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Die Barranca de Agua Santa

»Ich werde an dem Kriege, wenn er fortdauert, teilnehmen,« antwortete Alfonso, »obwohl mein Vater für sich und seine Kinder das Recht der Befreiung vom Kriegsdienst erhalten hat, als er es übernahm, Arizona zu kolonisieren. – Du bist mit Don Luis Guarato hier?« fragte er dann. »Wie kommst Du zu dem?«

»Mein Gott, wie kommt man im Feindesland zu Bekanntschaften?« antwortete Edmond. »Mein Freund ist er nicht. Es wird Dir nicht unbekannt sein, daß uns die mexikanischen Guerillas verwünscht viel Schaden zufügen. Deshalb hat der Kommandeur einzelne Orte zu Stationen erwählt, um die Landbevölkerung zu überwachen. Guarato hielt sich gerade im Hauptquartier auf; er gehört zu unserer, zur Interventionspartei und schlug sich selbst vor, uns zu begleiten und uns in der Gegend, die er genau kennt, zu dienen. Er gefällt mir nicht sonderlich, aber was habe ich als Mensch viel mit ihm zu tun? Ich brauche ihn als Soldat, das ist alles. In einer Beziehung hat er mich schon getäuscht. Er sagte mir, daß Monsieur Lamothe ein Gesinnungsgenosse sei, das ist nicht richtig. Der Franzose ist ein enragierter Mexikaner geworden.«

»Ist aber im übrigen ein sehr braver Mann!« meinte Alfonso.

»Das glaube ich,« erwiderte der Kapitän, »er macht den Eindruck eines ehrlichen Mannes.«

»Und wie gefällt Dir seine Tochter?« fragte Alfonso mit etwas beklommener Stimme.

»O, ein recht hübsches Mädchen,« antwortete Edmond gelassen, »eine angenehme Erscheinung. Sie hat einen etwas auffälligen Blick – ich weiß nicht, ob das immer so ihre Art ist – so etwas –«

»Ja, sie hat sehr schöne Augen,« fuhr Alfonso fort, als Edmond nicht das rechte Wort zu finden schien. »Unter uns gesagt, dieser Luis Guatato macht ihr die Cour und ist mehrmals von ihr abgewiesen worden. Er ist ein kleiner Haciendero aus der Nachbarschaft, ein durch Spiel und Schulden ruinierter Mensch, der durch die Politik, durch die Schwarzen wieder in die Höhe zu kommen hofft. Natürlich hat Marion ihn abgewiesen.«

»Ah so,« sagte Edmond, sich der Worte Marions vom vergangenen Abend wieder erinnernd. »Eine traurige Lage in dieser Einsamkeit für ein junges Mädchen! Ihre Erziehung scheint ein wenig vernachlässigt. Ich habe freilich bisher nur sehr angenehme Seiten an ihr gefunden. Sie ist sehr liebenswürdig gegen mich.«

Alfonso antwortete nicht sogleich darauf.

»Du bist ein scharfer Frauenbeobachter, wie es scheint,« sagte er dann lächelnd.

»Ich? Gott bewahre!« rief Edmond. »Aber ich fühle so etwas. Es scheint mir, sie läßt sich zu leicht gehen, hat sich nicht genug in der Gewalt, beherrscht sich nicht genug.«

»Ich glaube, daß Marion ein wenig kokett ist,« sagte Alfonso.

»Gerade das liegt in der Natur mancher Mädchen,« antwortete Edmond. »Die Koketterie ist den meisten angeboren, aber sie muß beherrscht und gemildert werden.«

Offenbar veranlaßte das Gespräch Alfonso zu sehr ernsten Gedanken, denn er war sehr schweigsam geworden.

Lamothe, der jetzt unter die Veranda trat und Don Alfonso begrüßte, gab der Unterhaltung eine andere Wendung.

»Sie können doch unmöglich heute noch zurück nach Mirador,« sagte Lamothe zu Alfonso, »es wird schon dunkel.«

»Warum nicht? Ich kenne ja den Weg wie in einem Park, und sollte ich mich irren, so kennt ihn mein Arriero.«

Indessen baten Edmond und Lamothe so dringend, daß Alfonso endlich doch blieb.

Seltsamerweise ließ sich Marion den ganzen Abend über nur für Augenblicke sehen. Sie ahnte, daß Alfonso bemerken werde, welchen Eindruck der junge Franzose auf sie gemacht hatte. Auf Don Luis wurde nicht viel Rücksicht genommen. Lamothe, Alfonso und Edmond unterhielten sich in französischer Sprache über die verschiedensten Dinge.

Lamothe mußte viel daran gelegen sein, Alfonso festzuhalten, denn er bat ihn am folgenden Morgen dringend, noch den Tag über zu bleiben, so daß Alfonso zusagen mußte. Wahrscheinlich war es die Absicht Lamothes, auf diese Weise ein Alleinsein zwischen Marion und Edmond zu verhindern. Wenn er Edmond auch für einen durchaus ehrenwerten Mann hielt, so mußte er dennoch fürchten, daß Marion durch das auffällige Zurschautragen ihrer Hingebung zuletzt das Herz des Kapitäns entflammen und Gelegenheit zu einer Versuchung Edmonds, sowie zu einer gewaltsamen Tat Guaratos geben werde.

Marion wirtschaftete an diesem Tage wie eine Furie in ihren Zimmern und in der Küche herum. Zu wissen, daß Edmond in ihrer Nähe sei und daß sie ihn nicht sehen und sprechen könne, weil Alfonsos Augen über ihn wachten, das war für sie eine allzu schwere Geduldsprobe. Andererseits war Alfonso aufs schwerste davon betroffen, daß Marion sich auch nicht im geringsten um ihn kümmerte. Er richtete es so ein, daß er einmal eine halbe Stunde lang allein in Lamothes Zimmer war; Marion mußte ihn dort bemerken, doch sie kam nicht zu ihm. War das alles Besorgnis wegen Don Luis?

Edmond war noch auf dem Hofe bei einem plötzlich krank gewordenen Pferde, und Alfonso stand immer noch sinnend in Lamothes Zimmer und wartete darauf, daß Marion hereingehuscht kommen werde, als Don Luis eintrat. Nun war es mit jener Hoffnung vorbei und da Alfonso jedes Gespräch mit dem Kreolen zu vermeiden wünschte, so wollte er das Zimmer verlassen. Aber Don Luis vertrat ihm fast den Weg.

»Nun, Don Toledo,« sagte er mit bitterem Lachen, »wir müssen uns jetzt beide trösten, ein neuer Stern ist jetzt aufgegangen, der die unsrigen verdunkelt.«

»Ich verstehe Sie nicht,« antwortete Alfonso kurz.

»Wirklich nicht?« fragte Don Luis. »Bemerken Sie nicht, daß Donna Marion sehr ungnädig ist, weil wir beide sie verhindern, mit dem französischen Offizier ihr altes Spiel zu treiben?«

»Was geht das mich an!« antwortete Alfonso und ging.

Aber der Stich hatte getroffen. – In der Tat – die Erklärung des Kreolen war die einzige, die für alle Einzelheiten paßte. Alfonso war ein Mann, der sich zu schützen wußte, und außerdem konnte ihn ja Guarato auch anderswo finden als auf der Hacienda des Sennor Lamothe. Sein Herz, das ihn von Anfang an gewarnt, behielt recht: Marion war eine Kokette, unwürdig wahrer Liebe, jedem Neuen anhangend.

Indessen, diese Erkenntnis war um so schmerzlicher. Ob Edmond ahnte, daß Marion ihn bevorzugte, und ob er gar diese Neigung erwiderte? Der junge Offizier war zu unbefangen gewesen und schien die Abwesenheit Marions in der Tat wenig zu empfinden. Er beschloß, sich darüber Gewißheit zu verschaffen und wollte Edmond sprechen, der gerade auf das Haus zukam. Alfonso ging ihm entgegen und bat ihn, ihm einige Augenblicke Gehör zu schenken.

»Du wirst über das, wovon ich mit Dir sprechen will, ein wenig verwundert sein,« sagte Alfonso. »Du kannst mir auch antworten, daß ich Dich nach derartigen Dingen nicht zu fragen habe. Aber ich kann mir nicht denken, daß von Deiner Seite die Sache bereits so weit gediehen sei, um mir eine trotzige Antwort zu geben.«

Edmond sah ihn bei diesen feierlichen Worten verwundert an, dann streckte er ihm die Hand entgegen und sagte:

»Allerdings bin ich erstaunt, aber sprich zu mir, ich werde Dir antworten, als wäre ich Dein Bruder.«

Darauf begann Alfonso nach einem dankbaren Blick mit bewegter Stimme zu erzählen, wie er durch einen Zufall nach der Hacienda gekommen und bald durch Marion gefesselt worden sei. Dennoch habe er nie das Gefühl unterdrücken können, daß Marion seine Liebe nicht mit derselben Ausschließlichkeit und Innigkeit erwidere und daß diese in ihm vor allem den Sohn einer reichen und angesehenen Familie liebe. Das habe ihn gehindert, sich ihr zu erklären und sie und den Vater um ihr Jawort zu bitten. Durch dieses Zögern sei Marion, die sich ihm zuerst mit unverkennbarer Zuneigung genähert, allmählich kälter und gereizt geworden. Dennoch habe er es nicht über sich bringen können, das entscheidende Wort zu sprechen, da ihm bisher jede Gelegenheit gefehlt, zu erproben, ob die Liebe Marions von der Echtheit sei, die er verlange. Er erwähnte auch den Brief Marions und ihr Bemühen, ihn von der Hacienda fernzuhalten und schloß mit der Mitteilung der Worte, die Don Luis vor kurzem an ihn gerichtet.

»Dieser Mensch,« fügte er hinzu, »soll sich im Rausche gerühmt haben, daß Marion zu ihm in einem Verhältnis gestanden, das natürlich jede Bewerbung meinerseits unmöglich machen würde. Aber er ist ein Schwätzer und ein niedriger Charakter; er spricht wahrscheinlich schlecht von Marion, weil sie seinen Antrag zurückgewiesen hat. Freilich muß mich die Abmahnung des Vaters stutzig machen. Daß Don Luis von ihr eine Zeitlang nicht ungern gesehen wurde, steht fest. Daß sie ihn verabschiedete, als ich erschien, steht ebenfalls fest. Lenkt sie nun so schnell ihre Neigung auf Dich, den Neuerscheinenden, so ist sie natürlich ein leichtes, wetterwendisches Mädchen, dem ich weiter keine Beachtung schenken kann.«

Edmond hatte der Erzählung mit großer Teilnahme zugehört. Jetzt zeigte sein Gesicht einige Verlegenheit.

