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Ein Roman.
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1.
» Ist es denn möglich, lieber Herr Vetter!« rief die kleine runde Frau, ihre Backenhaube zurückschiebend und ihre Hände faltend, während ein paar dicke Freudenthränen ihre Augen füllten.
»Es ist nicht allein möglich, es ist sogar gewiß,« antwortete der lange hagere Mann, der in der anderen Ecke des Sopha's saß, ohne eine Miene zu verziehen.
»Rudolfchen, was hast Du für Glück!« rief die alte Frau von Neuem, und mit einer zärtlichen Liebkosung wandte sie sich zu einer dritten Person am Tische. »Höre doch nur: vierhundert Thaler jährlich, ein eigenes Zimmer, zur Sommerzeit auf dem Lande, immer frische Luft und solche Leute! Das große Haus, wie ein Palast, bewohnen sie allein, und wie sieht es da aus! Decken liegen auf allen Treppen, Figuren stehen an den Wänden; einmal bin ich bis in die Säle gewesen – Das war eine Pracht! Und da wirst Du wohnen, mein lieber Sohn, da wirst Du wohnen!«
Der junge Mann, den dieser Strom mütterlicher Seligkeit überflutete, lächelte still vor sich hin und strich mit der freien Linken langsam durch sein braunes Haar, das weich auf eine breite Stirn fiel. Dann richtete er seine Augen auf den würdevoll blickenden alten Herrn, der seinen langen mageren Hals in der weißen Binde rundum drehte, um die Uhr an der Thür und die Dunkelheit auf der Straße zu beobachten, und sagte endlich mit einer gewissen Anstrengung, als müsse er Etwas überwinden:
»Wann glauben Sie, Vetter Helm, daß ich dem Herrn von Schellbach am gelegensten komme?«
»Nach meinem Dafürhalten,« antwortete der Gefragte, »wartest Du Deinem Herrn Principal am besten morgen um zwölf Uhr auf. Das Landhaus liegt im Park, rechts vom Apolloplatz, Du darfst nur fragen. Die Herrschaften stehen gewöhnlich um neun Uhr auf, um zwölf Uhr belieben sie zu frühstücken und sind sie beisammen. Komm aber nicht später, denn nachher reitet der Herr ein Stünden, und Madame fährt aus. Pünktlichkeit und Ordnung empfehlen jeden Menschen. Vielleicht kommt der Herr dann zu mir auf's Comptoir mit heran, obwohl dies jetzt selten geschieht, weil er zu sagen pflegt: Mein Helm ist da, somit kann ich fortbleiben.«
»Er hat ganz Recht,« erwiederte Rudolf. »Dieser Helm ist von so guter Masse, daß das Haupt darin überflüssig wäre.«
Der Vetter machte ein seltsames Gesicht. Die Schmeichelei bekam ihm sichtlich gut, und doch wollte er sie nicht wohlgefällig verschlucken. Sein langer, schmaler Kopf mit den ausgehöhlten Backen schüttelte sich hin und her, und während ein stolzes Lächeln um seine Lippen schwebte, drückten seine Blicke doch Mißbilligung aus, ohne daß er Worte dafür fand. Er wirbelte seine silberne Dose zwischen den Fingern umher, nahm eine Prise, klappte den Deckel wieder zu und schlug seinen Verwandten leicht auf die Hand. –
» Silentium! junger Mensch,« sagte er, sei nicht vorwitzig! Er ist accurat, wie sein Vater war,« fuhr er fort, indem er sich zu der alten Frau wandte und mit dem Finger auf den Verbrecher zeigte – »accurat, wie sein Vater war. Ohne zu überlegen, gleich mit einer Antwort fertig, was zu mancherlei Fatalitäten geführt hat. Ist es nicht wahr, Muhme Jachtmann?«
»Mein Vater war ein Mann, der nichts Unrechtes thun und kein Unrecht leiden mochte,« antwortete der Sohn an Stelle der Mutter.
»Geheimrath wäre er geworden bei seinen Kenntnissen,« sagte Helm heftig nickend; »statt dessen ist er als Zoll-Inspector gestorben. Ließ Frau und Kind in Sorgen zurück.«
»Ich bin stolz auf meinen Vater!« fiel der junge Mann mit erhobener Stimme ein.
»Hm, ja!« erwiederte Helm, »Du hast jedoch nicht nöthig, mir Deinen Saldo auf den Tisch zu werfen. Dein Vater war mein Freund und Verwandter, er hat mich zu Deinem Vormund gemacht, so habe ich das Meinige gethan.«
»Sie thun es noch,« sagte Rudolf Jachtmann, seine Hand ausstreckend.
»Also aufgepaßt!« rief der hagere Vetter, indem er die langen Finger mit der silbernen Dose an seine Nase legte. »Ich will Dir Dein Capital-Conto vorhalten und die General-Bilance ziehen. Du hast studirt und bist Doctor geworden.«
»Und Sie haben das Geld dazu vorgeschossen.«
» Silentium! höre zu. Die Sache ist ein abgeschlossenes Geschäft, es läßt sich Nichts mehr dagegen sagen; hättest Du aber meinen Rath befolgt, säßest Du im Comptoir, so stände es besser mit Dir.«
»Wir wollen nicht darüber streiten,« sagte Rudolf lächelnd.
»Gut, nein, wir haben genug gestritten; aber Chancen in der Welt haben, zu Geld und Ansehen kommen, das ist die Sache. Was ist ein Gelehrter?« Er lächelte mitleidig. »Sehr wenig! – Was ist ein Kaufmann? Alles! – Die ganze Welt gehört ihm. Wohin er kommt, giebt es Handelshäuser, Comptoire, Niederlagen. – Wo giebt es Gelehrte? Was spielen die für Rollen? Was bringt die ganze Gelehrsamkeit ein? Keinen Hund lockt man mit allem Latein aus dem Backofen. – Geschäftsbriefe, Contobücher, Wechsel, Rechnungen! Die erhalten die Welt, bringen Gedeihen, fördern Wohlstand, machen Menschen und Völker groß, sind die wahren Schulmeister der Menschheit. He, habe ich Recht oder Unrecht? Aus einem Kaufmann kann Alles werden, hat Friedrich der Große gesagt, und dies war einer der tiefsten Gedanken dieses großen Mannes, der, wenn er nicht zufällig ein König geworden wäre, verdient hätte, der Chef einer großen Firma gewesen zu sein.«
Triumphirend drehte Herr Helm seinen langen Hals in der weißen Binde und betrachtete seine beiden Zuhörer, die in andächtigem Schweigen verharrten.
»Also,« fuhr er dann fort, nachdem er eine Prise genommen, »es liegt Dein Conto nun folgendermaßen: Du hast Dich mit allerlei Dingen beschäftigt, von denen ich Nichts verstehe, sondern nur weiß, daß sie viel Geld kosten, ohne bisher Etwas einzubringen, was Deine Mutter zumeist empfunden hat.«
»O, lieber Herr Vetter,« fiel die Wittwe ein, wenn Sie nicht gewesen wären …«
» Silentium!« sagte Helm, ihr gravitätisch zuwinkend. »Du willst nun, wie Du sagst, einmal an einer Universität Dein Brot finden, einige Jahre jedoch vorher noch in der Stille lernen und Deinen Geist vorbereiten, inzwischen aber, wie dergleichen Individuen es thun, Dich nützlich zu machen suchen und, um den Hunger abzuwehren, in einem achtbaren Hause als Informator serviren.«
»Um den Hunger abzuwehren, Sie sprechen das richtige Wort aus,« erwiederte der junge Doctor, ironisch lächelnd.
»Oder wie jeder vernünftige Mensch für sein weiteres Fortkommen selbst Sorge zu tragen und Niemandem weiter zur Last zu fallen,« fuhr der Vetter fort.
»Meine arme Mutter, woran werde ich heute nicht gemahnt!« sagte Rudolf, indem er sich niederbeugte, die Hände der alten Frau drückte und sie zärtlich ansah.
»Darin liegt es,« rief Helm, die Dosenecke auf den Tisch klopfend. »Die Welt ist in zwei ungleiche Hälften getheilt, in Reiche und Arme. Die der Herr gesegnet hat, mögen zusehen, wie sie den Segen erhalten und vermehren, die da unten stehen, mögen suchen herauf zu kommen, und wem das nicht gelingt, der strebe wenigstens danach, ein brauchbares und nützliches Werkzeug zu sein, daß die Brosamen aufliest, die von des reichen Mannes Tische fallen.«
»Auch dazu bin ich bereit,« sagte Rudolf, indem er mild in die scharfen Augen seines Verwandten blickte. »Wenn Herr von Schellbach mich aufnimmt, werde ich meine Pflichten als Hauslehrer getreulich erfüllen und, was ich vermag, thun, um seine Zufriedenheit zu erwerben.«
Das strenge, trockene Gesicht des Vetters wurde nach dieser Versicherung wohlgefälliger.
»Nur nicht hochmüthig, nicht anmaßend, nicht aufgeblasen und trotzig,« bemerkte er, »Leuten gegenüber, deren Wohlwollen uns helfen kann! Lebensklugheit, das ist die Grundlage zu jedem reellen Glück! Ein Vorgesetzter, ein Principal, ein Gönner hat immer Recht. Es kann sein, daß er Unrecht hat, aber wenn eine unterthänige Vorstellung Nichts hilft, so hat er Recht, so schweigt man und thut, was er haben will; denn dafür ist er Vorgesetzter. – So habe ich es gehalten und bin durch die Welt gekommen. Vor vierzig Jahren trat ich als ein junger Mensch in die Firma und habe sie nicht wieder verlassen. Der alte Herr Martin Gotthilf Schellbach, M. G. Schellbach, war ein Mann, der Haare spalten konnte. Ein Wink war genug, kein Laut durfte sich dagegen hören lassen. Wenn er den Kopf aufhob und Einen mit den schwarzen Augen ansah, stand das Blut in den Adern still. Jetzt ist er todt, aber auf seinem Sterbebette gab er mir die Procura und bestimmte in seinem Testamente, daß ich sie behalten und das Geschäft leiten sollte, bis sein Sohn mündig geworden sei.«
»Der alte Herr handelte gescheidt,« sagte Rudolf, »und sein Sohn konnte wahrlich nichts Besseres thun, als bei seiner Mündigkeit die Geschäftsführung in Ihrer Hand lassen, da er selbst wohl eben nicht die kaufmännische Weisheit des seligen Papa geerbt hat.«
»Ich sage es doch, Muhme Jachtmann!« rief der Disponent des großen Handelshauses ärgerlich lachend, »er ist ganz so, wie sein Vater war; ganz, wie der war, immer vorwitzig, immer mit einer Antwort fertig.«
»Aber, bester Vetter,« sprach der Doctor, »es ist ja bekannt genug, daß der junge Herr Schellbach, oder Herr von Schellbach, denn er ist ja geadelt worden, sich um das alte Handelshaus keine Sorgen macht. Die Indigo-Ballen, Wechsel und Rechenbücher sammt dem übrigen Krimskrams überläßt er Ihrer trefflichen Förderung und lebt wie ein reicher Herr seinen Neigungen und seinen Thorheiten. Seine Frau ist elegant, schön und aus edlem Hause, sie hilft ihm sein Geld wegwerfen, verthun, und das ist alles, was er verlangt und verlangen kann.«
Helm winkte, während Rudolf sprach, ihm heftig mit der Hand Schweigen zu; dabei röthete sich das faltige, lange Gesicht, und mehr als einmal sah er unruhig nach der Thür, als fürchtete er, es könne Jemand dort horchen. –
»Er ist leichtsinnig,« murmelte er dann, den langen Kopf schüttelnd, »unmäßig leichtsinnig, aber wie sein Vater war, accurat wie sein Vater! Sage kein Wort mehr, junger Mensch, oder es kann Nichts mit uns werden. Herr von Schellbach ist ein hochfahrender, stolzer Herr, der sich Nichts gefallen läßt. Mit einem Hauslehrer, der keinen Respect hat, wird er wenig Umstände machen. Der Respect, ja, das ist's,« rief er lauter, und seine würdevolle Steifheit verdoppelte sich, »der Respect fehlt leider jetzt den jungen Leuten, die Ehrfurcht vor den Vorgesetzten, und davon kommt alles Unheil. Sie scheuen sich nicht mehr und fürchten sich nicht mehr, sind klüger und sind besser, oder wissen wenigstens Alles besser.« –
Er richtete seine starren Augen mit äußerster Strenge auf den jungen Mann und sagte dann kopfschüttelnd:
»Wenn ich denke, daß er Dich fortjagen müßte, daß mir das passiren könnte …«
»Seien Sie ohne Sorge,« fiel Rudolf ein, »er wird mich nicht fortjagen. Ich kann schweigen, so gut wie Einer, kann gehorsam und demüthig sein und kenne die Schranken, in denen ich zu bleiben habe.«
Der Vetter beruhigte sich abermals. Er stützte den Arm auf den Tisch, klopfte mit der silbernen Dose auf und sagte dann:
»Anstellig und pfiffig bist Du immer gewesen, sei jetzt klug und denke daran, daß Du arm bist, eine alte Mutter hast, vorwärts kommen und eine Anstellung haben willst. Herr von Schellbach ist der Mann, der Dir helfen kann. Seine Frau ist eine Cousine des Herrn Ministers von Rauchhausen, und solche Cousinen können oft mehr bewirken als hohe Staatsmänner, Grafen und Prinzen. Schaffe Dir Credit bei der gnädigen Frau, lege bei ihr ein Conto an, so wirst Du nie in Verlegenheit kommen.«
»Auch diese goldene Lehre soll mir nicht verloren gehen,« antwortete Rudolf. Ist die gnädige Frau noch schön?«
»Wer wird danach fragen!« sagte Helm. »Was geht das Dich an? Ist er nicht wie sein Vater, Muhme Jachtmann, accurat wie sein Vater, der auch gleich nach der Schönheit fragte?«
»Ist denn die Schwester noch im Hause?« fragte die alte Frau, um den gefährlichen Vergleich abzuweisen.
