues Leben führen? War sie denn nur Stromern und Vagabunden eine Freundin und Weggenossin? – Er wollte sie anders gehen wie die zwei da: aufrecht und einer guten Wendung sicher, wollte er auf ihr weiterziehen.

Als sie gegessen hatten, fuhren sie weiter.

Auf einem steilen Talhang trat der Wald zurück und öffnete dem Blick das bunte Bild eines reich besiedelten Hügellandes. Aus den Tälern und Niederungen glänzten die sanften Krümmungen eines Flusses im Grün der Wiesen und Steigen. Über Hänge und Riede spannten die Felder ihre gelben und braunen Streifen, scharf begrenzt von Rainen, Steinriegeln und Stauden, die sich auf den Kuppen und Buckeln in das tiefe Grün der Büsche und des Gestrüppes verliefen. Die Landstraße legte ihr helles Band in großem Bogen über das Land und schickte ihre Wege und Steige überall hin wie ein Blutstrang seine Adern. Hinter Gärten und Zäunen versteckte Dörfer ließen nur den Kirchturm Ausschau halten. Frei und offen standen die Einschichthöfe mit den breiten Fensterseiten auf den Höhen.

Und von Neuem ließ Sterngraber die Spieluhr seiner Gedanken laufen. Irgendwo würde er unterkommen. Nur die Füße wieder fest aufsetzten können, dann wollte er das Ding schon deichseln!

Torheit, was ihm diese Komödianten vorredeten vom Stromer und von der Landstraße! Noch war sein guter Wille obenauf! Hundert Wege gingen über die Hügel und Täler des sommersonnigen Landes vor ihm. Warum sollte ihn nicht einer ins Geborgensein führen?

Geborgen sein – mehr wollte er nicht.

Als junger Student hatte er sich oft eine Zukunft erträumt, in der Minister und Generäle vor ihm Bücklinge machten. Jetzt ging es um mehr: irgendwo Halt finden, um die Vergangenheit abzustreifen … In Sterngraber stieg das alte Bauernblut hoch, das nur den Sesshaften und Bodenfesten die Gnade der Ruhe schenkt. Er stieß mit dem Fuß in eine Krume Kot, als wollte er die Landstraße in Trümmer treten.

Das Weib hatte gesagt, die Landstraße sei gütig. Charakterlos ist sie – nichts sonst! Wie eine Dirne gibt sie sich jedem und gehört keinem. Eine kalte Kupplerin von Ort zu Ort ohne Verantwortung ist sie, die zynisch die großen und kleinen Schicksale der Menschen aufnimmt, wie die geile Freudengasse der Hafenstadt.

Ihn sollte sie nicht haben!

 

Sechstes Kapitel.
Das Weib

Wochenlang zogen sie schon in Bayern herum. Sterngraber war noch immer bei den Zirkusleuten. Jeden Abend ging er mit dem festen Vorsatz schlafen, am anderen Tag Abschied zu nehmen. Es kam nie dazu. Öfter hatte sich schon Gelegenheit geboten, Arbeit zu bekommen, aber der Zirkus-Ferdl verstand es doch immer wieder, ihn zum Bleiben umzustimmen. Wollte Sterngraber an einem Mittwoch oder Donnerstag gehen, sagte der Komödiant: »Na, jetzt kommt's schon nimmer darauf an! Mach wenigstens noch die Woche voll.« Und war's Sonntag, so zechte ihm der Halunke zum Abschied einen solchen Rausch an, dass er erst am Dienstag wieder nüchtern wurde. Überhaupt das Saufen! Da konnte einer vom Zirkus-Ferdl schon was lernen. Sterngraber war bisher gerade kein Trinker gewesen, aber wenn jetzt manchmal der Stromer zu stark bei ihm anklopfte, dann goss er schon einiges hinunter, und der Zirkus-Ferdl wusste es auf die Sekunde genau, wann er dafür zu haben war.

Je länger er aber blieb, desto deutlicher erkannte Sterngraber, dass er zu dem wurde, was der Komödiant als Stromer bezeichnete. Tausend gute Vorsätze – aber kein Schritt, um auch nur den kleinsten davon zu verwirklichen. Er kam sich oft vor wie ein StückTreibholz auf dem unendlichen Wasser eines Meeres. Wellenberg – Wellental – Wellenberg – Wellental – wie das Auf und Ab und Ja und Nein seiner Entschlüsse.

Er hatte Augenblicke, wo ihn das Gewissen so in die Enge trieb, das er an Selbstmord dachte. Dann kamen wieder Stunden, wo er hätte Seiltanzen können vor Übermut und Leichtsinn. Ein Stehaufmännchen des Schicksals, ein kleines Spielzeug in der Hand eines unbekannten Wesens war er. Oder gab es doch so etwas wie einen freien Willen? Warum aber besaß ihn gerade er nicht?

Wenn er, so grübelnd, mit sich selbst haderte und ihm das langsame Verkommen unheimlich bewusst wurde, hätte er am liebsten aufgeheult über sein Elend. Gut, dass da meistens der Zirkus-Ferdl kam und ihn zu einem Dauerschoppen schleppte. Sonst hätte er sich bestimmt in die Krone eines Baumes gehängt. Bestimmt! – Schon um sich selbst zu beweisen, dass er Herr über sich war.

Aber sogar dies Aug in Auge-Sein mit dem Tode war eitle Lüge, eine kleine Aufschneiderei vor sich selbst, denn auch wenn der Komödiant nicht kam, ging Sterngraber doch nicht in den Wald – sondern ins Wirtshaus.

Manchmal setzte sich das Weib zu ihm, wenn er seine böse Stunde hatte. Sie wusste ganz gut, was ihn drückte und quälte, aber sie streifte mit keinem Wort daran. In ihren guten Augen las er das Widerspiel seiner geheimsten Gedanken.

Sie sagte etwa: »Jetzt herbstelt es schon stark, gelt? Auf einmal wird der Winter da sein. Da geht's uns dann manchmal arg ungut. Mit dem schweren Wagen kann man oft eine Woche lang nicht weiter, wenn die Straßen verschneit sind. Wie begraben kommt man sich vor, und die Zeit steht still wie die Ewigkeit. Freilich – wenn dann der Frühling kommt und die Wege wieder frei sind, dann freut man sich doppelt.« Oder sie erzählte: »Einmal hat sich ein reicher Gutsbesitzer in mich verliebt und hat gemeint, er kann mich kaufen. 100.000 Kè hat er dem Ferdl geboten, wenn er mich frei gibt. Er wollte mich dann heiraten. Der Ferdl hat ihm nicht einmal eine Antwort gegeben. Nur ausgespuckt hat er vor ihm. So ist er.«

Sie wusste viele solcher und ähnlicher Geschichten. Sie plapperte aber nicht etwa davon, um ihre Schönheit zu unterstreichen. Sie trug den Adel ihres Gesichtes und ihres Körpers wie etwas Selbstverständliches, unbedingt ihr Zugehöriges, so wie ein Baum in Blüte steht. Wenn sie von den kleinen und großen Erlebnissen ihres Wanderlebens erzählte, versank Sterngraber ganz in den Atem ihrer lieben Stimme und nahm oft die Worte überhaupt nicht auf. Sie waren ja auch gleichgültig. Wenn sie nur sprach, und der Klang ihrer Stimme da war. Dann konnte er vorher noch so zerwühlt und gefoltert gewesen sein: es wurde alles ruhig in ihm, wie das Weinen eines Kindes in einem Wiegenlied verstummt.

Manchmal lag ihm auf den Lippen: »Komm, gib mir deine Hand. Wir wollen fortgehen – weit fort. Dorthin, wo niemand ist als du und ich. Immer weiter und weiter – bis ans Ende aller Enden!« – Aber er sagte es nicht. Wozu auch? – Sie wäre ja doch nicht mitgegangen. Er wusste, dass nicht der Mann es war, bei dem sie blieb, sondern der himmelblaue Wagen mit den ziellosen Spuren seiner Räder. Auch sie hatte gekämpft und gelitten und wollte oft auf und davon. Und fand doch kein Wohin und das drängende »Nur fort!« wurde langsam zu einem ergebenen »Wozu?«

Armes Geschöpf!

Sterngraber spürte es immer deutlicher, dass er diese Freu liebte. Wenn er es ihr auch nicht sagte, so musste sie es ihm doch ansehen. Aber sie sprach nur öfter als früher davon, dass sie den Mann nie verlassen würde.

Welcher Unstern leuchtete über dem Dunkel ihres Herzens? Konnte sie niemanden mehr liebhaben, oder war sie schon so in die ewige Ebbe und Flut der Dinge und Geschehnisse versunken, dass sie sich selbst nicht mehr achtete?

Jung und schön und doch verflucht wie der Stein am Wege.

Wer dieses Rätsel lösen könnte!

Oder war vielleicht gerade das das Glück: wie der Stein zu sein?

Sterngraber drehte das Steuerrad der gewohnten Lebensanschauung einmal anders herum. –

Der Mensch ist das gottfernste Wesen, beinahe hilflos der Umgebung und sich selbst überlassen, weil er sonst Gott selber stürzen würde, so eitel und unersättlich ist seine Seele, die seit urfernsten Zeiten von dem Geist der Engel, die den Himmel stürmen wollten, vergiftet ist.

Das Tier ist Werkzeug seiner Triebe. Vielleicht grausam, aber ohne Verantwortung für sein Tun, das nie die Grenzen seiner natürlichen Bestimmung überschreitet. Wenn es dies einmal tut, so steht dahinter irgendwo der Mensch, der es jagt oder misshandelt oder reizt. Auch über die Tiere wacht Gott. Aber sie fürchten den Menschen mehr – diesen bösen Gott – der immer wieder in ihre Herden einbricht.

Die Pflanze lebt nur ihrem Sein. Sie will nur Apfelbaum, Tanne, Rose, Distel bleiben, nichts anderes. Wenn ihre Zeit da ist, will sie blühen und blüht, wenn ihre Zeit da ist, will sie Früchte tragen und trägt sie. Für sich und alle Wesen, die daran Teil haben wollen. Aber sie hat niemals den Wunsch, laufen zu können oder wie ein Löwe zu brüllen oder wie ein Vogel zu fliegen. Sie will auch nicht zu Gott, denn Gott ist in ihr und sie in ihm.

Auch die Menschen leben in Gott. Aber sie wollen die Welt selbst beherrschen und machen die Augen vor dem Gewaltigen zu, damit sie ihn nicht sehen. Und leugnen ihn dann und maßen sich an, alles selbst in ihre Stümperhände zu nehmen. Erst im Tode verlangen sie nach Gott. Und der nimmt sie dann bei den Ohren wie der Gärtner die Buben und sagt: »Hast du gemeint, ich sei nicht da, weil ich hinter der Hecke stand?«

Und die Steine? – Die sind noch gottnäher als die Pflanzen. Sie haben für sich überhaupt keinen Wunsch. – Sie ruhen im Sein. – Sie sind längst in Gott, seit immer und ewig. Sie sind Gottes Lieblinge, die tiefschlummernden, wunschlosen Kinder seiner Güte.

Warum aber schuf dann Gott den Menschen? –

Sterngraber fand, wie so oft, keine Antwort auf dies große »Warum«.

Das Gleichnis von den Tieren, Pflanzen und Steinen war vielleicht auch der Schlüssel zu dem rätselhaften Wesen dieser Frau. Spricht nicht der Volksmund von einem steinernen Herzen? Darunter ist nicht gerade ein Herz, hart seinen Mitmenschen gegenüber, gemeint, sondern oft auch ein Herz, das vor sich selber steinern wurde. Die Mutter erzählte manchmal von einer Base, die hintereinander fünf erwachsene Kinder verloren hatte. Als man ihr einmal auch noch den Mann tot heimbrachte, sagte sie nur: »Ist schon recht«, und ging ihrer Arbeit nach, als wäre nichts geschehen.

Geduldig wie ein Stein. Auch so sagt man. – Aber das Kreuz ihres Lebens hatte sich das Weib dieses Wanderkomödianten doch selbst aufgebürdet! Sie konnte es wieder abwerfen. Sie tat es indessen nicht und trug es beinahe heiter und zufrieden. Seltsames Geschöpf!

Nach solchen Gedankengängen, wo er vor der immer wiederkehrenden Frage »Wozu das alles« wie vor einem Gitter stand, ekelte ihm oft plötzlich vor diesen beiden Menschen, und er hasste das Weib nicht weniger als den Mann. – Wochenlang hatte er ihnen den dummen August gespielt. Jetzt sollte er wohl auch noch das Spielzeug für dieses kalte Frauenzimmer werden? O nein! Er nicht!! Bis Samstag blieb er noch, das hatte er versprochen. Am Montag aber – ade, schönes Kind!

Doch als der Dienstag kam, war Sterngraber noch da, und so blieb es bis hinein in den Spätherbst.

Auf den Äckern rauchten die letzten Kartoffelfeuer. Die Hütbuben trugen schon die viel zu weiten, alten Röcke ihrer Bauern, oft gleich zwei übereinander, und waren, wenn sie fröstelnd bei den Herden hockten, kaum von den Scheuchen in den leeren Krautäckern zu unterscheiden. An den roten Dolden der Ebereschen hingen Bündel von Grammetvögeln. Von den Wipfeln der nackten Pappeln schimpften Krähen auf dahin flitzende Elstern oder hackten nach den flinken Baumläufern, die zipsend die Stämme auf und ab eilten. Bis gegen Mittag lag der Nebel in den Niederungen. Kaum war er in der Sonne zerflossen, kam er schon wieder und mit ihm die frühe Dämmerung dieser Zeit.

Seit einigen Tagen durfte Sterngraber mit im Wagen schlafen, da die Nächte im Freien unerträglich wurden und oft schon Reif fiel. Er wäre vielleicht auch den Winter über bei den Schaustellern geblieben, wenn der Zirkus-Ferdl nicht selbst Schluss gemacht hätte.

Eines Morgens erzählte ihm das Weib von den Härten des Winters gegen die fahrenden Leute, und Sterngraber hatte gerade die Stunde der guten Vorsätze. Sie waren allein im Wagen, der notdürftig geschützt hinter einem Heustadel stand. Über die Fensterscheiben goss der Regenwind sein kaltes Wasser. Und Sterngraber sprach von dem Fluche der Landstraße. »Es ist nur die Narkose des Leichtsinns, die Trägheit des Zustandes, die uns hier hält. Wenn wir erst wieder unter den anderen Menschen wären, würden wir wie aus einem schweren Traum erwachen.« Er legte dem Weib, das, vor sich hinsinnend, neben ihm saß, den Arm um die Schultern: »Komm, geh fort mit mir – Ich werde dich nicht verlassen! Hier gehen wir zu Grunde!«

Da flog die Wagentüre auf. Der Mann lümmelte sich grinsend auf die Schwelle und pfiff höhnisch zwischen den Zähnen. Sterngraber sprang auf. Er wollte sich wehren, wenn es sein musste. Das Weib blieb sitzen und spielte mit einem Strohhalm, als ginge sie das nichts an. Da sagte endlich der Zirkus-Ferdl langsam und beißend: »Also du auch, du windiger dummer August, du hergeloffener!«

Sterngraber wollte auffahren, aber der Komödiant schrie ihn an: »Willst mich am End' gar fordern? Scheißkerl!? – Das möchte dir so passen, noch auf der Landstraße den Kavalier spielen! Früher vielleicht – da hätt ich mich mit dir geschlagen. Du wärst nicht der einzige gewesen, den ich niedergesäbelt habe. Aber für Stromer gilt ein anderer Ehrenkodex. Deine Vorgänger habe ich einfach windelweich gehauen. Dir möchte ich das ersparen, weil ich dich gut leiden hab können. Pass auf! Ich geh jetzt bis zum Dorfende und wieder zurück. Bist du dann noch da – – ! Du kennst mich!« Er schlug die Kapuze des Regenmantels über die Mütze und ging.