»Liebster Freund, zuerst will ich Dir nur sagen, daß Marion Lamothe nicht den geringsten Eindruck auf mich gemacht hat,« antwortete er dann. »Ich liebe und hoffe, ich werde wiedergeliebt. Du wirst den Gegenstand meiner Zuneigung kennen lernen und wirst mir recht geben, daß man mit einer solchen Liebe im Herzen gegen jede Verführung des Augenblicks geschützt ist. Da ich nun so gar nicht darauf geachtet habe, ob ich nun der Tochter dieses Hauses gefalle oder nicht, so ist es mir durchaus unmöglich, mir ihre Blicke zu deuten. Das freilich ist mir aufgefallen, daß sie mich vor Verleumdungen warnte, die Don Luis über sie gegen mich äußern könnte. Indes glaubte ich, diese Worte seien ihr von der achtbaren Regung eingegeben worden, durch die Schuld eines Fremden nicht tiefer in meinen Augen dazustehen, als sie es verdient. Es ist in ihr etwas Ungezähmtes, Unberechenbares. Sie ist nicht gewöhnt, sich über ihre Gefühle Rechenschaft zu geben und sich ihre Handlungen zu überlegen. Sie folgt blind den Leidenschaften, die in ihr erwachen. Sehr leicht möglich, daß sie jenen Don Luis geliebt hat; dann kamst Du, und Don Luis erschien ihr natürlich neben Dir widerwärtig. Nun hast Du ihre Neigung durch Dein langes Zögern abgestumpft; ich, der Neue, der Fremde komme, und sie wendet sich mir zu. Aber was ist dabei zu tun? Ist sie wirklich diejenige, für die ich sie halte, so wird sie sich am schnellsten in ihrer ganzen Natur zeigen, wenn Du Dich einige Tage nicht sehen läßt und ich mit ihr allein bin. Ich würde Dich freilich sehr ungern entbehren, aber ich täte es doch um Deinetwillen. Es ist das beste und kompromittiert mich nicht vor meinen und vor des Vaters Augen. Hat Guarato recht, hat sie ihr Auge auf mich geworfen, und ist ihr Deine Gegenwart lästig, nun, so werde ich es jetzt, da meine Aufmerksamkeit erregt ist, sehr bald bemerken. Vielleicht entferne ich auch Guarato auf einen Tag. Dann wird sie sich um so freier zeigen – doch, wir werden sehen – –! Da kommt Don Luis Guarato, wir müssen schweigen!«

Der Kreole kam aus dem Hause und sandte seine mißtrauischen Blicke zu ihnen hinüber. Er kam jedoch nicht unmittelbar auf sie zu, sondern näherte sich einem Baume am Rande der Barranca, an dem er halsbrecherische Uebungen versuchte, um seine Kraft und Geschicklichkeit, seine Tollkühnheit zu zeigen. Von diesem nur mittelstarken Baume ging nämlich ein glatter gerader Zweig aus, fast wie ein Reck, und als ein solches benutzte es auch Don Luis. Er schwang sich, den Zweig mit einer Hand oder mit beiden fassend, in die Luft über den Abgrund hinaus, ließ sich an den Händen hinunter, zog sich hinauf, ganz wie man es bei den Turnübungen am Reck steht. Ein solches Spiel entsprach seiner prahlerischen, tollkühnen Natur. Er glaubte, damit Bewunderung zu erregen, verursachte jedoch nur Schrecken und Unwillen über eine so törichte Waghalsigkeit.

Auch jetzt schritt er auf den Baum zu und ergriff mit der einen Hand den Zweig. Aber plötzlich stieß er einen Schrei aus und fiel nieder. Glücklicherweise gelang es ihm, mit der einen Hand den Zweig eines Gebüsches zu erfassen und sich daran schwebend zu erhalten. Alfonso und Edmond waren aufgesprungen und ihm zu Hilfe geeilt. Sie zogen den Kreolen hinauf nach dem Felsenrand, wo er auf den Knien, die eine Hand auf den Boden gestützt, liegen blieb. Er war leichenblaß. Der Ausdruck eines furchtbaren Schreckens verzerrte sein Gesicht.

»Ah, die Schlange! die Schlange!« keuchte er mühsam hervor und schien sich gegen einen Wutanfall zu wehren. Dann sprang er plötzlich auf. Der Zweig war dicht am Stamme eingeknickt. Mit einer fast unglaublichen Kraft nahm Don Luis den ganzen Baum und bog ihn so vornüber, daß er an den Zweig vom Boden aus heranreichen konnte.

»Sehen Sie! Sehen Sie!« keuchte er, noch immer halb atemlos vor Aufregung und Wut. »Er ist abgesägt! Ich sollte hinabstürzen! O, die Schlange! die Schlange!«

Ja, es war so, das konnten sich die beiden jungen Männer nicht verhehlen. Der Zweig war unmittelbar am Stamme fast ganz durchgesägt. Er mußte brechen, wenn eine starke Hand ihn berührte. Wäre er etwas weniger tief durchgesägt worden, so daß Don Luis es nicht sogleich bemerkt und seine gewöhnliche Schwungübung versucht hätte, so wäre er unrettbar in die Barranca hinabgestürzt und verloren gewesen.

Jetzt stieß Guarato ein wildes Lachen aus und ließ den Baum zurückschnellen.

»Wer, glauben Sie, hat das getan?« fragte er wütend. Und als die jungen Männer die Achseln zuckten und ihn erstaunt ansahen, fuhr er fort: »Das hat Donna Marion de Lamothe getan! Und wenn ich auf dem Grunde der Barranca läge, wäre ihr eine Last vom Herzen!«

»Mann, Sie sind wahnsinnig!« rief Edmond.

»Sie war es,« murmelte Guarato. »Da ist sie!«

In der Tat erschien Marion auf der Türschwelle des Hauses.

»Was ist geschehen?« rief sie, schnell näherkommend. »Beinahe ein Unglück! Um Gotteswillen, die alte Dora hätte es Ihnen sagen sollen, Don Luis! Ich hatte ihr befohlen, den Ast abzusägen, weil ich das entsetzliche Spiel nicht mehr ansehen konnte, das Sie daran trieben! Sie muß dabei gestört worden sein und hat es vergessen, Sie darauf aufmerksam zu machen. Dora! Dora!«

Sie rief den Namen so laut und schrill, daß sofort die alte Indianerin aus dem Hause gestürzt kam.

»Was hast Du getan, elende Kreatur?« herrschte Marion sie an. »Was habe ich Dir gesagt? Warum hast Du jenen Ast nicht ganz abgesägt?«

»Heilige Mutter Gottes – Erbarmen!« rief die alte Dienerin, in die Knie stürzend. »Porfirion rief mich, als ich noch nicht fertig war, daß ich die Ziegen melken sollte. Und nachher habe ich keinen Augenblick mehr Zeit gefunden, daran zu denken.«

»Elendes Gewürm, warum hast Du mir nicht gleich gesagt, daß Du noch nicht fertig warst?« rief Marion, die alte Frau mit der geballten Faust schlagend. »Fort aus meinen Augen! Du sollst Deine Strafe erhalten! Don Luis, ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen Glück, daß Sie einer so großen Gefahr entgangen!« wandte sie sich dann an den Kreolen. »Ich könnte zwar sagen: wer sich in eine Gefahr begibt, kommt darin um. Aber ich bin doch sehr zufrieden, daß unser Haus von einem solchen Unglücksfalle verschont geblieben ist. – Meine Herren, das Frühstück steht auf dem Tisch – mein Vater erwartet Sie!«

Und sie ging mit wiedererlangter Gemütsruhe ins Haus.

»So also war es gemeint!« sagte Don Luis, tief aufatmend. »Eine ganz gute Erklärung, nur hätte man mir vorher sagen sollen, daß man mir meine verwegene Spielerei verderben wolle.«

»Wie um alles in der Welt kamen Sie zu einem so schweren Verdacht?« fragte Edmond jetzt.

»Weiberherzen sind wunderlich,« sagte Don Luis. »Indessen, da Donna Marion eine so annehmbare Erklärung gegeben, wäre es undankbar von mir, eine andere Vermutung aufzustellen. Vielleicht gelegentlich mehr, wenn die Herren es wünschen. Wollen wir nicht frühstücken?«

Die drei Herren gingen ins Haus. Monsieur Lamothe erwartete sie bereits am Frühstückstisch. Er war noch düsterer als gewöhnlich. Marion hatte ihm bereits von der »Ungeschicklichkeit« der alten Dora erzählt, und er mochte sich so gut wie Don Luis sein Teil dabei gedacht haben. Marion bediente diesmal die Herren bei Tische. Es war, als wollte sie zeigen, wie unbefangen sie sei.

Alfonso sprach davon, daß er unmittelbar nach Tische aufbrechen müsse und daß er auf einige Tage Mirador nicht verlassen dürfe. Er bat Edmond, ihn dort zu besuchen. Das konnte der junge Offizier jedoch nicht versprechen. Seine Ordre lautete, die Hacienda Lamothes nur in wichtigen Fällen, die durch die Pflicht geboten waren, zu verlassen.

»Wenn es Sie interessiert, meine Herren, so könnte ich Ihnen heute abend etwas zeigen, was Sie schwerlich jemals in Mexiko wiedersehen werden – nämlich eine Versammlung von Naguals und möglicherweise auch von Vaudoux.«

Edmond, der diese Namen nur flüchtig gehört hatte, bat um nähere Erklärung. Don Luis konnte sie nur unvollständig geben. Er sagte, er wisse selbst nicht, worum es sich bei diesen Versammlungen von Indianern und Negern handele. Doch sei auf jeden Fall eine Zauberei dabei im Spiel, an die er als echter Mexikaner natürlich glaube. Alfonso ergänzte die Mitteilungen Don Luis. Er hatte auf Mirador öfter von den Naguals sprechen hören. Es waren Zauberer, deren Ursprung aus der Zeit der Eroberung Mexikos, der Einführung des Christentums herstammte. Sie suchten durch eigentümliche Operationen an den Neugeborenen die Wirkung der Taufe unschädlich zu machen, das Kind den alten Göttern Mexikos zu erhalten. Irgend ein Geist beherrscht und unterstützt sie, meist nimmt er die Gestalt eines Tieres an und mit dessen Hilfe können sie alle möglichen Zaubereien verüben, Krankheiten hervorrufen und heilen. Es ist ein konfuser Mischmasch von allen möglichen Abenteuerlichkeiten, beruhend auf der Kenntnis einiger Naturkräfte, welche die Eingeweihten, wie dies ja auch anderswo von den Priestern geschehe, ausbeuten. An gewissen Tagen versammeln sich die Anhänger des Nagualismus in der Nacht, um ihre feierlichen Gebräuche und Opfertänze zu begehen. An einigen Orten hatten sich die Vaudoux mit ihnen vereint. Es ist das eine geheime Sekte der Neger, die sich fast überall findet, wo die Neger wohnen, ein wilder, gräßlicher Götzendienst, der seine tollsten Bacchanalien in der Republik Haiti und unter der Regierung des bekannten Negerkaisers Faustin I. gefeiert hat.

In der folgenden Nacht sollte nun, wie Don Luis mitteilte, eine solche feierliche Versammlung an einem Orte stattfinden, der nicht allzu weit entfernt war, bei Atliaca, nämlich in der Barranca de Agua sante (Schlucht vom heiligen Wasser). Diesen Namen führte sie von den Schwefelquellen, die dort aus dem Felsen hervorbrechen. Don Luis sagte, daß er und seine Genossen der Versammlung gefahrlos beiwohnen könnten, denn obwohl die Indianer diese Zusammenkünfte geheimhielten, so pflegten sie doch die Weißen, die sich zufällig dazu eingefunden, nicht zu verscheuchen. Edmond sollte seine Uniform ablegen und sich eines Anzuges Lamothes bedienen. Alfonso sollte die beiden in Mirador erwarten.

Obwohl Lamothe abriet, weil dieses Unternehmen stets gefährlich sei, schien Edmond de Tréport doch durch den Reiz der Abenteuerlichkeit verlockt zu sein. Das Haupthindernis für ihn war die nächtliche Abwesenheit von der Hacienda, die er mit seinen militärischen Pflichten nicht vereinigen konnte. Indessen kamen gerade einige von Don Luis abgesandte Späher zurück, die einstimmig bestätigten, daß auf viele Meilen alles ruhig sei. So wurde denn verabredet, daß Don Luis und der Kapitän nachmittags um fünf Uhr Alfonso von der Hacienda Mirador abholen sollten. Unmittelbar nach dieser Verabredung verabschiedete sich Alfonso, wie er sagte, auf eine Woche. Marion, die er zu sprechen wünschte, um ihr Adieu zu sagen, war nicht zu sehen.