»Fräulein Johanna, versteht sich,« antwortete Helm. »Sie war verreist, ist jedoch jetzt wiedergekommen. Es ist damit eine curiose Geschichte,« fuhr er leiser fort, »ich glaube beinahe …«
Er tippte mit dem Finger steil ausgestreckt auf seine Stirn und ließ seinen Kopf bedenklich wackeln.
»Um Gottes willen!« flüsterte die Frau Zoll-Inspectorin, die Hände faltend und erschrocken – »sie wird doch wohl nicht …?!«
»Ich sage Nichts, gar Nichts,« sprach der Buchhalter feierlich, aber fünfundzwanzig Jahre alt ist sie jetzt und nicht wie gewöhnlich, durchaus nicht wie gewöhnlich.«
»Wie so – nicht wie gewöhnlich?« fragte der Doctor.
»Sie sieht noch aus wie ein Kind,« murmelte Helm, »keine Schultern, keine Hüften, häßlich, so groß« – er streckte seine Hand wagerecht aus – »und dann … dergleichen wäre Nichts, schadete Nichts, denn Geld genug ist da, um einen Engel daraus zu machen, allein es ist nicht mit ihr auszuhalten. Sie haben sie eine Zeit lang auf's Land zu einer Freundin geschickt; Alles verdreht hier!«
Er rieb sich von Neuem an der Stirn.
»Aber, theuerster Vetter,« lachte Rudolf, »wie können Sie dem Fräulein Principalin solche gräßliche Dinge nachsagen?«
Der alte Herr erschrak über den Vorwurf, indeß bezwang er sich sogleich und erwiederte gelassen:
»Was ich da sagte, habe ich aus Herrn von Schellbach's eigenem Munde, der mit mir darüber sprach, als das Fräulein neulich von ihrer Reise zurückgekehrt war. Ich sagte ihm meine unterthänigsten Glückwünsche zu dem frohen Familien-Ereignisse, doch er wollte nicht recht darauf eingehen. Hören Sie, Helm, rief er endlich spaßhaft, was sonst nicht eben seine Sache zu sein beliebt, es ist noch die Frage, was besser ist, ob ein reicher Mann, wie ich, eine Schwester haben soll oder nicht. Im Uebrigen ist Johanna allerdings eine Partie, die Mancher sich wünscht; doch wahrhaftig, ich möchte sie nicht, denn sie ist überspannt, da – da sitzt es! Er tippte sich accurat so an den Kopf, wie ich es gethan habe, und sah mich an, der ich bedauerlich seufzend meine Schultern in die Höhe zog.«
»Also wirklich verrückt!« rief die Zoll-Inspectorin mit einem schweren Seufzer.
»Bisch!« flüsterte Helm, seine lange Hand ausstreckend, »kein Wort weiter! Was ich sage, geschieht unter dem Siegel der Verschwiegenheit zur Nachachtung für den da.« –
Er nickte dem jungen Doctor zu und legte den Finger auf seine Lippen.
»Stumm,« murmelte er, »was Du auch sehen und hören magst!«
»Ich erinnere mich, das Fräulein vor Jahren einmal gesehen zu haben,« sagte Rudolf, »und damals schien sie mir weder häßlich noch blödsinnig zu sein.«
»Unansehnlich, ein Knirps mit dickem Kopf,« antwortete Helm. »Sie reicht Lottchen nicht bis an die Schulter.«
»O, Lottchen!« rief der junge Mann lebhaft, »wir haben fast noch nicht von ihr gesprochen. – Ich freue mich darauf, sie wiederzusehen.«
In dem Augenblicke wurde draußen an die Thür geklopft, und mit einem gewissen Erschrecken flog der alte Herr von dem Sopha auf, als zugleich ein bebänderter Rosahut, unter dessen schwarzem Schleier ein Gesicht verborgen war, hereinschaute.
»Da ist sie ja – da ist Lottchen!« schrie er auf. »Das arme Kind hat sich geängstigt wegen meines Ausbleibens. – Hehe! Lottchen, habe ich Recht? Ja, ich bin ein alter, leichtsinniger Mensch, habe nicht daran gedacht, daß Du Dich ängstigen könntest; oder nein! – freilich habe ich daran gedacht, aber hier ist der eigentliche Bösewicht, der Rudolf! Sieh ihn doch an, Lottchen; sieh ihn an, Mädchen, ich glaube, Du kennst ihn nicht mehr? Hehe! Gestern ist er angekommen. Wahrhaftig, sie kennt ihn nicht mehr!«
Die Dame, welche die kleine Gesellschaft vermehrt hatte, schien von allen diesen Ausrufungen vor der Hand wenig Notiz zu nehmen. Sie lag in den Armen der Frau Zoll-Inspectorin, die ihr leise Etwas zuflüsterte, worauf sie den Kopf nach dem Tisch wandte und unter langen, blonden Locken volle und starke, doch nicht mehr ganz junge Züge zeigte. Sie lächelte den alten Herrn an, der glücklich alle Verantwortlichkeit über sein Ausbleiben von sich abgeschüttelt hatte, wodurch er um Vieles vergnügter schien, und sagte mit halblauter Stimme, während ihre Augen sich abwechselnd hoben und verschämt senkten:
»Ich wußte Nichts von dieser Ueberraschung; da es aber kühl wurde, und Sie keinen Ueberzieher haben, machte ich mich auf den Weg, um Sie zu suchen, lieber Onkel. Was werden Sie von mir denken, Frau Zoll-Inspectorin, daß ich Sie so spät noch belästige!«
»Belästigen, liebes Lottchen? Gott bewahre!« fiel die gutmüthige Frau ein.
»Es ist eine Seele von Kind!« rief Helm zu gleicher Zeit, seine beiden langen Arme nach ihr ausstreckend. »Bringt mir den Ueberzieher mitten in der Nacht! Aber sieh doch hieher, Mädchen, sieh doch den Rudolf an.«
Fräulein Lottchen schlug die blaßblauen Augen auf, senkte sie aber gleich wieder wieder, indem sie sich verbeugte und sich ängstlich an der Hand der hülfreichen Mutter festhielt.
Der Doctor war inzwischen aufgestanden, hatte sich ihr genähert und ein paar herzliche Worte an sie gerichtet, die seine Freude ausdrückten, sie wieder zu sehen. –
»Sie werden sich meiner kaum mehr erinnern,« sagte er, »denn fast sind es acht Jahre, seit wir uns trennten, und seit dieser Zeit bin ich nur zweimal auf wenige Tage zu Hause gewesen, wo ich obenein das Unglück hatte, Sie nicht zu finden, weil Sie verreist waren. Ich habe jedoch immer Ihr Bild treu in meinem Gedächtnisse bewahrt.«
»Sehen Sie nur, wie die Herren sind, Frau Zoll-Inspectorin,« antwortete Lottchen verschämt lächelnd, »sie trauen uns keine Erinnerungen zu.«
»Also Du hast Dich seiner erinnert?« fragte Helm, vergnügt die Hände reibend. »Sie hat an Dich gedacht, Rudolf. Hehe, sie hat bekannt, daß sie an Dich gedacht hat.«
»Wer wird denn so etwas ausplaudern!« lachte die Mutter, den Vetter anstoßend, »wer wird denn so rücksichtslos sein!«
Fräulein Lottchen schlug verwirrt die Augen nieder, die Wittwe nahm ihr den Hut ab und hakte den Mantel auf.
»O! die Männer,« lispelte sie, »sie sind immer rücksichtslos. Die Herren der Schöpfung glauben Alles thun zu können, was sie wollen.«
Fräulein Lottchen wurde nun an den Tisch geführt, und obwohl sie sich schüchtern sträubte und vom Nachhausegehen sprach, mußte sie einwilligen, erst den Thee abzuwarten, der schon bereit stand. Alte Geschichten und Erinnerungen wurden wach gerufen, und Lottchen schien trotz ihres Fremdthuns doch schon Kenntniß davon zu haben, was mit ihrem Jugendfreunde geschehen sollte. Sie saß keine halbe Stunde an dem Tische, als sie eine Häkelarbeit aus der Tasche zog und eifrig daran zu arbeiten begann, was Helm zu luftigen Neckereien wie zu Lobeserhebungen Anlaß gab.
»Zwölf Jahre,« sagte er, »ist Lottchen jetzt bei mir, und immer derselbe Fleiß, Muhme Jachtmann, immer dieselbe Ordnung und Ruhe.«
»Möchten Sie denn, daß ich unruhig sein sollte?« fragte Lottchen.
»Gott bewahre! Mädchen, Du bist ein Schatz!« rief der alte Herr, »ich möchte Nichts daran missen.«
»Sie sind ein Geiziger, der sein Gold allein für sich behalten will,« sagte Rudolf; »jetzt aber wird es an's Theilen gehen.«
»Theilen?« fragte Helm. »Wer will theilen?«
»Ich,« erwiederte der Doctor, »ich werde kommen, so oft es Lottchen erlaubt.«
»Die Jugendfreundschaft erneuen? Gut, komm, so oft Du willst, ich will es Dir erlauben.«
»Wenn Lottchen Nichts dagegen hat,« sagte Rudolf.
»O«, erwiederte sie, die Augen verschämt senkend, »ich bitte darum, obwohl ich fürchte …«
»Hehe! sie fürchtet sich!« fuhr Helm dazwischen. »Hören Sie zu, Muhme Jachtmann, sie fürchtet sich!«
»Daß es dem Herrn Doctor in unserer bescheidenen, einfachen Stille nicht gefallen wird,« bemerkte Lottchen ganz roth.
»Bei meiner Jugendfreundin wird es mir immer gefallen.«
»Seh' einer den Pfifficus!« rief Helm, seine Dose schwenkend. »Haben Sie es gehört, Muhme Jachtmann? Es wird ihm gefallen.«
»Ich will's glauben, es gefällt mir auch bei ihr.«
»Aber Onkelchen, Sie sind heute wirklich außer Rand und Band,« lachte Fräulein Lottchen, verwirrt die Hände vor die Augen legend. »Was soll der Herr Doctor denn denken?«
»Gar Nichts soll er denken,« sagte der Onkel, »oder weiter Nichts denken als seine Jugendfreundschaft. Im Uebrigen nenne ihn doch nicht Doctor und Sie, sondern sage Du wie sonst. Ist es nicht wahr, Rudolf, Du soll sie sagen, der alten Freundschaft wegen?«
Hier sprang Lottchen auf und flüchtete sich unter allgemeinem Gelächter zu der Muhme, die sie in Schutz nahm.
»Lottchen hat Recht,« bemerkte diese, »es wird schon kommen, lieber Herr Vetter, doch Alles mit Zeit und Weile. Die beiden jungen Leute müssen sich erst wieder kennen lernen, dann macht es sich ganz von selbst.«
»Jetzt aber ist es die höchste Zeit nach Hause zu gehen,« sprach Lottchen, indem sie den Ueberzieher zum Anziehen bereit hielt. »Machen Sie keine Umstände, Onkelchen, es wird gleich neun schlagen; morgen sind Sie krank, wenn Sie nicht folgen. – Ich weiß es gewiß,« fuhr sie mit einem sanften Blicke fort, den der alte Herr zu kennen schien, denn er ließ die widerspenstige Hand sinken und fügte sich.
Ah! was die Herren doch eigen und hart sind, liebe Frau Zoll-Inspectorin,« sagte Lottchen seufzend, »sie bedenken gar nicht, welche Noth sie sich selbst bereiten!«
»Es muß also geschieden sein,« sprach Helm, »Lottchen duldet's nicht länger.«
»Ich?« rief Lottchen. »Mein Himmel! Ich habe ja Nichts als Bitten und Vorstellungen, damit wir nicht länger lästig fallen.«
»Also vergiß nicht, Rudolf,« fuhr der Vetter fort, indem er seinen Hut aus Lottchen's Hand nahm und seine Würde wieder erlangte: »morgen Punkt Zwölf bist Du am Apolloplatz. Du hast doch eine weiße Halsbinde?«
»Auch eine weiße Weste,« sagte der Doctor lachend.
»Und laß Deinen Rock gut ausbürsten. Es stört den ersten Eindruck Nichts mehr, als ein Flecken auf dem Aermel, oder eine Feder, ein Faden, ein Bändchen oder ein Fussel. Ein adretter sauberer Mensch ist ein ganzer Mensch. Ein Flecken drückt Leichtsinn aus, Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit, er wirft ein schlechtes Licht auf die ganze Conduite.«
Dies waren die letzten Worte des Vetters, mit denen er das Zimmer verließ, während Fräulein Lottchen die Zoll-Inspectorin umarmte und drei Mal küßte, indem sie auf der Thürschwelle noch einmal herzlich bat, doch ja zu verzeihen, daß sie so spät noch lästig geworden sei.
Rudolf reichte ihr die Hand und fragte, ob er morgen einen Besuch machen dürfe. Sie hob schüchtern die Augen zu ihm auf und lächelte ihm Gewährung.
»Wenn Sie uns dieser Ehre würdigen wollen,« lispelte sie.