Sterngraber keuchte vor sinnloser Wut und wäre ihm vielleicht nachgesprungen. Aber da sagte das Weib: »Du musst gehen. Such deine Sachen zusammen und schau, dass du weiter kommst, bevor er wieder da ist.«

»Ich geh nicht!«

»Er erschlägt dich, wenn du dich ihm stellst.«

»Ich fürchte mich nicht.«

»Tu es mir zu lieb.«

»Wird er dich schlagen?«

»Nein. Er weiß, dass ich nichts dazu getan habe, dass es so kam.«

»Du liebst ihn also doch?«

»Nein.«

»Dann komm mit mir!«

»Ich bleibe.«

Sterngraber lachte auf: »Aber ja! Er hat doch recht! Was such ich denn noch da?!« Er warf seine Sachen hastig in den Rucksack zog sich an und ging zur Wagentüre. »Sag ihm, ich lass ihm danken, dass er mir die Augen geöffnet hat, sonst wärst du auch mein Untergang geworden, so wie du seiner bist – du Fluch der Landstraße!« Das Weib starrte ihn eine Weile entsetzt an. Doch als er ohne Gruß die Stufen hinunterstieg, stürzte sie ihm nach und drückte ihm zitternd etwas in die Hand: »Da nimm – – !«

Sterngraber eilte davon. Erst als er das letzte Haus des Dorfes hinter sich hatte, öffnete er die Faust. Ein zusammengelegtes Stück Papier. Ein Brief? Eine Münze?

Es war kein Brief; nicht einmal ein Wort. Das Papier umschloss ein kleines Medaillon mit ihrem Bild. Sterngraber warf es in den Straßengraben. Wollte sie ihn weiterhin verfolgen, diese Hexe?«

Aber nach ein paar Schritten kehrte er um, hob das Medaillon auf und steckte es zu sich in die Tasche.

 

Siebtes Kapitel.
Die Sägemühle

Seit Langem war Sterngraber wieder einmal mit sich selbst zufrieden. Am liebsten hätte er sich selbst gestreichelt und belobt: »Brav, brav – das hast du gut gemacht, Georg! Diese dummen letzten Wochen wollen wir vergessen. Ein bedeutungsloses Zwischenspiel, über das wir einmal lachen werden. Haben damit weiter nichts versäumt. Wir sind über der Grenze, das ist die Hauptsache. Jetzt nur die Augen aufmachen und einen Unterschlupf finden. Wenigstens über den Winter. Wenn sich am Land nichts findet, kann man es ja auch in der Stadt versuchen.«

Der Regen peitschte wild und unaufhörlich nieder. Die Straße verschlammte knöcheltief und ließ nur am Rand einen schmalen Streifen gangbar. Sterngraber stemmte sich in den Gegenwind und patschte durch die Lacken und Pfützen so schnell dahin, als es nur ging. An den Schultern drang das Wasser bald durch Mantel und Kleider.

Ein Hundewetter! In einem Komödiantenwagen saß man wenigstens trocken …

Teufel noch einmal! Dachte er wieder an sie? Was ging ihn dieses Weib noch an?

Das Wetter wurde immer ärger. Aus den Ösen der Schuhe quoll Wasser hervor, und der angesogene Hut lag schwer wie ein Stein auf dem Kopf. In dieser gottverlassenen Gegend musste es doch auch wo ein Haus geben? Nur unter ein Dach kommen!

Längs der Straße lief ein Bach, der an manchen Stellen bereits die Wiesen im Talgrund überschwemmte, so viel Überwasser trug er. Die Weiden an seinen Ufern wurden immer dichter und mischten sich mit Erlen, Ahorn und Pappeln, die zwischen zwei Lehnen ein dichtes Gehölz bildeten. Durch die Regenwand hörte Sterngraber das Aufkreischen einer Schundelsäge. Gott sei Dank!

Große Haufen Langholz lagen an der Straße, Bretterschlichten und Schleifholzstöße. Dahinter waren das breite, flache Dach einer Säge und ein einstöckiges, vielfenstriges Wohnhaus.

Sterngraber bog in den Hof ein. Über der Haustür stand in großer Schrift: »Sägewerk von Gustav Schrenk.« Er trat in den Hausflur. Rechts an der ersten Tür las er: »Kanzlei.« Er schwenkte den triefenden Hut aus, schüttelte das Wasser – soweit es ging – von den Kleidern und klopfte an.

»Herein!«

Sterngraber öffnete die Türe.

Bei einem Schreibpult stand ein junger Mann.

»Guten Tag. – Ich möchte mich unterstellen und trocknen.«

»Da musst du den Herrn fragen.« Der Schreiber deutete auf einen stattlichen Mann, der am Schreibtisch saß.

Sterngraber wiederholte seine Bitte.

Der Herr hob den Kopf. »Kannst dich schon unterstellen, warum denn nicht? Aber – mit dem Dableiben ist's nichts, das sag ich dir gleich!«

»Irgendwo werden Sie schon ein Platzl über die Nacht für mich haben.«

»Nein, nein! Das mag ich nicht, wenn sich einer schon zu Mittag ums Nachtquartier umschaut. Für Umgeher ist bei mir kein Platz.«

»Wenn der Regen aufhört, geh' ich sowieso weiter.«

»Er hört aber nicht auf! Das dauert jetzt seine acht Tage oder noch länger. Wenn einer bei mit anklopft und sagt, er möchte eine Arbeit haben – gut – bei mir gibt's immer Arbeit. Aber ich bin kein Herbergsvater!«

Sterngraber dachte: der Anfang ist ja gar nicht schlecht. Wird mir gleich Arbeit angeboten, ohne dass ich darum bitten muss. So sagte er: »Wenn Sie mir Arbeit geben könnten? – Ich bin grad arbeitslos.«

»Was bist für ein Arbeiter?«

»Eigentlich landwirtschaftlicher. Aber ich werde mich auch in die Holzarbeit finden.«

»Hast du Papiere?«

»Ja.«

Sterngraber zog das Arbeitsbuch des Josef Bliml heraus und reichte es Herrn Schrenk.

Der las: »Josef Bliml, geboren 2. Mai 1895 in Kunau, Mähren, Hilfsarbeiter. – Ich soll zwar keine Ausländer einstellen, aber das werde ich schon regeln. Die Hauptsache ist, dass du fleißig und anständig bist. Lohn zahle ich erst nach acht Tagen Arbeit aus.« Die weiteren Blätter, wo der Arbeitsnachweis eingetragen wird, sah er zum Glück nicht an. Wahrscheinlich hielt er nichts von Dienstbestätigungen – und hätte bei Josef Bliml auch keine gefunden.

»Komm mit!«

Sie gingen in die Säge hinüber. Sterngraber wurde dem Sägemeister als neuer Arbeiter übergeben. »Lass ihn aber erst trocken werden, bevor du ihn einspannst«, sagte Schrenk.

Der Sägemeister, ein baumlanger, eckiger Mensch, führte den Neuen in einen gemauerten Anbau. Nahe der Tür stand ein langer Tisch mit Bänken und an den Wänden einfache Bettgestelle mit Strohsäcken und Decken. Zwischen je zwei Schlafstellen war ein Kasten. Sterngraber erinnerte sich an die Mannschaftsbaracken im Krieg.

Der Sägemeister wies ihm ein Bett und einen Kasten an und gab ihm Esszeug und Essgeschirr. »Wenn du dich dann umgezogen hast, kommst du hinauf, dass ich dir alles zeige«, sagte er und ging.

Sterngraber packte den Rucksack aus. Die oben liegenden Kleider waren durch und durch nass. Beinahe zum Auswinden. Den schlechtesten Anzug und die Wäsche hatte er zu unterst hineingestopft; das war halbwegs trocken. So konnte er sich wenigstens umziehen. Er hing die nassen Kleider über die Stange beim Ofen und zog den alten Anzug an.

Die Uhr zeigte halb zwölf. Da gab's also bald ein Mittagessen. Er hatte einen Bärenhunger! Vorher aber wollte er schnell noch zum Sägemeister hinüber. Vom Anbau führte eine Stiege auf den Sägeboden.

Bei einem Doppelgatter stand der Sägemeister. Sterngraber sagte: »Bin schon da.« Aber er Lärm der Sägen war so undurchdringlich, dass er den Mann beim Ärmel zupfen musste. Der nickte nur und ging mit ihm zur offenen Seite, wo in gleicher Höhe der Holzplatz anschloss. Dort konnte man sein eigenes Wort wieder verstehen. »Also da drin«, sagte der Sägemeister, »laufen zwei Doppelgatter, drei Kreissägen, eine Hobelbank und eine Bohrmaschine. Unten ist die Radstube mit den Maschinen, die von der Turbine – da vorn unterm Wasserfall – getrieben werden. Aber das geht dich weiter nichts an, weil du damit nichts zu tun hast. Das da ist der Holzplatz, wo du arbeiten wirst. Es sind hier im Ganzen zwanzig Arbeiter beschäftigt. Acht davon, die Ledigen, schlafen auch hier unten im Anbau. Du siehst jetzt die Wenigsten, weil sie, wenn es regnet, dort unter den fliegenden Dächern arbeiten. Drüben sind das Wohnhaus, die Mühle und die Wirtschaftsgebäude. Der Herr Schrenk ist ein reicher Kampl. Aber ein guter Mensch! Wenn du wirklich arbeiten willst, hast du's bei uns nicht schlecht getroffen.«

Im Dachreiter des Wohnhauses fing eine Glocke zu läuten an. Die Kreissägen versummten und blieben stehen. Nur die Gatter schnitten weiter in den Blöchern. Sie ruhten nur, wenn die Zähne gefeilt werden mussten oder neue Stämme auf die Laufböcke gelegt wurden.

Es war Mittag.

Die Sägearbeiter versammelten sich im Anbau. Zwei Mägde brachten in großen Blechhäfen das Essen: Kartoffelsuppe und dann Krautnudeln. Bevor sie zu essen anfingen, sagte der Sägemeister: »Das ist der Neue. Tut ihn nicht sekieren, wie ihr das in euch habt, und geht ihm im Anfang an die Hand, damit er sich bald dreinfindet.«

Sterngraber ging von einem Arbeiter zu anderen, reichte jedem die Hand und sagte: »Auf ein gutes Auskommen.«

Damit tat er gut. Denn wenn einer sagt »auf ein gutes Auskommen«, so hat er vor, länger zu bleiben, und die Arbeiter behandeln ihn nicht so misstrauisch wie sonst einen Hereingeschneiten.

Das Essen war gut, und jeder konnte sich nehmen, so viel er wollte. Sterngraber langte tüchtig zu und war der Letzte, der den Löffel weglegte. Da bis ein Uhr Rast war, streckten sich die meisten Arbeiter auf ihren Strohsäcken aus. Sterngraber blieb beim Ofen sitzen. Die Wärme tat ihm wohl, und es war ihm auch sonst ganz behaglich zu Mute. Wenigstens über den Winter war er nun geborgen. Vielleicht konnte er gelegentlich ein wenig seine Intelligenz durchblicken lassen – natürlich nur so weit, dass es ihm nicht von Schaden war und doch vorwärts half. Über kleine schriftliche Arbeiten am Holzplatz – in die Kanzlei. Warum sollte das nicht gehen? Dazu brauchte er nur eine richtige Gelegenheit!

Als die Mittagspause um war, gingen die Arbeiter wieder an ihre Werkplätze. Sterngraber wurde den Brettlegern zugeteilt. Das war eine leichte Arbeit, die nur etwas Augenmaß und Genauigkeit erforderte, damit die oft stockhohen Stöße nicht wieder umfielen. Sterngraber sah, dass hier alles flott weiter ging und die Leute fest zugriffen.

Der Regen ließ, wie der Sägemüller vorausgesagt hatte, nicht nach, und die Nacht kam eher als sonst.

Als sie Feierabend machten und in den Hof zum Anbau hinuntergingen, rollte draußen auf der Straße ein Fuhrwerk vorbei. Sterngraber erkannte den blauen Wagen des Zirkus-Ferdl.

*

Es kam ein wunderbarer Winter mit einer gleichmäßigen, erträglichen Kälte und trockenem Schnee. Die Tage waren klar, oft sonnig. In den Nächten fiel manchmal neuer Schnee.

Sterngraber hatte sich schnell an die Holzarbeit gewöhnt. Nach ein paar Blasen wurden seine Hände hart und schwielig, und das Bücken, Heben und Stemmen, was ihm die ersten Tage allerhand Beschwerden und Schmerzen verursacht hatte, wurde ihm bald so leicht, als hätte er zeitlebens nichts anderes getan.

Im Anbau ging es abends manchmal lustiger zu als in einem Wirtshaus. Die Arbeiter waren Burschen, mit denen man sich schon vertragen konnte. Da Sterngraber trotz aller Zurückhaltung doch öfters seine geistige Überlegenheit verriet, genoss er bald ein gewisses Ansehen als einer, der es hinter den Ohren hat. Einer – der Schlagl-Toni – spielte Zither, und singen konnten alle. Sterngraber wusste auch eine Menge lustiger Lieder, und so verbrachten sie beinahe keine Sitzweil ohne Singen. An Samstagen, wenn die Mägde herüberkamen, tanzten sie oft bis Mitternacht. Sonntags gingen sie über den Berg hinüber ins Kirchdorf. Erst in die Kirche und dann ins Wirtshaus. Da der Sägemüller Schrenk seine Arbeiter gut bezahlte und sie die Woche über in der Einschicht keine Gelegenheit hatten, das Geld zu verzetteln, konnten sie am Sonntag tüchtig aufhauen und sparten es auch nicht.

Wenn sie nach der Frühmesse zum »Bräu« hineinkamen, wurden sie fast ebenso laut begrüßt wie die angesehen Bauern und Besitzer. Kaum saßen sie bei ihrer Maß, hieß es schon: »Schrenkburschen, singt's eins!« Seit sie den Neuen unter sich hatten, war es wirklich eine Freude, ihnen zuzuhören. Der hatte ihnen das Plärren und Drauflosschreien, wie sonst die Burschen in der Gegend sangen, gründlich abgewöhnt. Wenn sie jetzt eins anstimmten, war's nicht schlechter, als wenn das Lehrerquartett sang. Nur dass sie eben keine Noten brauchten und alles nach dem Gehör ging. Gerade darin aber erblickten die Bauern und Knechte bei »Bräu« die Kunst. Noch ein Lied und noch eins wurde verlangt. Man vergaß das Mittagessen, und oft wurde es Abend.