Edmond begleitete den Freund eine Strecke weit.

»Es ist vorbei!« sagte Alfonso düster. »Wenn ich auch diesem Guarato nicht unbedingt glaube, so hat mir doch Marions Wesen heute einen sehr unheimlichen Eindruck gemacht.«

Als der junge Kapitän nach der Hacienda zurückkehrte, fand er Marion im Wohnzimmer.

»Wie schade,« sagte sie lächelnd, »daß ich Ihrem Freunde nicht einmal Adieu sagen konnte; ich war in den Keller gegangen. Die albernen Mädchen in der Küche wußten es und haben mich nicht gerufen.«

»Don Toledo wird wahrscheinlich Mexiko bald ganz verlassen,« erwiderte Edmond.

»Ah, er hat mir ja nichts davon gesagt,« antwortete sie, durchaus nicht unangenehm überrascht. »Nun, ich wundere mich nicht darüber. Für einen Mann von seiner Stellung und seinem Vermögen muß er sich in unserer Gegend enorm langweilen. Ich hielte es nicht lange aus.«

»Sie möchten wohl lieber in Paris sein?« fragte Edmond.

»Ah, Paris – Paris!« antwortete Marion mit einem Tone und einem Blick, in dem wollüstige Sehnsucht lag. »Aber nur an der Seite eines geliebten Mannes!«

Edmond wußte genug. Daß Marion seinen Freund Alfonso in der Tat nicht liebte, das war ihm jetzt ganz klar. Um das Gespräch auf etwas anderes zu lenken, erzählte er von seiner Absicht, mit Don Luis und Alfonso in der kommenden Nacht die Versammlung der Indianer in der Barranca del Agua Sante zu besuchen. Sie wurde allmählich ernster, denn sie schien zu erschrecken.

»Nein, nein, gehen Sie nicht dahin!« rief sie endlich. »Das ist eine Schlinge, die Ihnen Don Luis legen will. Ich ahne es – nein, ich weiß es! Was können Sie dort sehen – was wollen Sie dort? Nein, folgen Sie dem Kreolen nicht, es steckt etwas dahinter.«

»Aber, Mademoiselle –« erwiderte Edmond erstaunt.

»Nennen Sie mich Marion, ich will keine andere Anrede von Ihnen hören,« rief die Französin noch immer mit derselben Heftigkeit. »Versprechen Sie mir, daß Sie nicht gehen. Lassen Sie Don Luis und Alfonso sich mit den Indianerweibern amüsieren und bleiben Sie bei mir – wir wollen herrlich plaudern. – Sie gehen ja so bald vielleicht wieder fort! Bis in die tiefe Nacht hinein wollen wir plaudern!«

Edmond unterbrach sie mit möglichster Gelassenheit: »Ich habe meinem Freunde das Versprechen gegeben und muß also jedenfalls um 5 Uhr in Mirador sein.«

Sie hatte seine Hand ergriffen – mehr noch, sie hatte sich an seine Schulter gelehnt und schaute ihm bittend in die Augen. Es war ein gefährlicher Moment für den jungen Offizier, denn in der Berührung eines so schönen Weibes liegt eine Gewalt und Kraft, der selbst eine reifere Vernunft oft nicht zu widerstehen weiß. Aber Edmond war stärker als die jugendliche Gewalt. Sanft trat er zurück.

»Mein liebes Fräulein,« sagte er, »Sie verlangen in der Tat Unmögliches von mir. Mein Wort muß ich halten. Aber wir werden noch recht oft zusammen sein und recht viel plaudern. Ihre Befürchtungen in bezug auf Don Guarato teile ich nicht. Im Gegenteil, ich halte ihn für meinen ergebenen Gefährten.«

Sie stand da mit Tränen in den Augen – Marion weinend, wer hätte das für möglich gehalten! Ein Chasseur nahte sich mit einer dienstlichen Meldung. Edmond entschuldigte sich artig und ging hinaus.

Marion sah ihm lange nach. Ihre Augen schwammen immer noch in Tränen. Bei jedem anderen wäre sie aufgebraust, hätte verlangt, daß er ihren Willen erfülle – bei ihm konnte sie es nicht.

»Er wird ihn töten,« flüsterte sie vor sich hin; »er hat eine schändliche Absicht dabei.«

Der Eintritt Guaratos unterbrach sie. Hastig wandte sie sich ab.

»Wie Sennora, Sie weinen?« fragte Don Luis spöttisch. »Vielleicht über das Unglück, das mir vorher hätte passieren können? O, wie dankbar bin ich Ihnen!«

Sie hatte ihre Tränen getrocknet und trat mit blitzenden Augen vor ihn hin.

»Sie wollen den Kapitän heute nacht zu einer Versammlung Ihrer scheußlichen Indianer führen,« sagte sie drohend und mit zitternder Stimme. »Ich kenne Ihren Plan, Sie wollen ihn töten! Aber hüten Sie sich! Wenn ihm das geringste Unglück geschieht, werde ich ihn rächen, wie nie ein Mann gerächt worden ist!«

»Steht es bereits so?« fragte Don Luis, seinen Ingrimm unter einem erzwungenen Hohn verbergend. »Zuerst diesen faden Don Alfonso, nun den schmucken französischen Kapitän. Sie werden es weit bringen, Sennora! Wollen Sie mich dafür verantwortlich machen, wenn den Franzosen eine mexikanische Kugel trifft, was ich allerdings nicht wünsche?«

»Ja, Sie bürgen mir dafür, daß er lebend zurückkehrt – sonst – – nun, Sie kennen mich!«

»Leider lerne ich Sie immer besser kennen,« sagte Don Luis. »Werden Sie denn stets diese Fremdlinge, die kommen und gehen wie Wandervögel, vorziehen, dem der –«

»Erinnern Sie mich nicht an die Vergangenheit, und denken Sie an meine Worte!« rief Marion. Dann eilte sie fort.

Sie blieb unsichtbar, so lange wenigstens, bis Don Luis mit Edmond und zwei Indianern die Hacienda verließ. Und als sie dann erschien, war sie verstört und hielt nur mit Mühe ihre Tränen zurück.

Inzwischen ritten Don Luis und Edmond auf ihren Maultieren nach Mirador, wo sie Alfonso bereits erwartete.

Der junge Mann stellte Edmond seinem freundlichen Wirt vor und führte ihn durch die Hacienda, in der alles so sauber und geordnet war, wie auf den mexikanischen Haciendas unreinlich und ungeordnet. Don Luis begleitete sie nicht dabei, sondern schwärmte auf eigene Faust auf dem Hofe herum.

»Wahrscheinlich wirbt er Proselyten für heute nacht,« sagte Ratorius, dem Alfonso ihr Vorhaben mitgeteilt hatte. »Ich billige diese nächtlichen Feste nicht, es geht dabei absonderlich zu; aber derartige alte Gewohnheiten lassen sich nicht so leicht ausrotten. Gefahr fürchte ich nicht für Sie, denn die Indianer und Neger tun dem Europäer und Kreolen nichts zu leide, wenn sie nicht aufs äußerste gereizt werden. Ich würde selbst mit Ihnen gehen, wenn ich nicht stündlich die Ankunft eines Freundes aus Europa erwartete.«

Bald darauf brachen die drei Männer auf. Sie ritten auf einer leidlich gebahnten Straße ungefähr eine Stunde fort. Dann mußten sie ihre Maultiere in einem kleinen Rancho zurücklassen, da der Weg von jetzt ab nur für Fußgänger geeignet war. Inzwischen war es bereits Nacht geworden. Die beiden Indianer zündeten Fackeln an und schritten vor den drei Männern her.

Beim Gehen erzählte Edmond seinem Freund in französischer Sprache, daß Marion ihn gewarnt und was sie ihm gesagt hatte. Alfonso war bestürzt und sagte, in diesem Falle hätte Edmond nicht gehen sollen. Er stimmte jedoch endlich mit Edmond darin überein, daß Marion die Gefahr vermutlich übertrieben hatte. Jedenfalls beschlossen sie, ein wachsames Auge auf Don Luis zu haben und sich beim ersten Anschein von Gefahr ihrer Waffe zu bedienen. Jeder von ihnen hatte zwei sechsläufige Revolver bei sich und Edmond trug außerdem noch seinen Degen.

»Wonach riecht es hier?« fragte Edmond, als ein Luftzug ihm einen unangenehmen Schwefeldunst entgegentrug.

»Wir nähern uns den warmen Quellen,« sagte Don Luis. »Bald sind wir dort.«

Dann erreichten sie eine Art Gebirgskessel, der rings von steilen Wänden umgeben war, in denen sich dunkle Oeffnungen wie die Eingänge zu Höhlen zeigten.

»Wir sind etwas früh gekommen,« sagte Don Luis. »Die Indianer sind noch nicht hier. Aber sie werden nicht lange ausbleiben. Wir wollen uns die Bannos (Bäder) besehen.«

Es war nicht viel Merkwürdiges daran. Aus natürlichen Becken, die ringsum mit einer schwefeligen Kruste überzogen und deren Umgebung verdorrt oder verbrannt erschien, sprudelten die warmen Quellen hervor, die Luft mit einem fast unerträglichen Schwefeldunst erfüllend. Edmond und Alfonso gaben die nähere Untersuchung bald auf und lagerten sich mit Don Luis auf einer Steinplatte, von der aus sie, wie der Kreole sagte, alles deutlich würden übersehen können. Die Fackeln wurden ausgelöscht und tiefe Dunkelheit umgab die Männer. Nur ihre Zigarren glimmten.

Bald hörten sie es um sich rascheln und rauschen. Es war, als ob wilde Tiere durch die Büsche und über die Steine huschten. Dann begann ihnen gegenüber auf einer Steinplatte ein Feuer aufzuglimmen, dessen Schimmer eigentümlich blau war, vermutlich weil es aus Reisern genährt wurde, die von den Quellen mit Schwefel getränkt wurden. Um das Feuer herum bewegten sich dunkle Gestalten. Als die Flamme allmählich anwuchs und helleres Licht von sich gab, erkannten die Männer, daß die Steinplatte, auf der das Feuer angezündet war, auf der einen Seite mit einer großen Oeffnung in der Felswand zusammenhing. Ringsum, nur nicht auf jeder Felsenseite sahen dichtgedrängt, auf dem Boden niedergekauert, regungslos eine Menge von Indianern, Greise, Männer, Weiber und Kinder, deren bräunliche, von dem blauen Schwefeldunst beschienenen Gesichter einen höchst seltsamen, fast unheimlichen Eindruck machten. Die ganze Feierlichkeit schien sich nur sehr langsam zu entwickeln, auch war die Entfernung etwas groß. Edmond äußerte deshalb zu Don Luis den Wunsch, näher hinanzugehen. Luis sagte, daß er vorher mit einem alten Indianer, einem »Eingeweihten«, sprechen müsse und verschwand. Er blieb ziemlich lange aus und brachte dann die Nachricht, daß sie sich nähern könnten, sobald die Indianer sich erhöben. Jetzt seien alle im Gebet und die Gegenwart von Fremden werde nicht gewünscht. Uebrigens sei der gegenwärtige Teil der Feier nicht besonders interessant. Das Sonderbare komme erst später.