»Ich komme, um zu sehen, ob ich nicht abgewiesen werde.«
»Frau Zoll-Inspectorin,« flüsterte Lottchen, sich zurückwendend, »Sie wissen am besten, wie sehr ich Sie verehre. Gute Nacht, Herr Doctor, halten Sie Wort!«
Als Mutter und Sohn allein waren, kam es zu vertraulichen Mittheilungen.
»Es ist doch ein sehr gutes Mädchen,« sagte die Mutter. »Eigen und sparsam, häuslich und dabei voller Sorge und Liebe zu dem Vetter.«
»Dafür hat er sie zu seiner Pflegetochter gemacht.«
»Es würde aber nicht Jede so sein wie sie,« fuhr die alte Frau fort. »Lottchen's Mutter, die Hofräthin Wilke, war eine ganz entfernte Verwandte. Als sie starb, war Lottchen sechszehn Jahre alt. Der Vetter nahm das Kind in's Haus, und wie benahm es sich! Alles kam in Ordnung, keine Dreißigjährige hätte es besser machen können Dafür liebt er sie, wie sein eigen Blut. Er soll einmal nahe daran gewesen sein, ihre Mutter zu heirathen, aber weil er druckste und druckste und sich nicht entschließen konnte, kam der Hofrath zuvor.«
»So kann er jetzt die Tochter nehmen,« sagte Rudolf lachend.
»Wie wird denn der noch heirathen!« rief sie ärgerlich. »Er ist jetzt über Sechszig. Aber was er einmal hinterläßt, das gehört ihr, dafür hat er ein Testament gemacht.«
»Wenn sie seine Frau wäre, würde es ihm deswegen nicht schlechter gehen,« meinte Rudolf nachdenkend. »Sie scheint schon jetzt das Regiment zu führen.«
»In Allem, was Recht ist, und mit aller Sanftmuth, mein Sohn,« sagte die Frau Zoll-Inspectorin. »Das thut allen Männern wohl und ist ihnen nützlich und nöthig, verständigen Rath und Beistand an ihrer Frau zu haben. Lottchen ist klug, und der Vetter hat gespart, steht jetzt in hohem Gehalt und Ansehen, braucht wenig, legt alle Jahre zurück, und sie bekommt dereinst das Ganze, wenn er nicht …«
»Was, Mutter?« fragte der junge Mann, als sie einhielt.
»Nun,« sagte sie langsam, »wenn er Dich nicht auch bedenkt.«
»Ah, Mutter!« rief der Sohn, den Kopf in seine Hände legend, »mag er ihr lassen, was sein ist, ich begehre Nichts davon. Er hat viel Gutes für mich gethan und noch immer Liebe für mich. Morgen wird sich meine Zukunft entscheiden, und wenn ich nur einige Jahre bei den Schellbach's aushalten kann, wird mein Leben sich sicherer begründen lassen.«
»Warum wirst Du denn nicht aushalten?« antwortete sie, ihn stolz anblickend. »Wenn sie Dich sehen und hören, werden sie nicht Nein sagen.«
»O, die gute Mutter!« sagte er, seine Arme um das treue Herz schlagend; »weil Du Deinen Sohn liebst, meinst Du, alle Menschen müssen ihn lieben; weil Du voll Frieden und Güte bist, glaubst Du, dieser Friede ist überall!«
2.
Am nächsten Mittage schlug die Uhr der Parkkirche eben zwölf Mal, als Rudolf durch das bronzene Gitterthor am Landhause des Herrn vor Schellbach trat. Er ging einen Weg hinauf, der mit buntem Kies bestreut war, und erblickte das Gebäude zwischen Baumgruppen, hinter einem jener lieblichen, von Blumen eingefaßten Rasenplatze, welche die moderne Gartenkunst geschmackvoll anzuordnen versteht.
Das Haus war eine im italienischen Styl gebaute Villa mit vorspringenden Pavillons und einer schönen, breiten Veranda. Ein paar mächtige Löwen von Erz lagen auf geschliffenen Granitblöcken zu beiden Seiten der Vortreppe; ein Bogengang mit bunter maurischer Malerei und einem Gitterwerk, an welchem Wein aufrankte, bildete die Verbindung mit einem prächtigen Treibhause voll hoher Palmen und anderer Gewächse des heißen Südens. Mitten auf dem Rasengrunde strudelte ein Springbrunnen in einer Marmorschale, dessen klares Wasser dann schleierförmig in eine große Muschel fiel; sonst herrschte überall die lautloseste Stille. Nirgend mahnte ein Zeichen an die geschäftige Menge, die um Brot und Arbeit sich abplagt. Kein Hämmern und kein Pochen, kein Küchen- und kein Kellerlärm, kein Stallgebäude selbst, Nichts als das große zierliche Haus, umringt von dem aufkeimenden Frühling und dessen glänzendem Sonnenschein.
Rudolf blieb an der Treppe stehen und betrachtete mit Freuden das schöne Bild. Es that ihm wohl, daran zu denken, daß er hier leben und sich bewegen sollte. –
Was der Reichthum nicht Alles vermag, sprach er vor sich hin, und was könnte er Besseres thun, als sich mit allem Schönen umringen! Ich werde gern mit den Brosamen zufrieden sein, fügte er dann lächelnd hinzu, die von diesen Tischen fallen.
In diesem Augenblicke öffnete sich hinter ihm eine Thür an der Seite des Erdgeschosses, wovon der junge Philosoph jedoch nicht eher Etwas vernahm, bis ein großer neufundländischer Hund seine gewaltige Stimme hören ließ. Als er sich umwandte, sah er über das Thier fort eine Dame, die in blauem Shawl und Strohhut dort stand, den Hund am Halsbande festhielt und den fremden Eindringling betrachtete. – Sie war klein, ihr Gesicht hatte scharfe, feste Züge. Ihre lebhaften Augen schienen dunkel und voller Glanz zu sein, die Lippen schlossen sich hart und schmal zusammen.
Aha, dachte Rudolf, indem er den Hut zog, das ist die Verrückte.
»Was wollen Sie?« fragte das Fräulein in abstoßendem Tone.
»Ich wünsche den Herrn von Schellbach zu sprechen.«
»Sind Sie der Hauslehrer, den man erwartet?«
»Mein Name ist Jachtmann,« antwortete er mit einer bejahenden Verbeugung.
»Ein ganz passender Name für einen Lehrer,« begann die Dame wieder, indem ihre Lippen einen spöttischen Ausdruck erhielten und ihre tiefen Augen ihn groß und ernsthaft ansahen. »Es ist eine Jagd, oft eine Hetzjagd, meist aber eine höchst unfruchtbare, wenn ein Mensch Etwas lernen soll von dem Treiber, der hinter ihm steht. Sie werden einen miserablen Schüler bekommen, einen wilden Jungen, verzogen und dumm.«
»Die artigen Kinder sind nicht immer die besten,« sagte Rudolf lächelnd, »und was man dumm nennt, ist häufig nur ein Anderssein, als man es wünschte und möchte.«
Ihre Augen blieben an ihm so fest hangen, daß er ein inneres Unbehagen fühlte; sie fragte jedoch nicht weiter, sondern deutete nach einem kurzen Schweigen auf die Thür.
»Gehen Sie dort hinein,« sprach sie, »gerade aus bis an die Treppe. Dort wird irgend ein Nichtsthuer sein, der Sie melden kann.«
Mit diesen Worten wandte sie ohne Gruß sich um, und ihre Hand fortgesetzt auf den Hals des großen Hundes gelegt, schritt sie den geschlängelten Weg hinab, der in die Tiefe des Gartens führte.
Ich glaube wirklich, der Vetter hat Recht, und es ist irgend Etwas in diesem Staate nicht in Ordnung, sagte er in sich hinein, als er der Weisung folgte und die Thür öffnete. Doch was geht es mich an! fuhr er fort. Die goldene Lebensregel des guten Vetters ist die, mich um Nichts zu kümmern, was mich nicht plagt.
Als er die Treppe erreicht hatte, fand er einen galonirten Bedienten, der in einem Seiten-Cabinet so eben frühstückte und ziemlich unwillig und langsam sich stören ließ.
Mit der instinctartigen Empfindung, daß er Jemanden vor sich habe, der nicht allzu großer Höflichkeit werth sei, machte er sich endlich verdrossen auf den Weg, kam jedoch nach einigen Minuten schon geschmeidiger und mit dem Bescheide zurück, daß es dem gnädigen Herrn angenehm sein würde, den Herrn Doctor zu empfangen. –
Hierauf führte er diesen die Treppe aufwärts, durch einen Vorsaal und durch mehrere prächtig decorirte Zimmer, bis er eine andere Flügelthür öffnete und schweigend zur Seite trat.
»Herr Doctor Jachtmann,« sagte ein Herr, der von der seidenen Ottomane hinter dem Pfeilertische aufstand und ihm entgegen kam.
Rudolf verbeugte sich und wiederholte seinen Gruß gegen die Dame, welche ihre nachlässige Stellung auf den dunkelrothen Polstern unverändert beibehielt, aber langsam den Kopf neigte. In der Fensterwölbung saß noch ein anderer Herr, der seinen Arm auf das gestickte Kissen stützte, die Füße kreuzte und mit der rechten Hand an der dicken Goldkette drehte, die aus seiner Weste fiel. Dieser junge Herr, der ein blasses schönes Gesicht, große schwarze Augen und schwarzes Haar hatte, das in Locken gebrannt schien, warf dem Eintretenden nur einen flüchtigen Blick zu, dann strich er das Bärtchen auf seiner Lippe und beschäftigte sich mit sich selbst, indem er seine Nägel betrachtete, ohne sich um Etwas zu kümmern.
Der andere Herr hatte inzwischen den Hauslehrer ersucht, sich niederzulassen, und gab sich ihm als den zu erkennen, den er suchte. Er war blond und wohlbeleibter, als gewöhnlich Männer von dreißig Jahren zu sein pflegen; seine schlaffen, vollen Züge hatten den Ausdruck eines Menschen, der sinnliche Genüsse liebt. Seine Augen waren kalt, seine Wangen von seinen rothen Adern durchkreuzt, sein Haar dünn und glatt. Alle Zeichen einer reizbaren Gemüthsart schienen somit deutlich an ihm ausgeprägt.
»Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Herr Doctor Jachtmann,« sagte er, »und thue dies um so mehr, da ich im Voraus annehme, daß Sie mir Gelegenheit geben wollen, Sie oft zu sehen; wenn es nämlich Ihr Wunsch und Wille ist, meinen Knaben in Ihre Aufsicht zu nehmen.«
»Wenn Ihre Wünsche damit übereinstimmen, Herr von Schellbach, antwortete Rudolf, »will ich gern versuchen, Ihr Vertrauen zu rechtfertigen.«
»Helm hat Sie mir empfohlen, das ist mir genug,« bemerkte Herr von Schellbach herablassend.
»Mein Vetter kann mich wenigstens in Betreff meines Charakters und von der menschlichen Seite beurtheilen.«
»Für Ihre Kenntnisse zeugen die Atteste, welche ich gesehen habe,« fiel der gnädige Herr ein.
»Diese bezeugen allerdings meine Studien, doch nicht meine Lehrfähigkeit,« meinte der junge Mann bescheiden. »Man kann sehr viel gelernt haben und dennoch ein schlechter Lehrer sein. Das Lehr- und Erziehungs-Talent hängt nicht mit ausgedehnten Kenntnissen zusammen, sondern, wie ich glaube, von der Kunst ab, das, was man weiß, fruchtbar auf den Schüler zu übertragen, diesen anzuregen, seinen Eifer zu erwecken und seine Zuneigung zu gewinnen.«
»Sehr wahr! sehr gut!« antwortete Herr von Schellbach zufrieden, indem er zu der Dame hinübersah und ihr zunickte. »Haben Sie schon unterrichtet, Herr Doctor?«
»Nein,« sagte Rudolf, »auch war dies eigentlich meine Absicht nicht. Ich bin kein Philologe von Fach, der das Lehrwesen zu seiner Hauptaufgabe bestimmt, auch kein Theologe, der darin die Vorschule seines Lebensberufes erkennt.«
»Das freut mich, daß Sie kein Theologe sind,« sprach der gnädige Herr. »Ich gehöre nicht zu den frivolen Religions-Verächtern, im Gegentheil, ich liebe die vernünftige Gläubigkeit, allein ich möchte meinen Emil doch keinem frommen Candidaten übergeben. – Ich erinnere mich, Helm sagte mir, daß Sie Sich mit der Natur abgegeben haben.«
»Ich habe Naturwissenschaften studirt,« antwortete Rudolf, »mit Zoologie und Botanik mich besonders beschäftigt und über einige neue mikroskopische Untersuchungen und Entdeckungen meine Doctor-Dissertation geschrieben.« –
Er zog dabei ein roth gebundenes, mit Goldschnitt versehenes Heft aus der Brusttasche und überreichte es dem Gönner, der es lächelnd annahm, hineinblickte, es auf den Tisch legte und seinen Dank aussprach.
