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Unter den Apaches

Vor dem einsamen Reiter dehnte sich in der Glut des Sommers die unendliche Prärie. Nicht die saftige, mit üppigem Gras bewachsene Prärie des nördlichen Amerikas war es, die fast wie eine Tafel eben ist, sondern ein unendlicher gelbbrauner, flacher Hügel von der gleichen Höhe, derselben Einförmigkeit und immer gleichem wellenähnlichen Anblick. Wenn sein müdes Pferd mit Mühe den einen dieser Hügel erklommen hatte, so bot sich ihm immer nur dieser Anblick: gelbbraune, mit verdorrtem Gras und Gesträuch bewachsene Erdwellen, die sich bis an den Horizont fortsetzten, ein Bild der trostlosesten Einförmigkeit und Einsamkeit. Sein Gesicht war bleich, müde und abgespannt. Sein Auge flammte zuweilen auf und eine gewisse Spannung verriet sich in seinen Zügen, als höre oder sehe er etwas. Er ließ tief den Kopf sinken. Es war nichts; er war allein in dieser grausigen Einöde.

Der Reiter, dessen schönes Pferd so todmüde war, trug einen leichten mexikanischen Sommeranzug und einen breiten Strohhut. Aber die Decken, die er hinter dem Sattel auf das Pferd geschnallt hatte und der volle Mantelsack verkündeten, daß er nicht nur einen kurzen Ritt, sondern eine Reise vor hatte. An Waffen fehlte es ihm nicht. Ueber der Schulter trug er am Riemen eine Doppelbüchse; eine zweite Büchse lag festgebunden über dem Mantelsack. Aus dem nach mexikanischer Art geschlungenen breiten Gürtel mit Schärpe sahen die Schäfte von Pistolen und Revolvern, sowie der Griff eines schön gearbeiteten Dolches hervor. Außerdem trug er einen europäisch geformten Degen, der ihm schon an manchem Tage wackere Dienste geleistet hatte. Der einsame Reiter war der Chasseurs-Kapitän Edmond de Tréport.

Wie in aller Welt kam Edmond allein in diese sogenannte Roll- oder Wellen-Prärie, westlich vom Rio Grande del Norte, wo ein einsamer, unkundiger Reisender verhungern und verenden kann, ohne daß je ein menschliches Wesen seine Gebeine findet?

Der Grund war sehr einfach. Eine jener Zufälligkeiten, die im Anfang unbedeutend erscheinen und später entscheidend für ein Menschenleben werden.

Als Edmond und Alfonso Veracruz erreichten, ließen sie sich weiter keine Zeit, als nötig war, um eine ansehnliche Summe gemünzten Goldes, Unzen und Zwanzigdollarstücke, bei dem Bankier zu erheben, den Don Lotario de Toledo seinem Sohne genannt hatte. Sie ließen sich keine Zeit, Begleiter anzuwerben. Sie hofften sie in Matamoras oder noch besser im Presidio Die mexikanischen Presidios entsprechen den von den Nordamerikanern gegen die Indianer angelegten Forts. Meist haben sich kleine Niederlassungen um den Presidios gebildet. del Norte zu finden. Dort waren die Leute bekannter mit den Prärien und ihren indianischen Bewohnern und ließen sich hoffentlich auch billiger anwerben. Sie kauften nur eine Kiste mit Waffen: Büchsen, Revolvern und Hirschfängern, und nahmen sie mit sich auf das kleine Küstenfahrzeug, das sie noch an demselben Tage mieteten.

Nach herrlicher Seefahrt, die aber den beiden Freunden viel zu lang dünkte, erreichten sie Matamoras, an der Mündung des Rio Grande del Norte. Dort zogen sie unmittelbar nach ihrer Ankunft Erkundigungen ein. Ja, Inez war dort angekommen, hatte einen Tag in der Wohnung eines Herrn, der ihrem Vater befreundet war, zugebracht, und dann auf einem guten Boote, das ihr dieser Herr verschafft, ihre Reise den Fluß aufwärts fortgesetzt. Den Freunden war dieser Weg zu langsam. Sie kauften sich jeder zwei schöne Pferde und setzten den Weg zu Lande nach dem Presidio del Norte fort. In jedem Städtchen, in jedem Weiler am Ufer konnten sie genau Auskunft über Inez erhalten, denn ihr Boot war von allen Anwohnern bemerkt worden. Edmond und Alfonso gönnten sich nirgends Rast, nicht einmal im Presidio del Rio Grande, das ungefähr auf der Hälfte des Weges zwischen Matamoras und dem Presidio del Norte liegt. Sie schliefen, sozusagen, auf ihren Pferden. Ihr Ziel war die letzte Niederlassung, wo sie Alfonsos Vater finden sollten.

Der Rio Grande trennt Mexiko von Texas, das ebenfalls zu Mexiko gehörte. An seinem unteren, für bedeutende Schiffe zugänglichen Lauf, ist dieser Fluß leidlich bewohnt. Mehr oberhalb aber fließt er durch jene scheinbar endlosen Prärien, die nur von dem Indianerstamme der Comanches bewohnt sind, oder richtiger gesagt, durchstreift werden. Hier hörten die Nachfragen auf, weil niemand mehr da war, den sie fragen konnten. Im Fort Duncan, auf der mexikanischen (nördlichen) Seite des Flusses, konnte man bereits nicht mehr mit Bestimmtheit angeben, ob ein Boot vorübergekommen sei. Aber es konnte zur Nachtzeit geschehen sein, die Wachen hatten vielleicht geschlafen. Im mexikanischen Fort San Vincente war dieselbe Ungewißheit, auch im Fort San Carlos. Die beiden jungen Männer richteten ihre ganze Hoffnung auf das Presidio del Norte, wo sie Don Lotario de Toledo finden mußten, der doch sicherlich auf eigene Hand Erkundigungen eingezogen hatte.

Vollkommen erschöpft erreichten sie das genannte Presidio, um Don Lotario dort – nicht zu finden! Er war vor drei Wochen angekommen, aber mit seinen Begleitern nach dem Süden weiter geritten, ohne eine Nachricht für seinen Sohn zurückzulassen. Wie war es möglich, daß sie ihm nicht begegnet waren? In dem Briefe stand doch deutlich geschrieben, daß er den Sohn im Presidio del Norte erwarten wolle. Hatte der geängstigte Vater »del Rio Grande« schreiben wollen und ein Versehen begangen? Wartete er dort auf sie? Wohl möglich, sie hatten sich dort nur eine Viertelstunde aufgehalten und nur nach dem Boote, nicht nach Fremden aus Arizona gefragt. Zurückkehren konnten sie nicht, das hätte sie um eine kostbare Woche gebracht. Sie sandten einen Eilboten nach dem Süden, der sich überall nach Don Lotario de Toledo erkundigen und ihm melden sollte, daß Don Alfonso bereits im Presidio del Norte sei. Dann gönnten sie sich die Ruhe, die sie dringend nötig hatten, wenn sie ihre Kräfte nicht bis zur Krankheit erschöpfen wollten.

Hier also, im Presidio del Norte, mußte Alfonso seine Hilfstruppen anwerben und womöglich Erkundigungen über das Schicksal seiner Schwester einziehen. Das Anerbieten ward ihm leicht genug. Es fehlte im Presidio nicht an Männern, denen Alfonsos goldenen Unzen und zwanzig Dollarstücke verführerisch in die Augen blinkten. Eine Truppe von zwölf mutigen Männern war bald gefunden. Aber mit den Erkundigungen sah es mißlicher aus. Von Inez hatte man nur durch die Boten gehört, die der allbekannte Don Lotario de Toledo ausgesandt hatte. Tatsache war es, daß die sonst ziemlich friedlichen Apaches und Navajoes-Stämme der Comanches – in letzterer Zeit wieder Raubzüge unternommen hatten, da sie erfahren, daß ein Teil der mexikanischen Besatzungstruppen aus den Forts nach dem Süden gezogen worden, um gegen die Franzosen zu kämpfen. Daß Inez ihnen in die Hände gefallen sei, gaben die Mexikaner im Presidio del Norte und die Amerikaner im gegenüberliegenden Fort Leaton gern zu. Aber wie man es mit Sicherheit erfahren könne, und was dagegen zu tun sei, wußten sie nicht. Truppen konnten nicht zur Verfügung gestellt werden; die Forts hatten nur die allernotwendigste Besatzung.

Ehe sich Alfonso mit seinem Vater vereinigte, wollte er nichts beginnen, es sei denn, daß er Nachrichten über den Verbleib seiner Schwester bekäme. Er hatte häufige Unterredungen mit einem alten Indianer, Heikaou, der sich im Presidio niedergelassen, und der alle Verhältnisse genau kannte. Dieser vermutete, daß Wilhamenu, ein junger und kühner Apachen-Häuptling, der Täter gewesen sei und Inez gefangen genommen habe, oder, was noch wahrscheinlicher sei, um die Befreiung seines Vaters, der in Chihuahua, der Hauptstadt dieser nördlichen Provinz Mexikos, gefangen saß, gegen die der Donna Inez zu erlangen. Der Alte versprach seinen Sohn auszusenden, um Erkundigungen einzuziehen. Bis dahin und bis zu ihrer Vereinigung mit dem Vater mußten sich die beiden ungeduldigen Jünglinge zu beruhigen suchen.

Alfonso und Edmond hatten in einem geräumigen Gebäude außerhalb des Presidios ihr Quartier genommen. Dort wohnten auch die zwölf Angeworbenen, damit sie jeden Augenblick bei der Hand seien. Tag auf Tag verging. Alfonso und Edmond verbrachten die Zeit meist in dumpfem Hinbrüten. Sie erwarteten stündlich Don Lotarios Ankunft oder wenigstens eines Boten. Sprechen mochten sie gar nicht mehr über die Angelegenheit, die beiden so tief ins Herz ging.

Eines Vormittags erschien der Kommandant des Presidio im Quartier der beiden Freunde und bat Edmond dringend, ihn zu begleiten. Es befand sich im Fort ein alter Franzose, der nach der verunglückten Expedition Raousset-Boulbon, an der er teilgenommen hatte, in mexikanische Dienste getreten und der Besatzung des Presidio zuerteilt war. Der Mann konnte sehr wenig Spanisch sprechen und Krankheit schien sein Gedächtnis geschwächt zu haben. Er hatte, um einen letzten Brief an seine Verwandten in Frankreich aufsetzen zu lassen, gebeten, ihm doch irgendjemand zu rufen, der Französisch sprechen und auch schreiben könne, und da sich niemand, der das konnte, im Presidio befand, so hatte sich der Kommandeur des Kapitäns erinnert und war gekommen, um diesen zu bitten, ihn zu dem Kranken zu begleiten.

Edmond traf den alten Franzosen bereits so entkräftet, daß es ihm schwer wurde, seine abgebrochenen Angaben zu verstehen. Er schrieb, was ihm der Sterbende sagte. Es waren Bekenntnisse, die auf ein sehr bewegtes Leben deuteten, das nicht immer frei von Zusammenstößen mit der weltlichen Gerechtigkeit geblieben war. Es war eine Art Beichte, die der ergraute Sünder ablegte. Stunden gingen darüber hin, und mit den letzten Worten entfloh dem Franzosen auch die Seele. Edmond blieb noch so lange, um das von dem Kommandeur in spanischer Sprache ausgestellte Todeszeugnis ins Französische zu übersetzen, dann eilte er nach seinem Quartier zurück.

Dort empfing ihn nur der alte Heikaou, der in vollständiger Indianer-Rüstung auf dem Pferde saß und ihn schon lange zu erwarten schien. Er überreichte ihm ein Blatt Papier, auf das Alfonso folgendes geschrieben hatte:

»Unmittelbar nachdem Du fortgegangen warst, kam der Sohn Heikaous. – Nachricht von Inez. – Ich breche sogleich auf, in der Richtung nach dem Lago Santa Maria. – Ich lasse Dir Heikaou, er wird Dich begleiten, so daß Du mich findest. – Laß eine Benachrichtigung für meinen Vater zurück, bei dem Kommandeur. Du wirst mich bald einholen.«

Edmond hatte eine unangenehme Empfindung, etwas wie ein Vorgefühl, als er diese flüchtig hingeworfenen Zeilen las. Alfons hätte sich nicht von ihm trennen sollen. Es ist nicht gut, wenn in einem so öden Lande zwei Freunde voneinander lassen; sie wissen nie, ob sie sich da wiederfinden, wo sie es bestimmt haben. Indessen war Heikaou ohne Zweifel ein guter Führer.

Edmond ließ also einen Brief für Don Lotario de Toledo bei dem Kommandeur des Presidio zurück und vertraute sich der Führung Heikaous an. Vorher gab ihm der Kommandeur noch ein Blatt Papier, auf das einige Worte in indianischer Sprache geschrieben waren. Geriet Edmond in Gefahr durch Indianer-Horden, so sollte er diese Worte sprechen oder ablesen. Sie lauteten ihrem Inhalt nach ungefähr: »Ich, ein Sohn des großen Häuptlings von jenseits des großen Wassers, stehe unter dem Schutz des weißen Häuptlings im Presidio, der allen Dank wissen wird, die mir beistehen, und der entschlossen ist, mich an allen zu rächen, die mir Böses tun«. Wenn auch nicht von entscheidender Wirksamkeit, konnte diese Erklärung doch immer nützlich sein, um eine plötzlich drohende Gefahr von Edmond abzuwenden. Ueberdies haben die Indianer eine große Scheu vor Geschriebenem, das sie meist für eine Zauberformel halten. –

Es war Nachmittag, glühender Sonnenbrand, als die beiden Reiter das Quartier verließen. Indessen was Sonne bedeutet, hatte Edmond auch in Algier und 1859 in den Ebenen der Lombardei kennen gelernt. Er kümmerte sich nicht viel darum und trieb nur zur Eile, denn er sehnte sich, mit Alfonso wieder vereint zu sein. Uebergroße Eile war aber hier nicht möglich; der ausgedörrte, trockene Boden ermattete die Pferde bald. Zuweilen kamen sie an ganzen Kolonien von Viscachas oder Präriehunden vorbei, die wie Maulwürfe unter der Erde leben, zu Tausenden nebeneinander. Ueber diese Viscachas-Kolonien konnten die Pferde nicht fortgeführt werden, sie hätten sich in den tiefen Eingangslöchern der kleinen Höhlen die Füße gebrochen. Ueberdies wimmelten diese Kolonien von Klapperschlangen. Edmond mußte sich also geduldig der Führung seines Begleiters überlassen.

Viel sprechen konnte er mit ihm nicht. Er hatte zwar von Alfonso, der die hier gebräuchlichen Dialekte der Indianer vollkommen sprach, die Hauptworte gelernt und sich eingeprägt, aber damit ließ sich noch kein Gespräch führen. Außerdem pflegen die Indianer auf der Reise selten den Mund zu öffnen.

Edmond ritt mit seinem Begleiter die ganze Nacht hindurch. Es lag ihm vor allem daran, Alfonso einzuholen. Dieser einsame Ritt, mit der Angst um Inez, mit der Unruhe um ihr Schicksal im Herzen, hatte etwas unerträglich Niederdrückendes für ihn. Aber vermutlich war auch Alfonso die Nacht durchgeritten und wahrscheinlich mit derselben Eile. Ein Vorsprung von fünf bis sechs Stunden ließ sich also sehr schwer ausgleichen. Edmond ergab sich endlich in sein Schicksal. Er bemühte sich anfangs, der Prärie so viel Interesse als möglich abzugewinnen. Aber das währte nicht lange. In der kühlen oder Regenzeit mochte sie einen ganz angenehmen Anblick bieten. Jetzt aber war die Vegetation unter der glühenden Junihitze zu Staub geworden; ein verheerendes Feuer schien darüber hingegangen zu sein. Nur hin und wieder am Rande ausgetrockneter Salzseen zeigte die Erde einen grünlichen Schimmer. Tiere sah Edmond selten, die Viscachas, Käuze und Schlangen ausgenommen. Büffel und Hirsche, selbst die Wölfe schienen sich nach wasserreicheren Gegenden zurückgezogen zu haben. Vorsichtigerweise hatte Heikaou zwei Schläuche voll Wasser mitgenommen. Diese genügten für jetzt noch den Menschen und den Tieren. Für die Pferde wußte der Indianer außerdem noch überall einige saftreiche Blätter, Wurzeln oder binsenähnliche Pflanzen zu finden. Lebensmittel hatten die Männer natürlich mitgenommen, auch den in diesen unwirtlichen und ungesunden Gegenden fast unentbehrlichen Rum.

So verging auch der zweite Tag. Am Abend war es notwendig, den Tieren einige Stunden Rast zu gönnen. Später wollten sie am Tage rasten und des nachts reiten, obwohl es sehr dunkel war. Heikaou suchte einen geeigneten Platz auf einem Hügel, inmitten verdorrten Gesträuchs. Die Pferde wurden angebunden, und wenige Minuten darauf lagen beide Männer in tiefem Schlaf.

Als Edmond erwachte, graute schon der Morgen. Ueberrascht sprang er auf; sie hatten ja nur bis Mitternacht schlafen wollen! Der Indianer mußte selbst zu müde gewesen sein um aufzuwachen. Edmond rief ihn, er war regungslos. Von plötzlichem Schreck ergriffen, beugte sich der junge Franzose zu ihm nieder und schüttelte ihn. Keine Antwort, keine Bewegung. Die Glieder des alten Indianers lagen lang ausgestreckt, die Augen waren halb geöffnet, das Gesicht, so weit es Edmond bei dem schnell im Osten ausstrahlenden Morgenlichte erkennen konnte, ein wenig verzerrt und starr. Er berührte es – eiskalt, die Hand – kalt. Es wurde heller Tag. Aber Edmond konnte auch jetzt nichts anderes entdecken, als daß Haikaou tot sei.

Das war ein großes Unglück für den jungen Kapitän. Seinen Weg durch diese Wüste allein fortzusetzen, unbekannt mit der Sprache der Indianer, die ihm vielleicht begegneten, das war eine schwere Aufgabe. Vergebens hoffte Edmond noch immer darauf, der alte Indianer werde wieder zum Leben erwachen. Er erinnerte sich, daß schon am Abend vorher Heikaous Bewegungen sehr schwerfällig, seine Sprache langsam und leise gewesen war. Heikaou war nahe an achtzig Jahre alt. Die Indianer spannen ihre Kräfte bis zum letzten Augenblick an, halten sich mit fast übermenschlicher Kraft aufrecht, bis sie dann plötzlich zusammenbrechen. Die große Ermüdung hatte Edmond verhindert, die letzten Seufzer seines Begleiters zu hören. Edmond blieb nichts weiter übrig, als einige Lebensmittel und einen Wasserschlauch bei dem Toten zu lassen, falls er nur von einem Starrkrampf ergriffen worden war und etwas später erwache. Auch des Indianers Pferd ließ er angebunden, so leid ihm das Tier tat. Die Büchse legte er neben den Toten. Fand ihn irgendjemand, so konnte er aus der Lage und der Umgebung des Toten ersehen, daß er eines natürlichen Todes gestorben war.