Eine Stunde verging noch ungefähr in derselben Art und Weise. Einzelne Priester, die das Feuer nährten, schienen Gebete zu sprechen, die die Menge nachmurmelte. Noch kamen immer neue Teilnehmer. Plötzlich stimmte einer der Eingeweihten einen hellen Gesang an, in den die ganze Menge einfiel. Das vorher noch so stille Felsental erdröhnte plötzlich von wilden Klängen. Die Indianer erhoben sich. Don Luis winkte seinen beiden Gefährten und sie verließen miteinander ihren bisherigen Platz und näherten sich den Indianern.

Das Feuer verlor jetzt plötzlich seinen bläulichen Schein und prasselte, da neue Reisigbündel hineingeworfen wurden, in lichte Lohe empor und leuchtete weithin mit hellem Glanze. Auch aus der Höhle strahlte es wie Feuer hervor. Sie schien groß zu sein und offenbar sollte sie von jetzt ab zum Mittelpunkt der ganzen Feierlichkeit dienen, denn die Schar der Priester hatte sich um eine Art Altar aufgestellt. Die Männer beschlossen deshalb, näherzutreten und womöglich in die Höhle selbst einzudringen.

Niemand setzte ihnen Widerstand entgegen. Edmond und Alfonso hatten Muße genug, sich die verschiedenen Indianer anzusehen.

Don Luis flüsterte seinen Begleitern einige Worte zu, die sich auf die Schönheit der jungen Indianerinnen bezogen und zugleich verrieten, daß die Feierlichkeit später in eine Orgie ausarte. Edmond und Alfonso erklärten jedoch mit Bestimmtheit, daß sie diesen Teil der Feierlichkeit nicht abwarten wollten.

»Wie gefällt Ihnen jene Indianerin dort, die neben dem Altar kniet?« fragte Don Luis.

Die beiden Männer erblickten in der angedeuteten Richtung sine kaum mittelgroße, wunderschön geformte, sehr junge Indianerin. Fast unmöglich konnte man sich eine vollendetere Gestalt denken; es war Edmond und Alfonso, als sähen sie die Bronzestatue eines ideal schönen Mädchens. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die vollkommene Regungslosigkeit der Indianerin. Die Arme verschränkt, den Kopf niedergebeugt, schien sie ganz und gar ihrem Gebete hingegeben. Sie konnte nicht älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre sein.

»Wie gefällt sie Ihnen?«, fragte Don Luis flüsternd. »Es ist ein Mädchen von meiner Hacienda, ein ganz wunderbares, seltsames Geschöpf. Sie steht im Geruche der Zauberei. Vielleicht sehen wir später eines ihrer Kunststückchen. Jetzt kommt die indianische Taufe. Dabei müssen wir uns ganz ruhig verhalten.«

In der Mitte der Höhle befand sich ein Altar von ziemlich großem Umfange. Er war mit den wunderlichsten Sinnbildern der längst untergegangenen aztekischen Herrlichkeit geschmückt, mit sonderbaren Tiergestalten, Adlern, Schlangen, Skorpionen, Hunden, Fledermäusen. Auch einige alte Götzenbilder standen auf dem Altar. Die Priester mit ihren langen Gewändern gingen und kamen und machten eine Menge überflüssiger Zeremonien, um die Gemüter der Gläubigen zu beschäftigen und die Würde ihrer Handlung zu erhöhen. Da wurden Teller und Messer gesegnet, die Götzenbilder befragt; die Indianer knieten, beteten und murmelten bis alle in der Höhle versammelt waren und ein betäubender Dunst von einer Art Weihrauch sie erfüllte. Dann begann ein plötzliches lautes Singen oder vielmehr Schreien, währenddessen vier neugeborene Kinder von ihren Müttern nach dem Altar getragen und darauf niedergelegt wurden. Die Mütter stürzten sich betend vor dem Altar auf die Knie.

Es unterlag gar keinem Zweifel, daß hier noch die Zeremonie stattfand, mit der die alten Ureinwohner Mexikos die neugeborenen Kinder in die Gemeinschaft der Menschen aufgenommen hatten, also das, was wir Taufe nennen. Es fehlte auch nicht an einem Becken mit Wasser, in das die Kinder getaucht wurden. Dann legte man neben die Knaben Schild und Schwert oder Ackerwerkzeug, neben die Mädchen häusliche Werkzeuge als Zeichen ihrer zukünftigen Bestimmung nieder. Jede dieser Zeremonien wurde von vielen Gebärden und Worten begleitet und gewährte geraume Zeit. Die Hauptfeierlichkeit bestand jedoch darin, daß jedem Kinde etwas Blut aus dem Ohr oder der Zunge gezogen wurde. Dadurch sollte, wie es hieß, die Wirkung der christlichen Taufe aufgehoben werden – denn ihrer äußeren Religion nach sind die Indianer schon seit Jahrhunderten sämtlich Christen. Zugleich weihte man dabei die Kinder einem besonderen Schutzgotte, Nagual, mit dem sie für die Dauer des ganzen Lebens eng verbunden bleiben sollten. Gewöhnlich ist dieser Nagual ein Tier. Wird z. B. einem Knaben ein Wolf als Nagual gegeben, so bleibt der Knabe mit diesem Tiere in engster Verbindung, ja er kann später, wenn er die Zaubersprüche lernt, sich jeden Augenblick in einen Wolf umwandeln. Wird der Wolf verwundet und stirbt, so erkrankt auch der Indianer und stirbt.

Mit dieser »Taufe« waren die religiösen Zeremonien beendet, und die ganze Versammlung, von den Priestern begeistert, stimmte einen wilden Hymnus an und alles schrie wild durcheinander. Dann wurden große Krüge herumgereicht, aus denen jeder gierig trank.

»Kosten Sie,« sagte Guarato zu Edmond. »Das Getränk schadet nicht. Es berauscht nur die Indianer ein wenig, die im ganzen nicht an geistige Getränke gewöhnt sind.«

»Trinke nicht!« sagte Alfonso leise, aber bestimmt. »Der Trank ist sehr berauschend, ich kenne ihn.«

Natürlich lehnte Edmond nach dieser Warnung den Trank ab. Auf die Indianer begann er bereits seine Wirkung zu äußern. Sie wurden wilder, lebendiger, ausgelassener. Die jungen Mädchen begannen mit fliegendem Haar und ausgebreiteten Armen zu tanzen, zuerst um den Altar herum, dann in besonderen Gruppen. Die schöne Indianerin, auf die Guarato seine Begleiter aufmerksam gemacht hatte, lehnte am Altar. Sie schien die Beute einer tiefen Abspannung oder großer religiöser Schwärmerei zu sein, denn sie achtete nicht im Geringsten auf das, was um sie herum vorging.

Der Tanz hatte sich jetzt, immer allgemeiner werdend, bereits auch nach dem Raum vor der Höhle hinausgezogen. Die Krüge mit dem berauschenden Trank wanderten noch immer von Hand zu Hand. Jeder sang, schrie, tobte, wie es ihm gefiel. Das Ganze nahm einen bacchantischen Anstrich an. Edmond und Alfonso sprachen laut ihre Ansicht aus, daß es Zeit sei, zu gehen. Don Luis schien nicht so zu denken; ihn reizten einige Indianerinnen, vor allem diejenige, die an dem Altar stand.

»Caramba,« sagte er, »was ist die Dirne hübsch geworden! Als ich im vorigen Herbst meine Hacienda verließ, war sie fast noch ein Kind. Jetzt verdient sie wahrhaftig Aufmerksamkeit. Im übrigen ist sie nicht spröde.«

»So?« fragte Edmond gleichgültig. »Sie haben also bereits Studien gemacht?«

»Natürlich!« antwortete Guarato lachend. »Wenn einem eine Indianerin gefällt, so bittet und wirbt man nicht lange, man nimmt! Und Dijaza ist ein tolles Ding. Sie hat noch das ganze leidenschaftliche Blut ihrer Rasse. Aber ich glaube, sie liebt mich.«

Gerade als die beiden Freunde ihre Blicke auf die Indianerin richteten, erhob sie den Kopf. Starr blickte sie herüber zu den Männern, scheinbar noch geistesabwesend. Neben ihr auf dem Altar stand ein großer Krug mit berauschendem Wasser; sie nahm ihn und tat einen langen Zug daraus. Plötzlich richtete sie sich auf, schüttelte den Kopf, ergriff einen Dolch, der auf dem Altar lag, und schwang ihn mit einer eigentümlichen Gebärde durch die Luft.

»Ah,« sagte Guarato, »sie will einen Kriegstanz beginnen – das ist recht, das wird Sie amüsieren. Sie finden nicht leicht eine zweite Gestalt wie sie.«

Darin hatte er recht. Erst in der Bewegung trat die ganze Regelmäßigkeit und Schönheit der Formen dieser braunen Hebe hervor. Sie schwang mehrmals den Dolch über ihrem Kopf durch die Luft, dann trat sie einige Schritte vor, lehnte den Oberkörper weit zurück und stieß einen schrillen Ruf aus. Sich in den Hüften wiegend, den Dolch vorgestreckt, schritt sie dann, halb tanzend, halb gehend, um den Altar herum, als ob sie einen Feind erspähe, warf sich nieder, kroch auf Händen und Füßen weiter, sprang wieder auf und ahmte so die Bewegungen eines Kriegers nach.

»Dijaza tanzt! Dijaza tanzt!« riefen mehrere Indianer, und es sammelte sich eine Schar von Männern und Weibern, um ihr zuzuschauen. Auch Edmond und Alfonso blieben stehen.

Mehrmals machte Dijaza Scheinangriffe auf Indianer, die in der Nähe standen, und diese fuhren dann stets mit einem Schrei des Schreckens, der aufrichtig oder verstellt sein konnte, zurück. Jetzt näherte sie sich zum ersten Male auch den Fremden. Der Eindruck, als ob eine prächtige Bronzestatue des Altertums lebendig geworden sei, war fast täuschend – auf den braunen Gliedern der Indianerin spielte die rote Glut wie auf braunem Erz und verlieh ihr etwas Schlangenartiges, Unruhiges, die Blicke gleichsam Bezauberndes. Mehrmals erhob sie den Dolch und schwang ihn gegen die drei Männer, die natürlich nicht zurücktraten, um nicht ängstlich zu scheinen bei einem Tanze, der doch nur ein Spiel war. Dijaza schien auf dem Gipfelpunkt ihrer Raserei angekommen. Die Nasenlöcher weit geöffnet, die Augen funkelnd, richtete sie ihre Blicke auf die Fremden, umkreiste sie in schwindelnd schnellem Laufe und warf dann plötzlich ihren Dolch nach ihnen. Edmond fuhr zusammen; der Dolch hatte seine Brust getroffen. Zugleich war Dijaza mit einem langen geltenden Schrei unter der Masse der Indianer verschwunden.

»Wäre der Dolch schärfer gewesen, so hätte das rasende Mädchen mich ernstlich verwunden können,« sagte Edmond lächelnd und bückte sich, um den Dolch, der an die Erde gefallen war, aufzuheben.