Manchmal kehrte auch der Sägemüller beim »Bräu« ein. Wenn er in die Stube trat, standen seine Arbeiter auf, nahmen die Hüte ab und sagten: »Guten Morgen, Herr.« Das hatte ihnen Sterngraber beigebracht. So eine Aufmachung beim Grüßen hatte man bisher noch nicht gesehen, und der Sägemüller wurde beim Honoratiorentisch von allen Seiten bestaunt, dass ihn seine Leute so ehrten. Schrenk war gerade kein eitler Mensch, aber das gefiel ihm von seinen Arbeitern. Wenn sie dann wieder weitersangen und ringsherum Beifall laut wurde, rief der Sägemüller die Kellnerin und sagte ihr ins Ohr: »Also, Kathi, was meine Leute essen und trinken, zahl ich!«

Grad eine Freude könne er haben mit solchen Leuten, sagten ihm die anderen Besitzer, und er war auch nicht wenig stolz auf sie. »Bei der Arbeit«, sagte er, »da sind sie allesweil schon brav gewesen – hat nichts gefehlt – aber seit ich den Bliml aufgenommen hab« – er meinte Sterngraber – »haben sie noch was zugelernt: ein schönes Benehmen und das Singen. Und so ist's recht. Der Mensch soll arbeiten und verdienen, aber er soll auch lustig und fröhlich sein können. Dahergekommen ist er, dieser Bliml, wie ein Vagabund – hab ihm nicht gleich getraut – und jetzt macht er sich recht gut.«

*

Sterngraber wartete vergebens auf eine Gelegenheit, zu Schreiberdiensten verwendet zu werden. Einfach zu sagen, dass er das Rechnen im kleinen Finger habe, wagte er nicht – obzwar er oft, wenn der Sägemeister oder der Herr an einem Rechenfehler stundenlang herumdokterten – gerne den Bleistift genommen und gesagt hätte: »Gebt her, das ist doch so einfach!«

Mit der Familie des Brotherrn kam er so gut wie gar nicht in Berührung. Er wusste nur, dass eine Frau und eine Tochter da waren, die den Winter über oft nach München fuhren. Ein paarmal hatte er sie von Weitem gesehen. Die Frau war noch sehr jugendlich, die Tochter gut gewachsen, zwar gerade keine Schönheit, aber von jener strahlenden Gesundheit, die den Mädchen aus dem Waldland ihren eigenen Reiz gibt. Wenn sie daheim war, hörte er sie oft Klavier spielen. Da war sie allerdings eine Meisterin, und er lauschte heimlich unter den Fenstern des Herrenhauses.

Wie lange hatte er nicht mehr musiziert! Wie lange hatte er keine Geige mehr in der Hand gehabt! Ein so gesuchter Sonatenspieler wie er und jetzt ein Zaungast, der froh sein musste, verstohlen zuhören zu dürfen. O du buckelige Welt!

Als es endlich dem Frühjahr zuging und die schneefreien Felder und Wiesen ihre Kätzchen ausstreckten, sagte eines Tages der Sägemüller zu Sterngraber: »Bliml, du bist doch landwirtschaftlicher Arbeiter – verstehst du auch etwas von der Gartenarbeit?«

»O ja«, sagte Sterngraber, »was soll's denn sein?«

»Der Hausgarten wäre umzustechen und herzurichten.«

»Werd ihn halt herrichten.«

Sterngraber holte Schaufel, Riedhau und Eisenrechen und fing an, den Garten, der arg verludert war, umzustechen. Die winterharten Knollen und Zwiebeln – die Schneeglöckchen, Narzissen, Türkenbund, Pfingstrosen, Schwertlilien und Georginen – lockerte er nur ein wenig auf oder teilte sie, wenn sie zu dicht waren. Auch auf die Nelken, Primeln, Herzerlstöcke und Stiefmütterchen war acht zu geben, dass sie nicht auf die Schaufel kamen. Das übrige Erdreich hob er tief aus, zerhackte es mit der Riedhau, säuberte es mit dem Rechen und mit den Händen von allen Unkrautwurzeln und Steinen und legte neue Beete an. Der Sägemüller ließ Blumensamen und Zwiebeln kommen, die ihm Sterngraber empfohlen hatte. Auch frische Rosenstöcke und Flieder wurden gepflanzt.

Sterngraber ging ganz auf in seiner neuen Arbeit und kam jetzt auch der Familie näher. Frau Schrenk und ihre Tochter Agnes kümmerten sich um den Betrieb überhaupt nicht. Aber sie waren tüchtige Hausfrauen und sahen auch im Garten nach dem Rechten. Sie kamen mit allerlei Wünschen und merkten bald, dass man mit dem Bliml über mehr reden konnte als nur über Sämereien und Blumensorten.

Als Sterngraber mit dem Blumengarten fertig war, machte er sich über die Gemüsebeete. Die lagen gerade unter den Fenstern des Klavierzimmers. Wenn Agnes oben spielte, lehnte Sterngraber oft lange müßig an dem Schaufelstiel. Er freute sich jeden Tag auf die Stunde, da sie sich zum Klavier setzte. Als er so wieder einmal die Arbeit vergaß, fragte ihn die Sägemüllerin, ob er denn von Musik etwas verstehe.

Sterngraber wurde rot und sagte: »Ich spiele Geige.«

»Wenn du spielen willst – wir haben auch eine Geige oben. Ich werde sie dir hinüberschicken.«

»Ich habe lange nicht mehr musiziert. Aber wenn ich ein paar Tage üben könnte, dass die Finger wieder leicht würden, dann…« – Er wollte sagen: dann könnte ich mich schon hören lassen. – Aber er griff wieder nach der Schaufel.

Abends brachte ihm eine Magd im Auftrag der Frau Schrenk eine Geige in den Anbau. Sterngraber stimmte das Instrument und spielte ein paar Tonleitern und Übungen. Die Schlafkameraden waren voller Erwartung gewesen, waren aber jetzt enttäuscht. »Hör auf mit dem Gefiedel«, sagte einer, »spiel uns lieber einen reschen Ländler auf, wenn du einen kannst.«

Der Schlag-Toni packte die Zither aus und schrie: »Auf geht's!«

Sterngraber hätte lieber weiter geübt, aber fürs Erste genügten auch Ländlergriffe. Volkstänze kannte er mehr als genug, also sollten sie ihre Freude daran haben. Nach der Abendsuppe kamen auch die Mägde herüber. Es wurde gesungen, getanzt und gespielt, und sie merkten erst, dass es auf Zwölfe zuging, als der Sägemeister kam und dem Fest wohlwollend ein Ende machte. »Alles hat ein Anfang und ein End«, sagte er, »morgen heißt es wieder arbeiten. Legt euch schlafen!«

Am anderen Tag konnte es die junge Stubenmagd kaum mehr erwarten, bis die Herrenleut zum Frühstück kamen. Kaum hatte sie den Kaffee auf den Tisch gestellt, platzte sie auch schon heraus: »O meint's, Frau, gestern haben wir's lustig gehabt drüben im Anbau. Der kann fein schön geigen, der Bliml! Der Schlagl-Toni hat Zither gespielt, und wir haben getanzt, dass die Kittel g'flogen sind.«

»So so«, sagte die Sägemüllerin, »also habt's euch wieder einmal gut unterhalten?«

»Ja. Aber der Bliml, wie der schön spielen kann! Dem müssen's nur grad einmal zuhören.«

»Weißt du was, Mutter«, sagte Agnes, »morgen ist Samstag, da können sie herüber kommen, der Bliml und der Schlagl-Toni. Lassen wir uns auch vorspielen, das wird ein Spaß!«

»Soll ich's den Zweien sagen?« freute sich die Magd.

»Ja. Nach Feierabend sollen sie kommen.«

Als die Stubenmagd den beiden die Einladung überbrachte, war der Schlagl-Toni außer sich: »Mein Lieber, denen spielen wir aber! Pass auf, da kriegen wir einen Schnaps und ein Zubeiß und ein Zigarrl auch und – Herrgottseitn noch einmal, das muss eine Gaude werden!« Vor lauter Freude schnalzte er der Magd ein Bussl hinein.

Sterngraber zeigte keine Überraschung, er sagte zu dem Mädchen: »Richt der Herrschaft aus, wir lassen uns für die Einladung schön bedanken, und wir werden um 4 Uhr hinüber kommen.«

Der Schlagl-Toni war aufgeregt, als müsste er vor dem Erzbischof spielen. Er entwickelte Sterngraber, der neben ihm arbeitete, an die fünfzig Mal das Programm für den kommenden Tag. »Also: zuerst hauen wir die »Holzhackerbuam« herunter, nachher kommt was fürs Gefühl, »Die Mühle im Tale«, nachher wichsen wir den »Deggendorfer Ländler« hinein, und nachher singen wir »Vogerl fliagst in d' Welt hinaus« und »Das Elterngrab«. Jetzt werden sie dann schon mit einem Schnaps herausrücken. Da singen wir »Hoch solln sie leben« und nachher »Das Lied vom König Ludwig« und »'s Bairisch Zell«. Wenn s' nachher einen Gugelhupf auftragen, sing ich 'n »Saubären«, dass s' was zum Lachen haben, und du kannst den »Fensterstockhiasl« außer lassen. Dann gibt sich schon alles von selber, wenn einmal die Stimmung da ist. Und vergiss nicht: Allweil ein bissl zieren und g'schämig tun beim Zugreifen, aber fest hineinlangen. Alle Tag bist nicht eingeladen!«

Abends bestand der Schlagl-Toni auf einer gründlichen Probe. Er zog einen Stoß alter Noten aus seinem Holzkoffer, und Sterngraber musste die »Mühle im Tale«, »Das Echo im Walde« und »Die Glocken der Heimat« drei- und vier- und fünfmal spielen, bis der Toni mit den Flagelotts und den Echostellen zufrieden war. »Schmalz, Schmalz und wieder Schmalz gehört zum Spielen«, belehrte er Sterngraber, der den Kitsch teilnahmslos heruntergeigte. Als er ihn dann endlich in Ruhe ließ, übte Sterngraber noch eine Stunde Tonleitern, was die anderen zähneknirschend über sich ergehen ließen.

Während man sonst in Tag- und Nachtschicht arbeitete, ging die Säge samstags nur bis ein Uhr. Nach dem Mittagessen setzten sich die zwei Musikanten vor ihre Taschenspiegel und schabten sich zuerst einmal den Bart herunter. Die Stubenmagd hatte ihnen noch am Abend die Sonntagsanzüge geputzt und gebügelt, und die blitzblank gewichsten Schuhe standen, sorgsam mit Fußlappen verdeckt, unter den Betten. Sie brauchten zum Anziehen mächtig lange, und es war gut, dass Sterngraber der Herrschaft ihr Kommen nicht schon für drei Uhr angesagt hatte. Begleitet von den Hänseleien der anderen Arbeiter marschierten sie endlich los.

Agnes sah sie vom Fenster aus und kam ihnen bis ins Stiegenhaus entgegen. »Also kommt nur. Das ist schön, dass ihr uns auch einmal aufspielen wollt.« Sie führte die beiden in das Musikzimmer, lud sie zum Sitzen ein und ging, die Eltern zu holen.

Der Schlagl-Toni ließ sich mit einem wollüstigen »Ah« in einen Ledersessel fallen. »Na, was sagst du jetzt?!« stieß er hervor.

Sterngraber saß mit geschlossenen Augen. Es war ihm, als wäre er durch Nacht und Schnee viele Tage und Wochen gegangen und endlich nach Hause gekommen. Sogar die behagliche Müdigkeit spürte er, die solch ersehnte Heimkehr auslöst. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn jetzt lange niemand gekommen wäre und er allein hätte sein können.

Der Schlagl-Toni freute sich wie ein Bub über das Schnellen der Sprungfedern. »Sitz doch nicht so da wie ein Haubenstock«, ermunterte er Sterngraber, »probier's auch einmal, wie das schön hupft.«

Sterngraber rührte sich nicht.

Agnes kam mit Vater und Mutter zurück. Hinterdrein die Hausmagd und die Köchin, die Erlaubnis bekommen hatten, das Konzert mit anzuhören.

Der Schlagl-Toni war von seiner musikalischen Sendung so überzeugt, dass er sofort seine Zither auspackte und zu stimmen anfing. Sterngraber stand auf und machte der Frau und dem Herrn eine Verbeugung. Vielleicht wirkt derlei komisch, wenn ein Mensch es macht, von dem man es nicht erwartet. Jedenfalls konnte Agnes ein Kichern nicht unterdrücken. Frau Schrenk aber nickte ihm zu: »Bleib nur sitzen, Bliml! Ihr sollt ja recht gut spielen – na, das ist schön.« Der Sägemüller steckte sich eine Zigarre an und sagte zu seiner Frau: »Ich hab dir doch erzählt, dass die Hallodrie jeden Sonntag den »Bräu« auf den Kopf stellen. Überhaupt der Bliml, der singt wie ein Lercherl.«

Sterngraber saß steif. Die ungewohnte Umgebung schien den Burschen scheu und verlegen gemacht zu haben.

»Also pack schon einmal aus, du Lamplschweif«, fuhr ihn der Toni an, und Agnes sagte lachend: »Nur keine Angst, Bliml, es wird nicht gleich schief gehen.«

Sterngraber musste an den Augenblick denken, da er zum ersten Mal als dummer August vor die Leute getreten war. War das nicht ebenso? Aus Langeweile und zum Spaß hatte man ihn eingeladen. Gut, sie sollten ihren Spaß haben.

Er stimmte die Geige, und der Schlagl-Toni sagte programmmäßig die »Holzhackerbuam« an.

Sie spielten besser, als man es sonst auf dem Land hört, zusammen. Um ihnen Mut zu machen, klatschte die Familie reichen Beifall, und auch die Mägde machten aus ihrer ehrlichen Bewunderung kein Hehl. Der Schlagl-Toni lachte über das ganze Gesicht; er kam sich wie ein lorbeerüberschütteter Virtuose vor. »Das war noch gar nichts!« rief er aus. »Jetzt kommt die »Mühle im Tale«, das müssen S' Ihnen anhören.« Toni legte ein Tremolo in das Rührstück, dass die Mägde herzergriffen seufzten. Auch der Herr und die Frau, die in einfachen Verhältnissen aufgewachsen waren, hörten aufmerksam und gerührt zu. Dagegen hielt Agnes ihr Taschentuch vor den Mund, und Sterngucker merkte, wie schwer es ihr fiel, nicht laut herauszulachen.

»Schneegans«, dachte er, »wenn dir diese Gefühlsduselei schon lächerlich vorkommt, so sei doch wenigstens so anständig und zeig es nicht. Oder lade einen nicht ein. Ich kann doch zu dem Jammerinstrument da keine Bach-Sonate spielen.

Die vom Schlagl-Toni so sorgsam zusammengestellte Vortragsfolge fand die erhoffte Ergänzung durch Schnaps, Bäckereien und Zigarren. Dem Toni ging das Mundwerk wie noch nie, und die beiden Frauen fanden es lustig, sich einmal auch mit Arbeitern zu unterhalten. Nur dem Sägemüller fiel auf, dass der Bliml ganz gegen seine Art so einsilbig war. »Also beim »Bräu« drinnen, da ist der Bliml ganz anders«, sagte er, »da kann man sich biegen vor Lachen über ihn. Fehlt dir etwas, Bliml, dass du so traumhapert bist?«

Was sollte Sterngraber darauf sagen? Was ahnten die von ihm!