Edmond wußte nichts weiter, als daß die Richtung, die er einzuschlagen habe, nordwestlich sei. Die Einsamkeit fiel ihm schwer aufs Herz. Aber er dachte an Inez, und nachdem er in frommer Erregung ein Gebet über den Toten gesprochen hatte, nahm er Abschied und schlug den Weg ein, den ihm die Sonne bezeichnete. So ritt er einen Tag dahin, zwei Tage, ohne sich Ruhe zu gönnen. Dann schlief er einige Stunden. Seine Lebensmittel waren erschöpft oder verdorben; Wasser fand er nirgends. Sein Pferd wurde matt. Er teilte mit ihm, was er noch an Brot besaß. Unmöglich konnte er noch fern vom Lago Santa Maria sein – vorausgesetzt, daß er die Richtung nicht verfehlt hatte. –

Es war der fünfte Tag, seitdem er das Presidio del Norte verlassen hatte. Er fühlte seine Kräfte schwinden. Die Schilderungen von Reisenden, die in diesen Einöden elend verendet waren, kamen ihm in die Erinnerung. Vielleicht hatte er sein Ziel schon überschritten und ritt weiter, als es nötig war. Ja, hätte er nur irgendein Dorf mit menschlichen Wesen erreicht, hätte er nur wenigstens einen Bach gefunden. Die Rollen-Prärie lag bald hinter ihm, er sah im Westen schon die blauen Gipfel der Gebirgskette, die ganz Amerika von Nord nach Süd durchzieht. Aber als er die Vorberge erreichte, fand er sie graslos, die Bäume verdorrt, die Bäche ausgetrocknet. Er wandte sich nun nach Norden, denn er war überzeugt, daß er sich zu sehr westlich gehalten hatte. Aber das Pferd wollte nicht weiter. Am Abend des sechsten Tages brach es zusammen. Glücklicherweise entdeckte Edmond in der Nähe einige jener dickblättrigen Pflanzen, die Heikaou den Pferden zum Fressen gegeben hatte. Das Tier erholte sich auch ein wenig; aber es war zu schwach, um seinen Reiter zu tragen. Edmond genoß selbst von den bitter schmeckenden Blättern, dann legte er sich neben das Pferd und schlief ein.

Er erwachte durch ein sehr unsanftes Gefühl, und als er die Augen öffnete, sah er über sich einige so wilde Gestalten, daß er im ersten Augenblicke noch zu träumen glaubte. Dann erriet er freilich, daß es Indianer und keine Traumgestalten seien, die ihm die Hände und Füße gebunden hatten. Es waren Apachen oder Comanches, wie er sie oft genug in Abbildungen gesehen hatte, rotbraune, bemalte Männer, mit einer Unmasse von Federn geschmückt, die vom Kopf bis zum Rücken hinabreichten und ihnen fast das Aussehen riesiger beweglicher Hahnenkämme gaben. Auch die Arme und Füße waren mit solchen Federbüscheln verziert oder verunstaltet.

Natürlich konnte Edmond nicht an Widerstand denken. Außer den vier Indianern, die ihn banden, umgaben ihn noch wenigstens fünfzig andere zu Pferde. Die Indianer ließen ihn auf der Erde liegen, bis sie ihm sämtliche Waffen genommen und seine Taschen durchsucht hatten. Die Börse nahmen sie ihm nicht; sie war ihnen ja ohnehin sicher genug. Dann machten sie sich mit Edmonds Pferd zu schaffen, das wenig Lust zum Aufstehen bezeigte, und brachten es endlich auf die Beine.

Edmond überlegte, daß die Gefangenschaft dem Hungertode vorzuziehen sei, und beschloß, sein Geschick mit möglichster Ruhe zu ertragen. Man hatte ihm allgemein gesagt, daß die Indianer in den seltensten Fällen einen Gefangenen töten, es sei denn, daß sie ihn für einen Feind hielten. Sie pflegten ihn meist auszuplündern und gegen ein Lösegeld, das oft nur in Waffen und Munition bestand, freizugeben. Fürs erste versuchte Edmond seine neue Lage dazu zu benutzen, um sich Wasser und Brot zu verschaffen. Er kannte die indianischen Worte für diese Gegenstände, und rief sie mehrmals hintereinander. Sein erschöpftes Aussehen mochte seinen Worten Eindruck verleihen; ein Indianer kam und setzte ihm einen Schlauch an den Mund. Edmond trank in großen Zügen das halb verdorbene Wasser. Dann steckte ihm der Indianer kleine Kugeln, unseren Klößen ähnlich, in den Mund. Darauf hob man ihn auf den Rücken des Pferdes, so daß er mit dem Gesicht zur Erde sah, und band ihn auf dem Rücken des Tieres fest. Ein Indianer, der neben ihm ritt, nahm Edmonds Pferd am Zügel und fort ging es.

Die Lage des jungen Kapitäns war äußerst unbequem. Aber was half ihm sein Zähneknirschen? – Er mußte ruhig hinnehmen, was kam. Nach rechts konnte er nicht blicken, denn er lag mit dem Kopf auf der linken Seite seines Pferdes, glücklicherweise ein wenig hoch, auf dem Halse. So übersah er nur, was sich zu seiner Linken befand.

Anfangs erblickte er nichts als Indianer. Nach einigen Stunden aber, als der Zug durch eine Gebirgsschlucht ritt, die verschiedene Biegungen machte, erkannte er deutlich, daß zwei von den Reitern die Tracht von weißen Männern trugen – ein Kostüm ähnlich dem seinigen. Bei einer zweiten Biegung bemerkte er drei verhüllte Gestalten, dicht von Indianern umgeben. Es schienen den weiten hellen Kleidern nach Frauen zu sein. Unwillkürlich erbebte er. Sollte ihn der Zufall mit Inez zusammengeführt haben? Waren dies etwa die Indianer, die sie gefangen genommen?

Er mußte darüber im Unklaren bleiben, denn als der Zug die Ebene erreicht hatte, sah er nichts mehr von den Frauen. Die Gegend änderte sich jetzt ein wenig. Es tauchten Bäume auf, die sich zuweilen zu kleinen Wäldern gruppierten; sein Pferd stand still und trank aus einem Bach. Edmond beneidete das Tier und rief wieder nach Wasser. Aber es durfte hier kein Aufenthalt stattfinden – es ging immer weiter, und da Edmond die Sonne nicht vor sich sah, so mußte der Ritt nach Norden zu gehen. Endlich wurde Halt gemacht. Man hob Edmond von dem Rücken seines Pferdes herunter, setzte ihn auf die Erde und löste die Bande an seinen Armen. Er stöhnte vor Schmerz, denn die Stricke hatten ihm tief ins Fleisch geschnitten und die Hitze vermehrte den Schmerz. Dennoch suchte sein erster Blick jene Frauengestalten. Aber er sah sie nicht. Sie mußten fern von ihm Halt gemacht haben, und die Pferde der Indianer versperrten ihm die Aussicht.

Edmond erhielt jetzt Wasser, Brot und ein Stück zähes, getrocknetes Fleisch. Er aß und trank mit Begierde und fühlte seine körperlichen Kräfte zurückkehren. Es fiel ihm ein, daß er jetzt vielleicht von dem Papier Gebrauch machen könne, das ihm der Kommandeur des Presidio del Norte mit auf den Weg gegeben, und er zog es aus der Tasche. Obgleich er es unterwegs zuweilen studiert, war es ihm doch nicht möglich gewesen, die seltsamen Worte, für die ihm jeder verbindende Sinn fehlte, zu behalten. Doch las er das Geschriebene bereits ziemlich geläufig.

Mit lauter Stimme und zu dem Indianer hingewandt, der ganz besonders mit seiner Bewachung beauftragt schien, las er die Worte ab. Der Indianer stutzte und horchte auf, schien jedoch nicht sonderlich überrascht. War diese Ruhe nur indianische Schlauheit, oder galt ein solcher Begleitbrief nicht viel in den Augen der Indianer? Edmond vermochte es nicht zu unterscheiden. Er las seine Formel noch einmal ab, und nun rief der Indianer seinem Nachbar einige Worte zu. Dieser erhob sich und ging nach der Richtung, in der die meisten Indianer sich gelagert hatten. Kurze Zeit darauf kam er mit einem noch jungen Indianer zurück, dessen Federschmuck glänzender und stattlicher war, als der aller anderen Rothäute, und dessen stolze, gebieterische Haltung den Häuptling verkündete. Sein Blick war ernst, fast drohend, etwas verschlagen, wie bei den meisten Indianern.

Er trat dicht vor Edmond hin, musterte ihn schweigend eine Zeit lang und sprach dann einige Worte, die Edmond natürlich nicht verstand. Er machte also das Zeichen der Verneigung, nahm sein Papier und las die betreffende Formel wieder ab. Der junge Häuptling hörte zu, ohne eine Miene zu verändern. Dann wollte er Edmond das Papier aus der Hand nehmen, aber er gab es ihm nicht, sondern zeigte es ihm nur. Es befand sich das Siegel des Kommandeurs darauf. Der Häuptling sprach wieder einige Worte, die Edmond aber so wenig verstand, wie die früheren, und mit einer Bewegung, die eine gewisse Verachtung auszudrücken schien und einem Achselzucken sehr ähnlich sah, kehrte er dem jungen Franzosen den Rücken und ging nach der Richtung des Lagers, aus der er gekommen war.

Die Rast dauerte zwei Stunden; Edmond glaubte zuweilen aus dem Gespräche der Indianer in seiner Nähe den Namen Wilhamenu herauszuhören, des Indianers, der nach Alfonsos Meinung Inez geraubt haben sollte. Aber er konnte sich irren, denn eins der im tiefen Kehlton gemurmelten Worte der Indianer klang beinahe wie das andere; und wenn sie auch wirklich Wilhamenu erwähnten, so war es ja möglich, daß die Indianer ihn kannten und sich über ihn besprachen, ohne daß es deshalb der junge Häuptling sein mußte, den Edmond soeben gesehen hatte. Er beschloß sich jedoch schnell Gewißheit zu verschaffen.

»Wilhamenu?« rief er fragend und nach der Richtung deutend, in der sich der junge Häuptling befand.

Die Indianer sahen ihn, wie es schien, etwas verwundert an, antworteten jedoch keine Silbe, obwohl Edmond den Namen mehrmals wiederholte.

Dabei blieb es auch. Die Indianer kümmerten sich um Edmond nur so weit, als sie Lust hatten; im übrigen mußte er sich in seine Lage ergeben. Als die Rast aufgehoben wurde, band man ihn wieder auf das Pferd, trotzdem er auf sein Papier zeigte und durch Zeichen zu verstehen gab, daß er wie alle anderen reiten wolle. Im scharfen Trabe ging es dann weiter. Die Gegend wurde immer angenehmer, frischer, wasserreicher.

Zweimal kamen ihm bei den Krümmungen des Weges jene europäisch oder zivilisiert gekleideten Männer und Frauen wieder zu Gesicht, die seine Gedanken so sehr beschäftigten. Aber die Entfernung war zu groß, als daß er irgend ein Gesicht erkennen konnte. Immer wieder dachte Edmond daran, daß Inez mit vier Personen, zwei Dienern und zwei Dienerinnen, von Matamoras aus den Rio Grande hinaufgefahren sei, und diese Zahl stimmte in eigentümlicherweise mit der Zahl der Fremden, die ebenfalls wohl Gefangene waren und bewacht zu werden schienen. O, wäre sie es doch gewesen! Schon in dem Gedanken, ihr nahe zu sein, lag etwas Tröstendes für ihn!

Es war spät am Nachmittag und die Sonne schien Edmond auf das unbeschützte Gesicht – der Kopf und die Glieder schmerzten ihn heftig von der ungewohnten Lage – als der Zug plötzlich hielt. So weit Edmond es bemerken konnte, schien sich der Zug bei diesem Halt zu ordnen. Auch fanden sich eine Menge Hunde ein, die freudig um die Indianer herumsprangen. Deutete dies auf die Nähe eines Dorfes? Wollten die Indianer ihren geordneten, triumphierenden Einzug halten?

Alles wies darauf hin. Der junge Häuptling ritt mehrmals auf einem der kleinen, aber kräftigen Pferde den Zug entlang und schien ihn zu ordnen. Er trug eine Büchse, wie einige andere Indianer, war aber außerdem mit Lanze, Bogen und Pfeil bewaffnet wie sämtliche Rothäute. Bei dem schnellen Ritt flatterten die langen Federn um ihn her und gaben ihm ein wildes, abenteuerliches Aussehen.

Noch eines aber bemerkte Edmond. Die Weißen, die er für Gefangene hielt, wurden in seine Nähe geführt. Wahrscheinlich sollten die Gefangenen zusammenbleiben und durch ihre Gesamtheit den Eindruck des Triumphes erhöhen. Er hatte Gelegenheit, zuerst die beiden Männer zu beobachten, die sehr ermattet und niedergeschlagen schienen. Er unterließ es, sie anzureden, aus Furcht, von den Indianern mißhandelt und schärfer beaufsichtigt zu werden. Jetzt sah er auch die Frauen. Sie trugen große weiße Decken, die sie vom Kopf bis zu den Füßen verhüllten. Dennoch bemerkte Edmond, daß unter diesen Decken die Säume farbiger Kleider hervorsahen. Die Gefangenen wurden getrennt und Männer und Frauen einzeln von je zwei Indianern in die Mitte genommen. Dadurch sollte der Zug länger und imposanter gemacht werden.

Bei dieser Gelegenheit bemerkte Edmond, daß eine der Frauen plötzlich stutzte, einen Ruf ausstieß und die Decke von ihrem Gesicht riß. Er erkannte ein Gesicht, dessen Züge ihm tief ins Herz gegraben waren und die jetzt freilich sehr bleich und erschreckt aussahen. – Es war Inez, und auch sie hatte ihn erkannt.

»Alfonso und Ihr Vater sind in der Nähe!« rief Edmond mit lauter Stimme. Es war gerade noch Zeit genug gewesen, denn schon sprengte ein Indianer an sie heran, zog ihr die Decke wieder über den Kopf und band sie mit seinem Riemen fest, so daß Inez sie schwer abstreifen konnte. Den Indianern schien es zweifelhaft zu sein, ob der Ruf von Edmond ausgegangen war. Sie betrachteten ihn nur mit finsteren, drohenden Mienen, ritten dann zu ihrem Häuptling und schienen ihn auf den Vorfall aufmerksam zu machen.

Bald darauf war der Zug geordnet und setzte sich wieder in Bewegung. Edmond war so heftig von dem Wiedererkennen der Geliebten bewegt, daß er seine ganze geistige Kraft aufbieten mußte, um nicht in ohnmächtiges Wutgeschrei auszubrechen, weil es ihm nicht vergönnt war, seine Bande zu sprengen und zu Inez zu eilen. Aber er sagte sich auch, daß er gerade jetzt keine Gelegenheit versäumen dürfe, genau auf alles zu achten; denn die geringste Kleinigkeit konnte von Wichtigkeit werden. Er blickte also scharf um sich.

Der Zug ritt in einen Hohlweg ein, auf dessen Seitenwänden indianische Weiber standen, die in lautes Triumphgeschrei ausbrachen. Kinder kamen auf Edmond zugestürzt und schlugen ihn. Dann bemerkte Edmond Holzhütten von ganz eigentümlicher Form, die miteinander zusammenhingen, nur hoch oben über dem Erdboden ein kleines Fenster hatten und also eine Art von hölzerner Festung bildeten – einer Reihe zusammenstehender Blockhäuser nicht unähnlich. In diese Hütten hinein führte ein Torweg, nicht höher, als daß ein Reiter gerade hindurchreiten konnte. Dahinter kam ein freier Platz – das Innere des Dorfes – auf dem ungefähr ein Dutzend ähnlicher hölzerner Häuser standen.

Auf dem freien Platze im Innern waren nur wenige Menschen zu sehen. Nur einige ganz alte Männer und Frauen, sowie kleine Kinder befanden sich auf dem Platze. Ein alter Indianer trat auf den Häuptling zu und schien ihn zu bewillkommnen. Dann löste sich der Zug auf. Inez und ihre Begleiterinnen wurden in eine Hütte mitten auf dem Platze geführt. Auch Edmond wurde losgebunden, und da er nicht stehen konnte, in eine andere sehr feste Hütte getragen. Man setzte ihm einen Krug mit Wasser und eine Schüssel mit Maguey-Kuchen hin und schloß die Tür hinter ihm. Bald darauf brach die Nacht herein.

Edmond vermochte anfangs nicht zu schlafen. Die Glieder schmerzten ihn heftig. Aber wäre das auch nicht der Fall gewesen, der Gedanke an Inez würde ihm doch keine Ruhe gegönnt haben. Wohl hatte er ihr zugerufen, daß Alfonso und ihr Vater in der Nähe seien. Aber durfte er darauf hoffen, sie wirklich bald erscheinen zu sehen? Inez schien wohl bewacht, aber doch nicht mit der ganzen Härte einer Gefangenen behandelt zu werden. Wollte Wilhamenu die Befreiung seines Vaters durch die Freigebung der weißen Gefangenen erkaufen?

An sich und sein Schicksal dachte Edmond gar nicht. Alle seine Gedanken weilten nur bei Inez. Er hoffte bald eine Gelegenheit, sich ihr zu nähern, zu finden. Wie glücklich wäre er gewesen, wenn er nur wenige Worte mit ihr wechseln könnte! Wie überrascht mußte sie sein, ihn hier zu wissen!

Endlich überfiel ihn mitten in seinen Gedanken der Schlaf. Als er erwachte, begann der Tag zu grauen. Aber in der Hütte blieb es dunkel; die Läden des Fensters mußten von außen geschlossen sein. Auch waren sie ihm zu hoch. Er konnte nicht hinaufreichen. Unwillig über diese Dunkelheit, die auf ihm drückte, klopfte er mehrmals heftig an die Wand der Hütte. Endlich entdeckte er in der Wand eine kleine Oeffnung, die nur mit Moos zugestopft war. Er riß das Moos heraus und schaute nun auf den Platz.

Es war sehr still dort. Die Indianer mochten sich von den Mühseligkeiten ihres letzten Marsches ausruhen. Nur hin und wieder schritt ein Weib oder ein Knabe von einer Hütte zur andern. Er erkannte deutlich die Hütte, in die Inez geführt worden war. Aber sie lag in ebenso tiefem Schweigen vor ihm, wie alle anderen.

Was sollte das nun bedeuten? Was sollte daraus werden? Hier galt es, sich in Geduld zu fassen. Am meisten bangte ihm davor, daß die Indianer Inez weiter führen und ihn hier zurücklassen könnten. Vielleicht war es schon geschehen – vielleicht hatte Wilhamenu das Dorf schon wieder mit seinen Gefangenen verlassen. Bei diesem Gedanken ergriff ihn eine tödliche Unruhe. Er hätte die Wände seiner Hütte sprengen mögen. Doch gerade jetzt sah er Wilhamenu aus einer Hütte treten, auf deren Dach eine Art von Fahne, aus bunten Kattunstreifen zusammengesetzt, flatterte. Der Häuptling war also noch hier.

Neben Wilhamenu ging ein alter Indianer; hinter ihm folgten einige bewaffnete Krieger. Sie kamen gerade auf Edmonds Hütte zu. Bald darauf wurde sie geöffnet und einer der Indianer machte Edmond ein Zeichen herauszutreten. Edmond folgte sogleich der Weisung.

Wilhamenu schien ihm nicht wohl zu wollen. In seinem Blick lag unverkennbares Mißtrauen. Edmond aber bemühte sich so ruhig als möglich zu sein. Er wußte, daß diese Indianer die Gefühle der Menschen aus dem geringsten Zucken des Gesichts zu lesen verstehen.

Der alte Indianer sprach einige Worte zu Edmond. Er begriff wohl, daß er angeredet worden war, verstand aber die Worte nicht. Endlich dämmerte ihm die Ahnung auf, daß die Sprache des Indianers ein verdorbenes Spanisch sei. Nun lauschte er angestrengt und hörte endlich die Worte heraus:

»Wer bist Du? Wohin willst Du? Wie bist Du in die Prärie gekommen?«

Edmond hatte bisher noch gar nicht daran gedacht, daß er um Zweck und Ziel seiner Anwesenheit befragt werden könne; es flog ihm jetzt nur blitzschnell durch den Kopf, daß ihm die Wahrheit sehr schädlich werden müsse, denn schwerlich sah Wilhamenu gern einen Mann in seinem Lager, der an Inez Befreiung dachte. Er zögerte und tat, als ob er noch nicht verstände. Dann antwortete er, er sei ein Reisender und wolle nach Colorado-City, an der Mündung des Gila.