»Mein Gott – Sie sind doch nicht verletzt?« rief Guarato. »Das wahnsinnige Geschöpf! Wer konnte das denken! Lassen Sie den Dolch liegen, er könnte vergiftet sein!«

»Oho,« sagte Edmond, und das Lächeln wollte ihm nicht gelingen. »Das wäre böse! Denn verwundet bin ich allerdings, wenn auch nur leicht auf der Brust.«

»Um Gotteswillen!« stöhnte Alfonso, der bleich geworden war wie der Tod. »Oeffnen Sie den Rock! Zeigen Sie!«

Edmond hatte den Rock bereits aufgerissen, ebenso die Weste und das Hemd. Mitten auf der Brust zeigten sich einige Blutstropfen. In demselben Augenblick griff er nach Alfonsos Hand, wie um sich zu halten. Aber sein Arm sank schlaff nieder, seine Füße schwankten, sein Gesicht nahm einen starren, gleichgültigen Ausdruck an, und er fiel nieder.

»Heilige Mutter Gottes, welches Unglück!« rief Guarato, die Hände ringend. »Der Dolch war vergiftet! Was können wir tun? Wo ist Rettung? Hilfe! Hilfe!«

»Ja, Hilfe, wenn es der Arm wäre!« sagte Alfonso leichenblaß und mit klangloser Stimme. »Gott im Himmel, steh mir bei! Mann, helfen Sie mir!« rief er dann Guarato zu. »Hier ist ein Bubenstück im Spiel, helfen Sie, wenn ich nicht denken soll –«

Er hatte bereits Edmonds Körper ergriffen, der vollkommen starr war, und trug ihn nach dem Altar. Einige von den Eingeweihten waren herbeigeeilt. Das ungewöhnliche Ereignis schien sie ernüchtert zu haben. Sie jammerten und rangen die Hände.

»Was ist es für Gift?« rief Alfonso. »Ihr steht mir mit Eurem Leben für das dieses Mannes. Ihr alle die ihr hier seid! Welches Gift ist es? – Ihr müßt es wissen! Wer hat den Dolch vergiftet?«

»Es ist Quarari,« antwortete ein alter Indianer. »Keine Rettung, Sennor. Die Brust ist getroffen.«

»Wenn es das Gift ist, das Du nennst – Curare meine ich – so wäre noch Rettung möglich,« sagte Alfonso, tief aufatmend. »Helft mir, den Freund entkleiden, vor allem den Hals aufmachen, schafft alle Neugierigen aus der Höhle! Bei Gott, ich schieße den nieder, der mir im Wege steht und mich hindert!«

Er zerriß Edmonds Hemd und legte den Hals frei. Edmond war vollkommen regungslos. Guarato stand mit entsetzter Miene dabei, bald auf den Toten, bald auf Alfonso starrend. Gab es denn ein Mittel gegen dieses tötliche Gift, das sicherer wirkte wie die bestgezielte Kugel? Genügte nicht die kleinste Quantität Curare, wenn sie sich mit dem Blute vermischt, in wenigen Minuten einen Menschen oder selbst den stärksten Stier zu töten?

»Geht und holt mir ein ganz dünnes Rohr mit einer Spitze,« sagte Alfonso zu einem der Indianer. »Und dann haltet die Höhle frei! Ich schieße den nieder, der sich mir ungerufen naht.«

Dann untersuchte er genau Edmonds Kehlkopf und näherte das kleine Messer, das er in der Hand hielt, dem Halse des Freundes. Einen Moment hielt er inne und zitterte. Dann machte er einige Schnitte mit dem Messer in den Kehlkopf. Edmond rührte sich nicht. Er war seinem Aussehen und seiner Starrheit nach für jedes menschliche Auge eine Leiche.

»Du eilst nach Mirador und rufst Herrn Ratorius mit einigen Leuten,« herrschte Alfonso einen Indianer an. »Sage, er solle seine Arzneimittel mitbringen. Weh dem, der mir nicht gehorcht!«

Der Indianer eilte fort, Alfonso beugte sich nieder und blies mit dem Munde Luft in die kleine Oeffnung des Kehlkopfs. Als seine Kraft erschöpft war, zwang er die Indianer, dasselbe zu tun. Sie wechselten ab, bis das kleine Rohr kam, das sie dann wechselseitig zu demselben Zweck benutzten.

Es konnte auch dem unwissendsten Indianer nicht zweifelhaft sein, daß Alfonso versuchte, dem Leblosen wieder Leben einzublasen. Aber was sollte das bei einem Toten nutzen? Dennoch ließ Alfonso nicht ab. Die Indianer mit ihren starken Lungen mußten sich alle zwei Minuten ablösen, und um sie anzufeuern, ließ er sie Wein trinken, den er mitgebracht hatte.

Draußen war es still geworden. Die Nachricht von dem geschehenen Unglück hatte die Indianer ernüchtert und die Furcht vor Verantwortung hatte sie verscheucht. Nur sechs Eingeweihte waren auf Alfonsos strengen Befehl zurückgeblieben. Guarato stand wie betäubt da und sah dem allen zu, als ob er seinen Verstand verloren habe und blödsinnig geworden sei.

Darüber waren zwei Stunden vergangen. Von Zeit zu Zeit, wenn die Indianer erschöpft innehielten, prüfte Alfonso auf das Sorgfältigste Edmonds Körper, lauschte mit dem Ohr auf dem Herzen, befühlte Arme und Füße und strich die Muskeln. Sein Gesicht war etwas ruhiger geworden. Hatte er Hoffnung gefaßt?

»Gelobt sei Gott!« rief er plötzlich und richtete einen Blick voll unsäglicher Freude und Dankbarkeit zum Himmel empor.

Noch war es den anderen unverständlich, was er damit meine. Aber Alfonso hatte ein leichtes Zucken in Edmonds einem Fuß bemerkt. Und in der Tat begann jetzt Edmond Lebenszeichen zu geben. Alfonso ließ sogleich mit dem Einblasen der Luft aufhören und verschloß die Oeffnung am Kehlkopf mit einem Lederläppchen und einem Tuch. Dann zuckte es in Edmonds Armen und Füßen, seine Gesichtszüge verzerrten sich wie im furchtbarsten Schmerz, der Körper wand sich wie in konvulsivischen Zuckungen. Dann plötzlich stieß der Erwachende einen dumpfen Schrei aus, die Augen rollten ihm im Kopfe. Alfonso hatte die Hände gefaltet und stand in stummem Schmerz, während ihm große Tränen über die Wangen rollten.

Die Indianer waren auf die Knie gesunken und blickten auf Alfonso in stummer, ehrfurchtsvoller Scheu, als sei er ein Gott. Don Luis Guarato saß auf einem Stein, das Gesicht fahl, mit schlotternden Gliedern. Er sah aus wie ein alter Mann.

In diesem Augenblick langte Ratorius mit seinem Freunde, von einigen Dienern gefolgt, an. Alfonso winkte den Atemlosen zu sich und erzählte ihm, wahrend er fortdauernd Edmonds Glieder mit einem wollenen Tuche sanft rieb, leise und schnell, was vorgefallen war. Ratorius war außer sich vor Erstaunen.

»Haben Sie Heftpflaster oder sonst ein gutes Mittel, um eine Wunde zu schließen?« fragte Alfonso, und als Ratorius bejahte und einen ganzen Verbandapparat zum Vorschein brachte, löste er den früheren Verband und verschloß die Wunde nun mit Charpie und Heftpflaster in aller Form.

Währenddessen begann der junge Kapitän regelmäßiger zu atmen, während auch sein Körper immer noch von heftigen Schmerzen durchzuckt schien. Alfonso wickelte ihn nun in mehrfache wollene Decken und netzte ihm öfters die Lippen mit Wein.

»Ich wünschte, er könnte schlafen,« sagte Alfonso. »Nun, gerettet ist er, das hoffe ich zu Gott!«

»Aber wie ist das möglich?« rief Ratorius. »Das Curaregift ist absolut tötlich.«

»Doch nicht, wie Sie hieraus ersehen,« antwortete Alfonso. »Ein Zufall hat mich Kenntnis davon erlangen lassen, daß dieses gefürchtete Pfeil- und Dolchgift der Indianer in seinen tödlichen Wirkungen aufgehalten werden kann, wenn augenblickliche Hilfe bei der Hand ist.«

Er betrachtete dabei fortwährend Edmond, dessen Gesicht jetzt wieder Farbe angenommen hatte und auf dessen Zügen eine tiefe schmerzliche Ermattung ruhte.

»Ein Freund von mir, ein Mediziner,« fuhr Alfonso fort, »führte mich im vorigen Jahre, als ich in Paris war, in die Vorlesungen des berühmten Arztes und Physiologen Claude Bernard. Dieser äußerst scharfsinnige Mann hat sehr viel mit dem Pfeilgift der südamerikanischen Indianer experimentiert und ist zur Entdeckung einer Reihe der wunderbarsten Tatsachen gelangt. Claude Bernard behauptet nun, ein mit dem Pfeilgift Verwundeter müsse bis zum letzten Augenblick, bis die tödliche Lähmung der Lunge erfolgt, sein volles Bewußtsein behalten. Nach dieser Annahme müßte mein armer Freund unsägliche Qualen erduldet haben, und darauf deutet auch in der Tat alles hin. Nun, wir werden es ja erfahren!«

Ratorius umarmte stumm den jungen Mann. – Es handelte sich jetzt darum, was mit Edmond geschehen müsse. Er hatte die Augen geschlossen und atmete tief und schwer wie ein Schlafender. Aber er schlief dennoch nicht. Als Alfonso ziemlich laut mit Herrn Ratorius davon sprach, ob es nicht besser sei, ihn nach Mirador zu tragen, sagte er mit halblauter, eigentümlich rauher Stimme:

»Nein, gönnt mir Ruhe!«

»Gott sei Dank, er versteht uns,« sagte Alfonso halblaut, dann beugte er sich zu Edmond nieder und sagte ihm ins Ohr: »Nicht sprechen, teuerster Freund, nicht den Hals bewegen, bis die Wunde ein wenig verharscht ist. Es hängt sehr viel davon ab. Ja, Sie bleiben hier. Schlafen Sie wenn Sie können. Wollen Sie trinken?«

Und als Edmond bejahte, hielt ihm Alfonso die Flasche an den Mund und sorgte dafür, daß er ein Glas Wein langsam und tropfenweise zu sich nahm.

»Ueberlassen wir ihn ein wenig sich selbst,« sagte Alfonso. »Wir wollen ein wenig schlafen. Oder kehren Sie zurück, Herr Ratorius?«

»Auf keinen Fall,« erwiderte der Deutsche. »Ich verlasse Sie und Ihren Freund nicht.«

Alfonso befahl nun den Indianern, über Edmond zu wachen und nicht zu dulden, daß irgend jemand ihm nahe – »auch nicht Don Luis Guarato!« fügte er hinzu, da der Kreole die Höhle auf einen Augenblick verlassen hatte. Bei der geringsten Veränderung, die sich in Edmonds Befinden zeigte, sollten die Indianer ihn wecken.

Noch vor Tagesanbruch jedoch war Alfonso wach. Alle anderen, die wachenden Indianer ausgenommen, schliefen noch, auch Guarato, der in einer Ecke lag, neben sich eine leere Weinflasche. Alfonso trat leise zu Edmond. Der junge Kapitän atmete leicht und regelmäßig. Alfonso nickte zufrieden mit dem Kopfe und ging dann vor die Höhle, um die frische Luft zu genießen.

Noch standen die Sterne prächtig am Himmel. Alfonso blickte dankbar zu ihnen empor. Ihm war so seltsam leicht, so froh. Er hatte ein Menschenleben gerettet, daß jeder andere für verloren hielt! Er fühlte die ganze Wonne einer vollbrachten Tat!