Der Toni wollte ihn entschuldigen: »Wissen's, Herr, der Bliml ist halt wahrscheinlich noch nie in so einem feinen Zimmer gesessen, und so schöne Sesseln und Sachen wird er auch noch nicht gesehen haben, da hat's ihm halt die Red verschlagen.«

Sterngraber musste über diese Einfalt lächeln. Er krampfte einen Augenblick die Finger ineinander, als könnte er sich nicht entschließen. Dann sagte er unvermittelt: »Fräulein Agnes, könnten wir nicht etwas mitsammen spielen?«

»O ja, warum nicht? Aber Ländlernoten habe ich keine da. Vielleicht einen Walzer?«

Sie ging zum Klavier und suchte in den Noten, die in einem Regal geordnet lagen. Sterngraber stand auf. »Darf ich etwas heraussuchen?«

»Kennst du dich aus?«

»Ein wenig.«

Während Agnes einige Akkorde anschlug, stöberte Sterngraber in den Noten. Sie war neugierig, was der Arbeiter wählen würde. Zu ihrem Erstaunen legte er ihr die »Träumerei« von Schumann und »Liebesleid – Liebesfreud« von Kreisler auf.

»Das soll ich spielen?«

»Ja. Und ich werde mitspielen.«

Sie schaute ungläubig auf: »Wir dir das nicht zu schwer sein?«

»Nein.«

Die Weise Schumanns floss mit all ihrer hohen Schönheit in den dämmerdunklen Raum und schwebte über den Lauschenden wie der blaue Friede des Himmels über einer milden Sommernacht.

Agnes löste die Hände von den Tasten: sie blickte Sterngraber beinahe erschrocken an. »Sie können ja richtig spielen?!« –

Sterngraber zuckte die Achseln: »Warum nicht? – Spielen wir auch die Stücke von Kreisler?«

»Bitte.«

Sterngraber lächelte in sich hinein, dass sie nun bereits »Sie« und »bitte« zu ihm sagte. Er nahm sich sehr zusammen und empfand Genugtuung dabei, dass er auch die beiden Stücke von Kreisler ohne wesentliche Fehler bewältigte. Für eine Hand, die wochenlang Bretterschlichten gelegt hatte, war dies eine Meisterleistung.

Agnes war von dem Spiel Sterngrabers so überrascht, dass sie gleich noch einen Stoß anderer Noten auflegte. Doch da regte sich in Sterngraber der Trotz. »Zuerst auslachen und die geduldig Zuhörende spielen, um einen langweiligen Nachmittag tot zu schlagen, und dann einfach Noten auflegen und »Weiterspielen« befehlen – das möchte dir so passen. Just nicht!« dachte er. Er packte die Geige ein und sagte: »Heute haben wir schon genug musiziert. Ich bin das jetzt nicht gewöhnt, die Finger tun mir weh.«

Agnes spürte, dass hinter diesen Worten irgendwo eine Spitze gegen sie stak und dass ein Geheimnis diesen Burschen umgab. Sie wollte sich aber nichts anmerken lassen und sagte zum Schlagl-Toni: »Also spiel uns du noch eins, wenn dem da schon die Finger weh tun.«

Sterngraber verwünschte sich. Jetzt hatte sich endlich eine Gelegenheit geboten, wenigstens für ein paar kurze Stunden manchmal Mensch zu sein und in einer Umgebung zu weilen, in die er gehörte – und da hatte er die offene Tür selbst wieder zugeschlagen. Zu dumm! Gerne hätte er die Sache wieder eingerenkt, aber er fand die richtigen Worte nicht.

Während der Toni noch einen Ländler spielte, setzte sich der Sägemüller zu Sterngraber. »Was hast du für Schulen besucht?«

»Volksschule und Bürgerschule.«

»Da kannst du doch auch gut schreiben und rechnen?«

»Es geht«, sagte Sterngraber trotz seiner Erwartung gelassen.

»Ich werde schauen, ob ich dich nicht in der Kanzlei verwenden kann. Für einen Taglöhner ist es schad um dich.«

»Wenn Sie es versuchen wollten mit mir!« –

»Derweil hab ich noch keine Arbeit für dich. Vielleicht später einmal.«

Ein kleiner Schritt vorwärts war also doch getan! Herr Schrenk war auf ihn aufmerksam geworden, ohne dass er verraten musste, wer er eigentlich war. Mehr wollte er nicht.

Zum Abschied gab der Sägemüller beiden eine Hand voll Zigarren, und Agnes stopfte ihnen die Taschen mit Bäckereien voll. Für Untergebene der obligate Wink zum Gehen! Sterngraber stupfte den Toni, der noch gern geblieben wäre. Sie standen auf, sagten »Dank schön« und gingen wieder in den Anbau hinüber.

Dort nahm das Fragen kein Ende, und Toni schnitt auf wie der selige Münchhausen. Bei »Vogerl fliagst in d' Welt hinaus«, log er, hätte die ganze Familie samt der Köchin und der Stubenmagd so geweint, dass er zum Singen aufhören musste, so erbarmt hätten ihn die Leute mit ihren Tränen. Mit dem Bliml war er, was das Geigen anbelangt, ganz zufrieden gewesen. Aber benommen hätt er sich – erzählte er – wie ein Stockfisch. Grad zum Schämen wär's mit ihm, wie unbeholfen der in einer feinen Gesellschaft ist!

Sterngraber verteilte seine Zigarren an die Kameraden und streckte sich auf dem Strohsack aus.

Schlafen und vergessen, dass es noch etwas anderes gab als diese vier Wände und oben die Säge und den Holzplatz! Schlafen – und nicht daran denken –

 

Achtes Kapitel.
Der Schreiber

Sterngraber hatte noch immer im Wurzgarten zu tun. Frau Schrenk und ihre Tochter kamen täglich auf zwei, drei Stunden herunter und halfen Pflanzen einsetzen und Beete ansäen. Sie sprachen mit ihm über alles Mögliche, nur nicht vom Musizieren. Und er wartete doch nur darauf! Am nächsten Freitag hielt er es nicht mehr aus. Als sich Agnes mit einer Schwinge von Kohlsetzlingen neben ihn kauerte, um ein fertiges Beet zu bestecken, fragte Sterngraber: »Fräulein Agnes, wann – werden wir denn wieder einmal spielen?«

»Bis ihnen die Finger nicht mehr weh tun«, entgegnete sie schnippisch.

Warum sagte sie »Ihnen« und nicht »dir«? Sie sprach doch alle Arbeiter mit »Du« an. Das war also gleichsam eine – grammatische Ohrfeige.

Sterngraber stieß die Schaufel in den Boden, als wollte er das Beet auf einmal umheben.

Drei Wochen später – Sterngraber war mit dem Garten fertig und arbeitete wieder auf dem Holzplatz – ließ ihn der Sägemüller in die Kanzlei rufen und fragte ihn, ob er es als Schreiber versuchen wollte.

»Die Sache ist die«, erklärte ihm Herr Schrenk, »ich habe vorige Woche große Abschlüsse auf lange Schnittware und Kisten gemacht. Ich werde wahrscheinlich ein drittes Gatter einbauen lassen können, um den Aufträgen nachkommen zu können. Auch an die zwanzig neue Arbeiter werden eingestellt. Da gibt es natürlich auch mehr Kanzleiarbeit.« Und schon rief er den Schreiber. »Also Hartl, Sie führen den Bliml ein. Wenn er etwas nicht versteht, so zeigen Sie's ihm, und wenn es überhaupt nicht mit ihm geht, so melden Sie mir's, damit wir uns rechtzeitig um eine andere Hilfskraft umschauen. Das siehst du doch ein, Bliml?«

»Gewiss, Herr Schrenk. Aber es wird nicht notwendig sein, dass Sie sich wen andern suchen müssen.«

»Na, dann ist's recht.«

Sterngraber sagte sich indessen, dass er nicht gleich alle seine Kenntnisse zeigen dürfe. Er ließ sich von Hartl geduldig Lohnlisten, Lagerverzeichnisse, Holztabellen, Kassenbilanz und das ganze papierene Um und Auf des Sägebetriebes erklären. Einiges war ihm wirklich neu.

Durch seine Bankpraxis merkte er sofort, dass besonders die Buchführung unübersichtlich und zeitraubend und die Belegsgebarungen viel zu umständlich eingerichtet waren. Da gab es Möglichkeiten genug, sich nach und nach unentbehrlich zu machen, und er freute sich, dass er endlich auf der ersten Stufe zu seinem Wiederaufstieg stand.

Herr Schrenk war mit Sterngraber bald mehr als zufrieden. Er arbeitete nicht nur schnell und fehlerlos, sondern hatte schon nach einigen Tagen einen besseren Überblick als Hartl, der recht schwerfällig war.

Sterngraber kam nun täglich auch mit den Frauen zusammen, da er, so wie Hartl, mittags und abends jetzt mit der Familie die Mahlzeiten einnahm und ein Zimmer im Hinterhaus bewohnte. Frau Schrenk war überaus freundlich zu ihm, denn sie hörte von ihrem Mann nur Lob über den Bliml. Agnes behandelte ihn mit kühlerer Höflichkeit.

Durch die vielen neuen Aufträge nahm der Betrieb einen Umfang an, dass Schrenk, wollte er nicht auch noch die Nächte opfern, allein nicht mehr allem gerecht werden konnte.

Es traf sich einmal, dass er wegen großer Abschlüsse am selben Tag hätte in Nürnberg und in München sein sollen. Keines der Geschäfte war aufschiebbar. Verärgert entschloss er sich, nach Nürnberg zu telefonieren, dass er unmöglich kommen könne. Damit waren nicht weniger als 20.000 Mark verloren. Sterngraber wusste von der Zwickmühle, in der Schrenk sich befand, und sah, dass ein befreiender Zug auch für ihn entscheidende Bedeutung haben würde.

Er wartete, bis Hartl einen Weg zum Sägewerk hatte. Sobald er mit Herrn Schrenk allein war, bemerkte er: »Herr Schrenk – Sie könnten sich in Nürnberg doch vertreten lassen.«

»Vertreten?! – Von wem denn?«

»Schicken Sie mich hin.«

Herr Schrenk war sprachlos. Sterngraber sah, dass er ihm keine Zeit zu Überlegungen lassen durfte.

»Ich meine, Herr Schrenk, das kann doch keine Hexerei sein. Sie geben mir die nötigen Anleitungen und Vollmachten, und ich verhandle mit den Leuten. Im schlechtesten Fall komme ich ohne den Abschluss zurück. Das kann Ihnen auch passieren, wenn Sie nicht die entsprechenden Preise erzielen.«

Schrenk schien das einzusehen. Er murmelte: »Ja, ja – das ist schon richtig – aber …« –

»Was haben Sie also sonst für Bedenken?« fragte Sterngraber. Da Schrenk schwieg und mit dem Bleistift nervös auf die Tischplatte klopfte, gab Sterngraber selbst die Antwort.

»Ich kann mir's schon denken, was Ihnen sonderbar dabei vorkommt. Vor ein paar Wochen war ich noch Holzarbeiter, nun hab ich kaum in die Kanzlei herein gerochen und trage mich schon als Ihr Stellvertreter an. Sie fürchten, dass ich Sie blamieren könnte?«

Schrenk wetzte eine Weile unschlüssig auf seinem Sessel herum. Dann sagte er: »Du bist ein verfluchter Kerl! – Probieren könnt man's ja schließlich!«

Sterngraber ließ jetzt nicht mehr locker: »Notieren Sie mir die Preise und das äußerste Angebot, und alles andere überlassen Sie ruhig mir. Wann soll ich fahren?«

»Noch heute abends, damit du morgen früh gleich vorsprechen kannst.«

»Also – ich darf fahren?«

»In Gottes Namen, ja – fahr halt!«

Sterngraber gab dem Kutscher sofort Auftrag, ihn um fünf zur Bahn zu bringen.

Die folgenden zwei Stunden kamen Sterngraber vor, als würde er in der Schule sitzen. Die Hände auf dem Rücken, ging Herr Schrenk in der Kanzlei hin und her und stellte ihm Fragen wie einem Prüfling. Alle Möglichkeiten und Wendungen der Verhandlung erwog er, alle Spitzfindigkeiten, mit denen die Nürnberger ihren Vorteil suchen konnten, zählte er auf und gab hundert Ratschläge, wie Sterngraber sprechen und handeln sollte. Es war ihm nicht zu verdenken, dass er zu der ganzen Sache nicht viel Zutrauen hatte. Die Nürnberger waren gewiegte Kaufleute, die ihm selbst schon manch harte Nuss zu knacken gegeben hatten. Wenn sie gerade dringend Ware brauchten, war es ja möglich, dass Bliml einen Abschluss heimbrachte. Aber zu welchen Preisen? – Dass man am Ende ein paar Wochen umsonst schuften musste!

Schrenk wollte gerade sagen: »Lassen wir die Geschichte doch lieber«, – da fuhr unten der Wagen vor. Sterngraber steckte die Vollmacht und die Preislisten ein, griff nach Hut und Mantel, rief: »B'hüt Gott, Herr Schrenk« – und war draußen.

Schrenk schrie ihm noch nach: »Geld – Bliml – brauchst du kein Geld?!« Aber da trabten die zwei Braunen schon zum Hof hinaus.

*

Sterngraber hatte in einem der besten Hotels übernachtet. Zeitig am Morgen rief er ein Kaufhaus an, man möchte ihm doch gleich eine Auswahl dunkler Sakkos, gestreifter Modehosen, dazu passender Hemden, Kragen, Krawatten, Socken, Überzieher und Hüte ins Hotel bringen. Inzwischen setzte er sich telefonisch mit der Holzfirma in Verbindung und meldete sich als Prokurist des »Sägewerkes Schrenk« an.

Um zehn Uhr wollten die Herren ihn erwarten.

Viertel vor neun kam ein Angestellter des Kaufhauses mit den bestellten Sachen. Um nicht verdächtig zu werden, hatte Sterngraber dem Portier gegenüber schon gestern erwähnt, dass sein Kleiderkoffer irrtümlich als Reisegepäck nach Augsburg gegangen sei. Er wählte mit Geschmack und Sorgfalt und verließ gegen zehn Uhr das Hotel so tadellos angezogen, dass ihn der Portier beinahe nicht wieder erkannt hätte. Das hatte allerdings die Ersparnisse von fünf Monaten gekostet. Er nahm ein Auto und fuhr zu »Schwarzer & Vogel«.

Die beiden Holzgroßhändler empfingen ihn selbst. Sterngraber trat auf, als dürfte er Morgan oder Ford vertreten. Schwarzer und Vogel hatten einen biederen Niederbayern erwartet, wie Schrenk einer war. Nun stand da vor ihnen ein eleganter Mensch von vollkommenen Manieren.

Sterngraber sah, dass sein Auftreten Eindruck machte und dass er recht gehabt hatte, bei diesen Verhandlungen auf sein Äußeres so viel Gewicht zu legen.

In bequemen Lederstühlen setzte man sich zusammen. Schwarzer bot Zigarren und Zigaretten, Vogel Cognac und Kirsch an. Sterngraber lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander, dass seine Seidensocken sichtbar wurden und fragte wie beiläufig: »Also die Herren wollen mit uns in engere Geschäftsverbindung treten?«

»Sehr gut«, dachte Schwarzer, »der tut ja gerade so, als müssten wir froh sein, dass sie uns überhaupt etwas verkaufen. Da steckt etwas dahinter: entweder hat Schrenk billige Ware in der Hand oder von einer Konkurrenz höhere Preise in Aussicht.«

Schwarzer gab Vogel heimlich ein Zeichen, vorsichtig zu sein. Sterngraber bemerkte es und fühlte sich nur noch sicherer in seinem Sattel. Die Großhändler merkten bald, dass ihnen Schrenk einen ganz gefinkelten Vertreter geschickt hatte. Er durchschaute alle ihre Winkelzüge und Kniffe und wusste der Verhandlung solche Wendungen zu geben und die Preise und Lieferbedingungen in ein so vorteilhaftes Licht zu rücken, dass um halb zwölf endlich ein Abschluss zustande kam, mit dem Schrenk mehr als zufrieden sein musste.