»Weshalb reitest Du allein durch die Prärie?« fragte der alte Indianer.

»Mein Begleiter ist gestorben,« antwortete Edmond, allzu aufrichtig.

Er erkannte sogleich, daß er einen Fehler gemacht hatte, denn es ging eine leichte Bewegung über die Mienen der Indianer. Wilhamenu und sein Begleiter warfen sich schnelle Blicke zu.

»War es ein roter Mann, der Dich begleitete?« fragte der alte Indianer.

Edmond mußte die Frage mit »Ja« beantworten, wenn er nicht verdächtig erscheinen wollte.

»Hieß er Heikaou?« lautete die nächste Frage.

Der junge Kapitän antwortete, daß er den Namen seines Führers nie gekannt habe.

»Du bist von jenseits des großen Wassers gekommen?« fragte der alte Indianer. »Du bist also ein Spanier?«

Edmond erwiderte, er sei kein Spanier, sondern mit seinen Truppen gekommen, die Mexikaner zu bekriegen, die seinem Häuptlinge Unrecht getan hätten. Jetzt sei ein Zustand der Waffenruhe eingetreten, den er dazu habe benutzen wollen, nach Colorado-City zu reisen, wo einer seiner Freunde wohne.

»Du bist also eines von den Blaßgesichtern, die vor Puebla den Mexikanern und den roten Männern den Rücken gezeigt haben?« fragte der Dolmetscher, und Wilhamenu lächelte spöttisch.

Edmond bemerkte, daß der Häuptling recht gut Spanisch verstand, es wahrscheinlich aber für unter seiner Würde hielt, selbst mit dem Gefangenen zu verhandeln.

»Wir haben Unglück gehabt, weil wir zu wenig waren,« antwortete Edmond stolz. »Bald werden wir zahlreich sein und in Mexiko einziehen.«

»Wie kommt es, daß Du als ein Feind der Mexikaner von dem Häuptling im Presidio so freundlich behandelt worden bist und daß er Dir einen Wumpan (Zaubermittel) mitgegeben hat?«

»Weil, wie ich Dir sagte, Waffenruhe ist, und weil ich nicht auf dem Kriegspfade bin, sondern nur einen Freund in Colorado-City besuchen will,« antwortete Edmond. »Die weißen Männer bekriegen sich in der Schlacht, aber nicht auf friedlichen Wegen. Und nun frage ich Dich: weshalb habt Ihr mich gefangen genommen und meiner Waffen beraubt? Glaubt Ihr, daß ich schutzlos bin? Der Häuptling meines Landes gebietet über mehr Krieger, als Ihr in Wochen zählen könnt – meine Brüder werden mich suchen, denn sie wissen, wohin ich gegangen bin, und sie werden nicht dulden, daß ich als ein Feind behandelt werde, wo ich auf friedlichen Wegen bin!«

Der alte Indianer sprach in seiner Sprache eine Zeitlang mit Wilhamenu, obwohl der gewiß längst jedes Wort verstanden hatte.

»Wilhamenu ist Herr in diesem Lande,« antwortete der Alte dann. »Er kann tun und lassen, was er will. Er kann Dich töten, er kann Dich freilassen, ganz wie es ihm gefällt.«

»Er kann es nur, weil er hundert Männer hinter sich hat und weil ich allein bin,« antwortete Edmond fest. »Auch ist er nicht der Herr dieses Landes, sondern er teilt es mit den Weißen.«

Der junge Häuptling schien hastig sprechen zu wollen, bezwang sich aber und sagte in seiner Sprache einige Worte zu dem Alten. Dieser antwortete dann:

»Wilhamenu erkennt die Weißen nicht über sich an. Er hat Dich gefangen genommen, weil er die Späher in den Prärien nicht liebt. Er traut auch Deinen Worten nicht, denn er weiß, daß Du hierhergekommen, um nach Blaßgesichtern zu suchen.«

»Wenn Wilhamenu alles weiß, weshalb fragt er mich?« antwortete Edmond unmutig.

»Kennst Du die Blaßgesichter, die sich in diesem Pueblo (Dorf) aufhalten?« fragte der Alte.

»Nein!«

»Aber Du hast einige Worte gerufen, als Du das Mädchen sahst,« fragte der Indianer.

»Es war Verwunderung, ein weißes Gesicht unter den Rothäuten zu entdecken,« antwortete Edmond.

»Bist Du zufrieden, wenn wir Dir zwei von unseren Männern geben, die Dich auf den Weg nach Colorado-City führen sollen?« fragte der Alte.

Das war eine böse Frage! Seit Edmond wußte, daß Inez sich in dem Dorfe befand, erschien ihm nichts schrecklicher, als der Gedanke, von ihr getrennt zu werden. Ja, hätte er hoffen dürfen, Alfonso zu begegnen, dann wäre er gern hinausgeeilt, ihm Nachricht zu überbringen! Aber wie konnte er auf einen solchen Zufall bauen! Und machte er sich nicht verdächtig, wenn er schwieg? Er tat, als verstände er die Frage nicht sogleich, und ließ sie sich mehrfach wiederholen.

»Gewiß,« sagte er dann, »ich würde sehr zufrieden sein, meinen Weg fortzusetzen. Aber ich bedarf keiner Führung. Ich werde meinen Weg allein zu finden wissen.«

Der Alte teilte in der früheren Weise diese Antwort Wilhamenu mit, der mit einem schlauen und mißtrauischen Blick auf Edmond schnell einige Worte erwiderte.

»Gut, es ist Dir gewährt, Du kannst allein gehen,« sagte der alte Indianer dann.

»Aber doch nicht ohne meine Waffen und ohne mein Pferd!« rief Edmond.

»Dein Pferd kannst Du erhalten, Deine Waffen nicht,« sagte der Dolmetscher nach einer Rücksprache mit dem Häuptling.

»So kann ich auch nicht fort,« antwortete Edmond. »Was soll ich ohne Waffen in der Prärie?«

»Und was nutzen die Waffen dem, der sich im Schlaf überraschen läßt, wie Du?« fragte der alte Indianer.

»Ich brauche sie da, wo sie mir helfen können,« erwiderte Edmond. »Gegen eine Uebermacht, wie Ihr es wart, würde mir überhaupt eine Verteidigung nichts helfen ...«

Ein Ruf von außerhalb unterbrach hier das Gespräch. Wilhamenu stutzte und flog dann wie ein Pfeil fort. Nur der alte Indianer blieb und wollte die Tür schließen.

Edmond glaubte, es sei vielleicht möglich, von dem Alten etwas über die Gefangenen zu erfahren, und richtete in diesem Sinne eine Frage an ihn. Aber der Alte schien von dem Augenblicke an, in dem er aufhörte, Dolmetscher zu sein, das Gehör verloren zu haben. Er antwortete gar nicht auf Edmonds Frage.

Dieser wünschte sich aufrichtig Glück zu der Unterbrechung. Mochte nun Wilhamenu ernstlich willens gewesen sein, ihn freizulassen, oder war dieser Vorschlag nur eine List, um den Gefangenen auszuforschen – jedenfalls hatte sich Edmond durch sein Zögern halb verraten, und die Indianer konnten nicht mehr daran zweifeln, daß er zu einem anderen, als dem von ihm angegebenen Zwecke in die Prärie gekommen sei.

Die Tür ward von außen sorgfältig verriegelt. Edmond begab sich sogleich zum Beobachten an die Oeffnung und sah, daß eine Menge Indianer einem bestimmten Punkte zueilten. Es mußte also etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein. Die Weiber erschienen auf den flachen Balkendächern, die die Hütten deckten und blickten von dort nach einer Richtung aus.

Sollte sich Alfonso mit seiner Schar zeigen? Sollte Inez' Vater in der Nähe sein?

Edmond mußte sich in Geduld fassen. Ueber dem Getümmel schien man vergessen zu haben, ihm seine Kost zu bringen. Es hungerte ihn, aber das war das geringste seiner Uebel. Wie wichtig hätte er für die Angreifer werden können, wenn er seine Waffen besessen hätte und imstande gewesen wäre, den etwaigen Angriff der Freunde durch gutgezielte Schüsse aus seiner Hütte zu unterstützen! Wilhamenu hätte ihm nicht entgehen sollen! Seine Waffen, seine Munition waren vermutlich im Zelt des jungen stolzen Häuptlings, also an einem für ihn unzugänglichen Ort.

Obwohl die Hütte fest gebaut war und die Tür sehr gut schloß, war Edmond doch überzeugt, aus der Hütte ausbrechen zu können. Man hatte ihm ein Messer gelassen, das er in der Rocktasche trug, und dieses Messer war so scharf und so gut gearbeitet, daß er nicht daran zweifelte, eine der starken Planken durchschneiden zu können. Er machte sich für alle Fälle sogleich an die Arbeit, behielt aber durch die Oeffnung stets im Auge, was außen vorging. Er fand, daß sein Werk über alle Erwartung gut gelang. Das Holz war kein Eichenholz, wie er zuerst geglaubt hatte, sondern von weicherem Stoff, und Edmond sagte sich, daß er bis zum Abend eine genügende Oeffnung durchschnitten haben könne, wenn man ihn ungestört lasse. Natürlich schnitt er das Viereck, durch das er im günstigen Falle hindurchzuschlüpfen gedachte, nicht ganz ein, sondern ließ an den Ecken einiges Holz stehen, das er dann später leicht durchbrechen konnte.

Nach ungefähr einer Stunde sah Edmond den Häuptling zurückkommen, begleitet von einer Menge seiner Krieger. Er ging fest, mit zurückgeworfenem Kopf, in trotziger Zuversicht. Bald darauf erschienen Pferde, die Indianer traten bewaffnet aus ihren Hütten. Es bildete sich ein Zug, an dessen Spitze Wilhamenu aus dem Dorfe ritt. Eine halbe Stunde darauf hörte Edmond Schüsse fallen, vielleicht eine Viertelmeile von dem Dorfe entfernt. Es schien ein scharfes Gefecht stattzufinden, denn zuweilen krachten die Schüsse wie eine Salve. Nach einer halben Stunde hörte der Kampf auf.

Mit welcher Ungeduld hatte ihm Edmond gelauscht! Er, der Soldat, mußte hier in der Hütte gefangen sitzen, während draußen wahrscheinlich Alfonso sein Leben wagte! Wie würde der Kampf ausgefallen sein? Hatte Alfonso genug Männer, um es mit den Indianern aufzunehmen? Denn daß Alfonso in der Nähe sei, daran zweifelte er nicht.

Als Edmond wieder den Weibern seine Aufmerksamkeit zuwandte, bemerkte er, daß einige sich die Gesichter verhüllt hatten. Andere liefen heulend und schreiend auf dem freien Platze herum. War der Kampf unglücklich für die Apaches ausgefallen? Jedenfalls hatten sie große Verluste gehabt. Das sah Edmond aus dem Zuge der Zurückkehrenden, der an seiner Hütte vorüber nach der Mitte des Dorfes zog.

Voran schritt Wilhamenu, den Kopf tief gebeugt; er stützte sich auf sein Pferd. Er schien nicht verwundet, wohl aber vom Kummer tief niedergedrückt zu sein. Hinter ihm folgten einige Indianer, die außer ihren eigenen Waffen noch die Waffen der Toten trugen, die folgten. Daß es auch nicht an Verwundeten fehlte, ersah Edmond daraus, daß einer der Indianer mitten im Zuge niedersank und in eine Hütte getragen werden mußte. Andere schleppten sich nur mühsam hin. Es schien Edmond, als ob ungefähr fünfzehn von den Indianern kampfunfähig geworden seien.

Gewiß war dies für den Fall eines fortgesetzten Kampfes ein Vorteil. Aber mußte nicht auch die Erbitterung dadurch in hohem Grade zugenommen haben? Waren Inez und ihre Begleiter jetzt vor Ausbrüchen der Rache sicher? Mit Spannung erwartete Edmond nähere Aufschlüsse. Aber wer sollte sie ihm bringen? Man schien ihn ganz vergessen zu haben. Nicht einmal einen Krug Wasser und Maguey-Kuchen brachte man ihm.

Edmond schnitt also, um die Zeit nicht müßig hinzubringen, in der Wand weiter. Dann, als er einen Indianer in der Nähe vorübergehen sah, klopfte er so heftig an die Tür, daß man ihn hören mußte. Nach ungefähr einer Viertelstunde kamen denn auch der Indianer, der ihn schon am ersten Tage bewacht und der alte Dolmetscher. Edmond nannte die Worte »Wasser« und »Essen«, die er kannte. Der jüngere Indianer entfernte sich, der alte blieb.

»Was waren das für Schüsse?« fragte Edmond in spanischer Sprache. »Waren die roten Männer im Gefecht?«

Der alte Indianer sah den Kapitän mit einem eigentümlichen Blicke an, antwortete aber nicht.

»Ich sehe Wilhamenu nicht,« fuhr Edmond fort. »Ist er verwundet oder getötet?«

»Wilhamenu lebt und wird schwere Rache nehmen!« antwortete der alte Indianer. »Du bist ein Betrüger. Wir haben unter den Weißen den Sohn Heikaous erkannt, den Sohn des verräterischen roten Mannes, der auch Dich geleitet hat. Wilhamenu wird die Seelen der Erschlagenen versöhnen durch Racheopfer.«

»Ich verstehe Dich nicht,« sagte Edmond ruhig, obwohl er sehr gut verstand.

Also Alfonse war mit Heikaous Sohne wirklich in der Nähe, und Wilhamenu mit seinen Indianern hatte eine erste Niederlage erlitten! Seine Lage wurde jetzt sehr ernst. Was konnte er, der Unbewaffnete, tun, wenn Wilhamenu Rache an Inez nahm! Sollte er die Geliebte vor seinen Augen sterben sehen?

Der andere Indianer brachte Wasser und Maguey-Kuchen, dann verließen die beiden Rothäute den Kapitän, ohne daß der Alte noch ein Wort gesprochen hätte.

Edmond aß und trank und blickte fortwährend durch die kleine Oeffnung. Alles, was sich vor ihm ereignete, prüfte er mit der größten Aufmerksamkeit. Daß er die Hütte in der Nacht verlassen könne, daran zweifelte er nicht. So viel er bemerkt hatte, stand keine Wache davor, man hielt ihn in dem Gefängnis für sicher. Aber würde er das Tor auf ähnliche Weise verlassen können? War das Tor unbewacht? Gab es einen anderen Ausweg? Und was ward dann aus Inez? Hätte er gewußt, was Wilhamenu über sie beschlossen hatte!

Der Tag begann sich zu neigen. Edmond hörte die bald dumpfen, bald schrillen Gesänge und Totenklagen der indianischen Weiber, und ein eigentümlicher Geruch schien ihm anzudeuten, daß die Leichen der Getöteten irgendwo verbrannt würden. Aber er sah nichts von dieser Zeremonie. Später sah er Wilhamenu in das Zelt gehen, in dem sich Inez befand. Er blieb geraume Zeit dort und es war fast Nacht, als Edmond die Gestalt des Indianers heraustreten sah. Hätte er wenigstens dieses Gespräch belauschen können!

Sollte er die Flucht wagen, sollte er Alfonso aufsuchen und ihn bitten, auf jede Gefahr hin den Versuch zu machen, das Dorf anzugreifen und Inez zu befreien? Immer drängender trat dieser Gedanke an ihn heran. Nach indianischer Sitte wurde es sogleich nach Sonnenuntergang still im Dorfe. Nur die Klagegesänge der Witwen klangen dumpf aus einzelnen Hütten herüber.

Edmond versuchte zu schlafen, aber es gelang ihm nicht. Es war ihm, als müsse diese Nacht eine Entscheidung bringen und als dürfe er den Augenblick, in dem er irgend etwas tun könne, nicht versäumen. Er horchte hinaus. Alles still. Die Nacht war sehr dunkel.

Da klopfte etwas an die Wand seiner Hütte. Er fuhr auf.

»Wer ist da?« fragte er hastig.

»Jemand, der noch immer nicht glauben kann, daß Sie es wirklich sind,« antwortete eine Frauenstimme.

»Inez!« rief Edmond, nach der Tür stürzend, als ob sie offen sei und nichts ihn hindere, die Geliebte zu umfangen.

»Still, um Gotteswillen still!« rief Inez halblaut. »Ich werde versuchen die Tür zu öffnen, damit wir leise zusammen sprechen können!«

Edmond hörte sie an der Tür rütteln.

»Nein, unmöglich!« sagte sie erschöpft und mit einem Seufzer. »Ich kann den Riegel nicht entfernen.«

»So kommen Sie hierher, setzen Sie sich nieder, hier ist eine kleine Oeffnung, durch die wir sprechen können!« rief Edmond vor Erregung zitternd.

Inez folgte seiner Andeutung. Er hörte ihr Kleid an der Bretterwand rauschen, er hörte ihre Atemzüge dicht an seinem Ohr.

»Ich habe eine größere Oeffnung in die Wand geschnitten,« flüsterte er. »Soll ich das Holz herausbrechen? Aber ich könnte es nicht wieder einfügen, wenn ich bliebe. Wollen wir zusammen fliehen?«

»Nur Ruhe, Ueberlegung, teuerster Freund!« bat Inez. »Wie kommen Sie hierher?«

»Verlieren wir keine Zeit damit, Inez. Ich begleitete Alfonso und wurde von ihm getrennt. Er ist gewiß in der Nähe. Wissen Sie einen Ausweg?«

»Leider nein. Die Ausgänge müssen gut bewacht sein, sonst würde man uns hier nicht so viel Freiheit gönnen. Haben Sie keine Nachricht von meinem Vater?«

»Nur, daß er ebenfalls in der Nähe ist, vielleicht jetzt schon vereint mit Alfonso.«

»Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wenn der heutige Kampf sich vermeiden ließ,« sagte Inez. »Wilhamenu hatte nur die Absicht, mich so lange zu behalten, bis man seinen Vater freigegeben hat. Wir wurden leidlich behandelt. Jetzt ist er außer sich vor Zorn. Er will Rache haben. O, wenn irgend jemand hinaus könnte und mit Alfonso sprechen, ihm sagen, daß er mit friedlichen Unterhandlungen vermutlich mehr erreichen könne, als mit Gewalt –«

»Ich würde es wagen – aber Sie hier zurücklassen!« rief Edmond.

»Unglücklicher – ich fürchte, Sie werden das erste Opfer der Rache der Indianer sein!« flüsterte Inez mit zitternder Stimme. »Wenn Sie fliehen könnten –«

»Fliehen gewiß nicht!« antwortete Edmond. »Ich kann das Dorf nur verlassen, wenn ich die Hoffnung hegen darf, Ihnen dadurch Hilfe zu bringen. Wo sind meine Waffen – wissen Sie es?«

»In einer Hütte neben der meinigen, dort scheinen alle Waffen aufbewahrt zu werden,« antwortete Inez. »Aber wenn man Sie auf der Flucht entdeckte – es wäre Ihr sicherer Tod!«

»O, Inez, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir, was Sie für das Beste halten!« rief Edmond dringend. »Ich werde es tun, gleichviel, ob es mit Gefahr verknüpft ist oder nicht!«

»Mein teuerster Freund, ich bin in derselben Ungewißheit, wie Sie,« antwortete Inez mit gepreßter Stimme. »Ich weiß nur, daß unsere Lage seit dem heutigen Tage schlimmer geworden ist. Wilhamenu ahnt, daß Sie zu meinem Bruder gehören. Ich habe freilich versichert, daß ich Sie nicht kenne – aber wird Sie das schützen?«

Sie schwieg. Auch Edmond wußte ihr keine Antwort. Ein Entschluß war sehr schwer zu fassen. Die geringste Unvorsichtigkeit konnte sie alle verderben.

