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Vom Wirken des Künstlers.
Ein Gespräch bei Königsberger Klops

 

Nichts bietet eine solidere Grundlage für streitbare Unterhaltungen als ein gut bereitetes Mittagessen. Die heterogensten Gedankengänge wachsen aus einem gemeinsamen Boden heraus, und die gleichzeitige Betätigung gern bewegter Muskeln balanciert wohlwollend die seelischen Emotionen der Streitenden.

Die Diskussion, die die folgenden Betrachtungen erweckte, fand bei Königsberger Klops statt. Schon bei der Suppe hatte mein Bruder, der ein wissenschaftlich ernst fundierter Arzt ist, ironisch bemerkt, daß ich in meiner übeln Gewohnheit zu dichten doch eigentlich eine recht verfehlte Lebenstendenz verfolge. Meine Schwägerin ist eine zu vortreffliche Wirtin, als daß nicht mein Vergnügen an den knusprigen Semmelbröckchen, die in der Suppe schwammen, den Verdruß über die lieblose Äußerung meines Bruders bei weitem überwogen hätte. So erklärte ich einfach, während ich mir die Reste der sämigen Brühe vom Schnurrbart wischte (Suppe essen ist für einen bärtigen Mann stets eine Tragödie), daß ich außer der geringen finanziellen Ausbeute nichts wüßte, was mich diese Gewohnheit als eine üble erkennen ließe, zumal ich Grund zu der Annahme hätte – hierbei schlug ich mir mit der Serviette vor die Brust –, daß meine Produktion für die deutsche Literatur von beträchtlichem Wert sei.

Die Klöpse wurden aufgetragen. Diesem Umstande allein hat es mein Bruder zu danken, daß ich die höhnische Physiognomie, die er bei meinen stolzen Worten aufsetzte, nicht mit dem Vortrag eines meiner neuesten Gedichte beantwortete. Aber seine Miene nahm einen heitern und friedlichen Ausdruck an, als er sich drei dicke Klöpse auf den Teller geladen hatte und sie nun in der köstlichsten Kapernsauce baden ließ. Auch mir floß mit der Kapernsauce eine versöhnliche Stimmung über das Gemüt, und es gelang mir, ein freundliches Lächeln zu bewahren, als mein Bruder halb feierlich, wegen der Mission, die er mit seiner Rede erfüllte, halb schmunzelnd, wegen des bräunlichen Dufts, den die Königsberger Klöpse ausströmten, folgendes sagte: »Lieber Erich! Deine Gedichte in allen Ehren. Davon verstehe ich nichts. Aber ich bin überzeugt, daß Goethe gegen dich ein eitler Stümper war.« (Ich schüttelte bescheiden den Kopf.) »Aber sag mir doch bloß einmal: was hat eure ganze Dichterei überhaupt für einen Wert? Wem nützt ihr damit? Wo helft ihr mit euern schönsten Versen der Menschheit einen kleinsten Schritt weiter? Ihr Künstler seid doch wahrhaftig die zwecklosesten Leute, die auf der weiten Welt herumlaufen!«

Ich hätte es jetzt, wenn ich ein gewandter Feuilletonist wäre, so furchtbar leicht, meinen Bruder abzuschlachten. Ich brauchte nur aus unserer Unterhaltung einen literarischen Dialog zu machen. In so einem Dialog redet der, der ihn nachher der Welt übermittelt, immer äußerst geistreiche Gedanken. Er fertigt den andern so schlagend ab, daß der sogleich seine Weltanschauung revidiert oder doch wenigstens sich in tiefen, beinah reumütigen Gedanken eine Zigarre anzündet. In der Wirklichkeit gibt es aber gar keine literarischen Dialoge, wo Tugend und Recht siegt. Im Gegenteil: da behält immer am Ende der recht, der unrecht hat, und der, der recht hat, kommt sich wie ein zerknirschtes Rindvieh vor. Das liegt daran, daß eine unrichtige Ansicht immer System hat, eine richtige nie. Was richtig ist, weiß man, und was man nicht weiß, begründet man. In diesem Falle hatte mein Bruder die Gründe, und daher bildet er sich noch heute ein, daß er recht hat.