Als Sterngraber gegangen war, sagte Schwarzer: »Na, was sagst du? – Ein gehauter Kerl, wie?«

»Das will ich meinen!« entgegnete Vogel. »Wenn der zu haben wäre …? –

Sterngraber schlenderte zufrieden durch die alten Gassen Nürnbergs. Er fühlte sich endlich wieder ganz Mensch und musste lächeln, wenn er sich immer wieder beim Betrachten seines Spiegelbildes in den Auslagescheiben ertappte.

Vor dem »Schönen Brunnen« stand eine Gruppe von Engländerinnen, die mit »very nice« und »wonderful« ihrer Kunstbegeisterung Ausdruck gaben. Eines der schlanken, blonden Geschöpfe richtete seine wasserblauen Augen auf ihn, und dieser Blick gab deutlich zu verstehen, dass er gefiel. Sterngraber bemerkte, dass sie vergeblich den kunstvoll eingeschmiedeten Ring suchten. Er trat hinzu, grüßte – und spielte mit dem bisschen Englisch, das ihm von der Schule her noch geblieben war, den Cicerone. Er kannte Nürnberg von Urlaubsreisen. Der einen zu Liebe führte er den plappernden Schwarm zur Frauenkirche, zum Gänsemännchen und zum Hans-Sachs-Haus. Dann erst stellte sich heraus, dass die Engländerinnen im gleichen Hotel wie er wohnten und dort auch zu Mittag speisen wollten. Sterngraber bat, sich anschließen zu dürfen.

Als Vogel gegen ein Uhr die Reinschrift des Vertrages zur Unterzeichnung ins Hotel brachte, fand er Sterngraber beim Mittagstisch, umgeben von fünf hübschen Blondinen, die mit einem Eifer auf ihn einsprachen, als wäre er der einzige Mann auf Erden.

Sterngraber freute sich, dass Vogel ihn in so vornehmer Gesellschaft angetroffen hatte. Derlei war die beste Reklame. Fast hätte er »Georg Sterngraber« unterschrieben; er setzte dann mit umso größerem Schwung »Josef Bliml« unter den Vertrag.

Wie schnell es jetzt aufwärts ging! Gestern noch Schreiber, heute schon Prokurist – allerdings nur von eigenen Gnaden, aber im Interesse des Geschäftes war dies eine verzeihliche, kluge Hochstapelei. Mit diesem vorteilhaften Vertrag hatte er sich selbst das denkbar beste Zeugnis geliefert und für Schrenk den Beweis, dass er wirklich jener »verfluchte Kerl« war, für den man ihn hielt.

Die Engländerinnen mussten aufbrechen, da sie nach Rothenburg weiter fuhren und gaben ihm ihre Adressen. Sie würden sich freuen, ihn wiederzusehen, ihren liebenswürdigen und amüsanten Nürnberger Führer. Der einen mit den wasserblauen Augen versprach er's durch einen warmen Händedruck, dass sie nicht umsonst auf ein Lebenszeichen warten werde.

Sterngraber hatte bis zum Abgang seines Zuges noch zwei Stunden Zeit. Er bestellte eine Flasche Mosel und eine Schachtel feiner Importzigaretten und versank ganz in die Behaglichkeit des wiedergewonnenen Selbstvertrauens. Wie viel Zuversicht gibt uns ein Glas edlen Weines, wenn wir lange darauf verzichten mussten, und wie schön sind die Gedanken, die der Rauch einer guten Zigarette bei uns auslöst, wenn wir uns monatelang nur die schlechteste Sorte gönnen durften. Der Schlag der Uhr ist nicht mehr mahnend, er ruft: »Weile noch!« Wir sehnen nicht mehr die Nacht herbei wie sonst, um im Schlaf wenigstens einige Stunden Vergessens zu finden. Wir möchten die Sonne am Himmel halten, dass sie nicht untergehe. Wie schön das ist, sich wieder stark und notwendig und brauchbar zu finden. Die Irrwege der Vergangenheit verlaufen sich in den grünen Wiesen neuer Hoffnungen, und ein breiter Pfad tut sich auf, der verheißend weiterführt.

Sterngraber feierte stille Versöhnung mit sich selbst und seinem Schicksal. Als er aufstand, war alles in ihm so gut und klar wie einer Kinderseele nach der ersten Beichte.

Als er am Abend heimkam, saß die Familie schon bei Tisch. Schrenk war eine Stunde vorher von München gekommen. Er hatte zwar eine größere Lieferung abschließen können, doch die erhofften Preise nicht erzielt. Er war verärgert und blickte kaum von seinem Teller auf, als Sterngraber eintrat; nach seinen eigenen Münchner Erfahrungen setzte er auf Nürnberg schon gar keine Hoffnungen mehr. Sterngraber grüßte, nahm Platz und begann zu essen. Frau Schrenk und Agnes war natürlich sogleich seine Eleganz aufgefallen. Agnes bemerkte auch, dass er heute ganz anders mit dem Essbesteck umging. Er hatte früher zwar auch nicht gerade mit dem Messer geschaufelt, aber so, wie er heute Messer und Gabel handhabte …! Das war vollendete Erziehung!

Sterngraber erzählte von der Fahrt und von seinem kleinen Erlebnis mit den Engländerinnen in Nürnberg.

»Ja, können Sie denn Englisch?« fragte Agnes in lauernder Spannung.

Sterngraber hatte wieder einmal zu viel verraten und murmelte rasch: »Ah – die haben ja alle Deutsch gekonnt!«

Das Geschäftliche berührte er noch immer nicht.

Endlich fragte Herr Schrenk: »Na – und bei Schwarzer & Vogel?«

»Nichts Besonderes«, sagte Sterngraber und reichte Herrn Schrenk ohne Eile den Vertrag über den Tisch, »zuerst waren sie sehr nett, dann wollten sie mich hineinlegen und dann – hab ich sie hineingelegt.«

Schrenk überflog den Abschluss. »Das sind ja Preise wie sie heuer überhaupt noch nicht bezahlt worden sind! Ja, sag einmal, Bliml, wie hast du denn das jetzt zu Stande gebracht?!«

Sterngraber stand auf, stellt sich in Positur und zeigte lachend auf seinen neuen Anzug: »Kleider machen Leute, oder – man schaut auf den Kragen und nicht in den Magen!«

Nun musste er ausführlich von dem Verlauf seiner Verhandlungen mit den Nürnberger Großhändlern berichten. Schrenk schlug sich beifällig auf die Knie, als Sterngraber erzählte, wie er den beiden Füchsen immer wieder entschlüpft war und sie schließlich selbst überlistet hatte.

Der Abschluss war mehr als günstig. Da waren sogar die schlechten Münchner Preise zu verschmerzen. Schrenk klopfte dem Bliml auf die Schulter und sagte anerkennend: »Das hast du aber schon ganz verteufelt gut angestellt!«

Agnes musste eine Flasche Wein holen.

Als die Gläser zusammenklangen, richteten sich ihre Augen fragend an Sterngraber.

Wer war dieser Mensch? – Von der Walz weg hatte er Winterquartier bei ihnen gesucht, und jetzt saß er vor ihr so sicher und gewandt wie irgendein Mann der guten Münchner Gesellschaft. Sollte sie ihm auf den Kopf zusagen, dass sie ihn für etwas anderes hielt, als er zu sein vorgab …? Er würde ihr ja doch nicht die Wahrheit sagen und vielleicht nur vorsichtiger werden. Ihre Neugierde nach dem Rätsel dieses Menschen war indessen geweckt und ließ sie nicht mehr los.

Als die Männer schlafen gegangen waren, blieben Agnes und die Mutter noch eine Weile beisammen. Sie sprachen von Sterngraber und rieten herum, was er wohl hinter sich haben konnte. Ein Verbrechen trauten sie ihm nicht zu. Eher war er politisch belastet, er kam aus der Tschechoslowakei und war ein Deutscher. – Oder steckte am Ende ein Weib hinter dieser ganzen geheimnisvollen Geschichte? – Vielleicht hatte ihn eine zugrunde gerichtet und dann verlassen …

Jedenfalls war er kein gewöhnlicher Mensch und verdeckte geschickt seine eigentliche Person.

 

Neuntes Kapitel.
Ein Brief

Nach dem großen Erfolg in Nürnberg hatte Schrenk ein so uneingeschränktes Vertrauen zu Sterngraber, dass er ihm nach und nach fast alle Außengeschäfte überließ. Er selber ging nur den kleinen Käufen in der Umgebung nach und überwachte die Arbeiten auf dem Sägeboden und Holzplatz, wo seit dem plötzlichen Aufschwung des Betriebes seine Leitung und Aufsicht immer notwendiger wurde.

In der Kanzlei klapperten schon drei Schreibmaschinen. Sterngraber reiste nach München, Frankfurt, Hamburg und Bremen. Es gelang ihm, mit den größten Holzfirmen in Verbindung zu treten, und er brachte Aufträge und Abschlüsse heim, vor deren Umfang Herrn Schrenk oftmals schwindelte. Als sie mit den eigenen Gattern nicht mehr nachkommen konnten, ließen sie bei kleinen Sägemühlen der Umgebung im Lohnschnitt arbeiten. Stundenweit im Umkreis begegnete man auf den Straßen und Waldwegen Langholzfuhren und Blöcherwagen, die für Schrenk lieferten. Auf der Bahnstation musste ein eigenes Geleis gelegt werden, um die Waggons ohne Störung verladen zu können. Im ganzen bayerischen Wald bis hinauf ins Fichtelgebirge traf man die Holzeinkäufer der Firma Schrenk. In den Wäldern standen hunderte von Holzhauern im Taglohn, und auf den Flüssen trieben Plätten und Flöße, die Schrenk gehörten.

Der Name Schrenk war auf dem Holzmarkt bald einer der besten. »Preise hat er wie ein Apotheker«, erzählte man sich über ihn, »aber er liefert auch die schönste und beste Ware.« Dieses Geschäftsprinzip war ein Steckenpferd Sterngrabers, der, seit er etwas dreinzureden hatte, nicht duldete, dass auch nur ein einziges schlechtes Brett in eine Lieferung kam. Ware ist Ware – Ausschuss ist Ausschuss«, sagte er, was Schrenk nicht immer einsehen wollte, da er von früher her noch immer ein wenig fürs »Anschmieren« der Kunden war. Wie recht aber Sterngraber mit seinem Grundsatz hatte, sah man daraus, dass die Großhändler, wenn sie erstklassiges Schnittholz brauchten, trotz der hohen Preise immer wieder bei der Firma Schrenk anfragten.

Bei den Arbeitern war Sterngraber weiterhin beliebt. Sie staunten zwar anfangs über seinen plötzlichen Aufstieg, aber als sie sahen, dass er wirklich einer war, »der's im kleinen Finger hatte« – wie sie schon immer gesagt hatten – nörgelten sie nicht weiter. Er trat für sie ein, wo er konnte. Er setzte Lohnerhöhungen durch, behob Missgriffe in der Arbeitseinteilung, und wenn er gerade nicht auf Reisen war, sang er mit ihnen sonntags beim Bräu drinnen genau so wie früher. Weniger gern gesehen war er bei den Holzhändlern, die lieber mit Herrn Schrenk verhandelten, dem doch eher beizukommen war. Aber sie hatten Achtung vor Sterngraber, denn sein Wort galt, und sein gesunder Ehrgeiz bewies, dass er nur den Vorteil seiner Firma suchte.

Schrenk hatte längst erkannt, dass dieser Bliml für ihn vollkommen unentbehrlich geworden war. Den Riesenaufschwung hatte er ihm allein zu danken. Er setzte ihm daher ein Direktorengehalt aus und gab ihm für jeden größeren Abschluss eine stattliche Provision. Sterngraber wurde gehalten wie das Kind im Hause. Frau Schrenk war zu ihm so herzlich und freundlich, dass man hätte meinen können, sie habe sich in den hübschen Menschen verschaut. Agnes aber hielt sich weiterhin von ihm fern und kam nicht los davon, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung sei. Sie musizierten jetzt wohl sehr oft zusammen, unterhielten sich auch über Kunst und Literatur, aber je mehr Sterngraber aus sich herausging und sich als der zeigte, der er war, desto mehr dachte Agnes über ihn nach und suchte aus den Teilstücken ihrer Beobachtungen sich das Bild seiner Vergangenheit zusammenzusetzen.

Er hatte einmal erzählt, dass er aus guter Familie stammte und eine für bäuerliche Verhältnisse ausgezeichnete Erziehung genossen hatte. Warum aber bekam er niemals Briefe? Seine Eltern lebten doch noch, wie er sagte. Warum schrieben sie ihm nicht? – Agnes wurde immer sicherer, dass es in seinem Leben eine Zeit gab, die er verschleiern musste, und erkannte trotzdem, dass sie sich immer mehr an ihn verlor.

An einem regenreichen Novembernachmittag saß Sterngraber mit Agnes allein beim Kaffee. Herr und Frau Schrenk waren nach Regensburg gefahren.

»So ein Wetter!« murmelte Sterngraber, auf den Regen lauschend, der gegen die Scheiben prasselte.

»Grad wie vor einem Jahr«, sagte Agnes.

»Hat es da auch so geregnet?«

»Vielleicht noch ärger. Können Sie sich denn nicht mehr erinnern? Heute ist's ein Jahr her, dass Sie bei uns sind. – Ich hab damals grad zum Fenster hinausgeschaut, als Sie so pudelnass über den Hof gekommen sind. Armer Kerl – hab ich mir gedacht – in so einem Wetter draußen sein zu müssen! Von wo sind Sie damals eigentlich gekommen?«

Es war das erste Mal, dass Agnes ihn danach fragte. Sterngraber lenkte ab: »Ich bin ein wenig auf der Walz gewesen. Ich wollte mir ein Stück Welt anschauen. Aber dass es jetzt schon ein Jahr her ist, daran hätte ich nicht gedacht. Und dass Sie sich das gemerkt haben?«

Agnes ging zum Klavier und begann zu spielen.

An Sterngrabers Augen rollte der Film dieses letzten Jahres vorbei, und es kam ihm alles so wunderbar vor wie die Erfindung eines Kolportage-Romans. Er stand nun mitten im Leben, war geachtet und angesehen. Was gewesen war, war vergessen, ausgelöscht. Ein herrliches Gefühl der Sicherheit durchströmte ihn. Und plötzlich sprang er auf, bog Agnes den Kopf zurück und küsste sie.

Agnes duldete es und unterließ, sich zu wehren.

Was immer er zu verheimlichen hatte – sie liebte ihn.

*

Sterngraber war sich seines guten Rufes als Geschäftsmann so bewusst und von seiner Tüchtigkeit so überzeugt, dass er nicht weiter staunte, als er einen Antrag von Schwarzer & Vogel bekam, bei ihnen einzutreten. Vielleicht hätte er zugesagt, wenn die heimliche Liebelei mit Agnes nicht gewesen wäre, die ihm ganz andere Pläne erlaubte. Das Ja der Frauen war ihm sicher, wenn er um Agnes anhalten würde – das wusste er. Auf Widerstand konnte er nur bei Herrn Schrenk stoßen, der, seit seine Geldsäcke immer größer wurden, mit der einzigen Tochter hoch hinaus wollte. Mit väterlicher Fürsorge hatte er eine Liste der in Betracht kommenden Söhne seiner reichen Geschäftsfreunde aufgestellt, und Agnes hätte nur zu wählen brauchen. Auf einmal wollte sie aber überhaupt nichts mehr vom Heiraten wissen; sie würde schon selber den Richtigen zu finden wissen, sagte sie.