»Wenn es deutsch, französisch oder englisch geschrieben wäre,« sagte er, »würde ich es mit noch größerem Vergnügen annehmen.«
»Es gehört freilich zu dem alten Zopf unserer Universitäten,« erwiederte Rudolf mit einer artigen Verbeugung gegen die Dame, welche das Buch ergriffen hatte, »daß man noch immer darauf besteht, lateinisch zu schreiben und zu disputiren, was nur sehr Wenige gut und vollkommen vermögen. Schlössen die Gelehrten sich mehr dem Leben an, so würde dieses und das Volk sich ganz anders auch ihnen anschließen; die Wissenschaften würden einen anderen Einfluß gewinnen, und, wenn ich so sagen darf: sie würden menschlicher und dadurch göttlicher, fruchtbringender werden. Die Gelehrten würden dann wirklich die Lehrer der Völker sein, und wenn sie als solche zu schreiben verständen, würden ihre Werke in große Kreise dringen und Beifall wie eifrige Theilnahme selbst da finden, wo man jetzt nur Romane liest.«
»Heißt das nicht die Wissenschaft in den Koth ziehen?!« rief eine scharfe Stimme von der Thür her, und Rudolf stand überrascht von seinem Stuhle auf und sah sich um. Was er dachte, fand er bestätigt. Das Fräulein, deren Bekanntschaft er zuerst gemacht, war hereingetreten und stand dort, in ihren blauen Shawl gehüllt, wie er sie im Garten gesehen hatte.
»Meine Schwester Johanna, Herr Doctor Jachtmann,« sagte Herr von Schellbach, vornehm lächelnd. »Sie werden einen tüchtigen Widersacher finden, wenn Sie die Gelehrten herabwürdigen.«
»Gewiß kann dies nicht meine Absicht sein,« antwortete Rudolf, »im Gegentheil möchte ich sie höher würdigen, indem ich sie als Gemeingut der ganzen Menschheit wünsche.«
»Was Sie wünschen, ist Thorheit,« fuhr das Fräulein in scharfem, absprechendem Tone auf. »Was hat der tiefe Denker, der scharfsinnige Forscher mit der Menge zu thun, die ihn nicht versteht?«
»So muß er sich ihr begreiflich machen,« erwiederte der junge Mann bescheiden.
»Das heißt,« fuhr sie verächtlich fort, »er soll den edlen Wein in grobe, irdene Näpfe gießen und ihn so lange mit Wasser verdünnen, bis er der gemeinsten Zunge schmeckt. Das nennt man die Wissenschaften populär machen, das gefällt dem flachen Haufen, der allenfalls dabei auf einige Stunden seine französischen Romane aus der Hand legen möchte. Wer aber den Wissenschaften eine solche Entartung zumuthen kann, muß von ihnen eine sehr geringe Meinung haben.«
Während sie sprach, war sie von der Thür mitten durch das Zimmer gegangen und endlich vor Rudolf stehen geblieben, den sie mit einem zürnenden Ausdruck und so starr betrachtete, daß er darüber erröthete. Zugleich aber fühlte er sich verletzt und geärgert über diese seltsame und hochfahrende Art des Widerspruches, und wenn auch allerhand Vermuthungen über die geistige Zurechnungsfähigkeit der kleinen Dame sich wieder in ihm regten, so war er doch nicht geneigt, ihr nur ein Lächeln oder Schweigen entgegen zu setzen.
»Ich kann diesem harten Urtheile um so weniger beipflichten,« antwortete er, »da die glänzendsten Beispiele meine Ansicht vertheidigen. In England lassen sich die größten Gelehrten herbei, vor gemischten großen Kreisen, die man allerdings gern die flachköpfige Menge nennt, gemeinnützige und gemeinverständliche Vorträge zu halten, und selbst ein guter Theil der stolzesten Aristokratie findet Gefallen daran und schenkt ihnen Beifall. Aber auch in Deutschland rückt diese Erkenntniß näher. Alexander von Humboldt, der berühmteste aller deutschen Gelehrten, hat seinen Kosmos für das ganze Volk, ja, für alle Völker geschrieben und, ohne die Wissenschaft zu entwürdigen, alle Resultate der Forschungen des menschlichen Geistes in schöner, bilderreicher, glänzender Sprache darin niedergelegt.«
Das Fräulein schwieg einige Augenblicke, sie schien nachzudenken.
»O!« rief sie dann, mit den Lippen zuckend, »das ist eine rechte Art, Beweis zu führen. Ein berühmter Mann, eine Autorität, gegen welche jeder Zweifel Sünde und Verbrechen wird, muß vorgeschoben werden. Und hinter den berühmtesten Namen ist doch meist so viel Rauch und leerer Schall!«
Frau von Schellbach lachte bei diesen Worten laut auf und schüttelte dann mit unverkennbarem Unmuth ihr stolzes Haupt. Ihr Gemahl sah die geisteskranke Schwester und den jungen Gelehrten an und machte eine abwehrende Handbewegung, als wolle er Beiden Schweigen gebieten.
Der Herr am Fenster endlich lächelte ebenfalls, öffnete die Lippen und schien Etwas sagen zu wollen, was er unterließ, dafür aber aufstand und mit einer vertrauten, verbindlichen Neigung die furchtlose Dame fragte, ob ihre Morgen-Promenade beendet sei.
»Nur abgebrochen,« antwortete sie, sich kurz umwendend; »gut, daß Sie mich daran erinnern! Mein Begleiter wartet draußen.«
Damit ging sie, wie sie gekommen war, ohne Abschied zu nehmen und sich weiter um die Anwesenden zu kümmern, zur Thür hinaus und ließ eine allgemeine Unbehaglichkeit zurück.
»Nun, Herr Doctor Jachtmann,« sagte Herr von Schellbach, zuerst das Schweigen unterbrechend, »kehren wir auf den Gegenstand unserer Unterredung zurück. Ich hoffe, daß es Ihnen bei uns gefallen soll. – Theuerste Henriette, ich weise den Herrn Doctor an Dich, Du wirst ihm am besten eine Charakter-Schilderung unseres Emil entwerfen und weitere Verabredung nehmen können. – Wann dürfen wir Sie erwarten?«
»Ich stehe zu Ihren Diensten, wann Sie befehlen.«
»Dann morgen; ja, morgen. Nicht wahr, Henriette?«
Frau von Schellbach hatte Nichts zu erinnern.
»So sind wir einig. Lernen Sie Ihren Zögling zunächst kennen; über seine Erziehung wollen wir später sprechen. Ich denke, wir behandeln ihn nach englischer Methode. Ich war lange in England und habe dort selbst Erfahrungen gemacht. Viel Bewegung in freier Luft, körperliche Uebungen aller Art, so wenig wie möglich sitzen, lernen, wo es angeht, bei Spaziergängen.«
»Ich bin durchaus Ihrer Meinung,« erwiederte der Hauslehrer erfreut. »Man muß den Körper kräftigen und die geistigen Anlagen demgemäß entwickeln. Es ist eines der Hauptgebrechen, an welchen die jetzige Generation kränkelt, daß der jugendliche Körper in der Schule geschwächt und verkrüppelt wird. Der goldene Spruch der Alten: daß der gesunde Geist nur im gesunden Körper wohne, ist leider fast vergessen worden.«
»Ich denke, wir werden im besten Einklange sein und bleiben,« sagte Herr von Schellbach mit einer huldvollen Kopfneigung. »Wollen Sie mit uns speisen?«
Rudolf entschuldigte sich mit Geschäften.
»So ordnen Sie denn alles Nöthige,« fuhr der gnädige Herr fort, »und richten Sie es so ein, daß wir morgen Mittag das Vergnügen haben, Sie bei uns zu sehen. Wollen Sie Ihren Zögling sprechen?«
»Es wäre vielleicht gut, wenn wir heute schon unsere Bekanntschaft begönnen, damit er morgen nicht allzu sehr überrascht ist.«
»Ich werde ihn herschicken. – Liebe Henriette, ich reite eine Stunde im Park, dann will ich in die Stadt. Um drei Uhr bin ich zurück. Komm, Laxfeld. Auf Wiedersehen, Herr Doctor.«
Er ging nach der Thür. Der junge Herr von Laxfeld machte vor der Dame des Hauses eine jener kurzen, ruckenden Verbeugungen, womit man sich in der Gesellschaft empfiehlt.
»Du willst also auch fort?« fragte Frau von Schellbach, zu ihm aufblickend.
»Zu meinem Entsetzen!« antwortete er, den knappen Handschuh aufstreifend. »Schellbach ist ein Tyrann.«
»Das muß ich am besten wissen,« war ihre Antwort, indem sie lächelnd ihrem Manne nachsah.
»O!« rief er, ihre Hand an seine Lippen führend, »es giebt Wunder, die alle Tyrannen zähmen.«
Die gnädige Frau lehnte sich mit geschmeichelter Genugthuung in die Sammtkissen zurück.
»Wir dürfen Dich doch zu Mittag erwarten, Hermann?« fragte sie.
Er machte eine neue ruckende Verbeugung und ging hinaus. Der Doctor blieb sitzen, er wußte nicht recht, ob er reden oder schweigen sollte. Er blickte Frau von Schellbach an, die sich in ein reich gesticktes Crepe-de-Chine-Tuch hüllte, den Fächer nahm, der vor ihr lag, ihn einige Mal öffnete und zuklappte und damit die Pause ausfüllte.
Rudolf betrachtete sie und sagte sich, daß es eine imposante Erscheinung sei, die aber auch jedenfalls dies wisse und ihre Ansprüche danach einrichte. Sie hatte durchaus Nichts in ihren Zügen, was auf besondere Gaben deutete; alle Formen waren rund, aber das Ganze harmonisch und symmetrisch. Die Augen groß und stolz, die Stirn hoch, die Nase gerade und wohlgebildet, und die Lippen ein wenig aufgeworfen, aber sie zeigten die schönsten Zähne. Dabei war ihre Tracht gewiß nach den neuesten Moden und von den gewähltesten Stoffen, die große üppige Gestalt ganz dazu gemacht, um Bewunderung und Neid zu erregen.
»Sie sind aus der Hauptstadt gebürtig?« fragte sie mit einem gewinnenden Lächeln, indem sie seine geheime Kritik unterbrach.
»Ja,« sagte Rudolf.
»Haben Sie Familie hier? – ich meine, Verwandte,« verbesserte sie sich.
»Niemand als meine Mutter.«
»Aber einer der Leute meines Mannes, ich denke, Helm, hat Sie empfohlen. Ist der nicht auch ein Verwandter?«
»Ein sehr entfernter Verwandter, mehr ein treuer und großmüthiger Freund meiner Eltern, dem ich viele Güte und väterliche Sorgfalt danke.«
»Es scheint, daß Sie sehr dankbar sind,« sagte sie lächelnd.
»Ich glaube, es ist das Geringste, was ich thun kann,« antwortete er mit Wärme.
Sie blickte ihn an und schwieg.
»Sie haben also wohl wenige Bekannte hier?« fragte sie nach einem Weilchen.
»Sehr wenige. Ich war beinahe acht Jahre entfernt auf Schule und Universität. Auf der Landesschule erhielt ich einen Freiplatz. Geld zum Reisen hatte ich nicht; nur durch die Unterstützung des Vetters wurde mir das Studiren möglich.«
»Es ist sehr gut, wenn man nicht zu viele Freunde hat,« fiel die Dame ein. »Rauchen Sie auch, Herr Doctor?«
»Zuweilen ein wenig.«
»Hier raucht Niemand. Herr von Schellbach dann und wann im Gartensaale beim Kaffee oder beim Spazierengehen. Ich kann mich mit dieser Angewohnheit der Herren nicht befreunden.«
Rudolf verbeugte sich. Verstanden! sagte er in sich hinein. Ich soll keine Besuche in's Haus bringen und soll nicht rauchen.
»Da kommt Emil!« begann die Gnädige, indem sie sich aus der nachlässigen Haltung aufrichtete und den Fächer fortwarf, mit dem sie seither gespielt hatte. An der Thür entstand ein durchdringendes Kindergeschrei.
Ein Bedienter brachte den Knaben in seinen Armen, der sich heftig sträubte und um sich schlug. Es war ein blasses, blondhaariges Kind, bei dessen erstem Anblicke man überzeugt sein mußte, es sei im hohen Grade verzogen und eigensinnig. Dem Knaben folgte Fräulein Johanna, die, als der Diener ihn niedersetzte und hinausging, still zusah, wie Rudolf sich bemühte, seinen schreienden Zögling zu beruhigen und festzuhalten, der sich losriß und zu seiner Mutter floh.
»Lassen Sie ihn,« sagte sie in ihrer rauhen Art. »Dort findet er Schutz und Beistand.«
»Und wo sollte er ihn besser suchen können?« antwortete der Hauslehrer.
»Vielleicht bei meiner liebenswürdigen Schwägerin!« lächelte Frau von Schellbach, indem sie dem blonden, trotzigen Knaben schmeichelte.
Das Fräulein antwortete nicht auf diesen Angriff, sie blickte mit ihren großen Augen die stolze Frau starr an, und Rudolf zweifelte nicht, daß zwischen diesen beiden Damen eine tiefe Abneigung obwalten mußte.
»Ich glaube,« sagte er, um alle weitere Nachwirkung abzuschneiden, »daß mein kleiner Freund bis jetzt noch von keiner männlichen Hand geleitet und behütet wurde.«
»Man hat ihm eine französische Bonne gegeben, die mit ihm plapperte und ihn gewöhnte eigensinnig zu sein,« sagte das Fräulein. »Mit Schreien und Toben hat er Alles erreicht. Er ist wild und kopflos, von geringen Fähigkeiten.«
»O!« rief der Doctor rasch, als er sah, daß Frau von Schellbach heftig die Hand nach dem Fächer ausstreckte und ihr Gesicht sich röthete, »ein so junges Kind entzieht sich gewöhnlich allen bestimmten Urtheilen. Emil scheint ein wenig kränklich zu sein, davon kommt meist, was man Eigensinn nennt; aber er hat ein offenes Gesicht und klare, schöne Augen, die gute Eigenschaften ausdrücken.«
Dem Knaben schien die freundliche Ruhe und die wohlklingende Stimme des fremden Mannes zu gefallen. Als Rudolf die Hand nach ihm ausstreckte, weigerte er sich nicht mehr und ließ sich Haar und Wangen streicheln.
