Wilhelm Müller
Gedichte
Wilhelm Müller

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Ein Kreuzzeichen in der neuesten Façon

    Ich Kreuz, mein eignes Kreuz euch klage,
Wie man mir mitspielt heutzutage.
In allen bunten Modebuden,
Bei Christen, Heiden oder Juden,
Hat man mich feil von Gold und Eisen,
Und, um mir Ehre zu erweisen,
Trägt mich die Dirn auf nackten Brüsten
Bei eitlem Stolz und wilden Lüsten.
Auch auf dem Putztisch muß ich stehen,
Und schminken, kleben, pflastern sehen,
Und abends schmück ich dann die Feste,
Zur Unterhaltung frommer Gäste.
In euren neuen Almanachen
Muß ich das Titelkupfer machen,
Und darf im Innern auch nicht fehlen,
Muß im Sonett mich lassen quälen,
Und zwischen Schilling, Laun und Clauren
Ein liebes langes Jahr ausdauern.
Selbst in den Zuckerbäckerladen
Werd ich geprägt auf Tort' und Fladen,
Und eingewickelt in Papieren
Muß ich Bonbons als Bildchen zieren;
Fürwahr, ich wäre schon verkommen,
Hätt sich nicht meiner angenommen
Die Politik auf ihrem Throne,
Und aus des dummen Pöbels Hohne
Mich glorreich zu sich aufgehoben.
Seitdem schweb ich zwar wieder oben,
Und werd in Akten und Traktaten
Geehrt von frommen Diplomaten;
Allein im schönen Morgenlande
Läßt mich, zu aller Christen Schande,
Trotz allem Jammern, allem Beten,
Frau Politik mit Füßen treten.
Ich seufz und muß darein mich finden:
Wer kann die Politik ergründen?

 


 


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