»Wenn ich wüßte, daß ich das Dorf unbemerkt verlassen könnte,« sagte Edmond dann, »so würde ich sogleich Alfonso aufsuchen und ihn bitten, einen gütlichen Ausgleich zu versuchen.«

»Aber eine indianische Kugel, der Schlag eines Beils könnte mich – für immer unglücklich machen!« erwiderte Inez flüsternd. »Es ist zu gewagt. Wir müssen in Ruhe abwarten, was geschieht, und zufrieden sein, daß wir zusammen sind. Ach nein – ich wäre ruhiger, wenn Sie nicht hier wären, Edmond!«

»Sagen Sie das nicht, nicht um alles in der Welt, Inez!« rief der Kapitän. »Es ist vielleicht eine Fügung der Vorsehung, daß ich in Ihrer Nähe bin, daß ich mich vielleicht in irgendeinem gefährlichen Augenblick zwischen Sie und diese Wilden werfen kann –«

Der scharfe Knall einer Büchse, dem unmittelbar darauf der schwächere Knall von Revolvern folgte, unterbrach seine Worte. Eine Minute waren beide vor Schrecken und Ueberraschung nicht imstande, zu sprechen.

»Zurück, schnell zurück, Inez!« rief Edmond dann. »Gott sei mit Ihnen! Alfonse greift an!«

»Seien Sie vorsichtig, Edmond, ich beschwöre Sie!« rief Inez. »Auf Wiedersehen – so Gott will!«

Er hörte ihr Kleid rauschen; sie eilte fort.

Die Schüsse klangen in großer Nähe vom Tore her. Ohne Zweifel hatte Alfonso einen nächtlichen Ueberfall versucht und war bemerkt worden, ehe es ihm gelungen, in das Innere des Dorfes zu dringen. Edmond stand, die Hände aufeinander gepreßt, in starrer Ratlosigkeit. Hätte er seine Waffen bei sich gehabt, er wäre sofort aus der Hütte ausgebrochen. Aber waffenlos war er draußen nichts nütze. Ja, wenn es ihm möglich wäre, in der jetzt entstandenen Verwirrung sich seiner Waffen wieder zu bemächtigen! ...

Er war nicht mehr Herr seiner selbst. Das Krachen der Schüsse weckte den Soldatengeist in ihm, sein Blut begann zu sieden. Er glaubte Alfonsos Stimme zu hören. Er hielt ihn nicht länger. Mit einem einzigen Druck entfernte er das durchschnittene Brett, das ihn von der Freiheit trennte – er zwängte sich durch die Oeffnung hindurch – sein Messer hielt er in der Hand – so stand er hochatmend in der Dunkelheit. Gestalten eilten an ihm vorbei, nach dem Tore zu. Edmond dachte nur an seine Waffen.

Die Richtung, in der Inez' Hütte lag, wußte er trotz der Dunkelheit zu finden und er schritt vorsichtig auf sie zu. Es kam ihm zustatten, daß die Indianer keine Fackeln, keine Feuer anzündeten. An den Hütten hinkriechend, gelangte er bis zu der Hütte, in der sich Inez befand. Zwei Indianer standen davor, wahrscheinlich als Wache. Daneben sollte sich die Waffenkammer befinden. Vielleicht stand sie offen. Aber wie sollte Edmond in der Dunkelheit seine Waffen und seine Munition finden! Da sah er endlich einen Indianer mit einer Kerze kommen. Edmond kauerte sich nieder. Der Indianer hielt die Hand vor die Flamme der Kerze, damit sie nicht im Luftzuge erlösche; Edmond befand sich in dem schmalen Gange, der die Hütte der weißen Gefangenen von der Waffenkammer trennte, in fast vollständiger Dunkelheit. Der Indianer schob einen Holzriegel von der Tür der Waffenkammer zurück und trat hastig ein. Durch eine Spalte in der Wand konnte Edmond in das Innere blicken. Er sah seine beiden Büchsen, seine Revolver, seinen Degen und seine Jagdtasche mit der Munition an der gegenüberliegenden Wand nebeneinander hängen. Das Herz klopfte ihm vor Freude bei diesem Anblick. Der Indianer nahm hastig einige Flinten und Lanzen, die in einer Ecke standen, und eilte fort. Dabei erlosch ihm das Licht.

Es wäre Edmond auf jede Gefahr hin unmöglich gewesen, jetzt noch länger zu zaudern. An dem Tore wurde immer noch gekämpft; zuweilen hörte man ganz deutlich spanische Worte. Edmond schlich um die Hütte herum, damit ihn die Wächter vor Inez' Hütte nicht sähen. Dann schlüpfte er in die Hütte hinein. Seine Hand zitterte ein wenig, als er nach seinen Waffen griff. Er hing die eine Büchse und die Jagdtasche um – noch war die Munition darin, er fühlte es – dann steckte er die Revolver zu sich – der Degen erschien ihm überflüssig, doch gürtete er ihn für alle Fälle um, dann, mit der einen Büchse in der Hand, schlüpfte er hinaus, in den Zwischenraum zwischen der Waffenkammer und der nächsten Hütte. Ueber alles Erwarten war dieses Unternehmen gelungen.

Aber was nun? Während er untersuchte, ob die Zündhütchen noch auf den Pistons säßen – es war der Fall – überlegte er. Sollte er nach dem Tore eilen, den Angriff Alfonsos von innen unterstützen? Oder sollte er in der Nähe Inez' bleiben, um sie vor einem Racheakt der Indianer zu bewahren? Es war in der Tat schwer, hier eine Wahl zu treffen. Daß die wilden Leidenschaften in den Indianern aufflammen würden, sobald sie sich von einer Niederlage bedroht sahen, daß sie den Gegenstand des Kampfes opfern würden, sobald er ihnen keinen Nutzen mehr bringen könne, unterlag kaum einem Zweifel. Er entschloß sich, fürs Erste in der Nähe von Inez zu bleiben. Drang Alfonso mit seinen Begleitern in das Dorf, so wollte er die Indianer, die Inez bewachten, niederschießen und die Geliebte so lange verteidigen, bis Alfonso herangekommen sei. Wurde Alfonso zurückgeschlagen, dann freilich blieb ihm nichts übrig, als auf irgendeine Weise zu fliehen. Seine Lage wurde dann sehr gefährlich.

Es schien, als ob der letzte Fall eintreten werde. Und Edmond hatte es beinahe erwartet. Er hielt es fast für unmöglich, daß Alfonso mit seiner kleinen Schar das Tor stürmen könne. Wie aber, wenn er sich jetzt selbst einen Ausweg suchte, der später auch als ein Zugang dienen konnte? Er hatte von seiner Hütte aus die indianischen Frauen und Kinder auf den Dächern der Hütten bemerkt. Es mußte also von dem Innern der Hütten eine Treppe nach dem Dach führen und von dort mußte man ins Freie gelangen können.

Während die Schüsse am Tor seltener wurden und das Kriegsgeschrei der Indianer den Kampfruf der Weißen übertönte, begann Edmond seine Untersuchung. Er schlich die Hütten, die die Außenseite des Dorfes bildeten, entlang. In einzelnen brannte das Herdfeuer, das wahrscheinlich wieder angezündet worden war, als die ersten Schüsse ertönten. Frauen und Kinder saßen daran. Edmond suchte nach einer Hütte, die vielleicht, wenn auch nur augenblicklich, von den Bewohnern verlassen wäre. Aber er fand keine. Er hielt es also für geratener, in eine dunkle Hütte zu dringen, die vielleicht einem jungen, nicht verheirateten Indianer gehörte. Er sah eine Hütte offen stehen. Niemand schien darin zu sein. Edmond lauschte, und als er kein Geräusch hörte, wagte er sich hinein. Er zündete eine der kleinen Phosphor-Wachskerzen an, die er stets bei sich trug, und leuchtete um sich her. Der Zufall schien ihn glücklich geleitet zu haben, die Hütte war leer. Er entdeckte auch die Treppe, die nach oben führte, und stieg vorsichtig hinauf.

Oben auf dem platten Dach angelangt, sah er das Blitzen zweier Schüsse am Tor. Sollte er hier hinabspringen? – Die Höhe war nicht allzu bedeutend, vielleicht fünfzehn Fuß, und er hatte kühnere Sprünge gewagt. Er bog sich in der Dunkelheit über den Rand des Daches, um sich, wenn es möglich war, zu überzeugen, ob nicht unten ein Hindernis sei, ein Graben, eine Wolfsgrube oder dergleichen. Er bemerkte nichts und wollte den Rand des Daches besteigen, um sich an den Händen hinabzulassen und den Sprung zu wagen, als er sich plötzlich am Halse erfaßt und zurückgerissen fühlte. Die Kehle wurde ihm so fest zugeschnürt, daß er fast das Bewußtsein verlor. Ehe er noch die Arme ausstrecken und den unerwarteten Angriff von sich abwehren konnte, fühlte er, daß ihm die Hände straff an den Körper gebunden wurden. Er sah die dunklen Gestalten von zwei Indianern über sich. Ein dumpfer Schrei der Enttäuschung und des Ingrimms entrang sich Edmonds Munde.

Sobald ihn die Indianer gebunden und auf den Boden des Daches niedergelegt hatten, nahmen sie den Wachtposten, den sie ohne Zweifel bisher innegehabt, wieder auf und lauschten und lugten, hinter der Brüstung des Daches niedergekauert, in die Nacht hinaus.

Edmond konnte sich nicht verhehlen, daß der Rückzug, den Alfonsos Schar jetzt ohne Zweifel angetreten hatte, für ihn ein Glück sei. Denn wären die Weißen in das Dorf eingedrungen, so hätten ihn die Indianer ohne Erbarmen niedergestoßen. Vermutlich war auch der nächtliche Kampf blutig gewesen. Wenn Alfonso verwundet oder getötet war, gab es dann noch eine Aussicht auf nahe Hilfe für Inez und für ihn? Die Erbitterung der Indianer mußte durch den wiederholten Kampf gesteigert worden sein. Nie hatte es eine qualvollere Stunde für ihn gegeben, als diese! Den düstersten Befürchtungen preisgegeben, lag er nun wehr- und hilflos auf dem Dache der Hütte! Selbst der Gedanke peinigte ihn, daß Inez glauben könne, er habe sie verlassen und sich allein in Sicherheit bringen wollen ...

Draußen war alles still geworden. Aber im Dorfe wurde es nun lebendiger. Der Schein von Fackeln, die sich hin- und herbewegten, drang hinauf bis zu Edmond. Einer der Indianer glitt wie ein Schatten vom Dach in das Innere der Hütte. Abermals verging eine qualvolle halbe Stunde. Dann erschienen mehrere Indianer. Sie nahmen Edmond, als sei er ein Stück Holz, und trugen ihn die Treppe hinunter, zwischen den Hütten hindurch nach dem freien Platze. Dort legten sie ihn, gebunden wie er war, auf die Erde nieder.

Nun kümmerte sich die ganze Nacht hindurch niemand mehr um ihn. Er blieb auf dem Erdboden liegen, der Nachttau benetzte ihm Stirn und Haar, die Sterne wandelten über ihm ihre ruhige Bahn. Das Dorf wurde still, die Fackeln erloschen. Edmond schlief ein.

Als er erwachte, schüttelte ihn heftiger Frost. Es ist gefährlich, in jenen Gegenden im Tau der Nacht zu schlafen. Selbst die dort geborenen Indianer hüllen sich, wenn sie im Freien schlafen, in ihre wärmsten Decken. Edmond fühlte sich unwohl; eine unangenehme Empfindung zog ihm durch alle Glieder. Aber er hatte keine Zeit, krank zu sein. Alle seine Gedanken richteten sich nur auf das Schicksal, das ihm und Inez bevorstand.

Geraume Zeit verging, ehe man sich um ihn kümmerte. Edmond rief endlich einen vorübergehenden Indianer an und nannte die Worte »Wasser, oder Feuerwasser, im Namen des großen Geistes!« Darauf kam ein Indianer und setzte ihm einen Krug mit Wasser an den Mund. Edmond trank begierig. Er hätte viel darum gegeben, wenn man ihm jetzt ein Glas guten Weines oder auch eine Kleinigkeit Rum gereicht hätte, denn nichts fürchtete er mehr, als daß körperliche Schwäche und Krankheit ihn hindern könnten, an den Ereignissen, die etwa bevorstanden, teilzunehmen.

Es war ihm eine Wohltat, als die Morgensonne ihn erwärmte. Er fühlte die unangenehme Empfindung schwinden, er wurde ruhiger, hoffnungsvoller. Die Hütte, in der Inez sich aufhielt, konnte er von seinem Platze aus nicht sehen. Aber unter den Indianern schien eine außerordentliche Bewegung zu herrschen. Sie trugen verschiedene Gegenstände, Balken, Stangen, Federbüsche, nach einem Orte, den Edmond nicht sehen konnte. Handelte es sich um eine Trauer- oder eine Siegesfestlichkeit?

Plötzlich standen Wilhamenu und der alte Dolmetscher, die von einer Seite gekommen waren, nach der er nicht blickte, vor ihm. Den jungen Franzosen beschäftigte vor allen Dingen Wilhamenus Gesicht. Er hoffte, Trauer oder Freude darin zu finden. Nichts von dem! Es trug den kalten, etwas spöttischen und mißtrauischen Ausdruck wie immer. Am linken Oberschenkel schien der Häuptling verwundet, denn er trug ein breites Band, das von einigen Blutflecken gerötet war.

»Wie ist es Dir möglich gewesen, die Hütte zu verlassen?« fragte der alte Dolmetscher auf Spanisch.

»Das solltet Ihr doch gesehen haben,« antwortete Edmond. »Vor allen Dingen, da ich waffenlos bin, entfernt mir die Stricke von den Füßen, damit ich aufstehen und mich bewegen kann.«

Wilhamenu gab ein Zeichen und der alte Indianer löste die Bande an Edmonds Füßen. Er erhob sich allmählich, zuerst auf ein Knie – denn das Blut strömte ihm schmerzhaft in die Füße –, dann auf das andere, bis er sich endlich, fest auf den Füßen stehend, aufrecht zu erhalten vermochte.

»Wie bist Du in die Waffenkammer gelangt?« fragte der alte Dolmetscher.

»Wie jeder andere,« antwortete Edmond, »ich sah die Tür offen und ging hinein. Ihr werdet es gewiß nicht sonderbar finden, daß ein Mann, dem Ihr seine Freiheit und sein Eigentum geraubt habt, sie bei der ersten günstigen Gelegenheit wiederzuerlangen sucht.«

»Deine Waffen gehören jetzt uns,« sagte der Alte.

»Mit welchem Rechte?«

»Wir haben sie Dir genommen!«

»So werde ich sie mir wiedernehmen,« antwortete Edmond, der sehr wohl wußte, daß Festigkeit und Kühnheit bei den Söhnen der Wildnis einen besseren Eindruck zu machen pflegt, als Schwäche und Verzagtheit. »Würdet Ihr anders gehandelt haben, als ich? Antwortet mir!«

Edmond wandte sich in seinen Antworten absichtlich an beide, den Häuptling und den Dolmetscher, obwohl Wilhamenu sich nicht unmittelbar an der Unterredung beteiligen wollte.

Der alte Indianer blieb dieses Mal die Antwort schuldig, dagegen fragte er, ob Edmond zu den Weißen fliehen wollte.

»Ich beabsichtige nur, meine Freiheit zu erlangen,« erwiderte der Kapitän. »Ich weiß nicht, von welchen Weißen Ihr sprecht, von denen, die Euch in der Nacht angegriffen haben?«

Es war vergebens, daß er auf diese Weise eine Auskunft zu erhalten hoffte; die Indianer waren zu klug, sich in einer so offen liegenden Schlinge fangen zu lassen.

»Bereite Dich auf Deinen Tod vor!« sagte der alte Indianer dann ernst. »Unsere Priester haben den großen Geist befragt, und der große Geist verlangt ein Rache- und Sühneopfer für die Gefallenen.«

»Seit wann sühnt Ihr Eure Rache an den Unschuldigen?« fragte der Kapitän.

»Du bist ein Weißer!« sagte der Alte kurz.

»Aber vielleicht ein Feind der Männer dort draußen, wenn sie Mexikaner sind!« rief Edmond.

Sein Einwand schien nicht spurlos an den Indianern vorüberzugehen, denn sie berieten beide hastig miteinander. Wilhamenu beharrte jedoch – so weit Edmond dies beurteilen konnte – bei seinem Willen.

»Die Seelen unserer Erschlagenen verlangen ein Opfer – einen Weißen,« sagte der alte Indianer. »Unser Häuptling will Dir jedoch gestatten, um Dein Leben zu kämpfen. Wenn der große Geist Dir Dein Leben erhält, so ist es sein Wille, daß nicht Du, sondern ein anderer zum Opfer bestimmt ist.«

Edmond kannte aus Alfonsos Schilderungen die Sitten der Indianerstämme, also auch diesen Kampf um das Leben. Gewöhnlich wurde er nur gefangenen Rothäuten angeboten, die dann, wenn sie den Kampf glücklich bestanden hatten, in den Stamm derer aufgenommen wurden, mit denen sie gekämpft hatten, Weiber aus ihrer Mitte heirateten, die zu ihnen gehörten. In den allermeisten Fällen fiel dieser seltsame Kampf tödlich für die aus, denen er gestattet wurde. Aber es blieb doch immerhin die Möglichkeit des Lebens, eine letzte Aussicht auf Rettung und – was hier die Hauptsache war – ein Gewinn an Zeit.

»Ich mache Euch noch einmal darauf aufmerksam, daß man schwere Rechenschaft von Euch fordern wird, wenn Ihr mich tötet,« sagte Edmond. »Binnen Jahresfrist werden unsere Krieger in Chicuahua sein und sich ihres Führers, den Ihr ohne jeden Grund gemordet habt, erinnern!«

Ein spöttisches Lächeln zog um Wilhamenus schmale Lippen. Edmond begriff, daß mit diesen Menschen nicht vernünftig zu reden sei. Edmond entschloß sich also, keine weiteren Worte zu verlieren.

»Laßt mir die Hände frei!« sagte er. »Soll ich kämpfen, wenn mir das Blut in den Armen erstarrt ist?«

Wilhamenu gab dem Alten ein Zeichen und dieser löste auch die letzten Bande, die Edmond fesselten. Der junge Kapitän streckte seine Arme und rieb sie, um sie wieder geschmeidig zu machen. Dabei leuchtete es stolz in seinen Augen auf. Er wollte sein Leben teuer verkaufen.

Doch – sollte er nicht um Inez' willen noch einen letzten Versuch zur Vermittlung wagen? Er konnte jetzt, da sein Schicksal feststand, die Maske fallen lassen.

»Ich kenne die Gefangenen, die Wilhamenu mit sich führt,« sagte er. »Ich habe von dieser Sache in Presidio del Norte sprechen hören. Weshalb beginnt Wilhamenu keine Unterhandlungen mit den weißen Männern? Die weißen Männer würden zufrieden sein, ihre Schwester wieder zu erhalten, und sie würden Geld, Waffen, Munition, Feuerwasser und Decken dafür geben.«

»Dann warst Du also doch ein Spion!« rief jetzt Wilhamenu, aus seiner Ruhe aufgestört.

»Nein. Ich sprach die weißen Männer in Presidio. Sie verlangten damals nichts, als eine gütliche Einigung mit Wilhamenu. Wie ist es gekommen, daß Ihr zweimal die Waffen gegeneinander erhoben und Eure Krieger gegenseitig erschlagen habt, anstatt freundliche Worte auszutauschen?«

»Deine Brüder haben zuerst die Waffen erhoben,« sagte Wilhamenu finster. »Du sollst dafür büßen! Die Gefangenen werden nach Dir sterben – ich will jetzt keinen Ausgleich mehr.«

Die Augen des Indianers blickten so wild und rachsüchtig, daß Edmond kaum daran zweifeln konnte, daß der Häuptling seine wirkliche Absicht aussprach.