»Wir werden uns schon lieb gewinnen,« sagte der Hauslehrer, »und gute Cameradschaft halten.«
»Ganz, wie ich dachte!« sprach das Fräulein laut vor sich hin, indem sie sich umdrehte.
»Einen Augenblick noch, liebe Johanna!« rief ihr Frau von Schellbach nach. »Herr Doctor, wir erwarten Sie somit morgen. Ich bin sehr erfreut, daß mein Mann so glücklich war, Sie für unseren Emil zu gewinnen. Mein Oheim, der Minister, hat uns einige Vorschläge gemacht, inzwischen wünschte Herr von Schellbach keinen Theologen und hörte von dem Herrn Helm, dem wir sehr dankbar sind, von Ihnen. Wir essen um vier Uhr – Herr von Schellbach hat dies zu bemerken vergessen. Leben Sie wohl!«
Rudolf empfahl sich, die beiden Damen blieben allein. Er konnte denken, welche Scene zwischen ihnen stattfinden werde.
3.
Als er nach Hause kam, empfing ihn seine Mutter schon vom Fenster mit Winken und Handschwenken. Die alte Frau hatte seit einer Stunde die Straße sehnsuchtsvoll hinab gesehen und mit Herzklopfen jede Gestalt betrachtet, die in der Ferne ihm ähnlich sah. Als ihr Sohn nun wirklich um die Ecke bog, zitterten ihr die Kniee. Sie hätte ihm entgegenlaufen mögen, aber sie besann sich zur rechten Zeit, daß sie in ihrer Haube und in dem bunten Hauskleide allen Nachbarn zu reden geben würde. Sie legte sich daher so weit wie möglich über die Brüstung und strengte ihre alten Augen an, um in seinen Mienen Glück oder Unglück zu lesen.
Als Rudolf aber voll Liebe und Freudigkeit zu ihr hinaufsah und drei Mal lebhaft nickte, fuhr sie zurück und hatte in ihrer Seligkeit beinahe die Blumentöpfe vom Fensterbrett gestoßen.
»Sie haben ihn angenommen! Es ist richtig, lieber Gott, es ist Alles richtig!« rief sie athemlos, und plötzlich riß sie die Thür auf, rannte bis an die Treppe, schloß Rudolf's Hand in ihre beiden Hände, dann ihn selbst an ihr klopfendes Herz und sah ihn mit solchem stolzen Entzücken an, als wäre er so eben zum Premier-Minister ernannt oder in den Fürstenstand erhoben oder vom großen Loose heimgesucht worden.
»Ja, liebe, gute Mutter, Du hast Recht,« sagte der Sohn, als er drinnen neben ihr saß, »die Sache ist abgemacht. Morgen schon halte ich meinen Einzug bei dem reichen Herrn und,« fügte er mit einem sanften Lächeln hinzu, »meinen Abzug aus dieser heimischen friedensvollen Klause.«
»Gott sei Dank, Gott sei Dank!« sprach die alte Frau, ihn abermals umarmend, und ihre wirbelnden Gedanken zeigten ihr das prächtige Landhaus, als gehöre es sammt allen seinen Schätzen dem geliebten Kinde. – »Und wie haben sie Dich aufgenommen, Rudolf? Wie waren sie zu Dir, mein lieber Sohn?«
»Sehr freundlich, Mutter, sehr höflich und freundlich.«
»Sagte ich es nicht,« rief sie triumphirend, »ich wußte es vorher! Sie durften Dich nur sehen, so war ich gewiß, sie ließen Dich nicht fort. Du hast Etwas in Deinem Wesen, Rudolf, was die Menschen gern haben müssen. Du siehst aus wie Dein Vater,« fuhr sie mit einem stolzen, starren Lächeln fort, indem sie ihm über die Stirn strich. »O ja, der Vetter Helm hat Recht. Wer Deinen Vater sah, mußte gleich Vertrauen zu ihm haben, und ich – ich, Rudolf – mir ist es ja auch so gegangen.«
Die Erinnerung alter Liebe und Treue glänzte in ihren blauen Augen, und sie sah den Sohn damit so zärtlich an, der ihr das Bild des Glückes ihrer Jugend zurückspiegelte, als erwachte in den geheimsten Tiefen ihres Herzens das wunderbare Geheimniß noch einmal, in welchem das einzige wahre Glück der Menschheit verborgen ist.
Rudolf beugte sich zu ihr nieder, und ihre leuchtenden Blicke waren so voll Liebeswärme wie die Blicke einer Braut; schalkhaft zupfte sie dann an der braunen Locke, die auf seine Stirn fiel, und sagte lächelnd:
»Aber das Haar mußt Du Dir abschneiden, Kind, das sieht viel zu wild und wirr aus und schickt sich nicht für einen jungen Doctor, der bei feinen Herrschaften lebt. Da muß man nach der Mode gehen, hübsch glatt und zierlich; und weißt Du, wer auch schon heut gesagt hat, Du sähest zu wild um den Kopf aus und müßtest ein Kämmchen in der Tasche tragen?«
»Nun?« fragte Rudolf lachend.
»Lottchen!« rief die Mutter, in die Hände schlagend.
»War die hier und hat sich um meinen Hauptschmuck bekümmert?«
»Hier war sie, und da saß sie, länger als eine Stunde, und von wem wir sprachen, kannst Du wohl denken. Du hast ihr sehr gefallen, hast ihr ganz besonders gefallen, wie sie sagt, weil Du so bescheiden und anstandsvoll bist.«
»Ich bin Fräulein Lottchen für ihre gute Meinung sehr verbunden.«
»Es ist aber auch ein sehr liebes, verständiges, einsichtsvolles Kind,« fuhr die Frau fort. »Heut Nachmittag sind wir Beide zum Kaffee eingeladen und bleiben natürlich gleich bis Abend da. Helm kommt auch von dem Comptoir; er wird es so einrichten, daß er es kann, und der Herr Gouverneur soll ja nicht zu lange ausbleiben.« –
Sie lachte aus ganzem Herzen und schüttelte Rudolf's Arm.
»Der Herr Gouverneur! merkst Du wohl, Kind, haha! der Herr Gouverneur! das bist Du, das kann kein Mensch läugnen. Ich wäre nicht darauf gekommen, aber Lottchen findet immer das beste Wort, weil sie eine feine Erziehung bekommen hat und weiß, wie sich Alles schickt und paßt. – Herr Gouverneur! Gouverneur bei dem Herrn von Schellbach! Was das allerliebst klingt, Rudolf!«
Der Sohn hörte ruhig zu und sagte dann:
»Es ist eine alte, abgeschmackte Benennung aus der französirenden Periode; jetzt ist sie so ziemlich abgekommen.«
»Sie kommt wieder auf!« rief die alte Frau, »Du sollst sehen, sie kommt wieder auf; alles Alte kommt wieder auf und wird wieder Mode. Die vornehmen Leute wollen keinen Hauslehrer mehr, es klingt zu gemein. In allen Zeitungen steht jetzt: ›Eine Gouvernante wird gesucht,‹ und wenn das der weibliche Theil von den Hauslehrern sich erlauben und sich so übersetzen lassen darf, so kann es der männliche Theil eben so gut thun. Frau von Schellbach wird ganz gewiß darauf bestehen, daß ihr Sohn einen Gouverneur hat.«
Rudolf stand lachend auf. Die Titelsucht seiner Mutter und ihre scharfsinnigen Gründe belustigten ihn ausnehmend.
»Möglich genug,« sagte er, »daß die gnädige Frau dergleichen fähig ist, aber wir wollen es abwarten, und vor der Hand ist mir Nichts lieber, als daß ich die heutige Einladung des Herrn von Schellbach zu seinen Tafelfreuden ausgeschlagen habe, um mit Dir, mein Herzensmütterchen, zu speisen.«
»Daran hast Du sehr unrecht gethan,« antwortete sie nachdenklich. »Mein Gott! was kann ich Dir vorsetzen? Nichts als ein mageres Süppchen und ein Stück Fleisch, und Du bist gewiß hungrig. Was würde es da gegeben haben! Sie haben ja sogar einen Koch, wie mir der Doctor erzählt hat.«
»Welcher Doctor?«
»Nun, mein Doctor,« sagte sie schelmisch »Ich habe auch meinen Doctor, Rudolfchen, als ob ich reich wäre. Wie ich letzten Herbst das Fieber bekam, schickte Helm ihn zu mir. O, es ist ein Medicinalrath, ein feiner Herr, der in hohe Häuser kommt, nicht etwa so ein Fußdoctor für arme Leute. Mit Wagen und Pferden besucht der seine Kranken. Bei Schellbach's curirt er das ganze Haus, Jeder hat da Doctor und Medicin frei, und deswegen kommt er zu Helm, der ihn gebeten hatte, mir auch zu helfen, als gehörte ich dazu. Jetzt hat er erfahren, daß Du Gouverneur werden würdest; wer es ihm eigentlich gesagt hat, konnte ich nicht heraus kriegen; aber der ist klug, der weiß Alles und schön war es gewiß von ihm, daß er selbst kam, um Dich zu sehen.«
Der Sohn dachte einen Augenblick nach, dann legte er den Arm um die alte Frau und sagte lächelnd:
»Deinen Doctor werde ich früh genug kennen lernen, aber Dich werde ich seltener sehen, als ich möchte. Bringe Deine spartanische Suppe, mein Mütterchen, und laß uns froh noch einmal beisammen sein, von keinem Dritten gestört.«
Das einfache Mahl, wurde gehalten, und mit wahrer Herzensfreude sah die Wittwe, wie gut es ihrem Liebling schmeckte. Endlich aber ermunterte sie ihn, heute den stattlichen neuen Frack und die weiße Weste nicht abzulegen, auch nicht zu lange zu zögern, um Lottchen nicht warten zu lassen.
»Es steht Dir so gut,« sagte sie, ihm die Schleife knüpfend, »Du siehst so vornehm aus wie ein Prinz. Halt nur still, das versteh' ich noch, eine Rose zu binden. Deinem Vater mußte ich es immer thun, wenn wir zusammen ausgingen. Liebe Marie, sagte er, Keiner macht die Rose so gut, wie du. Du hast feine Finger. – Ja, nun sind die Finger alt und steif geworden, und er – und die Rose – ach! Rudolf, mit allen Rosen ist es vorbei!«
Sie wollte lachen, und über ihr gutmüthiges Gesicht verbreitete sich der Schatten einer Traurigkeit, die ihr plötzlich zwei große Tropfen in die Augen drängte.
»Jetzt trägt Dein Sohn die Rosen!« rief Rudolf, sie sanft küssend, »und Gott möge ihm helfen, daß er einen ganzen frischen Kranz um Dein Haupt winden kann.«
Als er ging, sah sie ihm wieder aus dem Fenster nach; denn sie ließ ihn allein voraus, weil die kleine Wirthschaft erst wieder in voller Ordnung sein sollte, oder weil sie dies vorschützte und ihre eigenen Absichten und Plane dabei hatte. –
Da geht er hin, flüsterte sie, und wie die Leute ihn anschauen! Ja, das müssen sie auch, so Einem sieht Jeder gern nach. Und was wird Lottchen für Augen machen, wenn er so früh kommt! Wenn das ein Paar würde! – Ich will Taps heißen, wenn Vetter Helm es nicht sehnlich wünscht, und sie … O, Herr, du meine Güte! –
Sie schlug lachend in ihre Hände und begann, erfüllt von glücklichen Gedanken, ihre Geschäfte.
Während dieser und anderer Monologe der Frau Zoll-Inspectorin durchschritt Rudolf langsam eine Reihe geräuschvoller Straßen und näherte sich endlich einem etwas abgelegeneren Stadttheile, der jedoch erst in den letzten zehn Jahren entstanden war und darum nur neue und zierliche Häuser enthielt, die hinter kleinen Vorgärten lagen.
Manche waren groß und sehr stattlich, andere bescheidener, für eine oder zwei Familien eingerichtet; eines derselben jedoch, obwohl es nur drei Fenster breit war, sah bei allem dem so sauber wie ein kleines Schmuckkästchen aus.
Dieses Haus war dem jungen Gelehrten so genau bezeichnet worden, daß er es sogleich als Wohnung und Eigenthum des Vetters erkannte. Das Gärtchen war von einem leichten Eisengitter eingefaßt. Drinnen standen hochstämmige Rosen inmitten allerliebster Blumenbeete mit Taxus-Einfassung; an der Seite eine Laube von Linden, und unter einem Fliedergebüsch versteckt ein Brunnen.
Das Häuschen war hellgelb in Oelfarbe glänzend angestrichen. Kein abgestoßenes Fleckchen war daran zu sehen. Unten hatte es niedere vergitterte Fenster, dort lagen die Küchen- und Vorrathsräume; das erste Geschoß aber war hell und hoch. Ein Balcon mit Flügelthüren nahm die Mitte ein, prächtig mit blühenden Frühlingskindern und großen Topfgewächsen besetzt, und während die Thüren geöffnet standen und das helle Sonnenlicht in das Zimmer fallen ließen, waren rechts und links die großen Doppelfenster mit schneeweißen Vorhängen hinter den äußeren Scheiben umhüllt.
Der ganze Anblick, das grünende, zierliche Gärtchen voll Farben und jungen Laubes und das nette Häuschen dahinter, so einladend und verlockend, brachte sonderliche Gedanken in den Beschauer. Er empfand eine sehnsüchtige Lust, es sein zu nennen, darin zu wohnen und zu leben, ein Weh, daß er es nicht haben könne, und den Glauben, daß alle seine Wünsche auf Erden befriedigt wären, wenn er in diesen friedlichen Räumen alle seine Tage verleben durfte.