Im Einverständnis mit Agnes wollte Sterngraber die Eltern zu Weihnachten um ihre Hand bitten. Agnes hofft zuversichtlich, dass sie mit Hilfe der Mutter den Vater bis dahin mürbe gemacht haben würde.

Das Stellungsangebot der Nürnberger Firma kam Sterngraber nicht gerade recht. Damit konnte er den Herrn Schwiegervater ein wenig erschrecken und gefügiger machen. Wenn der sah, dass er ihn Knall und Fall verlieren könnte, so würde er, um ihn zu halten, auch Ja und Amen zu einer Heirat sagen.

Sterngraber mischte den Brief von Schwarzer & Vogel wie durch Zufall in den Teil des Einlaufes, den Herr Schrenk durchzusehen pflegte. Wenn er lesen würde, dass man Herrn Bliml auch anderswo schätzte, würde er ihm umso unentbehrlicher werden.

Sterngraber erwartete, dass Herr Schrenk die Angelegenheit von sich aus zur Sprache bringen werde. Da hatte er sich aber geirrt. Der Brief lag nachmittags mit der übrigen Korrespondenz in der Mappe »Bliml«, die er zu erledigen hatte. Nun wusste er nicht, wie der künftige Schwiegerpapa über die Sache dachte. Er machte sich aber keine großen Gedanken darüber und ließ jetzt durch sein ganzes Verhalten zu Agnes auch vor den Eltern durchblicken, dass sie sich einig waren.

Frau Schrenk hatte manches beobachtet, und Agnes konnte ihr ruhig alles beichten. Herr Schrenk, der eine Ladung Holz auf einen halben Meter genau zu schätzen wusste, hatte in Liebessachen bei Weitem kein so gutes Auge. Als ihn seine Frau endlich mit der Nase darauf stieß, dass der Schwiegersohn ja längst im Hause sei, gingen ihm endlich einige Seifensieder zugleich auf.

Erfreut war er gerade nicht. Gewiss – Herr Bliml war brav und tüchtig, wie man einen suchen musste, der Bliml hatte das Unternehmen erst in Schwung gebracht – aber wer der Bliml war, das wusste man eben nicht. Frau Schrenk konnte ihn noch so sehr loben und seine Vorzüge in den hellsten Farben schildern, Herr Schrenk war nicht umzustimmen. Da wurde sie zornig:

»So lang er für dich geschuftet hat und Tag und Nacht für dich herumgefahren ist, hast du nicht gefragt, was er früher war. Jetzt auf einmal ist dir das so wichtig!«

»Weil's jetzt nicht um mich geht, sondern um unser Kind!«

»So! – Und wer warst denn du schon, bevor du mich geheiratet hast? – Ein Sägemeister!«

Was sollte Herr Schrenk darauf erwidern?

Er ging in die Kanzlei, um weiteren Auseinandersetzungen auszuweichen und war fortan nicht mehr für eine Erörterung dieser Frage zu haben.

Frau Schrenk gab ihre Sache nicht auf. Schließlich würde er ja doch nachgeben müssen.

Die Weihnachtsvorbereitungen der Frauen waren dieses Jahr noch geheimnisvoller als sonst. Sie fuhren einige Male nach München und kamen mit Stößen von Schachteln und Paketen zurück. Von der ersten Dezemberwoche an spürte man im ganzen Haus den anheimelnden, süßen Duft von Nüssen, Schokolade, Vanille und Früchten. Die Mägde stopften Gänse und fütterten Enten und Truthühner für den Weihnachtstisch auf. In der Dachstube stickte eine Näherin in einen Berg feinster Wäsche Monogramme. Die Dienstboten hatten bald heraus, warum heuer gar so viel hergemacht wurde, und die Arbeiter freuten sich schon auf den neuen Herrn, von dem sie nur Gutes erwarteten. Dem Schlagl-Toni lief jetzt schon das Wasser im Mund zusammen, wenn er an die Hochzeit dachte, denn dass er eingeladen würde, stand für ihn fest. »Wenn er keinen einladet – mich lad't er ein, der Bliml«, sagte er, »da waren wir auch die besten Spezi miteinand!« Der Gute übte bereits eine Menge neuer Rührstücke auf der Zither, die er dem Brautpaar zum Besten geben wollte.

Aber das Leben läuft nicht mit dem Gleichmaß einer Uhr ab und niemals so, wie der Mensch es möchte und ersehnt. Plötzlich rasseln die Gewichte nieder, wenn die Lücke im Zahnrad unseres Daseins kommt, die wir selbst einmal dareingeschlagen haben. Diese Stunde kann weit zurück liegen und vergessen sein, und doch trägt die Scheibe des Schicksals sie wieder in unsere Gegenwart herein und schaltet das Glockenspiel unserer Wünsche oft für immer aus.

So ging es auch Sterngraber.

Eine Woche vor dem Heiligen Abend, als er eben zur Station fahren wollte, um den Münchner Zug noch zu erreichen, fand er auf seinem Schreibtisch einen Brief, der wohl an Herrn Schrenk adressiert war, aber den man jedenfalls für ihn zum Lesen bereitgelegt hatte.

 

Kunau, am 16. Dezember 19..

Sehr geehrter Herr!

Ihre Anfrage vom 6. d. M. betreffs des Josef Bliml, beantworten wir dahin, dass der Genannte hier heimatberechtigt ist, sich aber seit dem Umsturz bei Wanderzirkussen herumtreiben soll und seither nicht mehr gesehen wurde. Der bewusste Josef Bliml ist ein arbeitsscheues Individuum, im trunkenen Zustand gemeingefährlich und kann kaum lesen und schreiben, da bei ihm schon als Kind die Merkmale der späteren Verlotterung auftraten.

Besonderes Kennzeichen: es fehlen demselben an der linken Hand zwei Finger (der kleine und der Ringfinger).

Gemeindeamt Kunau.

Oberlehrer Neuberger.
Bürgermeister.

 

Sterngraber fühlte, dass für ihn nun wieder alles zu Ende war. Herr Schrenk wusste mithin, dass er nicht Josef Bliml war und dass er sich die Dokumente dieses Mannes nur angeeignet haben konnte, um einen anderen Namen zu decken, den er verheimlichen musste.

Leugnen half da nichts mehr.

Was nun? – Wo durfte er eine neue Stellung annehmen? Schrenk hatte ihn in der Hand; er konnte ihn jederzeit verraten, ja er musste das eigentlich tun, um sich nicht der Mitwisserschaft schuldig zu machen. Für die nächste Zeit gab es nur einen Ausweg – in der Stadt unterzutauchen, um später abermals eine ganz neue Lebensbasis zu finden. Geld hatte er genug, um eine Zeitlang ohne Verdienst leben zu können.

Schrenk war auf die Jagd gegangen; das war gut. Wenigstens brauchte er ihm nicht mehr vor die Augen treten.

Sterngraber schrieb auf ein Notizblatt: »Das Schicksal ist stärker als wir«, und legte den Zettel auf Herrn Schrenks Schreibtisch.

Er hatte gerade noch Zeit, seine Koffer zu packen und verschwand, ohne von einem Menschen Abschied zu nehmen.

Das Schellengeläute der Schlittenpferde, das er so liebte, tat ihm weh, und wenn ihn die ihm begegneten Fuhrleute grüßten, wandte er den Kopf ab, um nicht danken zu müssen. –

Wie oft war er auf dieser Straße gegangen und gefahren, voll neuer Pläne, glücklich und stolz auf seine Erfolge. Zufrieden mit sich. Nun war er flüchtig auf ihr, so wie einmal auf ihrer großen Schwester, der Landstraße. Sterngraber schloss die Augen und biss die Zähne aufeinander: nur das nicht, nur nicht abermals auf die Landstraße kommen!!

Der Schlitten hielt vor dem kleinen Bahnhof. Während der Kutscher die Koffer in den Warteraum trug, nahm Sterngraber von den beiden Pferden Abschied. Das Sattelpferd schnob und suchte an seiner Tasche Zucker. Gerade heute hatte er keinen. »Ein anderes Mal, ein anderes Mal – Bräunl«, sagte Sterngraber. Da legte ihm der Braune den Kopf auf die Schulter und drückte sich an ihn, wie wenn er hätte sagen wollen: »Mach mir nichts vor, du kommst ja doch nimmer!«

Vielleicht wissen die Tiere mehr von uns als wir von ihnen.

*

Als nun Sterngraber im Zuge saß, verfiel er sofort dem gleichmäßig skandierendem Stampfen der Räder und dem Rattern der Schienen, das die Gedanken erregter Herzen und Gewissen in seinen Rhythmus bannt.

Zuerst ist es der Takt der Geräusche, die wie ein gewaltiges Schlagwerk an unser Ohr trommeln.

Dann mischen sich deutlich vernehmbar einzelne Worte aus jenen Gedanken darein, die uns gerade beherrschen, und ordnen sich bald in einem immer wiederkehrenden Satz, der mit dem Rattern und Stampfen und Schlagen und Rauschen zu einem endlosen, quälenden Geräusche sich mischt.

»Die Listen des Schicksals sind stärker als wir – die Listen des Schicksals sind stärker als wir!« So riefen die Räder und schwiegen nur still, wenn der Zug, langsam bremsend, über die Wechsel und Geleise in eine Station einfuhr und – hielt.

Dann schaute Sterngraber hinaus, las mechanisch den vertrauten Ortsnamen auf dem Stationsgebäude und versank wieder in die ewige Leier der Räder und Schienen.

Wenn er wenigstens hätte schlafen können! Aber so wurde die Fahrt endlos wie noch nie. Wie wenn er kein Ziel vor sich gehabt hätte. Müde und abgespannt kam er in München an.

Die großen Städte sind die Scheinparadiese für alle jene Menschen, die etwas zu verbergen haben. Man kümmert sich nicht um einander. Niemand fragt dich hier, wer du bist und was du tust, wenn du nur deine Miete und dein Essen bezahlst und der Polizei kein Ärgernis gibst. Hunderte und Tausende warmer Stuben stehen dir offen, wenn du Geld hast, und warten dir mit Speise und Trank auf, mit Musik und Liebe, wie du es grad brauchst und wonach du dich gerade sehnst. Überall Komödie und Theater, Lüge und Heuchelei. –

Warum sollte da der einzelne mit seiner kleinen Lüge keinen Platz finden?

Nicht die Sonne allein, auch die Bogenlampen und die hunderttausend Glühbirnen der nächtlichen Stadt scheinen über Gerechte und Ungerechte.

 

Zehntes Kapitel.
Der Mörder

In München ließ es sich schon leben. Die ersten Tage besuchte Sterngraber fleißig Gemäldesammlungen und Kunstausstellungen. Abends ging er ins Theater und nachher ein wenig bummeln. Er fand dieses Nichtstun schön und bemerkte erst, dass die Langeweile ihn immer dauernder in den Kaffeehäusern und Tanzdielen festhielt, als er schon wieder mitten im Leichtsinn steckte. So sehr er sich auch, wenn es Abend wurde, dagegen wehrte, auszugehen – es folgte dann doch immer eine durchzechte Nacht. Freunde, die mithielten, fand er genug und Freundinnen noch mehr. Die paar tausend Mark Ersparnisse schmolzen dahin wie der Schnee in der Aprilsonne. Es war höchste Zeit, ein neues Sprungbrett seiner Existenz zu finden.

Die Besitzerin der »Blauen Igel-Diele« war Witwe und Sterngraber bald ihr bevorzugter Stammgast. Die Frau hatte ein bewegtes Leben hinter sich und hielt auch jetzt noch nicht beim Rosenkranz. Aber sie hatte ein nettes Wesen und war eine gute Partie. Es hing nur von Sterngraber ab, »Blauer Igel« zu werden. wenn sich nichts Besseres fand, konnte er es ja einmal als Wirt versuchen.

An einem Februarmorgen wankte Sterngraber aus der Hintertür des »Blauen Igel«, wo er noch weit über die Sperrstunde, als das Vorderlokal längst verdunkelt war, mit der Besitzerin im Separée gesessen war. Auf dem Weg zum Hotel kaufte er von einem Zeitungsjungen die »Frühpost« und ging noch in ein Kaffeehaus, das schon geöffnet hatte. Er trank einen schwarzen Kaffee und las die Zeitung. Plötzlich fuhr er zusammen, ließ die Zigarette fallen und wischte sich mit der Hand über die Augen. – Es war kein Irrtum. Da stand es:

 

»Zieselau.

Hier wurde gestern Abend in der Nähe seines Wanderwagens der Athlet Karl Wronsky, bekannt unter dem Spitznamen »Zirkus-Ferdl«, in bestialischer Weise ermordet, aufgefunden. Der Leichnam wies zahlreiche Messerstiche auf, davon drei ins Herz. Der Tat verdächtig ist ein gewisser Josef Bliml, der früher bei dem Wanderkomödianten als dummer August angestellt war und den die Frau des Ermordeten gestern mittags gesehen haben will. Von dem Verdächtigten fehlt bisher jede Spur.«

 

Sterngraber wurde augenblicklich nüchtern.

Nun konnte er als Täter verhaftet werden! Wenn er auch seine Unschuld leicht nachweisen konnte, so musste er ja doch verraten, dass er nicht jener Josef Bliml, vielmehr Georg Sterngraber war. Im Hotel warteten vielleicht schon die Detektive auf ihn. Er zählte hastig sein Geld. Es war noch 500 Mark, damit kam er genügend weit. Er bezahlte, fuhr mit dem nächsten Auto zum Hauptbahnhof und erreichte gerade noch den Wiener Schnellzug. Einige Stationen hinter München warf er den Pass Blimls zum Fenster hinaus. Dass man ihn an der Grenze festnehmen könnte, fürchtete er nicht. Für alle Fälle hatte er, als er die Schrenks verließ, den Namen in seinem eigenen Pass in Georg »Steingräber« verwandelt, und schließlich war die Sache »Sterngraber« wohl auch schon eingeschlafen.

Sterngraber – Bliml – Steingräber waren seine Namen. Bankbeamter, Defraudant, dummer August, Arbeiter, Prokurist – seine Berufe. Vielseitiger als er konnte keiner sein!

Was jetzt? – Sterngraber wurde immer verzagter und mutloser. Es kam ihm ganz unnütz vor, auch nur darüber nachzudenken, wie er sich wieder emporarbeiten könnte. Er war überzeugt, dass ihn das Schicksal eines Tages doch wieder an der Kehle packen würde. – Für Menschen, wie er einer war, gab es nur eines: bewusst zum Stromer zu werden, so wie es der Zirkus-Ferdl im Wald gepredigt hatte.

Was die Anna jetzt wohl allein anfangen wird?

Wenn er bei ihnen geblieben wäre –

Ob sie wohl noch so schön war, die Anna? Sterngraber fiel das kleine Medaillon ein. Es lag in der Brieftasche seit damals, als er es aus dem Straßengraben wieder aufgehoben hatte. Dumme Sentimentalität! Er hatte an anderes zu denken!

Hatte er sie denn wirklich so lieb gehabt? Sylvia Bombastelli – das Medium – Sterngraber schlief ein. Die durchwachte Nacht forderte ihr Recht.