Ich war aber überhaupt im Nachteil gegen ihn. Denn erstens ist er mit meiner Schwägerin verheiratet; daher konnte er sein Interesse zwischen dem Wirken des Künstlers und dem Königsberger Klops, der für ihn nichts Neues war, viel leichter teilen als ich, dessen Hingabe aufs heftigste von der Kapernsauce in Anspruch genommen war. Außerdem schmeichelte mir bis zur Kritiklosigkeit die raffinierte Formulierung seiner Betrachtung; denn mit dem »ihr« konnte er doch immer nur mich und Goethe meinen; und schließlich hatte er sich doch schon so lange mit dem Ärger gegen die Künstler zugunsten seiner Wissenschaftlichkeit getragen, daß er längst ein System konstruiert hatte, das nun auf mich herab explodierte.

Nein – nein! Kein literarischer Dialog soll mir zum Siege verhelfen. Ich will wahrhaft und getreulich berichten, wie ich und Goethe und alle Dichtung und alle Kunst bei Königsberger Klops zerschmettert und widerlegt wurde.

Meine Gabel zerquetschte gerade den fünften Fleischkloß, als ich mich zu der entrüsteten Erwiderung aufraffte: »Na hör mal, der Zweck einer Sache kann doch in ihr selbst liegen. So ist es bei der Poesie und bei jeder Kunst. Damit soll der Menschheit nicht genützt werden? – Ach, du lieber Himmel! Wo wäre die Menschheit, wenn es keine Künstler gäbe!«

Mein Bruder zerspießte eine Kartoffel, daß der Teller klirrte. »So?« rief er. »Meinst du, ohne Shakespeare und Goethe und dich und Beethoven und Böcklin und wie ihr alle heißt« – (ich war schon wieder halb ausgesöhnt) – »meinst du, ohne euch hätten wir kein Telefon und keine Zigarren und führen nicht im Automobil und im lenkbaren Luftballon?«

»Wann wärst du denn im Lenkballon gefahren?« – Ich war schon zufrieden, in meiner ausweichenden Antwort wenigstens eine brauchbare Übersetzung für »le dirigeable« gefunden zu haben.

Aber mein Bruder hatte offenbar keinen Sinn für die Sprachbereicherung. Er schimpfte: »Ei was! – Das ist doch kein Einwand! Die Wissenschaft schreitet mit riesigen Sätzen vorwärts. Täglich werden neue Verfahren entdeckt, um Krankheiten aus der Welt zu schaffen. Das nenne ich Wirken! Das heißt der Menschheit dienen und nützen! – Aber was wißt ihr davon? – Kennst du den Namen Wassermann?« – rief er plötzlich, wobei er triumphierend eine Kaper von der Gabel sog.

Endlich! dachte ich. Läßt er erst mal einen gelten, dann komme ich ihm überhaupt bei. Leider habe ich aber von Jakob Wassermann nicht alles gelesen und mußte befürchten, in meiner eigenen Arena geworfen zu werden. Schüchtern stammelte ich daher etwas von Renate Fuchs und einem nie geküßten Mund. Die Juden von Zorndorf wollte ich erst bei Gelegenheit lesen.

Mein Bruder legte die Gabel aus der Hand. Es war das erstemal während des Essens, so daß ich Schreckliches kommen sah. Dann meinte er gedehnt: »Wie? – Was? – Nie geküßte Juden? – Renate von Zorndorf? – Bist du rappelig? – Ach, du redest wohl von einem Dichter? –«

Ich nickte.

»Mensch! Ich spreche vom Geheimrat Professor Dr. Wassermann, einem unserer berühmtesten Therapeutiker, der zuerst die Serumtherapie bei Lues angewandt hat. Von dem hast du nie etwas gehört?«

»Nein«, sagte ich melancholisch, während ich mir einen Löffel Kapernsauce über den siebenten Klops träufelte.

»Da sieht man's«, donnerte er. »Während die physiologische Wissenschaft die ungeheuersten Umwälzungen in allen sozialen, hygienischen und humanitären Verhältnissen herbeiführt, lauft ihr« (er meinte offenbar wieder Goethe, Shakespeare, Beethoven, Böcklin und mich) »lauft ihr an einen dreckigen Bach und laßt euch vom Mond zu euern kolossalen Schöpfungen inspirieren. Und habt ihr nachher glücklich sechs Leute gefunden, die sich das Zeug mit himmelnden Augen anhören, meint ihr, ihr wäret wer weiß was für Nummern! Redet von Kultur! Beweihräuchert euch gegenseitig, ich weiß nicht wie! – Sieh dir doch die Zeitungen an: über jeden obskuren Maler oder Dichter oder Musiker oder Schauspieler, der sechzig Jahre alt wird oder stirbt oder seit fünfundzwanzig Jahren die Welt mit seinem Genie beglückt, spaltenlange Lobarien; aber von Professor Wassermann hat kein Mensch eine Ahnung!«

Wir waren inzwischen beide dabei angelangt, daß wir die Kapernsauce mit einem Stückchen Brot austunkten, und ich beschloß nun, zum Angriff überzugehen.