Lächelnd schüttelte er den Gedanken ab und faßte nach dem Klopfer an der Thür, der kaum den ersten laut schallenden Schlag gethan hatte, als innen ein Drücker aufschnappte und er hinein treten konnte. –
Es war kühl auf der sauber mit Fliesen schachbrettförmig belegten Flur, allein Niemand empfing ihn; kaum jedoch hatte er einige Schritte gethan, als eine Stimme von der Treppe herunter fragte, wer da sei, und diese Stimme gehörte unverkennbar Fräulein Lottchen an.
Statt Antwort zu geben, sprang er daher die Stufen hinauf und stand vor der jungen Dame, die ihn mit einem kleinen Schrei und in holder Verwirrung empfing, ohne doch entweichen zu können. Sie war, wie es schien, noch gar nicht darauf vorbereitet, Gäste zu empfangen; denn sie trug ein Jäckchen von blaustreifigem Kattun, das sehr häuslich einfach und doch sehr nett und kleidsam aussah. Ihre langen blonden Locken fielen in schönster Fülle über Stirn und erhitzte Wangen, und während sie mit der einen Hand ein silbernes Kuchenkörbchen, gefüllt mit süßer Waare, festhielt, faßte sie mit der anderen geschwind die Frisuren des Jäckchens auf der Brust zusammen, um alle neugierigen Blicke von sich abzuwehren.
»Da bin ich, liebes Lottchen,« sagte Rudolf; »aber ich gehe sogleich wieder fort, wenn ich überflüssig und zu früh gekommen bin.«
»O, nein! nein! – gewiß nicht – nein!« antwortete sie stockend, lachend und die Augen verbergend. »Sie müssen nur entschuldigen … Mein Himmel, wie treffen Sie mich!«
»Als liebenswürdige, sorgsame Wirthin. Soll ich Ihnen helfen? Soll ich das Körbchen tragen?«
»Sie müssen mich nicht ansehen,« rief sie, die Zimmerthür aufmachend.
»Ich sehe Sie aber so gern an, was ist da zu machen?« fragte er.
Fräulein Lottchen gab keine Antwort. Sie stellte den Kuchenkorb schnell auf den Tisch und floh in das Nebenzimmer, ohne sich umzusehen. Die Locken flatterten hinter ihr her, und das Jäckchen stand der kräftigen, hohen Gestalt ganz allerliebst. Rudolf fand, daß seine Mutter gar nicht Unrecht habe, daß Lottchen nicht bloß ein verständiges, sondern auch ein ganz artiges Mädchen sei. –
Er setzte sich in den Polsterstuhl am Fenster, der mit einer schönen Stickerei bedeckt war, und warf musternde Blicke umher. Gestickte Kissen von bunter Arbeit standen in allen Ecken des grünen, hochlehnigen Sopha's; ein gestickter Teppich lag vor diesem, eine gestickte Decke umhüllte den Tisch, und wohin er seine Augen wenden mochte, überall erblickte er eine Menge verschiedenartiger, nützlicher, angenehmer, zierlicher Arbeiten, wie sie Damenhände künstlich herzustellen wissen.
Es konnte nicht leicht etwas Behaglicheres geben als dieses mit Blumen, Vögeln, Arabesken und Schmetterlingen in Wolle, Seide, Perlen, Schmelz und Goldfäden gefüllte Gemach, in welchem trotz aller dieser leicht beweglichen, leicht verschiebbaren Gegenstände die musterhafteste Ordnung herrschte. Da war kein Fältchen und kein Stäubchen, Nichts lag schief oder verkehrt, jedes Ding, auch das unbedeutendste, hatte seine Stelle und sein wohlgefälliges Ansehen. –
Wie allerliebst sah der blankpolirte Nähtisch aus, welcher dicht vor dem Sessel stand, auf welchem Rudolf saß! Mitten auf ihm befand sich ein Bauer von Metallstäben, die wie Gold blitzten, und innerhalb, in dem Elfenbeinringe, schaukelte sich ein Canarienvogel, der dann und wann einen schmetternden Schrei that, gleich aber wieder aufhörte, mit den Flügeln schlug und mit dem Schnabel unaufhörlich seine Federn glatt strich.
Rudolf konnte Vögel nicht sonderlich leiden, am wenigsten Canarienvögel mit ihrem gellenden Lärm; aber dieser hier sah so manierlich, so sauber und so glatt aus und betrachtete den fremden Gast, klug sein Köpfchen drehend und wendend; er schien ein so überaus ordentlicher kleiner Gesell, der kein Körnchen Futter, wie sonst seines Gleichen, leichtsinnig verzettelte, daß Rudolf sich in seinen Anblick vertiefte. Das gelbe, fleckenlose Geschöpfchen kam ihm wie eine Metamorphose seiner blondgelockten Herrin vor. Es war so sanft, so schüchtern und geduldig und schlug sogar die Augen nieder, eben wie Lottchen, wenn es starr betrachtet wurde.
Unwillkürlich fiel ihm das störrige, anmaßende, rücksichtslose Fräulein von Schellbach ein, die mit einem zottigen Wolfshunde umher spazierte und ganz das nöthige Naturell dazu besaß. –
Welcher Unterschied zwischen diesen beiden Mädchen! Das eine die sorgfältigste Weiblichkeit, ein Musterbild aller häuslichen Tugenden, das andere ein wahrer Rabulist, eine dämonische Natur, die keine Ahnung von Sitte und Beschränkung zu haben schien. O, gewiß, es konnte für Beide keine passenderen Attribute geben, als dort der zähnefletschende Hund, hier das blanke, federputzende Vögelchen.
In solchen Gedanken zog Rudolf das Arbeitskästchen des Tisches auf und blickte hinein. Sämmtliche Schätze von Nadeln, Scheeren, Bändern und Zwirnwickeln entfalteten sich vor ihm, aber – und das war die beste Probe, daß Lottchen nirgend Unordnung duldete – auch in diesem geheimen Schlupfwinkel einer Damentoilette sah es musterhaft aus. Jedes der vielen kleinen Fächer enthielt, was es enthalten sollte; jedes Häkchen, jedes Knöpfchen lag unvermischt bei seinen Kameraden, und jedes Band, jede Schnur, jedes Läppchen war aufgerollt, gewickelt oder gefaltet. Oben auf lag ein Taschenbuch von Perlenstickerei, die ausnehmend reich an Gold- und Stahlperlen war, und diese zierliche Arbeit ruhte auf einem herzförmigen, rothen Sammtkissen, das mit Nadeln aller Größen dicht besteckt war. –
Rudolf hielt dieses Buch und das Kissen noch in der Hand, als Lottchen wieder hereintrat. Sie hatte ein Kleid von schwerer Seide jetzt angethan, das sicher ganz neu war. Ein prächtiger Kragen von englischer Stickerei umschloß Hals und Brust, und in den ersten Blicken, welche sie ihrem Jugendfreunde lächelnd zuwarf, lag die Aufforderung, sie jetzt zu betrachten. Kaum aber sah sie, womit Rudolf sich beschäftigte, als sie in vorwurfsvollem Tone ihm zurief:
»Mein Arbeitskästchen! Bitte, Sie dürfen nicht hineinsehen!«
»O!« sagte er, »ich habe gesündigt, ohne mir der Sünde bewußt zu sein, daher müssen Sie mir vergeben. Aber welche Geheimnisse würde ich entdeckt haben?«
»Nein, nein!« antwortete sie, den Kasten rasch zuschiebend. »Sie hätten Nichts gefunden.«
»Nichts als ein zerstochenes Herz,« lachte er. »Sie können wirklich grausam sein, Lottchen.«
Fräulein Lottchen sah ihn mit einem glänzenden, verwirrten Blick an und lispelte dann, die Augen niederschlagend:
»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Wessen Herz soll ich zerstochen haben?«
»Ihr eigenes, schönes, dunkelrothes, ohne alles Erbarmen.«
Er deutete auf das Kissen, indem er ihre Hand festhielt.
»Wer fragt nach meinem Herzen?« sagte sie. »Es fragt Niemand danach. Kein Mensch, und ich frage auch nicht danach.«
»Das ist Unrecht!« warnte er, »aber ich glaube es nicht. Nach seinem Herzen muß ein Jeder fragen und ganz besonders eine junge Dame; denn die Herzens-Fragen sind Damen-Fragen, und eben deswegen glaube ich ihnen nicht, Lottchen.«
»Sie können es ganz gewiß glauben,« sagte Lottchen. »Ich weiß gar nicht, wo das Herz eigentlich sitzt.«
»Da sitzt es!« lachte er, auf die Herzensstelle deutend, während sie sich rasch drehte; »aber es ist ein glückliches Herzchen, wenn es noch keine Nadel gefühlt hat.«
»Was soll man denn machen, wenn man in's Herz gestochen wird?« fragte sie. »Ah! es ist eine böse Welt voll Mängel!«
»Man soll die Nadeln herausziehen,« sagte Rudolf, »und Myrten und Rosen in den Wunden wachsen lassen, die daselbst vortrefflich gedeihen sollen.«
Fräulein Lottchen lachte laut auf, sie lachten Beide, und da er ihre Hand noch immer fest hielt, wogegen sie Nichts zu haben schien, auch neben dem Sessel stand, auf welchem er saß, und so in sein emporgehobenes Gesicht sah, das von den äußersten Spitzen der langen, blonden Locken gestreift wurde, geschah es, daß ihre Augen sich anhaltend betrachteten und ihre Mienen viel Vertrauen und Gefallen ausdrückten.
»Ihren feinen geschickten Fingerchen muß Alles vortrefflich gelingen,« sagte er endlich, indem er einen Blick auf Lottchen's Finger warf.
»Sehen Sie sie nicht an!« rief sie zuckend und die andere Hand vor ihr Gesicht deckend, damit er dieselbe dort mit Muße betrachten konnte. »Ich schäme mich! Meine Finger sind nicht schön, nein, sie sind garstig.«
Es waren aber sehr wohlgeformte, weiche, runde Finger, und Rudolf war so aufrichtig, dies ohne Umschweife zu gestehen. –
»Und was tragen Sie denn da für einen Goldreif, Lottchen?« fügte er hinzu. »Der sieht ja aus wie ein Verlobungsring.«
»O, bewahre!« rief Lottchen, vor dieser Bemerkung zurückfahrend, »Gott behüte mich davor!«
»Wovor?« fragte er, lustig aufspringend, »doch nicht vor einem Manne?«
Lottchen retirirte bis an den Tisch, sie wußte nicht, ob sie schmollen oder vergnügt sein sollte. Es berührte sie nicht angenehm, daß Rudolf denken konnte, sie könnte einen Verlobungsring tragen. Sie sah ihn vorwurfsvoll an, und doch lag darin eine gewisse Zärtlichkeit, die versöhnlich lautete; allein sie behielt keine Zeit, sich näher zu erklären, denn plötzlich stieß Helm die Thür auf und trat, die Frau Zoll-Inspectorin am Arm, herein. Fräulein Lottchen that einen Schrei und wurde dunkelroth bis an die Stirn, als sie mit aufgehobenen Armen der Frau Zoll-Inspectorin entgegen lief.
»Hehe! Hehe!« rief der alte Herr, den Hut auf dem Kopf und den Stock in der Hand, mit welchem er auf den Fußboden stieß. »Was geht denn hier vor, Lottchen? Was ist Dir geschehen?«
»Gar Nichts ist mir geschehen, Onkelchen!« antwortete Lottchen. »Ich unterhielt mich mit dem Herrn Doctor, wie man sich unterhält.«
»Wie man sich unterhält!« sagte der Onkel, die Augen zukneifend und den Stockknopf an die Nase gelegt. »Hören Sie zu, Muhme Jachtmann, sie unterhielten sich, wie man sich unterhält! Und davon siehst Du so erhitzt aus, Mädchen? und Keiner hörte, wie wir die Treppe heraufkamen?«
»Aber, Vetter, liebster Vetter,« bemerkte die alte Dame winkend, »wer wird denn solch' Examen anstellen! Junge Leute, wenn sie beisammen sind, vertiefen sich.«
»Sie vertiefen sich!« rief Helm, aus voller Gewalt lachend, indem er den Stock fallen ließ, sich selbst in den Lehnstuhl warf und seine langen Arme über den Kopf zusammen schlug, daß der Hut seitwärts gedrückt wurde.
»Sie vertiefen sich, Muhme Jachtmann, es ist unerhört! Heraus also mit der Sprache, Lottchen, worin habt ihr Euch so erschrecklich vertieft?«
»Aber, Onkelchen,« sagte Lottchen lachend wie alle Anderen, »ich weiß wirklich nicht, was ich antworten soll.«
»Sie weiß nicht, was sie antworten soll!« rief Helm von Neuem, »hören Sie wohl, Muhme Jachtmann, sie weiß nicht, was sie antworten soll! Glauben Sie es? Glaubst Du es, Rudolf? – Rede Du auch jetzt ein Wort dazu. Glaubst Du es oder nicht?«
»Ich wüßte nicht, warum ich es nicht glauben sollte,« sagte Rudolf.