»Wenn Du mir gestatten wolltest, zu vermitteln, so glaube ich, würde ich alles zum Besten fügen können,« sagte Edmond, noch einmal entschlossen, etwas zu wagen, was einer Bitte ähnlich sah. Und da Wilhamenu nicht sogleich antwortete, sondern zu überlegen schien, so fügte er hinzu: »Ich werde einen Brief an den Führer der Weißen schreiben. Handle nicht eher, als bis ich Antwort erhalte.«

»Nein!« rief der Häuptling heftig. »Das Blut Tekauhs und Liligaras schreit nach Rache. Sie sollen versöhnt werden. Deine weißen Brüder wollen mir die Gefangenen rauben ohne Entschädigung, sie wollen Wilhamenu um seine Hoffnungen betrügen – aber sie sollen selbst betrogen werden. Ist es Wilhamenu nicht gewährt, seinen Vater zu befreien, so sollen sie alle sterben!«

»Aber Du vergissest ganz, daß es nicht von den Weißen abhängt, Deinen Vater freizulassen, sondern von den mexikanischen Häuptlingen in Chicuahua und Mexiko,« sagte Edmond mit Heftigkeit. »Wohl aber kann die Fürsprache der Weißen von großer Wichtigkeit für Dich und Deinen Vater sein und sie können ihm im schlimmsten Falle eine Gelegenheit zur Flucht verschaffen.«

»Ihr seid alle Lügner und redet mit gespaltener Zunge!« rief Wilhamenu heftig. »Töricht der rote Mann, der auf Eure Worte hört – er ist betrogen! Fort mit Dir! Ich könnte Dich jetzt als einen Spion zu Tode quälen lassen, aber ich will mein Wort halten. Du sollst kämpfen.«

Der alte Indianer deutete Edmond an, weiterzugehen. Alle Gründe der Ueberredung waren erschöpft; Edmond durfte nicht mehr sprechen. Er erriet den wahren Zusammenhang. Wilhamenu, der natürlich einen gütlichen Ausgleich wünschte, war durch irgendeine Unvorsichtigkeit zum Kampfe gezwungen worden – einer von den Indianern oder von Alfonsos Leuten hatte zu früh gefeuert, der Kampf hatte begonnen und nun standen die Schatten der Erschlagenen zwischen den beiden Parteien und hinderten eine Versöhnung.

Edmond schritt in der Richtung vor, die ihm der alte Indianer angab und gelangte bald auf einen freien Platz, am nördlichen Ende des Dorfes, das größer war, als er bis jetzt geglaubt. Hier lagen auf fünf Scheiterhaufen die Leichen von fünf getöteten Indianern. Es mußten die sein, die in der letzten Nacht getötet waren. Klageweiber saßen bei ihnen, verhielten sich aber ruhig. Außerdem schien die ganze männliche Bevölkerung – vielleicht einige Wachen ausgenommen – sich auf dem Platze zu befinden. Zu seinem Erstaunen bemerkte Edmond, daß sämtliche Indianer unbewaffnet waren. Welch günstige Gelegenheit zu einem Angriff von außen. Aber freilich, es war auf der Ebene unmöglich, sich zu nähern, ohne gesehen zu werden – so glaubte er wenigstens.

In der Mitte des Platzes stand ein starker Pfahl, oben auf der Spitze und an den Seiten mit Federbüschen geschmückt. An ihm befanden sich zwei Ringe, einer ganz unten am Fuß, der andere ungefähr vier Fuß hoch über dem Boden. Daneben lagen zwei blitzende Kampfbeile, sogenannte Tomahawks. Edmond erriet, daß eines davon ihm bestimmt sei.

In der Tat führte man ihn sogleich nach dem Pfahl, und der linke Arm und der linke Fuß wurden ihm mit festen ledernen Riemen an die Ringe gebunden, jedoch so, daß er Arm und Fuß ein wenig bewegen konnte. Der rechte Arm und rechte Fuß blieben ihm ganz frei.

Es war ein sehr eigentümliches Gefühl, mit dem Edmond die beiden Tomahawks betrachtete, die ihn mit ihren blitzenden Klingen so seltsam anzublicken schienen. Er hatte nie eine derartige Waffe in der Hand gehabt und er prüfte bereits, indem er sie musterte, wie er es anzufangen habe, damit auf eine geschickte Weise zu parieren. Im übrigen setzte er voraus, daß auch die jüngeren Indianer keine große Uebung in diesem Kampfe haben würden, denn das Feuergewehr hatte bereits angefangen, die älteren Waffen zu verdrängen.

»Mit wie vielen roten Männern soll ich kämpfen?« fragte Edmund den Dolmetscher.

»Mit einem,« antwortete der alte Indianer. »Du kannst ihn unter denen wählen, die Du hier siehst. Aber er darf nicht ein Greis und nicht krank sein.«

»Mit einem!« wiederholte Edmond für sich, und sein rechter Arm streckte sich unwillkürlich aus – ein starker, muskulöser Arm, denn der junge Pariser hatte von Kindheit auf das Fechten mit Leidenschaft getrieben, und es hieß, daß er darin keinen Meister habe.

Gleich darauf schoß ihm jähe Röte ins Gesicht. Er sah die Gefangenen kommen, Inez voran. Zwar war sie verschleiert, aber Edmond erkannte sie an ihrem Gang. Sie stutzte, als sie ihn an den Pfahl gebunden erblickte, streckte wie abwehrend die Arme aus und kam dann mit schnelleren Schritten näher. Dann schlug sie das Tuch, das über ihren Kopf hing und in dem sich nur Oeffnungen für die Augen befanden, zurück, und richtete den Blick auf Edmond mit einem Ausdruck, der ihm durch Mark und Bein ging. Darauf trat sie einige Schritte gegen Wilhamenu vor und sprach sehr ernst, aber lebhaft und mit erhobener Stimme in der indianischen Sprache zu ihm. Wilhamenu konnte sich einer gewissen Scheu ihr gegenüber nicht erwehren. Sein Trotz verlor sich, seine Augen senkten sich oft zur Erde. Er antwortete nur zuweilen einige Worte. Endlich aber sprach er sehr lebhaft und, wie es schien, zornig fast eine halbe Minute hintereinander. Inez wandte das Gesicht mit dem Ausdruck unendlicher Treue und Zärtlichkeit zu Edmond.

»Er verlangt den Kampf!« sagte sie mit kaum hörbarer Stimme in französischer Sprache. »Edmond, ich werde Deinen Tod nicht überleben, und ich bin Schuld daran – meine Verwegenheit –«

»Inez, teuerste Inez, verzweifle nicht!« rief Edmond. »Mein Arm ist stark und ich weiß, daß mich kein Mensch überwinden kann, wenn ich unter Deinen Augen kämpfe –«

»Nein, nein, ich kann es nicht ertragen!« rief sie. »Ich stürze mich selbst unter das tödliche Beil –«

»Denke an Deine Eltern und bewahre mir Dein Andenken, wenn ich fallen sollte!« rief Edmond. »Aber fürchte nicht zu früh. Ich soll nur mit einem Indianer kämpfen. – – Halt!« rief er dann, sich plötzlich besinnend, in spanischer Sprache dem Dolmetscher zu. »Wenn ich den roten Mann töte, bin ich dann sicher, daß Ihr mich nicht aus Rache oder Erbitterung in Stücke reißt?«

Der Alte sprach kurze Zeit mit Wilhamenu und einigen Greisen.

»Wenn Du nicht fällst, so will der große Geist Deinen Tod nicht,« sagte er dann. »Die roten Männer werden den Willen des großen Geistes achten und ihr Wort nicht brechen. Du bist sicher!«

Wilhamenu sprach darauf mit hocherhobener Stimme einige Sätze zu den Indianern.

»Du bist sicher!« flüsterte Inez. »Sie werden dem großen Geist gehorchen. Aber – –«

»O, fürchte nichts!« unterbrach er sie. »Ich werde jetzt nicht fallen!«

»So wähle unter den roten Kriegern den, mit dem Du kämpfen willst!« rief der Dolmetscher.

»Wilhamenu!« antwortete der junge Franzose fest.

Da ging ein Staunen durch die Reihen der sonst regungslosen Indianer. Einige machten verneinende und abwehrende Bewegungen, als sei es nicht erlaubt, daß ein Häuptling bei einer solchen Gelegenheit sein Leben aufs Spiel setze. Selbst Wilhamenu schien überrascht. Aber dann trat er vor und machte ein Zeichen, als nehme er an. Es war keine Verwegenheit, noch auch unnütze Prahlerei von seiten Edmonds, daß er gerade den Häuptling zum Kampfe aufforderte. Allerdings wäre es ihm erwünscht gewesen, dem trotzigen und stolzen Wilhamenu zu zeigen, daß ein europäischer Arm nicht vor den stählernen Muskeln eines Indianers zurückschreckt. Aber er hatte noch einen anderen Grund. Im Kriege gelten alle Vorteile und namentlich in der Lage, in der sich Edmond befand. Er war der Willkür der Indianer anheimgegeben, und zu einer Kampfart gezwungen, mit der er nicht vertraut war, darum mußte er die Uebelstände dieses ungleichen Kampfes möglichst auszugleichen suchen. Nun hatte er bemerkt, daß Wilhamenus Wunde am linken Fuße, wenn auch nicht lebensgefährlich, doch schmerzhaft sei. Der junge Soldat, der mit Wunden gut bekannt war, glaubte bemerkt zu haben, daß ein Muskel in dem Oberschenkel des Indianers verletzt sei. Offenbar wollte dieser den Apachen nicht zeigen, daß er ernstlich verwundet sei, und ertrug die Schmerzen mit stoischem Mute. Aber zuweilen hatte ihn Edmond doch zusammenzucken, die Zähne aufeinander pressen und den linken Fuß nachschleppen sehen. Nun aber war gerade bei diesem Kampfe der linke Fuß eine Hauptstütze für den Kämpfenden; auf ihm mußte der Oberkörper ruhen, während der rechte Arm seine Streiche führte. Eben deshalb hatte Edmond den Häuptling selbst auserlesen. Er rechnete mit Sicherheit darauf, daß dieser zu stolz sein werde, um abzulehnen.

Dennoch schienen sich einige alte Indianer zu widersetzen, und einer von ihnen deutete auf Wilhamenus Fuß und schien zu verlangen, daß er seiner Wunde wegen verzichte. Aber Edmond hatte sich nicht geirrt. Der Häuptling wies die Bedenklichkeit mit einigen stolzen Worten zurück, ergriff den einen der am Boden liegenden Tomahawk und reichte ihn Edmond, dann ergriff er den andern.

Die Waffe war leichter, als Edmond gedacht hatte. Er wog sie prüfend in seiner Hand und ließ sie dann einmal um seinen Kopf schwirren. Darauf erkundigte er sich bei dem Dolmetscher, ob es auch erlaubt sei, die Waffe zu werfen, denn es befand sich eine Schnur an dem Stiele, und er wußte, daß die Indianer gerade im Werfen des Tomahawks geschickt sind. Die Antwort lautete bejahend. Doch war der, der seine Waffe bei dem Wurfe verlor, rettungslos der Gnade des andern anheimgegeben. Edmond ließ die Schnur einige Male um sein rechtes Handgelenk wickeln, dann warf er die Waffe zur Probe und zog sie schnell wieder an sich. Wilhamenu stand in einiger Entfernung, ein spöttisches, verächtliches Lächeln auf den zusammengepreßten Lippen. Es konnte ihm nicht entgangen sein, daß Edmond eine größere Kraft und Geschicklichkeit entwickelte, als er wahrscheinlich erwartet hatte. Er hielt den Tomahawk krampfhaft in der Rechten. Edmond hielt den seinen auf halbe Armeslänge vor der Brust und blickte auf den alten Indianer, der das Zeichen zu geben hatte.

Ein Ruf ertönte aus dem Munde des Alten und Wilhamenu erhob seine Waffe. Im gleichen Augenblick aber schleuderte auch Edmond das Beil auf den Häuptling. Unwillkürlich war Wilhamenu zurückgefahren. Dann stürzte er auf Edmond, der bereits Zeit gefunden, seine Waffe wieder an sich zu ziehen, und der sich fest mit der linken Seite seines Körpers an den Pfahl drückte. Mit einem Schlag nach oben parierte Edmond Wilhamenus Hieb so heftig, daß der junge Häuptling taumelte. Dabei fiel er fast auf die Knie.

Die Stille ringsum war beängstigend geworden. Inez hatte den Kopf tief niedergebeugt. Was sie in jenen Minuten empfand – wer vermochte es zu schildern! Edmond sah, daß Wilhamenu, aus dessen Augen jetzt eine unheimliche Tücke leuchtete, den Tomahawk nach ihm werfen wollte. Das war der gefährlichste Moment für ihn, denn seine Fesseln erlaubten ihm nicht einen Seitensprung, wie dem Indianer. Er mußte das tödliche Beil zu parieren suchen, wenn es herangeflogen kam. Die beiden Waffen begegneten sich in der Luft und fielen zu Boden. Die Schnüre hatten sich ineinander verwickelt; der alte Dolmetscher sprang hinzu und löste sie voneinander.

Jetzt drohten Todesblitze aus Wilhamenus Augen. Schon fühlte er sich gedemütigt dadurch, daß der Weiße ihm widerstand wie eine Rothaut. Dem Tiger gleich, sprang er auf Edmond zu. Aber dieser hielt ihm seinen Tomahawk entgegen, und die Waffe des Häuptlings glitt an Edmonds Klinge ab. Der Kapitän seinerseits stieß nun den Tomahawk vor. Er ahnte, daß Wilhamenu ihm den rechten Arm mit seiner Linken niederdrücken wolle, und führte den Stoß nach dem linken Arm des Häuptlings, aus dem sogleich ein Blutsstrahl hervorschoß. Wilhamenu schrie auf, aber Edmond schlug ihm den rechten erhobenen Arm nieder. Er traf dabei den Stiel des Tomahawks, den Wilhamenu erhoben hatte, und zerschnitt ihn fast in der Mitte. Hätte Wilhamenu sich niedergebückt, um ihn aufzuheben, so wäre er verloren gewesen. Er sprang, halb besiegt, zurück.

Durch diesen Zwischenfall trat eine unvermeidliche Pause ein. Nach den Regeln des Kampfes wäre Edmond berechtigt gewesen, seinen Tomahawk auf den wehrlosen Gegner zu schleudern; aber das hätte ihm wenig geholfen, denn Wilhamenu hatte sich zu weit zurückgezogen, so daß der Tomahawk ihn nicht mehr erreicht hätte. Mit erhobener Waffe stand Edmond trotzig da, eine Gestalt, die auch dem kühnsten Indianer Achtung einflößen mußte.

Wilhamenu ließ sich unterdessen die Wunde am linken Arm verbinden. Nach einem kurzen Gespräch mit einigen alten Indianern ließ er sich einen neuen Tomahawk reichen und trat wieder auf Edmond zu. Diesen überraschte ein Blick, den Inez in namenloser Seelenangst auf ihn richtete.

»Fürchte nichts, teure Inez!« rief er. »Diesem Manne bin ich gewachsen. Er tötet mich nicht.«

Wilhamenu stand noch außer der Wurfweite. Edmond war entschlossen, den Kampf so bald als möglich zu beendigen; er witterte in den Blicken seines Gegners eine List. Tückisch, wie das eines Wolfes, war das Auge des verletzten Häuptlings, der seinen Tomahawk lässig in der Hand wog, dann aber plötzlich den Gefangenen zu umkreisen begann. Diese Art des Kampfes war natürlich nicht verboten, galt jedoch als die unedlere, da sie den Gefangenen zwang, jeder Bewegung des Feindes zu folgen, ohne sich doch selbst nach jeder Richtung bewegen zu können. In der Tat verlor Edmond einen Teil der Deckung. Wie sollte er sich gegen einen Wurf schützen, der von der Seite des Pfahles herkam? Wie sollte er sich, auf der linken Seite gefesselt, so schnell wenden können, wie der freie Angreifer?

»Du bist ein Feigling!« rief Edmond dem Häuptling in spanischer Sprache zu, die bei weitem größere Anzahl der Indianer verstand sie.

Das wirkte. Ingrimmig wandte sich Wilhamenu zu ihm, um auf ihn loszustürzen. Edmond benutzte den Moment und warf seinen Tomahawk. Am Halse getroffen, ließ Wilhamenu die Hände schlaff niedersinken, taumelte und stürzte nieder.

Schon hatte Edmond seinen Tomahawk wieder an sich gerissen. Jetzt kam der Augenblick, den er zu fürchten hatte, und das wilde Aufheulen der Indianer ließ ihn das Schlimmste ahnen. Mit zwei Schnitten des Tomahawks durchschnitt er die Lederriemen, die ihn an den Pfahl fesselten.

Edmond sah sein Leben ernstlich bedroht. Ein gewaltiger Stein wurde nach ihm geworfen, Messer blitzten. Das laute Jammern der Indianer, die um Wilhamenu beschäftigt waren, schien darauf hinzudeuten, daß die Wunde des Häuptlings schwer, wenn nicht tödlich sei. Ein Dutzend junger Indianer, ungefähr von dem Alter Wilhamenus und wahrscheinlich mit ihm zusammen erzogen, begann Edmond zu umkreisen.

In diesem Augenblick ertönte ein gellender Schrei von dem Dache einer der Hütten. Alles blickte dorthin. Einer der als Wachen ausgestellten Indianer deutete mit erschreckter Gebärde nach Osten. Die Indianer flogen auseinander wie ein Rudel Hirsche, unter die ein Schuß gefahren, bei Wilhamenu blieben nur zwei alte Indianer zurück.

Edmond eilte auf Inez zu. Er hielt den Tomahawk, von dem das Blut Wilhamenus in schweren Tropfen niederrieselte, noch immer in seiner Hand. Inez war leichenblaß und, wie es schien, kaum ihrer Sinne mächtig.

»Das kann nur Alfonso sein!« rief Edmond. »Noch kurze Zeit Geduld, teuerste Inez! Wir werden siegen! Die Indianer sind entmutigt. Ihr erbitterter Häuptling ist tot. Ich beschwöre Dich, geh in jene Hütte, damit Dich nicht eine tückische Kugel erreicht, damit die Indianer Dich nicht sehen. O, führen Sie Donna Inez dort hinein!« bat er die Diener, auf die nächste offenstehende Hütte deutend. »Verriegeln Sie den Eingang – für alle Fälle.«

»Es soll geschehen!« antwortete der eine Diener, und ihre Begleiterinnen führten Inez nach der Hütte.

In diesem Augenblick erschienen bereits einige fremde Gestalten auf dem Dache, von dem vorher der gellende Warnungsruf erklungen. Edmond, noch immer den Tomahawk in der Hand, eilte dorthin. Der Erste, den Edmond unter denen erkannte, die das Dach erklommen hatten, war Alfonso. Neben ihm sah er eine große, schöne Gestalt, einen jungen Mann mit blondem, fliegenden Haar, dann einen Mann in mittleren Jahren. Hatte Alfonso sich mit der Schar seines Vaters vereinigt? Es konnte kaum anders sein; nur mit verstärkten Kräften war dieser Angriff am hellen Tage zu unternehmen.

Schon strömten jetzt die Indianer von allen Seiten herbei, um die Eingedrungenen zurückzuwerfen.