»Na!« sagte ich also. Damit fange ich immer an, wenn ich etwas Gewichtiges zu sagen gedenke: »Hast du denn, wenn du zum Beispiel ins Theater gehst und den ,Othello' siehst, oder du hörst in der Philharmonie die Neunte Sinfonie von Beethoven, oder du stehst im Kaiser-Friedrich-Museum vor ,Jakobs Kampf mit dem Engel' von Rembrandt, oder du liest Goethes ,Füllest wieder Busch und Tal' – hast du dann nie eine innere Erhebung, fühlst du dich dann nie größer und freier und beglückt ––«

»Hör bloß auf«, unterbrach mich mein Bruder. »Du siehst, ich esse Königsberger Klops« (er fing aber schon mit dem Kompott an), »da kannst du nicht von mir verlangen, daß ich elegische Deklamationen anhören soll. Aber, damit du weißt, wie ich über die Kunst denke, will ich dir doch ein Zugeständnis machen. Ich sehe mir zwar im Theater nicht den ,Othello' an, sondern höchstens mal im Herrnfeld-Theater die ,Klabriaspartie'. Aber das gebe ich dir ohne weiteres zu, daß mich die Kunst immerhin mal amüsieren kann.«

»Aber die ernsthafte Kunst!« rief ich.

»Natürlich. Warum nicht auch die ernsthafte Kunst? – Aber mehr als Amüsement kann ich der auch nicht abgewinnen. Und das ist ja auch gewiß etwas Gutes.«

Ich schob den letzten Löffel Preißelbeeren in den Mund und sagte: »Aber amüsieren kannst du dich doch auch ohne Kunst.«

»Allerdings«, gab mein Bruder zu. »Es macht mir auch gar keinen Unterschied, ob ich die ,Klabriaspartie' vorgespielt kriege oder die Neunte Sinfonie oder ob ich vom Fenster aus zusehe, wie sich draußen zwei Hunde beißen. Das Vergnügen dabei ist nur graduell unterschieden. Es werden allenfalls verschiedene Muskeln davon tangiert.«

»Du bist ein Barbar!« stöhnte ich.

»Möglich«, meinte er gemütsruhig. »Das ändert aber gar nichts an der Tatsache, daß die bei Lues angewandte Serumtherapeutik ein kulturell unendlich wertvolleres Ereignis ist als alle Werke deiner berühmtesten Künstler zusammengenommen.«

Ich fühlte: dagegen war nicht aufzukommen. Ich kippte daher nur noch schnell den Kaffee herunter, ließ mir von meinem Bruder eine Zigarre auf den Weg mitgeben, reichte meiner Schwägerin trübselig die Hand und schlug mich davon.

Unterwegs hielt ich Selbstgespräche, in denen ich energisch meinen Bruder apostrophierte. Wir wirken aber doch! erklärte ich ihm bei mir. Na ja – auf dich wirken wir nicht. Aber liegt das an uns? (Es war mir schon ganz geläufig geworden, mich mit Goethe und den übrigen als »wir« zu fühlen.) Ich behaupte, die Welt wäre öde, stumpfsinnig, roh, perfid – nein, noch öder, stumpfsinniger, roher und perfider als sie jetzt schon ist, gäbe es keine Kunst und keine Künstler. Hunderttausenden, Hundertmillionen geben wir Trost und Erhebung und Heilung und Hoffnung. Ist das gar nichts? Hä? – Und wenn du dabei nichts für dich herausholst, dann geht uns das so wenig an wie die Serumtherapie bei Lues. Schließlich ist ja auch noch nicht jeder Mensch luetisch.

Ich war froh, meinen Bruder dergestalt doch noch widerlegt zu haben. Dann wandte sich meine Betrachtung in innigem Behagen der Erinnerung an die Königsberger Klöpse zu, und meine Seele schwamm in Kapernsauce. Ausgesöhnt mit der Welt und zufrieden mit mir ging ich ins Kaffeehaus und dichtete meine Ballade »Meta und der Finkenschafter«.


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