»Er weiß nicht, warum er es nicht glauben soll!« lachte der alte Herr, sich den Leib haltend. »Haben Sie gehört, Muhme Jachtmann, er weiß es nicht, er weiß von gar Nichts! Er ist ganz unschuldig, neugeboren unschuldig!« –
Er streckte sich vor Lust und Behagen lang in den Polsterstuhl aus, und sein dürres Gesicht verzerrte sich auf's Sonderbarste unter dem krampfhaften Gelächter, das nicht aufhören wollte. Die Frau Zoll-Inspectorin krähte hell dazwischen, und Lottchen sowohl wie Rudolf konnten sich der ansteckenden Gewalt, die das Lachen hat, ebenfalls nicht entziehen. Nach einigen vergeblichen Versuchen, ernsthaft zu bleiben oder es wieder zu werden, erdröhnte das Zimmer fünf Minuten lang von den verschiedenartigsten Jubeltönen, die nach einigen Pausen und Absätzen noch mehrmals zurückkehrten und erst mit einer allgemeinen Erschöpfung aufhörten.
Lottchen lief endlich in's Nebenzimmer, brachte den Hausrock und die Mütze des lustigen Onkels und nöthigte ihm Beides auf. Eben auch brachte das Dienstmädchen ein silberblankes Brett mit Tassen und Kannen, und gleich war Lottchen mit dem Kuchenkörbchen bei der Hand. In kurzer Zeit saßen sie sämmtlich um den Tisch vor dem dampfenden, belebenden Getränke; Helm nahm drei Prisen auf einmal, wodurch er seine würdige Ruhe wieder gewann, und als er die Dose neben sich legte, sagte er:
» Silentium! Die schwarze Stunde ist da und muß mit Estimation behandelt werden.«
»Warum haben wir denn eigentlich so schrecklich gelacht?« fragte Lottchen.
»Ja, warum?« fiel die Zoll-Inspectorin ein, indem sie einen verschmitzten Blick auf den Vetter warf.
»Das muß Rudolf wissen,« antwortete dieser, »er ist ein Doctor.«
»Ich glaube,« antwortete Rudolf, »es muß Ihnen etwas sehr Gutes und fröhlich Stimmendes begegnet sein.«
»Sie tragen die Schuld!« rief Lottchen, »Sie allein, Onkelchen.«
Helm schien große Lust zu haben, eine Antwort zu geben, die ihn in einen neuen Strudel guter Laune gestürzt hätte. Er beantwortete den Blick der Frau Muhme mit einem höchst gefährlichen: Hehe! Hehe! dann sah er Lottchen zärtlich grinsend an und wandte sich darauf wieder zu Rudolf, auf dessen Finger er den Dosenrand mit einem liebevollen Denkzettel fallen ließ.
»Du bist schuld,« sagte er; »inzwischen hast Du Recht, es ist mir auch etwas sehr Gutes begegnet. Als ich von dem Comptoir gehen wollte, kam Herr von Schellbach. Du hast ihm ganz absonderlich gefallen, Rudolf, was er mir in gnädigster Weise ausdrückte. Es ist wahr, Muhme Jachtmann, Sie können stolz darauf sein, wir können Alle stolz darauf sein. Herr von Schellbach sprach von dem vortrefflichen Eindruck, den Rudolf's Benehmen auf ihn sowohl wie auf seine Frau Gemahlin gemacht hat.«
»Ich habe es ja gleich gesagt,« murmelte die Wittwe mit zärtlichen Blicken.
»Und mit Fräulein Johanna hat er auch einen Strauß gebunden,« rief Helm lachend.
»Einen Strauß gebunden?« fragte Lottchen.
»Das heißt: einen Zank angebunden, Mädchen,« fuhr Helm fort. »Sie ist ganz wüthend fortgelaufen.«
»Sie hat Ihnen also nicht gefallen?« fragte Lottchen aufblickend.
»Nein, gewiß nicht.«
Ein freundliches Lächeln fiel dafür auf ihn, und die blonden Locken neigten sich tief nieder, als sie ihm die gefüllte Tasse reichte.
»Ich sagte Dir ja, es ist eine leere Stelle bei ihr …« sagte der Disponent mit gedämpfter Stimme, indem er an seine Stirn faßte.
»Ich fürchte, daß nicht zu wenig, sondern zu viel dort sitzt,« antwortete Rudolf, »und das ist eben so schlimm, wenn nicht schlimmer.«
Das Gespräch wandte sich jetzt auf Rudolfs Besuch, Empfang und Erfolg. Er mußte erzählen, wie es ihm ergangen, und er that dies, indem er einige Spöttereien über das Benehmen des Fräuleins nicht zurückhielt. Lottchen lächelte ihm dafür dankbar zu, der Vetter jedoch bemerkte in seiner vorsichtigen Weisheit, daß Johanna von jung auf verzogen worden sei. Sie habe als ein sehr kluges Kind gegolten, der alte Papa habe ihr allen Willen gelassen, denn sie sei sein Liebling gewesen; so habe sie Gott weiß was Alles getrieben und gelernt und eben deswegen einen sonderbaren Charakter bekommen.
»Nun,« fuhr er dann fort, »sich zu schicken und zu biegen hat sie nicht nöthig; durch die Welt wird sie kommen, mag sie thun, was sie will; denn schwerlich möchten hier zu Lande ein halbes Dutzend Mädchen sein, die so viel Geld besitzen wie sie.«
»Aber, Onkelchen,« fiel Fräulein Lottchen empfindlich ein, »kommt denn Alles auf's Geld an?!«
»Nein, gewiß nicht!« rief die Frau Zoll-Inspectorin lebhaft, »und wenn ein junges Frauenzimmer bis über den Kopf in Gold steckt, so darf es sich nicht so benehmen. Sie würden es nicht thun, Lottchen, gewiß und wahrhaftig, Sie würden es nicht thun!« –
Mit der Würde eines Orakels streckte sie stolz und gerührt ihre Hand über den Tisch aus und drückte Lottchen's Hand.
»Es würde gegen meine innerste Natur sein,« sagte Lottchen verschämt.
»Weil Sie viel zu weiblich sind, viel zu bescheiden,« nickte die Frau Zoll-Inspectorin.
»Ich würde nicht den Muth haben, gegen einen Gelehrten zu streiten,« sagte Lottchen mit einem schüchternen Seitenblick.
»In eine anständige, christliche Familie hätte sie frühzeitig gebracht werden müssen,« belehrte die alte Frau weiter, »wo sie zu Ordnung und Arbeit angehalten worden wäre, und statt der vielen Bücher hätte sie ein Kochbuch studiren sollen.«
»Liebe Frau Zoll-Inspectorin,« rief Lottchen stolz, »wer nach einem Kochbuche kochen lernen soll, der ist verloren!«
»Sie haben das nicht nöthig,« fiel die Beschützerin ein. »Sie kochen himmlisch, Lottchen, das ist angeboren, das kann Keiner lernen. Alles so appetitlich« – sie sah nach ihrem Sohne hin, der in tiefen Gedanken zu sein schien, und gab dem Vetter einen leisen Stoß, – »und bei alledem wissen Sie es einzurichten.«
»Das ist die Hauptsache,« sagte Helm. »Mein Lottchen ist ein Schatz, ich habe es gestern schon gesagt, ein Schatz, Muhme Jachtmann!«
»Ah! eine wirthschaftliche Frau,« sprach die Wittwe mit Rührung, »ist immer der allergrößte Schatz für jeden Mann. Was hilft eine Putznärrin, die ihr Haus vernachlässigt, was hilft eine Ueberstudirte, was hilft Eine, die noch so schön ist!«
»Und wie sie jetzt sind,« rief der alte, dürre Herr energisch – »wie sie jetzt sind, Muhme Jachtmann, bringen sie zum Bankerott!«
Die Zoll-Inspectorin richtete die Augen zum Himmel und schüttelte den Kopf, dann sah sie Lottchen zärtlich an und nickte ihr zu.
»Ich sage Nichts, Lottchen,« flüsterte sie halblaut, »aber das sage ich, Sie sind das beste Mädchen, das ich auf der ganzen Welt kenne.«
Fräulein Lottchen machte eine sanfte, abweisende Bewegung.
»Nein, nein!« sagte sie ängstlich, »loben Sie mich nicht, Sie machen mich stolz, und ich tauge gar Nichts, nein, gewiß Nichts; ganz gewiß, es ist wahr.«
»Das beste, das allerbeste Mädchen!« rief Helm, der mit der Dose in der einen Hand auf den Tisch schlug, mit der anderen ein ungeheures Stück Sahntorte in den aufgesperrten Mund steckte. – »Dafür ist sie aber auch meine einzige Tochter,« fuhr er fort, als er das Stück mit einer gewaltigen Anstrengung hinuntergeschluckt hatte, »und wenn ich einmal sterben sollte …«
»Onkelchen!« sagte Lottchen feierlich aufblickend, »stören Sie diese frohe Minute nicht mit … mit …«
»Ich sage es aber dennoch,« fuhr der alte Herr fort, »was ich hinterlasse, hinterlasse ich ihr, und …«
»Wenn Sie jetzt nicht schweigen, theuerster Onkel,« flüsterte Lottchen zitternd, indem sie die Kaffeetasse niedersetzte und die Hand auf ihre Augen legte, »so muß ich mich entfernen.«
»Das liebe Kind, oh, das liebe Kind!« rief die Zoll-Inspectorin. »So hören Sie doch auf, Herr Vetter, Sie sehen ja, daß die Thränen kommen!«
»Du wirst doch nicht weinen, Lottchen?« sagte Helm, sie in seinen langen Arm ziehend. »Es ist ja Spaß, Mädchen, Nichts als Spaß! Ich denke noch recht lange zu leben und Dein Glück mit anzusehen. Ist es nicht wahr, Muhme Jachtmann, wir wollen Beide noch lange leben?«
Auf diesen frommen Wunsch ging die Muhme sehr gern ein, und nun war die kleine Gesellschaft in größter Einigkeit.
Der Nachmittag verging in heiterster Art, und als der Kaffee vorüber war, spazierte Rudolf in Lottchen's Begleitung durch das ganze Haus, während der Vetter mit der Muhme am Tische sitzen blieb. – Ueberall fand Rudolf den Geist der Ordnung und der Sauberkeit wieder, und Alles war Lottchen's Werk, wie er sich immer wieder sagen mußte.
So war es auch in dem Gärtchen, dessen Pflege ihr oblag. Vor dem Hause standen Blumen und Büsche, hinter demselben aber hatte sie den geringen Raum zu allen möglichen Anlagen für nützliche Küchengewächse benutzt. Alle Suppenkräuter waren dort angepflanzt, und mit Beredtsamkeit erklärte sie ihm, was die kleinen Beete Verschiedenartiges lieferten und wirthschaftlich nützten. Dabei aber war sie nicht müßig. Sie hatte ein großes Strickzeug in der Hand, an welchem die Nadeln blitzschnell sich bewegter und nur zuweilen ließ sie es plötzlich ruhen, um sich zu bücken und irgend ein Unkraut auszuraufen.
»Sie leben wohl sehr einsam, liebes Lottchen?« sagte er.
»Ich habe immer zu thun,« sagte sie.
»Also kennen Sie nicht, was man Langeweile nennt?«
»Langeweile ist nur für die reichen Leute geschaffen,« war ihre Antwort.
»Aber Sie besuchen doch zuweilen Gesellschaft, Theater und öffentliche Lustbarkeiten?«
»Sehr selten, fast nie; ich mache mir Nichts daraus. Zu Ihrer Mutter gehe ich am liebsten.«
»Und dafür sage ich Ihnen vielen, vielen Dank!« rief er lebhaft. »Künftig wollen wir Beide ihr Gesellschaft leisten.«
»Wenn der Herr Doctor Zeit dazu hat,« flüsterte sie lächelnd, indem sie wieder ein Unkraut ausriß.
»Wozu, in aller Welt, sollte ich sonst Zeit haben?« lachte er.
Sie schwieg still und ließ die langen Locken vornüber fallen.
»Junge Herren,« lispelte sie, »lieben die Einfachheit gewöhnlich nicht, sie wollen Zerstreuung haben, und ich … wir …«
»Liebes Lottchen,« sagte er, »Niemand ist mehr an Einfachheit und Entbehrungen gewöhnt, als ich es bin. Sie wissen ja selbst, wie wenig der Sonnenschein des Glückes bis jetzt auf mich gefallen ist. Ich habe mit Eifer meine Studien getrieben, habe auch Etwas gelernt, wie ich mir selbst sagen kann, und hoffe Etwas zu leisten, wenn es mir nicht so geht wie Vielen, die in Dunkelheit und Mißgeschick verkümmern. Das denke ich jedoch nicht von mir,« fuhr er mit seiner tiefen, starken Stimme fort, in deren Tone die Regung seiner Seele anklang, »ich denke vielmehr, daß ich mir Bahn machen will. Dazu ist die Stellung, welche der gute Vetter mir verschafft hat, gewiß nützlich; Alles, was sonst dort mich erwartet, kann freilich wenig Reize für mich haben. Ich werde mich damit aussöhnen, ich werde klug und gelehrig sein, wie ich es muß, aber ich werde mir Achtung verschaffen, so weit dies möglich ist, und ihren Hochmuth mit derselben Münze bezahlen.«
»Davon sagen Sie dem Onkel um's Himmels willen kein Wort!« flüsterte Lottchen.
»Nein, liebes Lottchen,« lachte er, »aber Ihnen sage ich es, weil Sie meine Freundin sind, und zu Ihnen werde ich kommen, wenn es mich drückt, um mein Herz auszuschütten. Darf ich?«
Sie blickte in seine großen, hellen Augen und nickte verwirrt. –
»Wir wollen sehen, ob es wahr ist,« meinte sie dann.