»Inez lebt! Sie ist in jener Hütte!« rief Edmond nach dem Dach hinauf. »Dorthin also!«

Er sah nicht mehr Alfonsos Erstaunen. Entschlossen, an dem Kampfe teilzunehmen, glitt er zwischen zwei Hütten, um sich dem Anblick der Indianer zu entziehen, die ihn wahrscheinlich durch einen Schuß unschädlich gemacht hätten, und versuchte die Waffenkammer zu erreichen, in der, wie er vermutete, seine Waffen abermals einen Platz gefunden hatten. Edmond trat ungehindert in die Hütte. An der Wand hingen seine Waffen, in derselben Ordnung, in der er sie in der Nacht gesehen hatte. Mit einem Jubelruf bemächtigte er sich der Waffen. Ein junger Indianer trat in die Hütte. Edmond streckte ihn mit einem Schlage des Tomahawks nieder. Hier galt kein Zaudern mehr. Wie ein Rasender stürzte er aus der Hütte, über den Platz, nach der Gegend, in der er Inez wußte. Niemand kam ihm in den Weg. Edmond rief in die Hütte hinein, ob die Gefangenen dort seien. Die Antwort lautete bejahend. Er rief, daß man die Tür halb öffnen solle. Zwischen dem Pfosten und der Tür war ein Zwischenraum, weit genug, um ein Büchsenrohr hindurchzustecken und zu zielen. Edmond nahm einen der kühnsten Indianer aufs Korn, der soeben nach den Weißen auf dem Dach zielte – er stürzte. So schoß er viermal und traf vollkommen sicher. Edmond lud ruhig seine beiden Büchsen und feuerte abermals mit derselben Ruhe. Die Indianer hatten ihn jetzt bemerkt. Vier von ihnen trennten sich von dem großen Haufen und kamen auf ihn zugeeilt. Edmond trat ruhig vor die Hütte und nahm einen seiner Revolver in die Hand; er zielte genau und ruhig; den Tomahawk hielt er in der Linken. So traf er den ersten, den zweiten, auch den dritten der Indianer. Der vierte war jedoch so nahe, daß er den Arm nicht mehr ausstrecken konnte, um zu zielen. Er setzte dem Indianer die Waffe auf die Brust und drückte ab. Der Revolver zersprang, aber der Indianer sank nieder.

Edmond konnte sich sagen, daß er für den Augenblick genug getan hatte. Er trat in die Hütte und lud seine Büchsen. Inez stand in einer Ecke mit abgewandtem Gesicht; ihre Dienerinnen waren um sie beschäftigt. Jetzt war keine Zeit zum Sprechen, das fühlte Edmond. Draußen krachten die Schüsse, tönte der wilde Ruf der Kämpfenden. Als Edmond seine Waffen wieder geladen hatte, trat er wieder vor. Der zerspringende Revolver hatte ihm die rechte Hand ein wenig verletzt, doch keinen Finger unbrauchbar gemacht.

Weiße und Indianer schlugen sich auf den Dächern, in den Hütten und auf dem Platze. Edmond sah deutlich, daß der Hauptkampf sich um Alfonso, den schönen, schlanken jungen Fremden und den älteren Herrn, der wohl der Vater Alfonsos sein konnte, gruppiert hatte. Dort hielten ungefähr zwanzig Weiße fest zusammen und häuften einen Wall von Toten um sich. Andere Weiße schossen von den Dächern auf die Indianer.

Wen sollte Edmond unterstützen? Er konnte jetzt kaum mehr schießen, ohne fürchten zu müssen, auch einen Weißen zu treffen. Mit militärischem Blick überschaute er das Terrain und kam zu der Ansicht, daß Inez und ihre Begleiter in einer Hütte am Rande des Dorfes sicherer sein würden, als in der Hütte mitten auf dem Platze. Befanden sich die Frauen in einer solchen Hütte an der Ecke, so konnten die Weißen alle ihre Kräfte um diesen Zufluchtsort konzentrieren und den Indianern geschlossenen Widerstand leisten. Mehr noch, die Hütte konnte durchbrochen und den Frauen die Flucht nach außen gesichert werden, während die Männer im Innern weiter kämpften. Ja, selbst für die Weißen bot sich dann eine Rückzugslinie.

Edmond ging also zu Inez und ihren Begleitern und teilte ihnen seinen Plan mit. Sie waren mit allem einverstanden. Edmond zeigte ihnen den Weg, den sie zu nehmen hätten, um möglichst unbemerkt nach der Hütte, die er bezeichnet hatte, zu gelangen, und begleitete sie eine Strecke weit, seine Waffen im Arm, um jeden Indianer, der sich nähere, niederzuschießen. Dann bat er den einen Diener, ein Tuch an der Tür der Hütte zu befestigen, damit die Weißen ein Zeichen hätten, wenn ihnen die Hütte als Sammelplatz bezeichnet werde.

Der Plan gelang. Die Indianer mochten wohl bemerken, daß ihre Gefangenen nach jener Hütte gingen, aber in der Hitze des Kampfes konnten sie nicht daran denken, sie zu hindern. Inez und ihre Begleiter erreichten die Hütte, und der Diener befestigte an der oberen Ecke der Tür ein rotes Tuch. Jetzt hielt Edmond den Augenblick für gekommen, um auch seinerseits am Kampfe wieder teilzunehmen. Er suchte sich eine Stellung, von der aus er auf die Indianer zielen konnte, ohne befürchten zu müssen, auch Weiße zu treffen, und feuerte seine vier Schüsse ruhig und sicher hintereinander ab. Daß sie gewirkt hatten, verriet ihm das Hurrageschrei der Weißen und ihr Vordringen nach der Seite, auf der sich Inez befand. Die Reihen der Indianer waren durchbrochen. In einem wirren Knäul kämpfend, zogen sich Rote und Weiße nach jener Seite hin.

Edmond suchte auf einem Umwege zuerst die Hütte zu erreichen. Die Indianer, die jetzt die ganze Gefährlichkeit dieses Feindes erkannt hatten, schickten ihm einige Kugeln zu, aber keine traf. Edmond rief und winkte jetzt mit aller Gewalt. »Das rote Tuch! Das rote Tuch!« rief er, und bald wiederhallte der Ruf: »Das rote Tuch!« unter den Weißen und gab ihnen die Richtung an. Nach wenigen Minuten war der erste Weiße neben Edmond vor der Tür der Hütte, dann langte ein ganzer Schwarm an, unter ihnen Alfonso und seine Begleiter.

»Die Dächer der Hütten besetzt!« rief Edmond. »Keinen heranlassen! Wir bleiben in der Hütte und schießen durch die Wände!«

»Aber wenn sie Feuer anlegen!« rief Alfonso, der nicht einmal Zeit fand, seinem Freunde die Hand zu drücken, da er mit Laden beschäftigt war.

»Dann werden wir sie zu hindern wissen!« antwortete Edmond.

»Er hat Recht!« rief der ältere Herr, in die Hütte zu Inez eilend. »Folgt seinem Rat!«

»Ich bleibe draußen, auf dem Dache der Nebenhütte!« rief Edmond. »Geht Ihr hinein, verbarrikadiert die Tür und schneidet Schießscharten in die Wände. Wir wollen hier draußen schon dafür sorgen, daß Euch keiner zu nahe kommt. Hierher! Hierher!« fügte er dann mit lautem Rufen hinzu, denn eine Anzahl Weißer versuchte sich durch die Indianer hindurchzudrängen und fand keinen Weg. »Hierher! Auf die Dächer!«

Er eilte mit zehn Begleitern in die Hütte neben Inez und besetzte das Dach. Inzwischen war es fast allen Weißen gelungen, sich durchzuschlagen, und alle eröffneten nun ein furchtbares Feuer auf die Indianer, um die wenigen weißen Brüder zu retten, die, von den Rothäuten gehetzt, sich vergebens mit der Hauptschar zu vereinigen suchten. Dieses Feuer aus ungefähr vierzig Büchsen wirkte so entsetzlich, daß die Indianer wie betäubt zurückwichen und die Versprengten Zeit fanden, sich nach dem Sammelplatz zu retten.

Auf diese Weise war Edmonds Zweck erreicht, einen Stützpunkt gegen die Indianer zu gewinnen.

Aufatmend überschaute Edmond den Kampfplatz. Er zahlte mehr als zwanzig tote Indianer. Die Hälfte war von seiner Hand gefallen. Vier Weiße waren getötet, andere schwer verwundet; aber die Verwundeten hatten sich nach der Ecke zu flüchten gewußt und ein Arzt verband jetzt ihre Wunden. Edmonds Anzug bot einen grausigen Anblick, denn das Blut der verletzten Hand hatte ihn von oben bis unten befleckt. Jetzt hatte die kleine Wunde zu bluten aufgehört, und Edmond verband sie mit einem Stück weicher Leinwand.

»Immer Achtung, Achtung!« sagte Edmond, als einige von den Angeworbenen Alfonsos Miene machten, sich einer kurzen Ruhe hinzugeben – denn von den Indianern war in diesem Augenblicke gar nichts zu sehen.

»Wir können den Rothäuten nicht trauen. – Sie sind ein Freund der Familie Toledo?« wandte er sich dann in französischer Sprache an den jungen Mann mit dem blonden Haar, der ihm auf das Dach gefolgt und jetzt mit großer Sorgsamkeit den Doppellauf seiner schönen Büchse reinigte.

»Ich hoffe es!« versetzte der junge Mann freundlich und offen. »Und Sie sind ohne Zweifel Monsieur de Tréport, dessen Verlust Monsieur Alfonso so schmerzlich beklagte?«

»Ich bin es. Wann haben Sie sich mit Alfonso vereinigt?« fragte der Kapitän.

»Heute morgen. Wir beschlossen sogleich den Angriff, denn wir fürchteten, daß das Gemetzel der Nacht die Indianer gegen die Gefangenen erbittert habe. Doch – was ist das?«

Ein Geheul, wie von einem Rudel verhungerter Wölfe, tönte vom Dorfe herüber. Es war ohne Zweifel ein Jubelgeschrei. Auf stattlich geschmückten Pferden, Büchsen und Lanzen schwingend, sprengten mehr als vierzig Indianer bis ungefähr auf Schußweite vor und erhoben drohend ihre Waffen. Dann sprengten sie nach der anderen Seite ab. Ein zweiter Haufen, ein dritter, ein vierter folgten. Es mochten im ganzen 150 Reiter sein. Viele führten Handpferde bei sich, die von den Weißen sofort als die eigenen Pferde erkannt wurden.

Die Apaches hatten also durch einen befreundeten Stamm Hilfe erhalten.

Lautlos standen die Weißen. Es waren ihrer ungefähr 40. Sie hatten jetzt über zweihundert Indianer gegen sich. In ihrer festen Stellung hatten sie freilich für den Augenblick nichts zu fürchten. Aber wie später? Wo sollten sie Lebensmittel hernehmen? Wie sollten sie sich im besten Falle durch diese Reiter hindurchschlagen, ihnen entfliehen?

Die Lage war durch diesen unseligen Zufall verzweifelt geworden. Das sah jeder ein. Mit finsterem Schweigen, ihre Büchsen im Arme, blickten die Weißen nach der Mitte des Dorfes, wo die Indianer sich begrüßten und die von den Fremden mitgebrachten Feuerwasserflaschen von Mund zu Mund gingen.

»Also Sie sind überzeugt, daß es Ihre Pferde waren, die von jenen Rothäuten geführt wurden?« fragte Edmond den jungen Mann.

»Ohne Zweifel. Ich erkenne sie. Wir hatten sie unter dem Schutz von drei Mann zurückgelassen.«

»Dann haben wir keine Aussicht auf Flucht!« sagte Edmond düster. »Kommen Sie, lassen Sie uns mit unseren Freunden sprechen. Für den Augenblick haben wir keinen Angriff zu befürchten.«

Er besprach sich mit einem älteren Manne, der ihm Zutrauen einflößte, gab den Rat, wenn die Indianer sich nahten, ganz ruhig und sicher zu schießen und jeden einzeln aufs Korn zu nehmen. Dann ging er mit dem blonden jungen Mann die Treppe hinab und klopfte an die Hütte, in der sich Alfonso befand.

Dieser öffnete ihm sogleich und warf sich dem Freunde stumm in die Arme. Inez stand mehr in der Mitte der Hütte, gestützt auf den Arm eines Mannes, der ohne Zweifel ihr Vater war – eine schlanke Gestalt, die lebhaft an Alfonso erinnerte, mit etwas blassem Gesicht, das den Ausdruck großer Milde, Ruhe und Besonnenheit, aber auch bedeutender Energie trug. Don Lotario und Alfonso waren beide verwundet, Lotario am Arm, Alfonso am Fuß, doch schienen die Wunden nicht gefährlich.

»Dies ist mein teurer, teurer Freund Edmond de Tréport!« rief Alfonso dann, und führte Edmond zu seinem Vater. »Er wollte die Gefahren dieses Kampfes mit mir teilen und hat allein den größeren Teil davon auf sich nehmen müssen. Wollte Gott, ich könnte ihm mit froherem Herzen danken!«

Don Lotario trat auf Edmond zu und umarmte ihn zärtlich, wie einen Sohn.

»Welch seltsames, fast trauriges Geschick, daß ich den Sohn eines mir so werten Mannes in einer indianischen Hütte treffen muß!« sagte er mit bewegter Stimme. »Sie haben uns bereits unschätzbare Dienste geleistet; ohne Sie wäre es uns vielleicht unmöglich gewesen, uns mit Inez zu vereinigen.«

Edmond trat auf Inez zu. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Edmond beugte sich nieder und küßte lange und innig ihre Hand.

»Edmond, denkst Du nicht, daß wir leicht mit den Indianern fertig werden?« rief Alfonso.

»Nein, teurer Freund! So weißt Du noch nicht, daß sie jetzt um 150 Mann stärker sind?«

Alfonso und Don Lotario starrten ihn voller Ueberraschung und Schrecken an.

»Also das bedeutete das höllische Jubelgeschrei dieser Bestien!« sagte er dann. »Aber sollte es nicht wenigstens möglich sein, uns bis zu unseren Pferden durchzuschlagen?«

»Ihre Pferde sind den fremden Indianern auf ihrem Zuge hierher in die Hände gefallen,« antwortete Edmond. »Dieser Herr hier« – er deutete auf den blonden jungen Mann – »hat sie erkannt.«

Es trat ein Stillschweigen der Ratlosigkeit ein.

»Wir müssen unterhandeln!« sagte Don Lotario. »Wir müssen das äußerste versuchen, einen Kampf zu vermeiden, der jetzt allzu ungleich geworden ist. Doch, Herr Kapitän, Sie kennen Ihre neuen Kriegsgefährten noch nicht – Mr. Conningham, ein Freund unseres Hauses, der sich edelmütig unserem Zuge angeschlossen hat und sich gewiß auch bald Ihre Zuneigung gewinnen wird, vorausgesetzt, daß wir Zeit haben, uns noch mit so schönen irdischen Dingen zu beschäftigen.«

»Hoffen Sie, daß nach den erbitterten blutigen Kämpfen, die wir bestanden haben, noch eine gütliche Unterhandlung möglich sein wird?« fragte Edmond.

»Wie mir meine Tochter mitteilte, ist Wilhamenu tot oder sehr schwer verwundet – durch Ihre Hand,« antwortete Don Lotario. »Ihm war es hauptsächlich darum zu tun, die Gefangenen festzuhalten, bis er seinen Zweck, die Befreiung seines Vaters, erreichte. Den anderen Indianern liegt weniger an unseren Personen; ich gebe also die Hoffnung nicht auf, daß eine friedliche Einigung möglich sei. Wir werden Litawano hinaussenden, um anzufragen, ob die Apaches zu einer Unterhandlung bereit sind.«

»Ich sehe Heikaou nicht bei Dir,« sagte Alfonso.

»Mein Führer starb unterwegs, und vielleicht habe ich es nur diesem Unglücksfall zu danken, daß ich so bald mit Euch vereinigt worden bin,« antwortete Edmond.

»Wir wollen diesen Tod dem Sohne noch eine Zeitlang geheim halten,« sagte Alfonso. »Seine religiösen Ueberzeugungen könnten ihn sonst vielleicht bestimmen, uns zu verlassen, und doch bedürfen wir seiner notwendig. Ich will mit Dir auf das Dach der nächsten Hütte steigen und von dort aus die Indianer beobachten. Wahrscheinlich finden wir inzwischen Zeit, uns zu erzählen, was seit unserer Trennung geschehen ist. Mein Vater wird unterdessen die Anordnungen wegen der Unterhandlung mit Litawano verabreden.«

Die beiden jungen Männer verließen die Hütte, Edmond begleitet von einem ausdrucksvollen Blick Inez. Oben auf dem Dache der Nebenhütte umarmte Alfonso den wiedergefundenen Freund noch einmal mit stürmischer Herzlichkeit.

»O, Du weißt nicht,« rief er, »was ich erduldet, welche Vorwürfe ich mir darüber gemacht habe, daß ich mich von Dir trennte! Ich konnte mir denken, daß Du in der Prärie herumirrtest, oder daß Dir noch Schlimmeres geschehen sei. Aber als Litawano an jenem Morgen kam und mir die bestimmte Nachricht brachte, daß Inez von Wilhamenu geraubt worden sei, daß der Indianer nur von wenigen seiner Genossen begleitet sei und daß es also vermutlich leicht sein werde, ihm seine Beute zu entreißen, da hielt ich jede Sekunde Zögerung für eine Sünde und glaubte ganz in Deinem Sinne zu handeln, wenn ich sofort aufbräche. Ich war überzeugt, daß Dich Heikaou sicher nach dem Lago Santa Maria geleiten werde. Litawano hatte erfahren, daß der Apachenhäuptling Inez und ihre Begleiter zuerst nach einem entlegenen Dorfe in der großen Sierra geführt und dort eine Zeitlang verborgen gehalten habe, daß aber Streitigkeiten zwischen ihm und den benachbarten Indianern entstanden seien, und daß er Inez deshalb nach seinem eigenen Pueblo führen wolle, der ungefähr auf dem halben Wege zwischen dem Lago Santa Maria und der nördlichen Grenze liegt. Unterwegs hofften wir ihn zu finden und unversehens greifen zu können. Unsere Pferde hatten durch den Durst und den Mangel an Futter gelitten, daß sie am letzten Tage nur noch dahinschlichen. Wir erreichten also die Nachbarschaft des Pueblo erst in später Nacht und lagerten unter einer Baumgruppe, um uns den Blicken der Indianer zu verbergen und abzuwarten, bis unsere Pferde, die hier Wasser und Weide fanden, sich erholt hätten. Dort unter jenen Bäumen lagerten wir.«

Er deutete nach dem Osten auf eine der Baumgruppen, die sich hin und wieder aus dem unebenen Boden erhoben. Ein Zuruf von unten ließ ihn seine Erzählung unterbrechen. Es war Litawano, der ein weißes Tuch in der Hand trug, also wahrscheinlich zum Unterhandeln ging. Alfonso wechselte einige Worte in indianischer Sprache mit dem Indianer, dann wandte er sich wieder zu Edmond.

»Litawano ist beunruhigt wegen seines Vaters, den er nicht bei Dir sieht,« sagte Alfonso. »Ich habe ihm jedoch gesagt, wir wüßten noch nicht genau, bei welcher Gelegenheit Ihr Euch getrennt hättet. Also – wir erreichten unseren Zweck. Unsere Pferde konnten sich ausruhen und wir blieben bis gegen Mittag von den Indianern unentdeckt. Dann aber sahen wir einzelne Späher in unserer Nähe. Wir prüften unsere Waffen, gaben unseren Pferden Brot, das wir in Branntwein getaucht hatten, und rüsteten uns auf alle Fälle. Es war meine Absicht, in Güte mit Wilhamenu zu unterhandeln, aber für den Fall seiner Weigerung sofort Gewalt anzuwenden. Inez sollte auf jeden Fall aus ihrer bedenklichen Lage befreit werden. Nach einiger Zeit sahen wir denn auch eine Schar von ungefähr dreißig Indianern zu Pferde das Dorf verlassen und auf uns zureiten. Ich sandte ihnen Litawano entgegen, der Wilhamenu auffordern sollte, meine Schwester und ihre Begleiter sogleich freizugeben, ich sei bereit, ihm ein Lösegeld von tausend Dollars zu bezahlen. Der Häuptling der Apachen ließ mir antworten, daß er die gefangene Weiße nicht eher von sich lasse, als bis sein Vater befreit worden sei; ich solle diese Befreiung schnell herbeiführen, dann werde mir die Gefangene sofort ausgeliefert werden. Darauf ließ ich ihm sagen, ich würde alles, was in meinen Kräften stände, tun, um seinen Vater aus dem Gefängnis zu befreien, aber auf die Bereitwilligkeit der mexikanischen Behörden in Chicuahua könnten wir nicht warten, darüber möchte meine Schwester vor Gram sterben. Außerdem ließ ich ihm sagen, daß seine Gefangene die Tochter Don Lotarios de Toledo sei, eines Mannes, dem sämtliche Comanches, Apaches und Navajoes Frieden und Freundschaft gelobt hätten, auch sein eigener Vater, und daß er sich darauf gefaßt machen könne, sehr hart bestraft zu werden, wenn er die Gesetze der Freundschaft verletze. Die Antwort, die Litawano zurückbrachte, lautete ebenso wenig befriedigend, wie das erstemal.