Sollte die Verwundung wirklich nur auf Rechnung der Ueberreizung und Aufregung Dijazas zu schreiben sein? Dieser Gedanke ging ihm durch den Kopf. Er erinnerte sich der Warnung Marions, die ihm Edmond mitgeteilt und erinnerte sich auch, gesehen zu haben, daß Don Luis mit einer Indianerin sprach, obwohl er freilich nicht behaupten konnte, daß es Dijaza gewesen sei, denn das unsichere schwankende Licht der Fackeln und Feuer hatte bei der großen Entfernung kein Erkennen gestattet. Aber unwahrscheinlich war die Annahme nicht, sobald man überhaupt Don Luis eines solchen Verbrechens für fähig hielt.

Alfonso kam endlich zu dem Beschluß, Guarato nicht unmittelbar anzuklagen, sondern das weitere Verhör des Kreolen abzuwarten und inzwischen ein scharfes Verhör mit Dijaza anstellen zu lassen.

Gestärkt kehrte Alfonso in die Höhle zurück. Ratorius und dessen Begleiter erwachten. Auch Edmond ließ Zeichen eines nahen Erwachens erblicken. Sein Schlaf war vollkommen der eines gesunden Menschen.

Ratorius begann, Kaffee zu bereiten. Ein Indianer war abgeschickt, Milch aus einem benachbarten Rancho zu holen, oder die erste beste Ziege oder Kuh, die er treffen würde, zu melken. Als die Maschine summte, erwachte Edmond. Mit weitgeöffneten Augen blickte er nach der Decke der Höhle empor. Dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und richtete sich auf. Er mochte noch einen leichten Schmerz im Kehlkopf empfunden haben, denn er griff rasch mit der Hand dorthin und schien verwundert, dort einen Verband zu fühlen.

»Was ist das?« fragte er; seine Stimme hatte einen etwas rauhen Klang.

»Es wird besser sein, lieber Freund, wenn Du so wenig als möglich sprichst!« sagte Alfonso und legte seine Hand beruhigend auf Edmonds Schulter. »Wirst Du aufstehen können?«

»Warum nicht?« fragte Edmond. »Was ist denn das überhaupt alles? Es ist mir, als hätte ich entsetzlich schwer geträumt. Mir sind die Glieder so schwer und matt. Wo bin ich eigentlich?«

»Du bist immer noch in der Höhle, die wir gestern abend besuchten,« antwortete Alfonso.

»Gestern abend?« fragte Edmond kopfschüttelnd. »Mir ist, als sei eine Woche seitdem vergangen und ich hätte ein schweres Fieber gehabt.«

»Sprich jetzt nicht weiter!« unterbrach ihn Alfonso sanft, aber bestimmt. »Komm, wir wollen Dich in die frische Luft hinausführen; Du bist verwundet worden. Wir haben die Wunde verbunden.«

»Verwundet?« sagte Edmond. »Ja, das Mädchen warf einen Dolch nach mir. Was habe ich aber hier oben am Halse? Das Sprechen verursacht mir eine eigentümliche Empfindung –«

»Darum laß es jetzt gut sein!« unterbrach ihn Alfonso. »Versuche, ob Du Dich aufrichten kannst.«

Allerdings schien Edmond wie von einem Schwindel ergriffen. Aber Alfonso, Ratorius und dessen Freund unterstützten ihn und hoben ihn von dem Altar herunter. Dann hielten sie ihn, so daß er stehen konnte, und führten oder trugen ihn vielmehr aus der Höhle.

Die Schlucht draußen lag noch im tiefen Schatten des Morgens. Aber auf den Felsspitzen glühte bereits die heiße Maisonne. Edmond setzte sich auf die Steinplatte nieder. Alfonso wickelte ihn in Decken ein. Der junge Kapitän, dessen Gesichtsfarbe blaß war und den zuweilen ein Zittern überlief, atmete langsam, tief und mit sichtlichem Wohlbehagen die frische Luft.

»Ich habe Dir seltsame Dinge zu erzählen,« sagte Alfonso. »Aber Du mußt noch ein wenig kräftiger sein. Da ist der Kaffee, trinke davon, aber nur wenn Du danach Bedürfnis fühlst.«

»O, ich habe einen heftigen Durst, und es ist mir, als rolle mir statt des Blutes eine schwere, glühende Masse durch die Adern,« antwortete Edmond. Dann trank er den schwarzen Kaffee mit großer Begier. Der Trank schien ihm sehr wohl zu tun. Er verlangte aufzustehen und schritt an Alfonsos Arm langsam auf der Steinplatte hin und her.

Jetzt erschien auch Don Luis Guarata am Eingange der Höhle. Alfonso war der einzige, der ihn genau und scharf beobachtete. Die Unsicherheit und das Scheue in dem Wesen des Kreolen entgingen ihm nicht. Er bat Edmond, den Arm des Herrn Ratorius zu nehmen und ging zu Don Luis, um ihm zu sagen, daß er mit dem Kapitän noch nicht über das Vorgefallene sprechen möge. Offenbar fürchtete Alfonso, sein Freund werde zu aufgeregt sein, wenn er die volle Wahrheit erfahren werde.

Indessen fühlte sich Edmond mit jeder Viertelstunde kräftiger. Er äußerte jetzt den Wunsch, nach der Hacienda Lamothe zurückzukehren. Sein Pflichtgefühl erlaube ihm nicht, länger fortzubleiben. Da er in der Tat kräftig genug schien, um den Weg durch die Barranca nach dem Orte zurückzulegen, an dem sie die Maultiere gelassen hatten, so wandte Alfonso nichts gegen die Rückkehr ein. Er sah voraus, daß der Kapitän sich erst wieder beruhigen werde, wenn er sich inmitten seiner Chasseurs befinde. Ratorius und Alfonso geleiteten Edmond. So erreichten sie den Rancho, wo die Maultiere standen.

Natürlich bat Ratorius die Herren, zum Frühstück bei ihm vorzusprechen.

Auf dem Wege nach Mirador sahen sie plötzlich mehrere Gestalten zu Pferde. Ihre funkelnden Helme, sowie die schimmernden Uniformen verrieten, daß es Chasseurs seien. Zwischen ihnen schien sich noch eine andere Person zu befinden, die wegen der weiten Entfernung nicht zu erkennen war, aber wie eine Frau gekleidet zu sein schien.

Als Edmond und seine Begleiter auf der Höhe angelangt waren, brachen die braven Soldaten beim Anblick ihres Kapitäns in ein lautes Hurrarufen aus. Edmond betrachtete sie nicht ohne Strenge und Mißmut. Er wollte auf sie zureiten, aber Alfonso kam ihm zuvor und sagte zu ihnen:

»Machen Sie, daß Sie fortkommen! Sie haben vermutlich erfahren, daß Ihr Kapitän in großer Gefahr geschwebt hat. Aber er ist gerettet und wohlauf. Er weiß noch gar nicht einmal, in welcher Gefahr er sich befand. Es ist doch alles in Ordnung auf der Hacienda?«

Die Antwort lautete vollkommen beruhigend.

»Wer war die Dame, die sich in Ihrer Begleitung befand?« fragte Alfonso.

»Das Fräulein von der Hacienda. Sie muß zuerst die Nachricht erfahren haben – heute in aller Frühe ließ sie uns keine Ruhe – wir mußten aufbrechen. Sie ist jetzt zurückgeritten, um nicht gesehen zu werden.«

»Nun, so folgen Sie ihr schnell!« sagte Alfonso. »Der Kapitän könnte böse darüber sein, daß Sie Ihren Posten verlassen. Aber ich werde ihn beruhigen.«

Die Chasseurs grüßten und machten kurz Kehrt. Bald waren sie hinter Busch und Baum verschwunden.

»Es ist eine ganz verkehrte Welt!« sagte Edmond, seinen Freund bei dessen Rückkehr mit ernsten Blicken empfangend. »Da sehe ich meine Chasseurs, und Du reitest hin und gibst ihnen Befehle?«

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung,« sagte Alfonso, halb ernst, halb scherzend. »Es soll nie wieder geschehen. Wenn ich sehe, daß Du so kräftig bist, sollst Du schon in Mirador Auskunft haben. Nun tue mir den Gefallen und sprich nicht zu viel.«

Als die kleine Gesellschaft auf Mirador anlangte, war die ganze Bevölkerung der Hacienda versammelt und alle staunten Edmond an wie ein Weltwunder ... Das konnte ihm unmöglich entgehen und seine Stirn wurde immer gedankenvoller. Erst im Zimmer des Herrn Ratorius schien er sich etwas freier zu fühlen. Der Herr der Hacienda hatte den Befehl gegeben, nur für vier Personen zu decken. Selbst Guarato war ausgeschlossen worden, freilich absichtslos. Man sah ihn nicht auf der Hacienda.

Beim Frühstück trank Edmond auf Alfonsos Rat nur einige kleine Gläser von dem leichten Rotwein. Er fühlte sich jetzt, wie er sagte, körperlich ganz wohl.

»Nun denn,« sagte Alfonso, »so will ich Dir alles sagen.« Und er begann Edmond langsam und vorsichtig zu erzählen, worum es sich gehandelt habe. Dennoch war der Eindruck auf den jungen Kapitän gewaltig. Er stand auf, und die Hände auf die Lehne seines Stuhles gestützt, die Augen weit geöffnet, blickte er starr auf Alfonso. Dann drückte er die Hände vor das Gesicht. Alfonso war aufgestanden, legte die Arme um den schwankenden Freund und sprach nur noch flüsternd zu ihm. Edmond hatte das Gesicht auf Alfonsos Schulter gelegt, um seine Bewegung zu verbergen.

Ratorius und sein Freund hatten das Zimmer schweigend verlassen. Als Edmond endlich aufblickte, waren seine Augen naß und mit dankerfülltem Ausdruck flüsterte er: »Wie wunderbar! O Gott, ich danke Dir für einen solchen Freund! Alfonso, wie werde ich Dir jemals sagen können, wie sehr ich Dir danke? Vergelten nie!«

»Du ahnst nicht, wie glücklich ich bin,« antwortete Alfonso leise. »Ich bin mehr als belohnt!«

Edmond stützte sich mit der einen Hand auf den Tisch, mit der anderen hielt er die Rechte Alfonsos.

»Was sollen Worte!« flüsterte er.

Die beiden Freunde schlossen sich in die Arme und ruhten lange Brust an Brust.

Eine Stunde darauf machten sie sich auf den Weg nach der Hacienda des Monsieur Lamothe. Alfonso erinnerte seinen Freund freilich daran, daß er nicht nach der Hacienda zurückkehren wollte. Aber Edmond wollte von einer solchen Trennung nichts wissen.

»Der Zufall hat uns hier in einer seltsamen Weise zusammengeführt und dieses Zusammentreffen hat so wunderbare Früchte getragen,« sagte er, »daß es eine Sünde wäre, wenn wir uns die Stunden des Beisammenseins selbst verkürzen wollten. Du bist mein Arzt und mußt bei mir bleiben.«

So entschloß sich denn Alfonso, den Freund zu begleiten, und sie ritten, nur von ihren Arrieros gefolgt, nach der Hacienda Lamothe.

Als die beiden Freunde Edmonds Quartier erreicht hatten, kam ihnen Lamothe entgegen. Er hatte ebenfalls von dem seltsamen Ereignis erfahren und brachte Edmond seine Glückwünsche dar. Die Chasseurs empfingen ihren Kapitän mit soldatisch wildem Jubel. Marion war nicht zu sehen.