*

Auf der breiten Landstraße fuhr ein himmelblauer Wagen. Aber seine Räder drehten sich in der Luft, und das ganze Gespann schwebte wie auf einer Wolke. Der Zirkus-Ferdl lenkte die Pferde. Sterngraber und das Weib saßen auf dem Wagendach und rissen Äpfel und Birnen von den Alleebäumen, an denen sie vorbeistreiften. Sie kamen auf einen großen Marktplatz, da warteten schon tausende Menschen auf sie und schrien: »Anfangen – anfangen!!« Sterngraber steckte auf einmal in seinen Clownkleidern, sprang auf das Podium, und der Athlet jonglierte mit den schweren Gewichten wie mit Gummibällen. Aus der Menge kam tosender Beifall – der auf einmal verstummte.

Sterngraber wachte auf – schlief wieder ein – und träumte verworrenes Zeug von dem Wagen, von Gendarmen und von der »Blauen Igel-Diele«.

»Salzburg! – Pass- und Zollrevision!«

Der Kontrolleur stieg in den wagen, tat einen flüchtigen Blick in die Pässe der Reisenden und ging weiter.

Das war vorbei!

Sterngraber hatte in München eine Fahrkarte bis Wien gelöst. Nun fiel ihm ein, dass der Zirkus-Ferdl damals vor dem Dorfwirtshaus den Gendarmen vorgelogen hatte, er hätte ihn an der niederösterreichischen Grenze gesehen, was vermuten ließe, dass er nach Wien geflüchtet sei. Sollte er es doch wagen, nach Wien zu fahren? – Aber wozu sich der Gefahr aussetzen – er hatte ja dort gar nichts zu suchen!

Der Zug fuhr weiter, und Sterngraber entschloss sich, in Linz auszusteigen.

*

Drei Monate blieb Sterngraber in dieser Stadt. Das Geld wurde immer weniger, trotzdem er alle unnützen Ausgaben mied und bescheiden lebte. Er suchte vergeblich einen passenden Posten zu finden; er hätte was immer für eine Arbeit angenommen. Oft war er daran, heimzufahren. Aber er brachte doch den Mut nicht auf, wenn er sich vorstellte, dass er dann auch vors Gericht treten musste. Die Sache noch einmal aufzurollen, musste er schon seiner Eltern wegen vermeiden.

Sein Wille wurde immer kraftloser und lahmer. Oft ging er stundenlang durch die Straßen oder am Donauufer entlang und murmelte sinnlos irgendein Wort vor sich hin. Wenn er an jemanden stieß oder über einen Stein stolperte, schrak er auf und musste erst um sich schauen, um zu wissen, wo er eigentlich war. Er grübelte halbe Tage darüber nach, wie man das Denken ausschalten könnte. In der Nacht, wenn er keinen Schlaf fand oder aus einem marternden Traum auffuhr, fing er zu zählen an, um die Gedanken, die er so fürchtete, zurückzudrängen. Was ihm früher Bier und Wein waren als Sorgenbrecher, das wurde ihm nach und nach der Schnaps.

Wer die Not nicht kennt und die Verzweiflung der Hoffnungslosen, hat leicht predigen über den Teufel Alkohol. Niemand kennt aber diesen Satan besser als die Trinker selbst, und doch suchen sie ihn und verschreiben ihm Körper und Seele. Dafür gibt er ihnen das, was sie sonst nicht finden: die Ruhe vor Selbstvorwürfen und Lebenshoffnung. Wenn es auch Täuschung und Trug ist, so können die Gepeinigten doch für Stunden darin rasten. Verächtlich schaut der Mensch geordneter Verhältnisse auf diese Bedauernswerten und tut sie mit dem Wort »Säufer« ab, statt dass er auch nur einen fragen würde: Warum trinkst du?

Solange der Trinker noch weiß, warum er es tut, ist er zu retten. Erst wenn er keine Antwort mehr hat, ist er verloren.

»Ich kann ihn nicht brauchen – man kann ihm nicht helfen – ich habe kein Vertrauen zu ihm – wie er ein Trinker ist«, damit stoßen die Glücklicheren diese Irrgänger immer tiefer in das Elend und lassen sie verkommen und verderben. Diese Edlen füttern aber teure Rassehunde und rufen um Mitternacht den Tierarzt, wenn das Herzensvieh ein wenig hustet.

Sterngraber entschloss sich, einen letzten Versuch zu machen. Er wollte den Präsidenten des Hilfsvereins »Das gute Herz«, einen reichen Fabrikanten, um die Vermittlung einer Stelle bitten. Er trug einer Sekretärin sein Anliegen vor. Nachdem er über eine Stunde auf dem Gang darauf gewartet hatte, vorgerufen zu werden, kam das Fräulein endlich und brachte ihm fünf Schilling. Der Herr Präsident sei gerade gut aufgelegt, und er solle ein anständiges Mittagessen kaufen. Sterngraber blickte enttäuscht auf die Banknote:

»Ich möchte doch arbeiten – nicht betteln.«

Die Sekretärin bedauerte: »Leider – vielleicht fragen Sie in ein paar Wochen…!«

Da konnte er schon verhungert oder – vielleicht eingesperrt sein, weil er so einem Humanitätsprotzen den Schädel eingeschlagen hatte! In Sterngraber lehnte sich ein unbändiger Trotz auf, der alle Gerechtigkeit verneinte. Ruhelos trieb er sich in der Stadt herum. Abends schrieb er im Kaffeehaus aus dem Adressbuch alle für ihn in Betracht kommenden Firmen auf. Am anderen Tag ging er von Kanzlei zu Kanzlei, treppauf – treppab, türein – türaus, bat, forderte, fluchte, weinte und – stand abends doch wieder vor dem Nichts.

Das war sein letztes Aufraffen gewesen. Nun gab er sich verloren.

Nicht das ist das Furchtbare, ein Paradies zu verlieren – sondern gar nimmer danach zu verlangen, dass sich ein Tor zu neuen Gärten auftut. Wer hungert, der kann noch betteln gehen. Es gibt auch Naturen, denen es leichter wird, die Hand zum Verbrechen zu ballen, als sie um ein Almosen zu heben. Dem Bettler gibt die Demut die mitleiderweckende Geste. Den Verbrecher treibt der Hass zur Tat. Aber wohin der gehen, der weder Hass noch Demut in sich spürt, der leer ist und so müde – so müde – In den Tod? – Nein, nein – das fordert zu viel Kraft, zu viel Willen – ja vielleicht sogar ein Teil Selbsteinschätzung.

Sterngraber lag die ganze Nacht im Bette wach. Das Licht ließ er brennen und stierte auf eine Stelle an der Wand, von der der Mörtel abgebröckelt war. Er dachte an das Nichts. Erst als ihm in der Frühe die Quartierfrau den Kaffee brachte, löste er sich aus seiner Erstarrung.

 

Elftes Kapitel.
Irrlichter

Durch die trostlose Armseligkeit der weiten Ebene, in der nur kümmerliche Stauden und Unkraut um verschilfte Tümpel wucherten, ging torkelnd auf der staubigen, kahlen Landstraße ein einsamer Wanderer. Von seinem Rücken hing ein magerer Rucksack, aus dem die Wirbel einer Geige schauten. Die Schritte des Mannes waren unsicher, als ob er sich todmüde weiterschleppen würde. Aber er gröhlte ein Lied vor sich hin und fuchtelte mit dem Stock den Takt dazu. Es war Sterngraber, den wieder einmal ein Rausch spazieren führte.

Mit dem letzten Rest seines Geldes hatte er sich eine Geige gekauft; nun schlug er sich seit Monaten als Bettelmusikant durch. Stromer zu werden, hatte er einmal so gefürchtet. Nun war er Vagabund, war es bewusst und wollte gar nichts anderes mehr sein. Er spielte von Haus zu Haus, bekam zu essen und brachte jeden Tag so viel Geld zusammen, dass er sich Schnaps und Zigaretten kaufen konnte. Andere Bedürfnisse hatte er nicht mehr. Wenn er in einem Wirtshaus auf lustige Gesellschaft stieß, gab es oft sogar Überfluss.

Er war den Böhmerwald schon einmal hinauf und hinab gewandert und strich seit einigen Tagen in der Ebene umher, wo er seine erste Zuflucht beim Bahndamm gefunden hatte. Als die Sonne unterging, verließ er die Straße und bog auf einen Pfad ein, der zu den Sümpfen führte. Er wollte seiner Hütte und seinem Mooswiesenkönigreich einen Besuch abstatten.

Mit der Dämmerung kam Leben in die Stille der Öde. In den Binsen fingen die Frösche und Unken zu quaken und quegerleksen an. In den Tümpeln sprangen Hechte auf, im Schilf schnarrten und schnatterten Wasserhühner und Wildenten. Manchmal stiegen aus dem roten Moderwasser glucksende Blasen hoch, und als es Nacht wurde, kam es oft wie ein Stöhnen und Seufzen aus den tiefen Schatten der Seigen.

Sterngraber verlor die Spur des Weges, er tastete sich mit dem Stock von Moospolster zu Moospolster, die wie Gummi nachgaben, wenn er darauf trat. Plötzlich versank er bis über die Knie in das grundlose, schmierige Moor. Wohin er auch griff und tappte, wich alles vor ihm zurück. Jeder Bewegung folgte ein Gurgeln und schlürfendes Saugen, als hielte ihn ein Untier im Rachen. Sterngraber wusste, es ging auf Leben und Tod.

Was lag daran? – Einmal musste es sein.

Und doch suchten die Hände nach einem Halt und ließen den Ast nimmer los, den sie auf einmal umfasst hielten. Sterngraber spürte, wie er langsam höher kam und der Schlamm ihn nach und nach losließ. Neben sich sah er das Schattennetz einer Weide, um die er eine Scheibe festen Bodens fand. Er kroch hinauf und blieb lange so liegen.

Die Hose und die Schuhe trieften von Wasser und Schlamm. Es begann ihn zu frieren. Er richtete sich auf, raffte Laub und Dürrholz zusammen, um ein Feuer anzumachen. Aber das feuchte Holz brannte nicht. Es fiel ihm ein, dass er ja im Rucksack einen alten Anzug hatte. Er kleidete sich um und steckte die Füße in den Rucksack. Nun wurde ihm wieder wärmer. Er lehnte sich an den Stamm der Weide, rauchte eine Zigarette an und nahm einen tüchtigen Schluck Rum aus der Flasche. Weiterzugehen, wäre sinnlos gewesen. – Heut musste er schon bei der »grünen Bettfrau« übernachten. Ein Glück, dass die Flasche noch beinahe voll war. Da hatte er Heizung genug. Wenn er sparsam war, konnte er bis zum Morgen auskommen.

Doch es war kaum Mitternacht vorbei, da lag die Flasche schon leer neben ihm. Schlaf und Rausch umfingen ihn und betäubten und verwirrten seine Sinne. Aber die Kälte hielt ihn wach.

Aus der Dunkelheit leuchtete deutlich ein fernes Licht. Kaum hatte Sterngraber es bemerkt, verschwand es und tauchte an einer anderen Stelle wieder auf. Es fing schwankend wie der Schein einer Lampe zu wandern an, blieb stehen und bewegte sich nach einer Weile wieder weiter. Sterngraber rief: »Halloo!! – He da!!« Aber es kam keine Antwort. Aus den Moorwiesen stiegen graue Nebelschwaden auf, die im matten Sternlicht wie die Schemen verfluchter armer Seelen dahinzogen. Und wieder stand das Licht deutlich in der Finsternis und hüpfte auf und nieder, als würde wer damit winken. »Hallooo! Heda!!«, brüllte Sterngraber. Doch es blieb still. Das ferne Licht brannte weiter, erhob sich manchmal kerzengrad, sank nieder, verschwand – und kam plötzlich mit einem zweiten Licht zurück. Es war, als ob der Schein von zwei Fenstern durch die Nacht schwebte. Sterngraber meinte dahinter die Umrisse eines Komödiantenwagens zu erkennen. Immer deutlicher sah er den himmelblauen Wagen und die beiden Pferde.

»Heda! Ferdl! – Sylvia – Anna – heda!!«

Keine Antwort. Die Lichter gingen noch eine Zeit lang nebeneinander her und verlöschten dann.

Sterngraber starrte wie ein Verhexter vor sich hin. Der Rausch zersetzte sein Denken zu wirren Fetzen von Gesichtern und Erscheinungen. Immer wieder sah er, wenn die Lichter aus der Finsternis sprangen, deutlich den himmelblauen Wagen, und er wäre dem spukhaften Bild vielleicht entgegen gegangen, wenn er hätte aufstehen können. Aber seine Füße waren steif, und die Trunkenheit nahm ihm alle Kraft und allen Willen.

Die Schatten wurden lebendig. Die Weiden machten die Bewegungen beschwörender Zauberer, und durch das Schilf huschte gespensterhaftes Getier. –

*

Es war schon mitten am Tag, als Sterngraber wieder zu sich kam; so lange hatte er geschlafen. Er brauchte eine Zeit, bis ihm klar wurde, wie er hierhergekommen war. Dann stand er auf und hielt Umschau nach einem Weg. Da sah er, einen Steinwurf weit zwischen den Stauden, seine Hütte. So nahe war er bei ihr gewesen und hatte die Nacht doch im Freien verbringen müssen!

Er fand dies nicht ärgerlich, nicht einmal sonderbar. Es kam ihm ganz selbstverständlich vor, dass er die Hütte verfehlt hatte. Sein Unstern führte ihn nun einmal so. Das Schicksal spielte Fangball mit ihm, und er fügte sich darein. Sich wehren? – Wozu auch? –

Sterngraber wusch die Hose und die Schuhe und ging bloßfüßig hinüber zu seinem alten Unterschlupf. Dort war noch alles so, wie er es verlassen hatte. Wenn er nur etwas zu essen gehabt hätte! Er wäre gerne einen Tag hier geblieben. So wartete er nur, bis die Hose und die Schuhe trocken waren, und machte sich gegen Abend wieder auf den Weg, um vor der Dunkelheit noch das nächste Dorf zu erreichen.

Eine Strecke lang ging er auf dem Bahndamm, seinem alten Feind und Freund. Wie sonderbar doch das Leben war, und wie ruhig es in einem Herzen werden konnte.

Damals hatte alles in ihm gestürmt und gegärt, damals haderte er mit Gott und war sich selbst verhasst. Nun war das alles verstummt. Er grübelte nicht mehr, warum es so mit ihm stand, er schaute nicht mehr vor sich und blickte nicht mehr zurück. Er lebte ganz der Gegenwart und war zeitlos. Das Geschehen einer Sekunde war ihm im nächsten Augenblick schon Vergangenheit, und die ging ihn nichts an. An die Zukunft zu denken, hatte er gleichfalls aufgegeben, und so trugen ihn seine Stunden ziellos wie der Wind ein welkes Blatt durch die Tage.

Ein Zug kam vorbei. Sterngraber stieg die Böschung des Dammes hinunter und wartete, bis er vorbei war. Er hatte den Reisenden zugewinkt und sich gefreut, als eine Frau seinen Gruß erwidert hatte.