Aus alledem erriet ich wohl, daß der Indianer kampflustig sei und die Hoffnung hege, daß wir in alle seine Bedingungen willigen würden, sobald wir geschlagen seien. Meine Mexikaner, die Litawanos Botschaften gelauscht hatten und überdies vor Begierde brannten, ihre neuen gezogenen Büchsen zu probieren, murrten laut auf, und einer von ihnen legte an und schoß nach den weit entfernten Indianern, in dem Glauben, seine Büchse werde nicht so weit tragen. Aber gerade dieser Schuß traf und tötete sogar einen Indianer.

Nun war natürlich kein Halten mehr. Unsere Mexikaner jubelten laut auf, die Indianer kamen mit ihrem Kriegsgeheul herangesprengt, und da ich begriff, daß es sich um unser Leben handele, so gab ich den Befehl, zu feuern. Drei Indianer fielen, ein paar andere blieben zurück. Wir postierten uns dann hinter die Bäume, wo wir schon am Morgen eine Art Verhau angelegt hatten, und schossen uns nun mit den Indianern herum, die es nicht wagten, uns Mann gegen Mann anzugreifen. Sie sahen bald ein, daß sie in diesem Kampf den Kürzeren ziehen müßten und ritten endlich zurück, mit fünf Toten, wenn ich nicht irre.

Ich sagte mir, daß ich jetzt für Inez' und ihrer Begleiter Leben zu fürchten habe, denn die Rachsucht der Indianer war gereizt, und es blieb zweifelhaft, ob Wilhamenus Wunsch, den Vater zu befreien, über seine Begierde nach dem Blute der Gefangenen siegen werde. Ich hielt deshalb mit meinen Mexikanern einen Kriegsrat, und siegestrunken jauchzten sie meinem Vorschlage zu, in der Nacht einen Angriff auf das Indianerdorf zu machen. Wir hofften, schnell in den Pueblo eindringen, Inez und ihre Begleiter zu befreien und uns dann zurückziehen zu können. Da Du, wovon ich freilich keine Ahnung hatte, Dich in dem Pueblo befandest, so weißt Du, daß dieser Angriff mißlang. Wir fanden die Indianer auf der Hut und verloren nach einem hitzigen Gefechte drei Mann, zwei waren tot und einer schwer verwundet, der heute morgen starb. Dies stimmte unsere Siegeszuversicht freilich sehr herab, und ich hätte viel darum gegeben, noch einmal mit Wilhamenu unterhandeln zu können, aber Litawano weigerte sich, nach dem, was vorgefallen, die Vermittlerrolle zu übernehmen. Er fürchtete für sein Leben, und wohl nicht mit Unrecht, denn die Apaches sind gegen jede Rothaut erbittert, die sich den Weißen anschließt.

Da entdeckten wir heute morgen einen ansehnlichen Trupp Reiter, der ungefähr eine Viertelstunde von uns entfernt nach Süden zog. Durch mein Fernrohr erkannte ich, daß es Weiße seien, und im Sturm ritten wir ihnen nach. Es war mein Vater, mit einer Schar von ungefähr vierzig wackeren Männern, unter ihnen der junge Conningham, den ich noch nicht kannte, und über den ein gewisses Geheimnis zu schweben scheint, den ich aber bereits als einen redlichen, treuen und tapferen Burschen schätzen gelernt habe.

Mein Vater hatte in der fieberhaften Hast, in der er den Brief an mich abgesendet, den Namen der beiden Presidios verwechselt und uns nach dem Presidio del Norte bestellt, während er das Presidio del Rio Grande del Norte meinte, oder richtiger, er hatte den letzteren Namen abgekürzt und statt Presidio del Rio Grande del Norte – wie das Fort auch genannt wird – in der Hast Presidio del Norte geschrieben. Dadurch kam es, daß wir ihn verfehlten; wir sind aneinander zwischen den beiden Presidios vorübergeritten. In dem südlichen Presidio erfuhr er, daß wir dort bereits gewesen waren, und nun brach er sogleich nach Norden auf, erhielt Deine Mitteilung vom Kommandeur des Presidio del Norte und machte sich in höchster Eile auf den Weg nach dem Lago Santa Maria. Der Zufall, den ich nicht hoch genug preisen kann, fügte es, daß er seinen Weg etwas zu sehr nördlich nahm und dadurch in unsere Nähe geführt wurde.

Ich teilte ihm alles mit und überzeugte ihn bald, daß Unterhandlungen Wilhamenu nicht mehr zur Herausgabe meiner Schwester bestimmen würden. Er kennt die Indianer genauer, als irgendein anderer Weißer in diesen Gegenden, und stimmte mir darin bei, daß wir jetzt eine Überrumpelung des Dorfes versuchen müßten. Wir ließen unsere Pferde unter der Obhut zweier Mexikaner in dem Gehölz zurück und näherten uns, mit einigen Leitern versehen, meistenteils kriechend, durch eine niedrige Schlucht dem Dorfe bis auf wenige hundert Schritte Entfernung. Das weitere weißt Du! Das Herz stand mir still vor Freude, als ich Dich plötzlich inmitten des Dorfes wohlbehalten und für uns kämpfend erblickte!«

Sie drückten sich die Hand. Es war hohe Zeit, daß Alfonso seine Erzählung beendete, denn bereits kam Litawano von der Mitte des Dorfes zurück.

Alfonso und Edmond stiegen eilig hinab, um zu erfahren, was die Apaches geantwortet hätten. Doch wurden die Vorsichtsmaßregeln darüber nicht vergessen, und Don Lotario, Alfonso, Edmond und Mr. Conningham hörten den Bericht des Indianers draußen vor der Tür der Hütte stehend an, wo sie nach allen Seiten um sich blicken konnten.

Litawano erzählte, daß man ihn zuerst gar nicht hören wollte. Die Erbitterung der Indianer sei grenzenlos, Wilhamenu sei tot, das Dorf zähle nur noch die Hälfte seiner Krieger. Man sei entschlossen gewesen, die Weißen zu umzingeln und sämtlich zu töten. Da die meisten Indianer vom Feuerwasser berauscht seien, so habe er sich zuerst mit ihnen gar nicht verständigen können; einige alte Häuptlinge aber, die nüchtern geblieben waren, schenkten ihm Gehör, namentlich, als sie hörten, daß es sich um eine Tochter Don Lotarios de Toledo handle. Man verlange also von den Weißen hundert Feuerwaffen nebst Munition, ebenso viel Gallonen Feuerwasser, außerdem eine Anzahl näher zu bestimmender Waffen und Schmucksachen, schließlich aber drei Weiße, die dem erzürnten Gotte der Rothäute als Opfer fallen müßten. Diese drei Weißen sollten die Blaßgesichter unter sich durch das Los wählen. Litawano fügte hinzu, daß man zuerst ganz bestimmt Edmond als das eine zu verlangende Opfer bezeichnet habe, jedoch davon abgestanden sei, da andere Indianer erklärt, daß Wilhamenu im ehrlichen Kampf besiegt und getötet worden.

Es konnte nicht die Rede davon sein, auf diese Bedingungen einzugehen. Litawano wurde noch einmal abgeschickt. Inzwischen berieten die vier Männer, unter Hinzuziehung einiger Verwalter und Diener Don Lotarios, was im Falle eines neuen Angriffs geschehen solle. An Flucht war nicht zu denken, da die Pferde geraubt waren. Hilfe herbeizuholen, erschien ebenso unsicher, denn das Presidio del Norte sowohl wie El Paso del Norte, ein Fort hart an der Grenze der Union und des mexikanischen Gebiets, waren ungefähr dreißig deutsche Meilen entfernt. Es gab keinen Ausweg. Der Kampf mußte aufgenommen und zurückgeschlagen und alsdann, wenn die Indianer mürbe geworden, ein neuer Vermittlungsversuch gemacht werden.

Nun galt es schnell Verteidigungsmaßregeln zu treffen. Zuerst wurden die Wände der Hütte, in der sich Inez befand, nach allen Seiten durchhauen, so daß sie mit den nebenstehenden Hütten zusammenhing. Dann riß man zwei der benachbarten Hütten ein und erbaute aus ihnen ein Bollwerk, das die drei in der Ecke liegenden Hütten als erste Schutzwehr zu decken bestimmt war. Jeder Mann erhielt seinen bestimmten Posten. Die Kämpfer wurden gezählt; es waren ihrer noch vierunddreißig, die Waffen führen konnten. Die meisten trugen zwei Doppelbüchsen, einzelne sogar drei, da sie dafür gesorgt hatten, die Büchsen der im Kampfe bereits gefallenen Weißen an sich zu nehmen. So gebot man über ungefähr 140 Schüsse, und wenn die Weißen nicht den Kopf verloren, so konnten sie die Indianer, wenn sie auch im wildesten Anlauf heranstürmten, niederschmettern wie Hagel ein Maisfeld.

Aber wenn die Indianer nicht angriffen, wenn sie durch Hunger zu erreichen suchten, daß man ihre Bedingungen erfülle? Dann gab es keine Hilfe. Freilich reichte der Mundvorrat, den sämtliche Weiße bei sich führten, höchstens bis auf den folgenden Morgen.

Litawano brachte das zweite Mal keine bessere Nachricht. Die Indianer beständen auf ihren Totenopfern, drei Weiße müßten ihnen ausgeliefert werden. Sie wollten keinen anderen Vorschlag hören. Litawano war bedeutet worden, daß man ihm den Kopf spalten werde, wenn er ohne die Zusage wiederkäme.

Die Indianer schienen es mit einem erneuten Angriff durchaus nicht eilig zu haben. Sie überließen sich noch der Freude über den Zuzug, der ihnen gekommen und der ihnen den Sieg sicherte. In dieser Freude konnten sie die großen Verluste, die sie erlitten, allerdings vergessen. Wenige Wachen genügten, um die Weißen zu beaufsichtigen, die, ihrer Pferde beraubt, vollkommen der Willkür der Uebermacht preisgegeben waren.

Ob es möglich sei, sich durch die Indianer durchzuschlagen, sich der Pferde zu bemächtigen und zu fliehen – dieser Fall wurde von den Bedrängten mehrfach erörtert. Aber er bot zu große Gefahren. Das Sicherste erschien immer, den Angriff der Indianer zu erwarten, ihn abzuschlagen und dann neue Unterhandlungen anzuknüpfen.

So gingen mehrere trübe Stunden hin und es ward Nachmittag. Edmond suchte Inez und fand sie tiefbetrübt. Sie klagte sich als die Ursache alles Unheils an. Da sie in New Orleans erfahren, daß der Landweg durch Texas sehr unsicher und sowohl von Unions- als Rebellen-Truppen und, was noch schlimmer war, von Marodeurs beider Parteien gefährdet war, so hatte sie sich mit keckem Mut zur Reise nach Matamoras und stromaufwärts bis in die Gegend des Presidio del Norte entschlossen. Sie wußte, wie gut ihr Vater mit den Indianern stand, sie sprach selbst die Sprache der Comanches – vor was hätte sie sich also fürchten sollen? Dennoch machte sie sich selbst die bittersten Vorwürfe und befand sich in einer Aufregung, die für ihre Gesundheit fürchten ließ. Sie mußte fürchten, daß ihr in einem neuen Kampfe der Vater, der Bruder oder der Geliebte entrissen würde, und der Gedanke, daß sie an allem Unglück schuld sei, mußte ihr beständig vorschweben. Edmond suchte sie zu trösten und zu beruhigen, und es gelang ihm wenigstens, ihr Tränen zu entlocken, die ihr bis dahin gefehlt hatten und die sie zu erleichtern schienen.

Es war verabredet worden, daß der erste, der etwas Verdächtiges bemerke, das Signal mit einem Revolverschusse geben solle. Dieser Schuß ertönte jetzt. Edmond riß sich von Inez los und eilte auf seinen Posten. Ihm war die Verteidigung der einen Hütte anvertraut; auf dem Dach der Hütte, in der Inez sich befand, kommandierte Alfonso, auf dem Dach der dritten Hütte Mr. Conningham. Don Lotario de Toledo blieb im Innern der mittleren Hütte bei seiner Tochter.

Als Edmond auf seinem Posten anlangte, sah er sogleich, um was es sich handelte. Die Indianer trafen Vorbereitungen zum Angriff, und zwar, da sie sich über die Widerstandskraft der Weißen nicht täuschen konnten, in einer vorsichtigen Weise, die sich merkwürdig von ihrer sonst so ungestümen Art des Angriffs unterschied. Sie errichteten aus dünnen Holzstämmen und Reisig eine Art Gitter- und Flechtwerk, groß genug, daß ungefähr zehn Indianer sich dahinter verstecken konnten. Derartige Schanzgeflechte bemerkte Edmond sieben. Es konnten sich also ungefähr siebzig Indianer dem Bollwerk der Weißen nähern, ohne allzu große Verluste zu erleiden. Die Ueberlegenheit der Feuerwaffen der Weißen wurde dadurch größtenteils zunichte gemacht. Edmond, Alfonso und Mr. Conningham berieten darüber, ob sie nicht jetzt schon den Indianern zuvorkommen und unter sie feuern sollten. Aber die Indianer konnten dann ihr Flechtwerk anderswo vollenden und ihre Erbitterung mußte steigen. Dagegen wurde ein anderer Vorschlag gemacht und angenommen. Jeder der Weißen entledigte sich eines Teiles seines Pulvervorrats. Das Pulver wurde fest zusammengedrückt und in einen Kasten getan, den man in der Hütte vorfand. Diesen Sprengkasten brachte man unter dem Bollwerk vor den Hütten an und streute einen laufenden Zünder über den Erdboden bis zu der einen Hütte. In dem Augenblick, wo die Indianer das Bollwerk betraten und überschritten, sollte die Mine angezündet werden.

Die Indianer hatten bald ihr Flechtwerk vollendet. Nun füllten sich die Dächer der Hütten mit Weibern, die lautes Geschrei ausstießen, und in der Mitte des Dorfes wimmelte es von Indianern, von denen jedoch, wie man bald bemerken konnte, nur ungefähr die Hälfte mit einläufigen, altmodisch gebauten Feuerwaffen versehen war. Die von den Apaches, die zu dem ersten Angriff ausersehen waren, stellten sich hinter ihre Geflechte und trugen sie vor sich her. Auf diese Weise näherten sie sich langsam.

Noch war kein Schuß von beiden Seiten gefallen. Jetzt aber mußte der drohenden Gefahr ernster Widerstand geleistet werden. Auf die Indianer hinter dem Flechtwerk zu schießen, hätte nicht viel genutzt. Die Weißen richteten also ihre weittragenden Büchsen auf die sich noch ganz ruhig verhaltenden Indianer bei den Hütten in der Mitte des Dorfes und schossen zu gleicher Zeit. Das Geschrei und Wutgeheul, sowie das Verschwinden sämtlicher Indianer – die zwanzig ausgenommen, die tot oder verwundet auf der Erde lagen – verrieten die furchtbare Wirkung dieser Salve. Selbst die Indianer hinter dem Flechtwerk stutzten, als sie sich so plötzlich allein sahen. Dann aber rückten sie abermals vor. Das Kommando war gegeben: Man sollte die Indianer bis zum Bollwerk vordringen lassen, dann die Mine sprengen und die Ueberlebenden niederschießen. Ehe hierauf ein zweiter Angriff geschah, konnte das Bollwerk wieder ausgebessert werden.

Eine furchtbare Spannung hatte sich der Weißen bemächtigt. Kaum atmend, die Büchsen im Arm, standen sie da. Das Herannahen der sieben Schanzen hatte etwas grauenhaft Peinigendes. Selbst die Indianer schienen es zu fühlen und dieser Spannung schnell ein Ende machen zu wollen. Sie nahten sich schneller. Zwei der Geflechte schlugen um und ihre Träger stürzten in einem wirren Knäuel übereinander. Auch dieser Fall war vorgesehen, und von den Fallenden erhoben sich nur wenige, um in wilder Flucht ihr Heil zu suchen, denn zwanzig Büchsen richteten sich sofort auf sie und schütteten ihren tödlichen Hagel über sie aus. Aber die anderen Geflechte rückten vor. Jetzt erreichten sie das Bollwerk – und schon erschienen auch bei den Hütten die zurückgebliebenen Indianer, noch immer hundert Mann stark, um ihnen zu folgen, sobald das Bollwerk überschritten – jetzt warfen sie die Geflechte nieder, um über die Balken zu springen – – da flammte die Mine mit einem dumpfen Krachen auf, die Splitter flogen über die Weißen fort, ein schwarzer Qualm lagerte sich über das Bollwerk und furchtbares Geschrei drang aus ihm hervor. Dann sahen die Weißen nichts mehr von dem Bollwerk, nichts mehr von dem Dorfe und dem Hauptkorps der Indianer, denn eine einzige dichte Rauchmasse lag vor ihnen. Keiner, der nicht bleich geworden war. Mit verhaltenem Atem starrten sie in den Qualm, der sich langsam auf der Erde fort und dann nach oben wälzte. Wenn die Indianer nicht durch den Schrecken betäubt waren und sich jetzt nahten, so waren die Weißen verloren.

Es war fast eine Erleichterung für alle Herzen, als jetzt einige Schüsse fielen. Sie waren auf die Indianer am Bollwerk gerichtet, die jetzt aus dem Qualm auftauchten. Eine Sekunde darauf fuhr ein frischer Windstoß, der Vorbote des Abends, durch den Qualm. In tödlich banger Erwartung suchten die Blicke der Weißen durch den zerrissenen Schleier des Pulverdampfes zu spähen. Sie sahen ungefähr dreißig bis vierzig Indianer zerrissen, verwundet, verbrannt über oder unter den Balken liegen. Die anderen waren entweder geflohen oder durch die Büchsen der Weißen getötet. Nur einer stand starr und aufrecht, wie durch ein Wunder dem Tode entgangen, mitten in der Verwüstung. Er regte sich nicht, er schien den Verstand verloren zu haben. Keine Büchse richtete sich auf ihn. Man schien durch eine stumme Verständigung übereingekommen zu sein, diesen Menschen, der so wunderbar gerettet worden, zu verschonen. Plötzlich stieß der Indianer einen schrillen, durch Mark und Bein dringenden Schrei aus und stürzte wie wahnsinnig fort.

»Was ist das?« sagte endlich Edmond, schwer aufatmend. »Sieht es nicht beinahe aus, als befände sich ein Weißer mitten zwischen den Apaches?«

»Ja, es scheint so – es ist so!« rief man ihm von allen Seiten zu.

Bestimmt ließ es sich noch nicht erkennen. Die Indianer, auf einen Haufen stumm zusammengedrängt, umgaben irgend jemand in ihrer Mitte, aber wer es war, ließ sich noch nicht erkennen. Alfonso war von seinem Dach zu Edmond herübergekommen und starrte mit dem Freunde zugleich nach dem Indianerhaufen hinüber.

»Was ist? Was seht Ihr?« rief Don Lotario de Toledo, der aus der Hütte getreten war.

»Komm herauf, Vater!« bat Alfonso. »Es muß dort irgendetwas Seltsames geschehen.«

Der Vater kam herauf.