Da sich Edmond geistig und körperlich abgespannt fühlte, so ging er bald auf sein Zimmer und legte sich zu Bett, um zu ruhen. Alfonso blieb mit Lamothe zusammen und erzählte dem erstaunten Franzosen ausführlich, was geschehen war. Marion lauschte mit bleichem Gesicht und verhaltenem Atem hinter der Tür. Aber weder ihr Vater noch Alfonso sahen sie.

Es mochte ungefähr sechs Uhr nachmittags sein, als ein Ranchero auf den Hof der Hacienda ritt und nach dem Kapitän Tréport fragte, dem er eine Depesche zu überreichen habe. Nun mußte Edmond, der tief und ruhig schlief, geweckt werden. Vollkommen munter und frisch erhob sich Edmond und erbrach die Depesche.

Außer dem Ueberbringer war nur noch Alfonso bei ihm. Edmond las sehr lange an der nur kurzen Depesche, und es schien Alfonso, als sei das Gesicht des Freundes blasser geworden.

»Geh,« sagte Alfonso zu dem Ranchero, »laß Dir etwas zu essen und zu trinken geben.«

Als der Mann gegangen war, reichte Edmond Alfonso die Depesche und sagte:

»Lies! Wir müssen es noch geheimhalten.«

Alfonso las:

»Herr Kapitän! Unsere Truppen haben Puebla am 5. Mai angegriffen und haben sich zurückziehen müssen. Wir unterschätzten die Zahl und wohl auch die Tapferkeit der Verteidiger in den Forts Loreto und Guadelupe, gegen die wir vorzugsweise unseren Angriff richteten. Ein entsetzliches Unwetter kam überdies dem General Zaragoza, dem Kommandierenden von Puebla, zu Hilfe; genug, wir müssen bei der geringen Anzahl unserer Truppen den Angriff auf Puebla aufgeben, uns nach Orizaba konzentrieren und dort warten, bis wir Verstärkung erhalten haben. Da nun die Nachricht von unserem Mißlingen nicht ermangeln wird, den Mut der juaristischen Truppen zu erhöhen, und da wir uns darauf gefaßt machen müssen, auch in der Provinz Veracruz den Angriffen zahlreicher Guerillabanden ausgesetzt zu sein, so halten wir Ihre Stellung auf der Hacienda Lamothe für sehr exponiert und beauftragen Sie, sofort nach Empfang dieser Nachricht nach Orizaba zurückzukehren und das in San Martin befindliche Detachement an sich zu ziehen und ebenfalls hieherzuführen.«

»Also eine Schlappe!« sagte Alfonso achselzuckend. »Siehst Du, lieber Freund, ich habe es Dir vorher verkündet, diese Mexikaner werden Euch noch zu schaffen machen! Nun, ich begleite Dich nach Orizaba!«

»Das ist brav!« rief Edmond. »Und diese Scharte werden wir auswetzen, das schwöre ich! Wir brechen in einer halben Stunde auf. Benachrichtige Du Monsieur Lamothe; ich will inzwischen meinen Chasseurs die nötigen Befehle geben.«

Er eilte nach dem Hofe, und fünf Minuten später sah man die Chasseurs bereits ihre Pferde satteln.

Im Eßzimmer war der Tisch längst gedeckt. In der Küche stand Marion leichenblaß und starrte durch das Fenster hinaus auf den Hof, wo Edmond mit seinen Leuten sprach.

Der Haciendero konnte durch die Nachricht Alfonsos nicht anders als angenehm überrascht sein; ihm fiel mit der Entfernung Edmonds eine Last vom Herzen.

Edmond aß in aller Eile. Dann übergab er Lamothe die Anweisungen für die Verpflegung auf die französische Kasse in Orizaba und dankte ihm herzlich für die freundliche Aufnahme.

»Auch ich nehme Abschied,« sagte Alfonso, nicht ohne Bewegung dem Haciendero die Hand reichend. »Ich begleite meinen Freund nach Orizaba und kehre dann in meine Heimat zurück. Von dort aus werde ich Ihnen schreiben, wie es mir ergeht. Für alles Gute und Liebe, was Sie mir erwiesen –«

»Keine Worte, Don Alfonso!« unterbrach ihn Lamothe, selbst bewegt. »Gott weiß, wie gern ich Sie noch recht lange und gern hier gesehen hätte! Von Ihnen jemals wieder zu hören und Gutes zu hören, wird mir die größte Freude sein.«

Er umarmte den jungen Mann mit Herzlichkeit.

»Werden wir Mademoiselle Marion nicht noch einmal sehen?« fragte Edmond.

Lamothe ging hinaus und kehrte mit ernstem Gesicht zurück.

»Verzeihen Sie meiner Tochter,« sagte er, »aber sie ist jetzt nicht imstande, sich Ihnen zu zeigen!«

Die beiden hörten ein heftiges, krampfartiges Weinen aus dem Innern des Hauses. Hatte der Vater Marion eingeschlossen oder rang das wilde Mädchen im verzweifelten Kampfe gegen sich selbst und das herbe Geschick der Trennung? Alfonso wandte sich ab, um seine Bewegung zu verbergen. Edmond rief seinen Chasseurs zu, schwang sich auf sein Pferd, drückte Lamothe noch einmal die Hand und sprengte über den Hof.

Aus einem Fenster hörte er einen Schrei. Als er und Alfonso sich zurückwandten, sahen sie, wie Marion von irgend jemand zurückgerissen wurde.

Fünf Minuten später lag die Hacienda eine Strecke hinter ihnen und sie waren im stillen Walde.

»Ein Abschnitt meines Lebens ist abgeschlossen,« sagte Alfonso düster.

»Und viele neue und schönere werden beginnen,« antwortete Edmond tröstend.

»Du bist so munter und frisch,« sagte Alfonso. »Fühlst Du denn gar nichts mehr?«

»Nichts, gar nichts!« rief Edmond lebhaft. »Siehst Du nicht, daß ich auch den Verband schon abgenommen habe. Es ist nichts mehr übrig als eine kleine Narbe, die bald verschwinden wird. Und verschwindet sie nicht, so soll sie mir ein liebes Erinnerungszeichen sein – an Dich!«

Alfonso lächelte schwermütig, drückte aber dem Freunde herzlich die Hand.

Edmond de Tréport mußte die Nacht über in San Martin bleiben. Da nun auch Alfonso manches in Mirador zu ordnen hatte, ehe er die Hacienda und seinen Freund Ratorius verlassen konnte, so wurde zwischen den beiden jungen Männern verabredet, daß Edmond am folgenden Tage seine Chasseurs nach Orizaba führen und Alfonso ihn dort am nächsten oder nächstfolgenden Tage treffen solle. Wo die Wege nach Mirador und San Martin sich teilten, trennten sich die beiden Freunde, in der Hoffnung, sich in vierundzwanzig Stunden wiederzusehen.

Die Chasseurabteilung in San Martin, wo der Kapitän erst am Abend eintraf, war zufrieden, einen Ort verlassen zu können, in dem sie nicht mit großer Freundlichkeit behandelt wurden. Edmond traf Vorsichtsmaßregeln für die Nacht. Die Chasseurs mußten sich und ihre Pferde in drei großen, nebeneinander liegenden Häusern einquartieren und neben ihren Pferden angekleidet und zum Aufbruch bereit schlafen. Er selbst wählte ein Zimmer zur ebenen Erde in dem größten Hause für sich und legte sich früh zur Ruhe.

Er mochte einige Stunden geschlafen haben, als der wachthabende Chausseur ihn weckte und ihm meldete, es sei jemand draußen, der ihn in einer wichtigen Angelegenheit sogleich sprechen müsse. Edmond sprang von seinem Lager auf und befahl, den Fremden sofort hereinzuführen. Er hatte nicht im entferntesten daran gedacht, daß dieser Fremde eine Dame sein könnte. Aber sobald diese eintrat und noch ehe sie ihren Schleier zurückschlug, erkannte er Marion Lamothe.

Ihr Gesicht zeigte den Ausdruck wilder Verzweiflung.

»Verzeihen Sie mir!« rief sie, die Hände faltend. »Ich hörte, daß Sie in der Nacht angegriffen werden sollten, und ich hatte keine Ruhe, ich mußte Sie warnen.«

»Mademoiselle, ich verstehe Sie in der Tat nicht!« sagte Edmond ernst. »Sie sprechen von einem Angriff, der uns bevorsteht. Woher haben Sie diese Nachricht?«

»Ich irrte gestern abend im Walde herum. Da hörte ich Stimmen – es waren Kreolen – sie sprachen davon, daß in der Nacht gegen drei Uhr ein Angriff auf San Martin, wo Sie übernachten würden, stattfinden solle. Sollte Don Luis Guarato nicht die Hand im Spiele haben?«

»Das bezweifle ich,« antwortete der Kapitän kurz. »In politischer Hinsicht halte ich ihn für zuverlässig. Nun, ich danke Ihnen, Mademoiselle. Sie sehen, daß wir hier auf jeden Angriff vorbereitet sind. Und da das Zimmer eines Offiziers gewiß kein Aufenthalt für eine junge Dame ist, ersuche ich Sie dringend, sich ein passenderes Obdach in dem Hause irgend einer Ihnen befreundeten Familie zu suchen.«

»Lassen Sie mich hier,« sagte Marion. »Ich werde ruhiger sein, wenn ich Sie in Sicherheit weiß. O, lassen Sie mich Ihnen folgen, wenigstens bis Orizaba – ich kann es zu Hause nicht ertragen –«

»Mademoiselle,« antwortete Edmond mit sanftem, bestimmtem Tone. »Ich bin Ihnen gewiß zu größtem Danke verpflichtet für die Teilnahme, die Sie unserer Sache oder vielleicht auch meiner Person bezeigen. Aber welches Urteil würde über mich ergehen, wenn ich auch nur eine Stunde mit Ihnen allein bliebe? Was müßte Ihr Vater, den ich hoch verehre, von mir denken? Ich bitte Sie, sich zu entfernen, ehe Ihre Anwesenheit hier Anlaß zu einem Verdacht gibt, den ich durchaus vermeiden muß. Wissen Sie kein Unterkommen für die Nacht, so werde ich Sie wenigstens in ein leeres Zimmer geleiten lassen.«

»Sie ahnen nicht, was mich hierher getrieben!« murmelte Marion schluchzend.

»Ich darf es nicht ahnen,« antwortete Edmond sehr entschieden. »Ich achte Ihren Vater zu sehr, als Sie zu kompromittieren und ich achte mich selbst zu sehr, um meiner Vergangenheit untreu zu werden, von der meine ganze Seele erfüllt ist.«

»So lieben Sie eine andere?« rief Marion.

»Wenn es denn sein muß, wenn es nötig ist, Sie zu enttäuschen und auf eine andere, für Sie angemessenere Bahn zu leiten – ja!« antwortete Edmond. »Mein Herz gehört einer anderen.«

Sie erhob sich heftig. Trotz und Eitelkeit waren noch so mächtig in ihr, daß sie es nicht ertragen konnte, von einer anderen zu hören. Aber sie brach sogleich zusammen, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und begann zu schluchzen. Edmond sagte sich, daß jede Nachgiebigkeit ihn nur in neue Verwickelungen führen müsse. Er ging deshalb nach der Tür.