»Fahrt zu, fahrt nur zu«, dachte er.«Ihr kommt ja doch nur bis an das Ende! Dorthin komm ich auch einmal! Da sehen wir uns wieder! Da wird keiner mehr und keiner weniger haben. Und niemand wird fragen, wer wir waren, denn irgendwie sind wir ja alle Stromer und gehören in einen Himmel oder in eine Hölle.« –

*

Als Sterngraber im Dorfwirtshaus später seinen Hunger gestillt hatte und ein Glas Branntwein vor ihm stand, war er noch versöhnlicher und beinahe wunschlos. Durch seine Anwesenheit kamen die Gäste auf Vagabunden, Walzbrüder und Umgeher zu sprechen. Lustiges und Trauriges wurde erzählt von diesen Heimatlosen. Sterngraber horchte nur mit halbem Ohr hin. Wer hätte ihm von diesen Ruhelosen etwas Neues sagen können? – Aber da klang der Name Bliml an sein Ohr. Der Wirt erzählte, dass es den Gendarmen unlängst endlich gelungen sei, den Mörder des Zirkus-Ferdl, den Josef Bliml, zu verhaften. Nun verlor Sterngraber kein Wort mehr von dem, was die Bauern über den Mordfall redeten. Der Zirkus-Ferdl war auch hier gut bekannt gewesen, und wenn er auch oft mit den Bauern gestritten hatte, so sagten sie ihm doch nur Gutes nach.

»Was das Weib des Zirkus-Ferdl jetzt ohne ihn anfangen wird?«, fragte einer der Bauern.

»Die?« sagte der Wirt, »die hab ich erst vorige Woche im Markt drüben gesehen.«

»Hast gesprochen mit ihr?«

»Freilich. Sie hat noch immer den gedeckten Wagen und die zwei Pferde und schlägt sich jetzt mit Wahrsagen und Spitzenhandel durch.«

»Ist sie noch immer so ein sauberes Weibsbild?« erkundigte sich einer.

»Das will ich meinen! Wenn die ein Geschäft damit machen wollte, könnte sie in Seide und Samt gehen – aber dazu hat sie zu viel Charakter.«

»Na, gar so eine Heilige wird sie auch nicht sein«, warf die Wirtin ein.

»Wer spricht davon, dass sie eine Heilige ist?« verteidigte sie der Wirt. »Aber ein anständiges Frauenzimmer ist sie, wie man nicht gleich eines findet. Da – an diesem Tisch ist's gewesen – da hat ihr ein Viehhändler aus Budweis hundert Kronen hingelegt, wenn sie ihm ein Bussei gibt. Ich möchte eine sehn, die um so ein Geld nicht den Schnabel hinhält!«

»Ja, ja, ein anständiges Weibsbild war sie immer«, bestätigten die Gäste.

»Traurig ist nur«, sagte der Wirt, »dass sie sich jetzt so mutterseelenallein durchbringen muss.«

»Wenn sie gar so eine Brave ist«, züngelte die Wirtin, »wird sie schon einer erlösen.«

Ja, sie war eine brave, von der sogar die Besitzenden da, die an Wandersleuten sonst kein gutes Haar ließen, mit Achtung sprachen. Sterngraber wusste nun mehr, als sein inneres Gleichgewicht vertrug. Was hielt die Anna jetzt immer noch auf der Landstraße? – Warum kehrte sie nicht zu ihren Eltern zurück? – Nun war sie doch frei!

Die Tage und Wochen, die er mit ihr und dem Zirkus-Ferdl gewandert war, kamen ihm auf einmal vor, als wären es die schönsten in seinem Leben gewesen. Und ein unsagbares Heimweh nach dem blauen Wagen, in dem man so geborgen sein konnte wie nirgendwo sonst, überkam ihn.

War dieses zufällige Gespräch der Bauern nicht doch eine gütige Geste seines Schicksals, das ihm bisher nur falsche Wegweiser an seine Straßen gestellt hatte?

Vielleicht suchte sie ihn – die Anna?!

In Sterngraber brach etwas auf, was weh tat und ihn doch überglücklich machte. So musste den Blüten sein, wenn der erste Sonnentag nach Eis und Schnee ihre Rinde sprengte. Nun öffneten sich die kalten Wände um sein Herz doch noch einmal und ließen eine Sehnsucht frei, die alle tote Liebe in ihm weckte. Jetzt wusste er, wohin er gehörte und dass ihn alle Irrwege und Umwege seines Lebens nur zu ihr führen sollten.

Damals, als er dieses seltsame Weib der Landstraße entreißen wollte, hatte er noch nicht erfasst, dass das Lebensglück kein Oben und Unten hat und sich nicht umgrenzen und abwägen lässt. Damals hatte er noch nicht erkannt, dass das Glück nicht mit Gut und Geld gegangen kommt und nicht Ansehen und Namen begleitet, sondern nur bei denen ist, die reinen Herzens sind – mögen sie sein, was immer.

»Auch die Landstraße kann zur Heimat werden«, hatte Anna einmal gesagt. »Schäm dich nicht, dass du auf ihr gehst. Sie ist gütiger als die Straßen und Gassen der Städte. Sie will von dir nichts, als dass du ihr treu bleibst und zeitlos wirst.«

Sterngraber schloss die Augen und träumte von dem blauen Wagen, der jetzt sein ungeheuerliches Glück irgendwo im Lande herumtrug.

 

Zwölftes Kapitel.
Und wieder der himmelblaue Wagen

Es verblühte ein Sommer, es verwelkte ein Herbst. Es schlief ein zweiter Winter ins Frühjahr hinüber, aber Sterngraber war dem himmelblauen Wagen noch immer nicht begegnet. Oft und oft fand er seine Spuren und holte ihn doch nicht ein. Er ließ Briefe zurück bei den Wirten in den Dörfern und Märkten für die »schöne Anna«, wie man die Witwe des Zirkus-Ferdl jetzt hieß, und fand von ihr ebenso hinterlegte Briefe, in denen sie ihm immer sehnsüchtiger schrieb, dass auch sie ihn suche.

Wer der Landstraße gehört, kann nicht Ort und Zeit vorausbestimmen und nicht sagen, wo man auf ihn warten könnte. Der Landstreicher ist wie der Kuckuck, ohne Nest und Heim. Er ist überall und nirgends zu Hause, er taucht auf und verschwindet, denn es kommt ihm nicht zu, einen festen Standplatz zu haben. Viele lassen sich in einer Gegend nur einmal blicken. Sie entstammen meist Arbeiterkreisen oder dem wanderbesessenem Volk der Komödianten, Schausteller und Marktkrämer, die nie eine bodenfeste Heimat hatten und auch keine suchen. Andere durchziehen ein bestimmtes Gebiet, oft so scharf begrenzt, dass sie stets bei demselben Dorf oder Gehöft umkehren. Jahr um Jahr erscheinen sie zur gleichen Zeit, und wenn sie ausbleiben, dann weiß man, dass sie entweder wieder einmal im Kotter sitzen oder – gestorben sind. Diese Strichvögel sind Bauern- und Handwerkerkinder, die trotz aller Ungebundenheit doch noch irgendwie in der Scholle und in der Werkstatt wurzeln. Es verlangt sie sogar manchmal nach Arbeit. Dann stehen sie bei einem Bauern oder einem Meister ein und schaffen das doppelte Tagwerk. Eines Morgens sind sie wieder fort; kein Lohn und kein gutes Wort kann sie halten.

Auch Sterngraber verdingte sich mehrmals bei Bauern, um seinen hellblauen Wagen abpassen zu können. Aber wenn er ein paar Tage vergebens gewartet hatte, ließ es ihm keine Ruhe mehr, und er musste wieder auf die Suche. Einmal musste er ihn ja doch finden, seinen und Annas blauen Wagen! Seit er wusste, dass auch die Anna ihn suchte, trug er das kleine Medaillon mit ihrem Bild als Talisman um den Hals. Anfangs hielt ihn der Gedanke an sie sogar vom Branntwein zurück, dem er schon arg verfallen gewesen war. Je öfter ihn aber seine Hoffnung täuschte, desto häufiger betrank er sich wieder. Straßengräben und Heuschober wurden wieder seine Liegestatt. Wenn die Schnapsteufel ihren Tanzboden in ihm aufschlugen, sprach er irr und glotzte nach dem himmelblauen Wagen, den er in den Schatten der Nacht überall vorbeifahren sah.

Seit dem letzten Winter hustete er. Nach durchzechten Nächten spuckte er Blut, und der Herzschlag stockte oder eilte wie vom Fieber gejagt. In der Mittagssonne schüttelte ihn die Kälte, und tagelang nahm der Magen nichts auf als Brot und Schnaps. Sterngraber wusste, wie es um ihn stand.

Aber das kam ihm belanglos vor. Im himmelblauen Wagen würde auch das gut werden. Im himmelblauen Wagen wird er bloß die Augen zu schließen brauchen und eine gute, stille Stimme wird alles Weh und Leid in ihm und alle Einsamkeit vergessen machen. Der himmelblaue Wagen wird die Erfüllung seiner letzten Sehnsucht sein. Es war ihm wie dem armen Schneider im Märchen, der den Schlüssel zum verwunschenen Schloss gefunden hat.

Sterngraber hatte durch hinterlegte Briefe mit Anna vereinbart, dass sie sich bestimmt beim Kirchfest in St. Anna treffen wollten, wenn sie nicht schon vorher ein glücklicher Zufall zusammenführte.

Zwei Tage trennten ihn noch vom Glück. In ihm war lauter Musik, und seine Gedanken flogen wie trillernde Lerchen auf, einer schöner und froher als der andere. In seiner pudelnärrischen Vorfreude stieg er auf einen Meilenstein und hielt der Landstraße eine Dankrede:

»Gute, oft verkannte Freundin! – Ein Gehetzter und Verzweifelter war ich, da hast du mich zum ersten Mal aufgenommen. Ich konnte dich noch nicht verstehen, da noch viel mehr Prüfung über mich hinweggehen musste, und ich floh dich wieder. Ich fand noch einmal die Fackeln des großen Lebens, ohne die ich nicht sein konnte und sie verbrannten mich wieder. Da kam ich zum zweiten Mal zu dir und nun verstehe ich dich. Auf dir bin ich meinem Glück begegnet, auf dir werde ich es wiederfinden. Dir vertrau ich es an und bleib dir treu bis ans Ende!«

Sterngraber hatte so feierlich und überzeugt gesprochen, dass er selbst gerührt war.

Übermorgen – übermorgen!!

Sie verkaufte jetzt Spitzen, die Anna. Vielleicht war es möglich, einen Bilderhandel oder Ähnliches daneben zu betreiben. Wenn sie einen Jongleur oder einen Athleten einstellten, konnten sie auch wieder Vorstellungen geben. Oder sollten sie den Wagen und die Pferde verkaufen? –

Nein – und nein!! Sterngraber schämte sich, dass er auch nur mit einem Gedanken der Landstraße bereits wieder hatte untreu werden wollen.

Und die Mutter? – Ja, die Mutter ... Der würde er wohl verloren bleiben müssen. Aber wenn er ihr schreiben wird, dass es ihm gut geht und dass sie sich nicht zu sorgen braucht um ihn, dann wird sie doch ruhiger werden und die Schande leichter tragen.

War denn diese Schuld nicht eines Tages verlöscht? »Solange noch jemand an sie denkt, ist sie da.«

»Also wird sie immer da sein, weil ich immer an sie denken werde.«

Sterngraber murmelte traurig im Takt der Schritte: »Stro – mer! Stro – mer! Stro – mer!« Seine Freude mischte sich mit Bitterkeit.

Er kam in ein Dorf. Aus dem Wirtshaus hörte er singen. Er wollte vorbei; aber da holten sie ihn schon hinein.

Die Stube war voll von Viehhändlern und Treibern, die vom Markt zurückgekommen waren. Sie hatten einen Ziehharmonikaspieler mit und da kam ihnen der »Steingröber«, der in der Gegend als Geiger bereits Ruf hatte, gerade recht, um Musik zu machen. Die Gesellschaft hatte schon einiges hinter der Binde und soff jetzt erst recht, als es im Dreivierteltakt ging. Die Gewinne und Aufgelder waren heute so gut gewesen, dass es auf ein paar Zehner gar nicht ankam.

»Ist die Kuh hin, soll's Kalb auch hin sein«, sangen die Viehhändler im Chor. Und ließen sich nicht lumpen.

Vor Sterngraber stand Bier und Wein und Schnaps, und die Taschen füllten sich mit Silber- und Papiergeld. Da konnte er morgen, wenn er durch die Bezirksstadt kam, beim Kleiderjuden einen übertragenen Anzug kaufen. Die Anna sollte sich nicht schämen müssen. So hatte es doch etwas Gutes, dass er hereingegangen war.

Je lauter und übermütiger die Gesellschaft wurde, desto öfter griff Sterngraber nach dem Branntweinglas, zuerst trank er, um in Stimmung zu kommen. Dann wollte er für sich im Stillen Abschied nehmen von seinem teuflischen Freund. Und dem neuen Leben, das nun begann, musste er doch auch ein »Glück auf« bringen. Später wusste er überhaupt keinen Grund mehr und brauchte auch keinen; er war sich selbst, wie so oft, der beste Zechkumpan.

Draußen krähten schon die Hähne, als die Letzten ihre Räusche heimwärts trugen.

Sterngraber war sinnlos betrunken wie nie vorher. Aber doch zwang ihn etwas fort, und er torkelte mit einer Flasche Schnaps in der Hand in den grauenden Morgen hinaus.

Solange der kühle Nachtnebel noch über den Wiesen und Feldern lag, hielt er ihn auf der Landstraße, auf der er mehr kroch als ging. Als die Sonne aber anfing, niederzubrennen, wurden ihm Hirn und Glieder schwer wie Blei. Und ohne es zu wissen und zu wollen, schleppte er sich auf einen Feldrain in den Schatten einer Dornstaude.

Dicker Speichel lag auf seinen Lippen, Schlund und Magen und Gedärme brannten vor Durst. Die Kehle war trocken zum Ersticken und rau wie Sand.

Sterngraber wälzte sich stöhnend, und das vergiftete Herz warf ihn auf und nieder. Er knirschte mit den Zähnen und ballte die knackenden Finger zu Fäusten. Da spürte er die Flasche in der Hand.

»Trinken – trinken.« Es kam Ruhe in den zuckenden Körper.

Er setzte sich auf und stierte die Flasche mit einem verklärten Ausdruck an, wie der verdurstende Wüstenwanderer die strömenden Wasserfälle einer Fata morgana. Wie ein Tier heulte er auf und trank die Flasche in einem Zug leer.

Langsam schlich die Betäubung in ihm hoch. Die Bäume an der Straße fingen zu wandern an, drehten sich immer schneller und mischten sich in einen Wirbel von bunten, rasenden Farbrädern, die alles Sichtbare verschluckten.

Sterngraber schloss die Augen und riss sie wieder krampfhaft auf. Er sah eine Weile klar; doch dann begann das tolle Kreisen von Neuem. Er versuchte das Spiel immer wieder und wehrte sich gegen diesen Spuk der Sinne.

Da fuhr unten auf der Landstraße der himmelblaue Wagen vorüber. Ganz deutlich sah er ihn. Aber auf einmal verschwand alles in den bunten, rasenden Scheiben, die vor seinen verglasenden Augen rotierten.

»Hat mich schon – oft – betrogen – der Rausch – die Irrlichter – der – himmelblaue – Wagen.«

Er sank zurück und schlief für immer ein.

Am St. Anna-Tag fand ihn der Feldhüter unter der Dornstaude, wo die »schöne Anna« am Tag vorher mit ihrem Wagen vorbeigefahren war.


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