»Gib mir Dein Fernrohr,« sagte er erregt zu Alfonso. »Ich muß Gewißheit haben!«

Er nahm hastig das dargereichte Glas und blickte hindurch. Drüben lichtete oder verschob sich der Indianerhaufen ein wenig. Auch für die unbewaffneten Augen wurde ein Mann mit weißem Haar und Bart bemerkbar.

»Gott sei gelobt und gedankt!« rief Don Lotario mit heller, aber zitternder Stimme. »Er ist es! Wir sind gerettet!«

Er gab das Fernglas seinem Sohne zurück und schickte sich an, ohne ein Wort weiter zu sagen, die Treppe hinabzusteigen. Edmond, Alfonso und Mr. Conningham – der ebenfalls herbeigekommen war – blickten ihm erstaunt nach. Als sie aber bemerkten, daß er nicht zu Inez ging, sondern ganz allein den Weg nach der Mitte des Dorfes einschlug, folgte ihm Alfonso und rief bestürzt:

»Was tust Du, Vater? Wir lassen Dich nicht allein gehen, ich begleite Dich!«

»Bleib' nur!« antwortete Don Lotario und sein Auge glänzte fromm und freudig. »Wir sind gerettet.«

»Aber wer ist gekommen!« rief Alfonso staunend.

»Der, dessen Namen wir nächst dem Gottes und des Erlösers mit der größten Ehrfurcht nennen!« erwiderte der Vater.

»Dantes?« flüsterte Alfonso überrascht.

»Ja, er ist es!« sagte der Vater, und unwillkürlich die Hände faltend, schien er ein Gebet zu sprechen.

Auch Edmond hatte den Namen vernommen und schien von Erstaunen ergriffen. Selbst Mr. Connigham schien den Namen zu kennen, denn sein Gesicht wurde ernst, fast feierlich.

Inzwischen sah man den Greis drüben neben seinem Pferde ruhig zwischen den Indianern stehen, die ihm unbeweglich zu lauschen schienen. Dann aber, da die Unterredung zu Ende schien, wandte er sich nach der Richtung, in der die Weißen sich befanden, und als er sah, daß Don Lotario ihm entgegenkam, machte er eine leichte Bewegung mit der Hand, wie zum Zeichen des Erkennens, winkte aber dann, daß Don Lotario zurückbleiben möge. Gleich darauf kamen eine Menge Indianer scheinbar auf Don Lotario zugeeilt, doch trugen sie keine Waffen.

»Keinen Schuß mehr!« rief Don Lotario abwehrend, als er sah, daß einige seiner Leute die Waffen erhoben.

In der Tat war auch die Absicht der Indianer ganz friedlich. Sie ergriffen ihre toten oder verwundeten Brüder und trugen sie abseits nach der Mitte des Dorfes, so – daß sich nun keine Leiche mehr zwischen den Weißen und den Indianern befand.

Darauf näherte sich Edmond Dantes mit festem, ruhigem Schritt, und als er Don Lotario, der ihm hastig entgegenging, erreicht hatte, umarmte er ihn lange und innig. »Komme ich noch zur rechten Zeit?« sagte er dann. »Ist einer der Ihrigen getötet oder verwundet?«

»Leider sind in diesen blutigen Kämpfen auch einige von meinen braven Begleitern gefallen,« antwortete Don Lotario. »Aber Alfonso und Inez leben, sowie der wackere Edmond Tréport, dem wir es vielleicht allein verdanken, daß Inez noch unter den Lebenden ist.«

»Wie, ein Tréport hier?« rief Dantes erstaunt. »So ist er der junge Gefangene gewesen, der Wilhamenu im Kampfe getötet hat? Aber wie kam er hierher?«

»Als Alfonsos Begleiter, von dem er durch einen unglücklichen Zufall getrennt wurde,« erwiderte Don Lotario. »Alfonso und er trafen sich in Mexiko, wo Tréport als Chasseurs-Kapitän kämpfte. Es ist gutes und edles Blut in ihm; er ist ein würdiger Sohn seines Vaters und hoffentlich unbefangener als jener.«

»Es freut mich, ihn zu sehen,« sagte Dantes. »Und jener junge Mann mit dem hellen Haar?«

Obwohl niemand in der Nähe war – denn die beiden standen in der Mitte zwischen den Indianern und den Weißen, von beiden mehrere hundert Schritt entfernt – so gab Don Lotario seine Antwort doch in gedämpftem Tone. Es mußte eine eigene Bewandtnis mit jenem blondlockigen jungen Mann haben, den das noch immer scharfe Auge des Missionars unter allen anderen als einen Bedeutenden herausgefunden, denn der so ruhige Mann schien lebhaft überrascht.

»Ist es wirklich möglich! Gott sei gelobt!« rief er. »Seine Wege sind wunderbar! Nun – ich habe mit den Apaches gesprochen. Sie sind bereit, auf vernünftige Bedingungen Euch allen freien Abzug zu gewähren. Menschenleben verlangen sie nicht mehr. Wie sehr freue ich mich darauf, Inez und Alfonso wiederzusehen und diesen Edmond, den ich nur als Knaben gekannt, jetzt als Mann wiederzufinden!«

Er legte seinen Arm in Don Lotarios und schritt langsam mit dem jüngern Freunde über das zerstörte Bollwerk nach den drei Hütten.

Vor den Hütten hatten sich Alfonso, Edmond und Mr. Conningham eingefunden, auch Inez war aus ihrer Hütte hervorgetreten. Auf allen Gesichtern war eine fast scheue Ehrfurcht zu bemerken, die jedoch vor dem herzlichen und freudigen Ausdruck in dem Gesichte des Greises bald verschwand.

»Sei mir gegrüßt, liebliche Inez!« sagte er, auf das junge Mädchen zutretend, und berührte ihre Stirn mit seinen Lippen, während Inez leise weinte. »Und auch Du, Alfonso, mein wackerer Bursche!«

Er zog Alfonso an sich, der ihm bewegt die Hand küßte. Dann wandte er sich zu Edmond.

»Auch Du sei mir von Herzen gegrüßt, Sohn meines treuen und ehrlichen Max Morel!« sagte er, ihm die Hand reichend, die Edmond, von Ehrfurcht und Bewunderung ergriffen, mit Innigkeit küßte. »Ich habe erfahren, daß Dein Herz des Vaters würdig ist, von dem Du stammst. Laßt uns alle Gott danken, daß ich noch zur rechten Zeit erschienen bin, um die Schrecken eines neuen Kampfes zu verhindern!«

»Und dieses ist Mr. Conningham!« sagte Don Lotario, auf den jungen Mann deutend, der durch seine hellere Hautfarbe und sein goldenes Haar eigentümlich von allen anderen Gestalten abstach, die meist den südlichen Stempel trugen.

»Wir werden uns näher kennen lernen, Mr. Conningham!« sagte der Greis, den jungen Mann, der sich tief vor ihm verneigte, mit einem Blick betrachtend, der zugleich aufmerksam, herzlich und freudig war. »Don Lotario hat mir genug von Ihnen berichtet, um mich begierig zu machen, mehr von Ihnen zu hören. Vielleicht werden auch Sie manches gern von mir erfahren wollen, denn ich komme aus dem Norden!«

Der junge Mann errötete, sein schönes dunkelblaues Auge leuchtete auf, schnell trat er auf den Greis zu, ergriff seine Hand und küßte sie.

»Ich danke Ihnen vielmals und von Herzen,« sagte er leise.

Der Greis nickte ihm leicht und freundlich zu. Dieser Mann war eine der Erscheinungen, von denen das gläubige Gemüt sich träumen könnte, daß sie unmittelbar von der Erde in den Himmel versetzt und dort zu den Füßen des Allmächtigen ihren Platz finden müßten.

»Der Kampf ist beendet!« sagte er zu den Männern, die ihn umstanden und sich von den Dächern der Hütten niederbeugten, um ihn genauer zu sehen. »Laßt Euch durch nichts hinreißen, die Waffen wieder zu erheben. Ich habe das Wort der Apaches, daß sie auf eine gütliche Uebereinkunft eingehen werden.«

Obwohl er seine Stimme durchaus nicht anstrengte, klang sie hell, klar und durchdringend, wie die eines jungen Mannes. Ueberhaupt verriet sein ganzes Wesen nichts von der Hinfälligkeit des Alters; nur die Ruhe und Würde aller seiner Bewegungen bekundeten den bejahrten Mann.

Dantes trat nun mit Don Lotario in das Innere der vorher von Inez eingenommenen Hütte; Inez begab sich mit ihren beiden Frauen in eine andere Hütte. Alfonso, Edmond und Connigham blieben vor dem Eingang zurück.

Dann sagte Alfonso zu den Männern, sie möchten sich mit den Vorräten, die sie bei sich führten, erfrischen und unter einander teilen. Auch die jungen Männer fühlten lebhaft das Bedürfnis einer Kräftigung, genossen aber nur mäßig von den Speisen und dem Weine, die ihnen ihre Begleiter reichten.

»Also das ist Edmond Dantes, der Mann, der einen so großen Einfluß auf das Schicksal unserer Familien geübt hat!« sagte Edmond dann. »Der Mann, nach dem ich meinen Namen führe, und den ich vor vielen Jahren einmal gesehen habe! Sein Einfluß auf die Indianer muß noch aus jener Zeit herrühren, in der er in Kalifornien angesiedelt war und jene Schätze erntete, die er später so großmütig unseren Familien überließ. So stelle ich mir die Erzväter, die Patriarchen, vor!«

»Auch ich empfinde stets denselben Eindruck,« sagte Alfonso. »Ich habe ihn zweimal gesehen, einmal als kleiner Knabe, das zweite Mal, als ich sechszehn Jahr alt war. Er kennt diese Gegenden noch heute so genau, als ob er stets in ihnen gelebt hätte, und doch sind mehr als zwanzig Jahr verflossen, seit er sie verlassen hat.«

»Wäre es eine Unbescheidenheit, wenn ich den Wunsch äußerte, etwas über die Vergangenheit dieses jedenfalls sehr merkwürdigen Menschen zu erfahren?« fragte Mr. Conningham.

»Durchaus nicht,« antwortete Alfonso. »Nur muß ich meine Erzählung auf eine ganz ruhige und friedliche Stunde aufsparen, denn auch der zusammengedrängteste Bericht würde immer noch eine geraume Zeit fortnehmen. Lassen Sie mich Ihnen also nur sagen, daß Edmond Dantes als ein ganz armer, einfacher Mensch aufwuchs, bis eine entsetzliche Ungerechtigkeit, die seine Eltern zugrunde richtete und ihn seiner Braut beraubte, ihn mit dem eisernen Vorsatz erfüllte, Rache an denen zu nehmen, die ihn unglücklich gemacht hatten. Obgleich er selbst durch seine Gegner ins Gefängnis geworfen, gelang es ihm, zu entfliehen und den Besitz von Reichtümern zu erlangen, die ihn zu einem der reichsten Männer der Erde machten. Mit unglaublicher Energie, mit wunderbarem Scharfsinn begann er nun sein Rachewerk auszuüben und war stets dabei bemüht, die Unschuldigen nicht mit leiden zu lassen, sondern nur die zu treffen, die ihm und den Seinen mit Bewußtsein Unrecht getan. Seine Widersacher waren inzwischen zu hohen Ehren gelangt, aber er wußte sie dennoch zu zerschmettern, und nachdem sein Werk gelungen, verließ er Europa, um mit seiner Gattin Haydee, die er den Händen eines seiner früheren Feinde entrissen, sich in der neuen Welt anzusiedeln. Er wohnte damals in Kalifornien und erhielt durch meinen Großvater, den er sterbend in der Wüste getroffen, die Meldung von den kalifornischen Goldlagern, die er ausbeutete, bis er – ich glaube dies wohl behaupten zu können – der reichste Mann der Erde war. Aber seinem regen Geiste genügte der friedliche Besitz dieser Reichtümer nicht; er wollte auch wirken, er wollte sie zum Nutzen der Menschheit anwenden. Nachdem es ihm gelungen, die persönliche Unbill zu rächen, die ihm widerfahren war, wollte er der Helfer und Beschützer aller Leidenden und Unterdrückten sein und sich zu diesem Zwecke Männer heranbilden, die, nachdem sie durch alle Schulen der Leiden gegangen, wie er, ihm würdig bei der Erreichung dieser Aufgabe zur Seite stehen könnten. Bei dieser Gelegenheit lernte er meinen Vater und meinen Oheim Büchting kennen. Er erwählte sie zu seinen Genossen, ließ sie aber vorher den ganzen Kelch der Leiden kosten, an denen sie beinahe zugrunde gegangen wären. Ein elender Verbrecher, der Sohn eines der Männer, die er früher vernichtet, suchte sich an ihm zu rächen und tötete ihm sein damals einziges Kind. Dies brachte ihn zu der Erkenntnis, daß er zu weit in seinen Zwecken gegangen sei, daß er mit einer Freiheit, wie sie dem Menschen nicht zusteht, über das Schicksal anderer Mitmenschen verfügt habe. Tief religiös, wie er ist, empfand er die herbsten Gewissensbisse und hielt sich für schuldiger, als er es in der Tat war, denn ihn hatten stets die edelsten und uneigennützigsten Absichten geleitet. Er beschloß deshalb, seine Schätze anderen zu hinterlassen und als Missionar die Welt zu durchziehen, um die Religion der Liebe und Wahrheit kraft des einfachen Wortes zu verbreiten. Er verteilte sein Vermögen unter seine Freunde und Diener; die größten Anteile fielen auf meine Eltern und meinen Oheim, die er als die Erben des Mannes betrachtete, durch den ihm einst die Schätze Kaliforniens entdeckt worden, sowie auf den Vater Edmond de Tréports, der ihm stets ein lieber Freund gewesen. Er behielt nur soviel für sich, als allenfalls notdürftig zum Unterhalt seiner Familie hinreichte, und seitdem haben wir ihn nur selten gesehen. Mein Vater steht allerdings mit ihm in Briefwechsel und führt noch heute seine Wünsche aus; aber da er bald in Australien, Afrika oder Süd-Amerika weilte, so vergeht stets eine Reihe von Jahren, ehe er persönlich wieder einmal bei seinen Freunden erscheint. Dies ist ein kurzer, allzuflüchtiger Bericht, der Ihnen gerade die ungemein fesselnden Einzelheiten seines Lebens unenthüllt läßt. Aber da wir hoffentlich längere Zeit beisammen leben werden, so wird es uns nicht an Mußestunden fehlen, in denen ich Ihnen so manches von den einzelnen Erlebnissen dieses Mannes mitteilen kann, der jetzt als ein armer Missionar die Welt durchzieht und vor dem sich auch jetzt noch die Mächtigen beugen. Einen Beweis seines Einflusses haben Sie heute gesehen. Die wahnsinnige Wut der Indianer verschwand bei seinem Erscheinen und sein Wort erreichte, was unsere Waffen vielleicht niemals vermocht hätten.«

Unmittelbar darauf traten Dantes und Don Lotario wieder aus der Hütte. Der Blick des Greises ruhte eine Minute lang aufmerksam und, wie es schien, wohlgefällig auf den drei jungen Männern, die ehrerbietig zur Seite traten.

Dann sagte Dantes:

»Wir wollen sogleich die Unterhandlungen mit den Apaches zu Ende führen. In wenigen Stunden ist es Abend, und wir alle werden ruhiger schlafen, wenn wir wissen, daß diese Angelegenheit beendigt und der Frieden mit den üblichen Förmlichkeiten besiegelt ist. Da mein Freund Toledo, ebenso sein Sohn Alfonso und Edmond de Tréport an dem Kampfe teilgenommen haben, so mögen sie sich auch an den Unterhandlungen beteiligen, und für Mr. Conningham wird es gleichfalls belehrend sein, einer solchen Beratung beizuwohnen. Er mag uns also begleiten. Doch vorher sind wir verpflichtet, Litawano den Tod seines Vaters mitzuteilen. Die Apaches haben den Toten begraben, obgleich sie ihn als ihren Feind betrachteten, und eine Lanze auf das Grab gesteckt, so daß es Litawano finden kann.«

Litawano ward herbeigerufen und Dantes sprach mit ihm in indianischer Sprache. Heikaous Sohn zeigte keine äußerliche Betrübnis, verabschiedete sich aber sogleich, um sein Pferd von den Apaches zurückzuverlangen und sich dann nach dem Grabe seines Vaters zu begeben. Don Lotario belohnte ihn reich.

Die fünf Männer gingen darauf, ohne alle Waffen – so hatte es der Greis bestimmt – nach der Mitte des Dorfes. Sofort kamen ihnen einige ältere Indianer entgegen, unter denen Edmond auch Wilhamenus Dolmetscher erkannte. Dantes, dem sie die allergrößte Ehrfurcht bewiesen, sprach zuerst allein mit ihnen. Es schien eine sehr düstere Stimmung unter den Indianern zu herrschen, und in der Tat waren ihre Verluste furchtbar gewesen. Aber Dantes versicherte, daß keine Rache zu fürchten sei, und daß die trübe Stimmung der Indianer zum Teil davon herrühre, daß sie ihre Verluste als eine gerechte Strafe für den Bruch der Verträge betrachteten, die früher mit Don Lotario geschlossen und eigenmächtig von Wilhamenu verletzt worden waren – Verträge, durch die ein ewiger Frieden zwischen sämtlichen Stämmen der Comanches und den Mitgliedern und Dienern der Familie Toledo festgesetzt worden war.

Die Verhandlungen wurden zwischen fünf Indianern und den fünf Weißen mit der feierlichen Langsamkeit geführt, die bei derartigen Angelegenheiten von den Indianern beobachtet wird. Dantes selbst diente als Dolmetscher, und es ließ sich leicht bemerken, daß ihm die Apaches nie widersprachen. Von einer eigentlichen Entschädigung sollte gar nicht die Rede sein, sondern nur von Geschenken, mit denen Don Lotario die neu abzuschließenden Friedensverträge zu besiegeln habe, und die gelegentlich von den Indianern erwidert werden sollten. Don Lotario zahlte sogleich eine Summe gemünzten Goldes und Silbers und versprach den Indianern fünfzig Flinten und hundert Messer, außerdem eine Anzahl Decken und Schmuckgegenstände. Die Indianer versprachen den Weißen Maguey-Kuchen und frisches Wasser zu senden, ein Versprechen, das sofort ausgeführt wurde.

Es war fast Sonnenuntergang, als dieser Vertrag mit allen seinen Förmlichkeiten erledigt war und Don Lotario die darauf bezüglichen Dokumente, die jedoch nur in Holzstückchen mit Einschnitten bestanden, in seinen Händen hielt. Die Pferde sollten die Nacht über noch bei den Indianerpferden bleiben. Die gefangenen Diener wurden freigegeben.

Wieviel hatten sich die Männer zu erzählen, als sie später bei dem Scheine einer Kerze in der einen Hütte zusammensaßen! Dantes berichtete, daß er, aus dem Norden kommend, Don Lotario besuchen wollte, daß ihm in Toledo die Nachricht mitgeteilt worden, und daß er sogleich nach dem Presidio del Norte geritten sei, wo er Genaueres zu erfahren gehofft hatte. Von dem dortigen Kommandeur habe er dann in der Tat die nötigen Aufschlüsse erhalten und war nach dem Lago de Santa Maria aufgebrochen, wie immer, ganz allein.

Auch Edmonds Abenteuer in der Höhle der Barranca del Agua Santa wurde erzählt und erregte das Staunen aller. Dantes sprach Alfonso seine wahrste Anerkennung aus und ließ sich von ihm genau berichten, wie man bei solchen Verwundungen verfahren müsse, da ihm diese neuesten Entdeckungen der Wissenschaft noch unbekannt waren.

Inez, die in einer Ecke saß, lauschte, ohne sich am Gespräch zu beteiligen.

Am anderen Morgen verließ die ganze Schar das verhängnisvolle Dorf der Apaches.


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