»Nehmen Sie mich mit sich!« rief Marion. »Treten Sie mich mit Füßen, aber lassen Sie mich bei Ihnen sein!«

Edmond tat, als ob er nichts gehört hatte, öffnete die Tür und rief ziemlich laut hinaus:

»Sergeant Vermoral – diese Dame ist sehr angegriffen. Leisten Sie ihr Gesellschaft und sehen Sie zu, ob Sie ein passendes Unterkommen für sie in San Martin finden. Ich muß meine Anordnungen treffen, da uns Unheil bevorsteht. Leben Sie wohl, Mademoiselle. Nochmals vielen Dank und viele Grüße an Ihren Vater.«

Ehe Marion ihm antworten oder folgen konnte, eilte er den Korridor hinab.

Als er nach einer Stunde zurückkehrte, sandte er einen Chasseur in sein Zimmer, um zu erfahren, ob die fremde Dame sich noch dort befinde. Ja, sie war noch dort. Sie war, wie der Chasseur meldete, still in einer Ecke und weinte vor sich hin. Der Sergeant Vermoral saß ihr gegenüber in einer anderen Ecke und war offenbar sehr verlegen, wie er den Auftrag seines Kapitäns erfüllen solle. Edmond ließ ihn herausrufen und erfuhr, daß die Dame gar keine Antwort gegeben und sich nicht gerührt habe. Edmond zuckte die Achseln, aber sein Entschluß stand fest: kein Weichsein, keine Nachgiebigkeit, die ihm verhängnisvoll werden konnte! Er trat vor die Tür und plauderte mit den Soldaten, die dort Wache hielten.

Eine halbe Stunde später rief die Wache einen Mann an. Es war Guarato, der ebenfalls die Nachricht brachte, daß gegen drei Uhr ein Angriff auf die Chasseurs erfolgen sollte. Er war außer Atem, und der Kapitän, der ihn sehr genau befragte, überzeugte sich sehr bald, daß sein Schrecken und seine Unruhe sehr ernsthaft gemeint seien, und daß ein Verrat nicht angenommen werden könne.

»Ich habe dieselbe Nachricht bereits von Mademoiselle Lamothe erhalten,« sagte er. »Sie ist so freundlich gewesen, mich selbst davon benachrichtigen zu wollen und hat die Wanderung durch die Nacht nicht gescheut. Ich bin nur sehr in Verlegenheit, wo ich sie die Nacht über beherbergen soll.«

Guarato gab sich sehr wenig Mühe, das Mißbehagen zu verbergen, das diese ruhige Mitteilung in ihm erweckte. Jedoch bezwang er sich bald. Dann fragte er Edmond, wo die Sennora sich befände und Edmond deutete auf die Tür seines Zimmers. Guarato ging hinein.

Er kam jedoch bald zurück und sagte mit einem Ausdruck, unter dessen spöttischen Scherz sich der Groll nur wenig verbarg:

»Die Dame scheint sehr müde und abgespannt zu sein. Sie antwortete auf keine Frage. Haben Sie vielleicht die Absicht, die Sennora mit nach Orizaba zu nehmen, Kapitän?«

»Ich hege die Absicht nicht, aber wenn ich sie hätte, so würde sie niemand kümmern,« antwortete Edmond kurz.

Es war beinahe drei Uhr. Sämtliche Chasseurs waren benachrichtigt und hielten sich auf der Hut. Die Wachen gingen nicht mehr auf und ab, sondern hatten sich hinter Tonnen, Tischen, Stühlen und anderen Gerätschaften auf die Erde niedergelegt, um nicht gesehen zu werden. Für den Fall eines Angriffs hatte Edmond die Befehle kurz und klar gegeben: Allgemeiner Rückzug der Wachen auf die Häuser, ruhiges Schießen auf die Angreifer.

Es währte nicht lange, so ertönte der erste Werdaruf. Und da keine Antwort erfolgte, so belehrte ein Chasseur-Karabiner die Mexikaner, daß die Franzosen auf ihrer Hut seien. In der Tat traf auch das ein, was Edmond den beiden Offizieren des Detachements als wahrscheinlich bezeichnet hatte: es erfolgte kein Angriff der Mexikaner. Sie fürchteten einerseits die festen Gebäude, in denen die Chasseurs sich konzentriert hatten, andererseits aber die Repressalien der Franzosen in San Martin, denn nach einem harten, aber erklärlichen Kriegsbrauch wurden die Einwohner einer Stadt dafür verantwortlich gemacht, wenn innerhalb der Mauern ein Angriff auf die Franzosen erfolgte.

Edmond ging, ohne sich weiter nach Marion zu erkundigen, in ein Zimmer, das von Chasseurs besetzt war, und legte sich dort nieder, um noch eine Stunde zu schlafen. Er hatte den Befehl gegeben, daß die Truppen mit dem Morgengrauen aufbrechen sollten. Als er geweckt wurde, war es noch Nacht. Seinen Anordnungen gemäß war alles bereits auf den Beinen.

Jetzt hielt es Edmond für seine Pflicht, noch einmal nach Marion zu sehen. Don Luis stand in der Nähe der Tür, aber das kümmerte ihn nicht. Leise öffnete er die Tür zu seinem Zimmer, und er fand es, wie er es erwartet hatte: Marion war eingeschlafen. Leise drückte er die Tür wieder zu – er gab den Befehl zum Aufbruch und bestieg das Pferd.

»Don Guarato,« sagte er dann. »Wir können Sie entbehren. Wollen Sie nicht dafür sorgen, daß die Sennora Lamothe unangefochten die Hacienda ihres Vaters erreicht?«

»Caracho,« antwortete der Kreole mit einem schlauen Grinsen. »Eine Dame ist immer sicher unter Caballeros. Aber meint man mich allein hier fände, so wäre ich bald eine Ollapotrida.«

»Nun denn, so müssen wir sie ihrem Schicksal überlassen und das beste hoffen!« sagte Edmond. »Vorwärts, Chasseurs!«

Dem früheren Befehle gemäß ging es mit verhängten Zügeln durch die Straßen von San Martin. Dennoch fielen einige Flintenschüsse auf die Chasseurs, die jedoch nicht trafen. Dann erreichte man die Ebene vor der Stadt und der Weg nach Orizaba wurde nach allen Regeln der Kriegskunst angetreten. Edmond mußte, daß die Guerillas sich sammelten. Wurde er die Nacht im Gebirge überrascht, so entkam vielleicht kein Mann von dem ganzen Detachement. Auch Guarato wußte das, und da er die Wege genau kannte, so führte er die Truppen mit unermüdlicher Ausdauer und anerkennenswerter Umsicht – es galt sein eigenes Leben.

Nach einem Marsche, wie er nur selten zurückgelegt werden mag, erreichte die Schar Chicuite. Bei dem dort stehenden Detachement erhielt Edmond genauere Auskunft über das Unglück von Puebla. Die Franzosen hatten bedeutende Verluste erlitten und konnten nicht daran denken, den Sturm zu erneuern. Die Konzentration nach Orizaba, der Rückzug, war bereits angeordnet.

Den jungen Offizier drängte es unter diesen Umständen, sein Hauptquartier zu erreichen, und er machte sich noch in der Nacht auf den Weg nach Orizaba. Erst dort gab er sich dem Schlafe hin.

Als er erwachte, sah er einen jungen Mann am Fenster sitzen, der den Kopf in die Hand stützte. Er erkannte sogleich Alfonso und stieß einen Ruf freudiger Ueberraschung aus. Alfonso mußte im Sitzen geschlafen haben, denn er fuhr auf und starrte um sich.

»Herzlich willkommen!« rief Edmond. »Du mußt, wie wir, einen Heidenweg gemacht haben, um jetzt schon hier zu sein. Aber was hast Du? Du siehst ja mehr als ermüdet, Du siehst ja verstört aus!«

»Ich habe eine sehr traurige Nachricht erhalten,« sagte Alfonso. »Ich muß in einer Viertelstunde aufbrechen, doch wollte ich Dich vorher noch einmal sehen. Hier lies den Brief.«

»Mein lieber Sohn,« schrieb Don Lotario de Toledo, »Du mußt sofort nach Empfang dieser Zeilen Mirador verlassen. Wir sind in größter Unruhe um Inez –« hier ließ Edmond den Brief sinken und starrte wie geistesabwesend auf Alfonso.

»Um Inez?« rief er. »Mein Gott, was ist es?«

So bewegt und mit seinen Gedanken beschäftigt auch Alfonso war, so mußte ihm diese außerordentliche Bestürzung Edmonds doch auffallen. Er rief sich einzelne Aeußerungen Edmonds zurück, erinnerte sich, wie der Freund bei jeder Gelegenheit das Gespräch auf Inez gelenkt, und schon kam Edmond auf ihn zu, schlang die Arme um ihn und lehnte den Kopf an den des Freundes.

»Alfonso!« rief er, »sag es mir, was ist? Ich liebe Inez, und ich glaube, sie liebt auch mich.«

»Wie glücklich hätte mich diese Nachricht noch vor kurzem gemacht!« sagte Alfonso leise. »Doch höre. Verzweifeln wir nicht zu früh. Der Vater schreibt:

»Wir sind in größter Unruhe um Inez. Sie hätte nach ihren Briefen schon längst bei uns sein müssen. Anstatt von New Orleans aus, wie ich ihr geschrieben, den Landweg zu wählen, hat das verwegene Mädchen sich ihrem letzten Briefe nach entschlossen, eine Schiffsgelegenheit nach Matamoras zu benutzen und den Rio Grande del Norte soweit als möglich hinaufzufahren. Sie müßte seit Wochen hier sein. Ob nun das Fahrzeug von einem feindlichen Kaper genommen worden, oder ob sie einer Bande der Comachos-Indianer in die Hände gefallen, genug, sie ist nicht angekommen. Ich breche noch heute mit einer Anzahl zuverlässiger Männer auf, um am Rio Grande Erkundigungen einzuziehen. Du sollst in Matamoras dasselbe tun. Du erhältst in Veracruz von M. soviel Geld, als du zu gebrauchen glaubst. Nimm soviel Bewaffnete mit, als du finden kannst. Fürchte keine Kosten. Miete bis Matamoras ein eigenes Schiff, wenn keins in Veracruz fertig ist. In Presidio del Norte findest du mich oder Nachricht von mir. Also Geld und Bewaffnete sind nötig, denn die Prärien wimmeln von Rothäuten. Sei vorsichtig und vernachlässige keine Spur. Das Schiff, mit dem Inez von New Orleans nach Matamoras gefahren, heißt »Liane«. Ist es nicht in Matamoras angekommen, so erwarte mich dort.«

Edmond stand sprachlos.

»Fort!« rief er dann. »Ich begleite Dich, aber wie ist es möglich – ist sie denn allein gereist? Gibt es denn keine regelmäßige Verbindung zwischen Euch und der Welt?«

»Im Frieden wohl, im Kriege nicht,« antwortete Alfonso. »Sie ist mit zwei Dienern und zwei Dienerinnen in Begleitung eines alten meinem Vater befreundeten Bankiers von England nach New Orleans gereist.«

»Ich komme mit Dir!« rief Edmond. »Ich erhalte Urlaub – ich weiß es. Denn vor dem nächsten Winter erhalten wir keine Verstärkung, und was soll ich hier müßig. Und müßte ich auch meinen Abschied nehmen, ich ginge doch mit Dir! Inez in Gefahr, vielleicht –«

Er legte die Hand vor Augen. »Nein, das kann nicht sein!« sagte er dann ruhiger. »Selbst die Wilden müssen sie achten. Ich werde sie finden.«

Er eilte fort. Nach einer Viertelstunde hatte er einen Urlaub auf fünf Monate in der Tasche; eine halbe Stunde später waren die Freunde auf dem Wege nach Veracruz.


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