»Es ist wahr!« rief er, »gewiß, es ist wahr! – Sobald ich mich frei machen kann, komme ich zu Ihnen und erzähle Ihnen, wie es außen und innen um mich steht.«
»Heda, Lottchen!« schrie Helm zum Fenster hinaus. »Es wird kühl draußen, die Sonne ist fort. Kommt herauf, hier ist ein Mittel gegen Erkältung.«
»Das beste Mittel dagegen,« sagte Rudolf zu seiner Freundin, »sind wir selbst; aber lassen Sie uns gehen, und glauben Sie mir, Nichts hat mir so wohl gethan seit langer Zeit, als die freundliche, zutrauliche Güte in diesem netten Häuschen, das Sie zu einem wahren Freundschafts-Tempel gemacht haben.«
»Sie werden viel Schöneres und Besseres kennen gelernt haben,«versetzte sie.
»Niemals!« erwiederte er, »und ich möchte es auch nicht. Vetter Helm ist ein glückseliger Mann, nach seiner Arbeit so ausruhen zu können; glücklich, so viel fürsorgliche Liebe und Treue zu finden. Das wünsche ich mir auch, Nichts weiter. Glücklich macht der Gedanke, meiner alten, lieben Mutter bald eine freudige, heitere Zukunft verschaffen zu können.«
»Nun!« rief der alte Herr, die Thür aufmachend, »geschwind herein und versucht mein Mittel. – Hehe! wie funkeln dem Herrn Doctor die Augen, und Lottchen sieht ganz selig aus. Ist es nicht wahr, Muhme Jachtmann? Was habe ich gesagt? Selig sehen sie Beide aus, und selig will ich sie machen.«
Er hob das Glas, welches er in der Hand hielt, hoch auf und drehte sich auf den Fußspitzen, ergötzlich grinsend, während er es hin und her schwenkte. – Auf dem Tische stand eine mit dunklem Wein gefüllte Bowle, deren Inhalt er lustig umrührte.
»Ein leckerer Cardinal!« rief er.
»Pomeranzen, frisch gepflückt von dem Herrn Gärtner im Park, meinem hochachtbaren Freunde, dem ich heute früh ein besonderes Billetchen dieserhalb schrieb. Hehe, Lottchen! das hast Du nicht vermuthet. Muhme Jachtmann hat geholfen, wir wollten die jungen Herrschaften nicht stören in der tiefsinnigen Unterhaltung; jetzt aber sollen sie uns trinken helfen. – Heran also an den Tisch, und herbei, was Du uns dazu geben willst! Der Herr Doctor ist kein Kostverächter.«
Das war das Signal zu dem vergnüglichen Abend, der jetzt erfolgte, und von welchem Herr Helm am nächsten Morgen mit einiger Verlegenheit sprach; denn er war über alle Maßen lustig gewesen und hatte so viele Trinksprüche ausgebracht, daß er zuletzt nicht mehr recht wußte, was er sagte. Nur so viel war ihm deutlich erinnerlich, daß er die Muhme Jachtmann und den Doctor nicht fortgelassen hatte, so lange noch ein Tropfen in der Bowle gewesen, und daß er zuletzt Alle der Reihe nach geküßt und geschworen hatte, von heute ab wollten sie eine Familie sein. Rudolf sollte ihn Vater nennen, und eher hatte er nicht geruht, als bis Lottchen in den Armen seines neuen Sohnes gelobte, die alte Jugendfreundschaft solle fortan wieder walten, und auf Du und Du das letzte Glas geleert war.
Lottchen sprach kein Wort darüber, als er mit ihr beim Frühstück saß; sie lächelte aber heimlich, als er an seinen Kopf faßte und nachdenkend den großen Kreis von Tabak anstarrte, der rund um seinen Sitz verstreut lag. Allein er bemerkte das Lächeln doch und drehte die Dose so lange um Daumen und Mittelfinger, bis er sie beruhigt und vergnügt einsteckte.
»Nun, ich denke, Kind,« sagte er, »wir haben einen vergnügten Abend gehabt. Habe ich Recht?«
»Sehr vergnügt, Onkelchen. Sie waren sehr vergnügt.«
»Ich? O ja. – Aber es ist doch Nichts vorgefallen, was Dich verdrießlich machen könnte?«
»Nicht das Geringste, Onkelchen. Ich wüßte gar Nichts.«
»Rudolf!« sagte der alte Herr, indem er mit dem Finger drohte.
»Sie, Onkelchen!« rief sie lachend.
»Nun ich – was ich? Er!«
Sie lehnte sich an ihn und flüsterte ihm in's Ohr:
»Sie hatten einen kleinen Haarbeutel, der machte Sie allerliebst.«
»O Du Schelm!« rief er aufspringend, »mich findet sie allerliebst mit dem Haarbeutel und meint ihn mit den braunen Locken. Aber wer hat ihm das Perlen-Taschenbuch mit dem Vergißmeinnicht-Kranze beim Abschied geschenkt, he? Wer hat ihn auf der Treppe noch umgerufen, und was ist da vorgefallen, he? Wer hat noch von oben herunter gebeten: Lieber Rudolf, komm doch recht bald wieder, hehehe!«
»Wollen Sie still sein, Onkelchen! Wollen Sie still sein!« rief Lottchen, ihm den Mund zuhaltend.
»Du sollst ihn haben, Lottchen,« sagte er leise nickend, als er wieder Athem holen konnte, »es wird sich machen. Doch erst muß er Professor sein, muß fest stehen und heraufkommen. Bis dahin warte und stutze ihn zu, und nun guten Morgen, Frau Professorin, laß Dir die Zeit nicht lang werden. Guten Morgen, Du Schlaukopf!«
So ging er fort, und Lottchen lachte und scheuerte und bürstete, bis kein Stäubchen und kein Fleckchen mehr im ganzen Hause zu finden war.
4.
Seit zwei Wochen wohnte der Doctor Jachtmann im Hause des Herrn von Schellbach und hatte sich besser darin eingerichtet, als er geglaubt. Unter dem Mansarden-Dache waren ihm zwei behagliche Zimmer eingeräumt, die er mit seinem Zöglinge theilte, und auf die er sich, so viel es anging, beschränkte.
Der Knabe hatte sich an ihn gewöhnt und hing ihm an, wie es Kinder thun, in deren weiches Herz der wunderbare Same des kindlichen Vertrauens gefallen ist. Der große, schöne Mann mit dem ernsten Gesichte, das doch so freundlich sein konnte, besaß den geheimnißvollen Zauber, der dazu gehörte, Scheu zu erwecken und nach Lob begierig zu machen. Das Kind sah bald zu ihm auf wie zu einem höheren Wesen, da es keine Schwächen entdecken konnte, in deren Auffindung Kinder so geschickt sind; aber es fühlte sich zu ihm hingezogen, weil es merkte, daß es Liebe und Güte fand, weil es ihm Vergnügen machte, dem Lehrer zuzuhören und bei ihm zu sein, und weil sein Ehrgeiz erregt war, durch Gehorsam eines der Zauberworte und einen der stolzen zündenden Blicke zu verdienen, die das erhabene Wesen allein für es besaß.
Die Umwandlung des Kindes geschah ganz unmerklich, und doch war der Einfluß bald sichtbar genug. Herr von Schellbach hörte bald kein Geschrei mehr im Hause, und Frau von Schellbach bemerkte mit einem gewissen Neide, der jedoch durch andere Betrachtungen schnell beseitigt ward, daß Emil selten mehr zu ihr kam, wenn er nicht verlangt wurde, nach kurzer Zeit aber wieder zu seinem Doctor zurückkehren wollte.
Der Hauslehrer hatte seine Stellung genommen. Man mußte mit ihm zufrieden sein, mußte ihn rühmen, und doch war Keiner ganz mit ihm einverstanden. Er war sehr höflich und sehr bescheiden, gegen seine Artigkeit und Gefälligkeit ließ sich Nichts einwenden. Wo er irgend bemerkte, daß seine Gegenwart überflüssig sei, wußte er sich geräuschlos zurück zu ziehen, und nie mit einem vorlauten Worte mischte er sich in die Unterhaltung oder suchte die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Was Frau von Schellbach besonders gefiel, war die häusliche, rücksichtsvolle Erkenntniß des jungen Mannes über das, was sich für ihn schickte. Sie hatte ihn öfter gefragt, ob auch Alles nach seinen Wünschen sei, ob irgend Etwas fehle, oder er irgend eine Bequemlichkeit vermisse. Allein seine Antworten waren stets von den dankbarsten Blicken über so viele Güte begleitet. Er machte gar keine Ansprüche und war selbst bei Tische so überaus mäßig, daß er zu manchen Scherzen Anlaß gab.
Wurde er nicht besonders aufgefordert, so blieb er des Abends auf seinem Zimmer, wo er Nichts begehrte als eine Tasse Thee und einige Brotschnittchen; wurde er aber zur Gesellschaft in den Salon genöthigt, so verharrte er durchaus in den Grenzen seiner Ansprüche und mußte in die Gespräche gezogen werden, wenn er daran Theil nehmen sollte. Eben so besonnen still entfernte er sich, sobald es der gnädigen Frau an der Zeit schien, daß Emil sich zur Ruhe verfügte.
Rudolf mußte ein besonderes Studium am Gesichte der Frau von Schellbach gemacht haben. Ein einziger auf ihn gerichteter Blick reichte hin, ihm zu sagen, was sie befehle, und bei dem Kinde bedurfte es dann nur eines leisen Wortes, um es fortzuführen, was sonst oft durch die künstlichsten Manöver nicht möglich gewesen war. Jetzt wußte der Knabe, daß ihn noch allerlei prächtige Geschichten und. Gespräche erwarteten, daß das Wesen bei ihm war, dem er mehr als Allen anhing, und Lust und Herrlichkeit ihm winkten, bis er träumte und einschlief.
Trotz aller seiner Bescheidenheit und dem rücksichtsvollsten Benehmen hatte aber dennoch dieser junge Mann ein so eigenthümliches Wesen und eine so besondere Gabe, sich vor Zumuthungen zu sichern, daß es war, als steckte er in einem Panzer, den Niemand gern anrühren möge. Er wußte mit seinem Ernst und seiner Bestimmtheit sich eine gewisse Freiheit zu bewahren und einen Kreis um sich zu ziehen, der etwas Magisches hatte, selbst für den hochfahrenden Herrn von Schellbach.
Rudolf nöthigte ihm sowohl wie der gnädigen Frau Achtung ab. Alles, was er sagte und was er that, war verständig, gemessen und ganz, wie sie es wünschen konnten; aber es war von einem Selbstgefühl begleitet, das unzertrennbar damit zusammenhing. Wie höflich und schmiegsam der Hauslehrer auch sich zeigte, demüthig und unterthänig war er nicht, und obwohl er im höchsten Grade aufmerksam in Erfüllung aller seiner Pflichten sich erwies, so unterlag es doch keinem Zweifel, daß er Druck und Anmaßung eben so wenig geduldig hinnehmen würde.
Die einzige Person im Hause, welche mit dem Hauslehrer Nichts zu thun haben wollte und sich gar nicht um ihn bekümmerte, war Fräulein Johanna. Sie hätte über ihn fallen können, ohne ihn zu bemerken. Im gesellschaftlichen Zusammensein richtete sie niemals eine Frage an ihn, und wenn sie mit ihrem großen neufundländischen Hunde im Garten umherspazierte, schlug sie jedesmal einen anderen Weg ein, im Falle Rudolf mit seinem Zögling ihr zufällig entgegen kam. Der Doctor lachte heimlich über diese offen erklärte Abneigung und tröstete sich darüber, da er sah, daß das unholde Fräulein eigentlich Niemanden besser behandelte.
Sie bewohnte den mittleren Theil des oberen Stockwerkes, der an das Mansarden-Dach stieß, unter welchem Rudolf hauste. Die großen Bogenfenster ihres Salons ragten weit über jenes hinaus, und vorn lief ein breiter Balcon hin, der über Garten und Park die schönste Aussicht bot. Dort saß sie den größten Theil des Tages unter der herabgelassenen Marquise, wenn die Sonne schien, und zwischen großen Oleander-Bäumen und Flieder, wenn der Abend kam, las eifrig in Büchern und Journalen oder schrieb an einem Tischchen, kehrte dem jungen Doctor dabei aber regelmäßig den Rücken zu und sah sich niemals nach ihm um.
In die Familienzimmer stieg sie so wenig wie möglich hinab, und während der ersten zwei Wochen, die Rudolf in dem Landhause zubrachte, hatte er sie kaum anders als beim Mittagstische mit ihrem Bruder und ihrer Schwägerin beisammen gesehen, obwohl diese, wie es dem Beobachter vorkam, immer sehr freundlich waren und die Sonderbarkeiten der kleinen Dame mit vieler Nachsicht behandelten. Rudolf hörte öfter, wie Beide in sie drangen, sie in die Oper oder in einen Gesellschafts-Kreis zu begleiten, was das Fräulein jedoch jedes Mal und ohne Umstände zu machen abschlug. – Ich will nicht! antwortete sie auf alle wiederholten Bitten ihrer Verwandten, und gewöhnlich zog sie sich rasch zurück und machte so den Vorstellungen ein Ende.
Meist lächelte Herr von Schellbach und trommelte mit den Fingern auf den Tisch, oder er zog seine Stirn in gewisse Falten und nickte seiner Frau zu, oder er begann mit dem jungen Baron Laxfeld, wenn dieser zugegen war, was sehr häufig sich zutrug, ein Gespräch über Reitpferde, Hunde, Hetzjagden und Opern-Sängerinnen. Ein einziges Mal äußerte er gegen den Hauslehrer einige bedauernde und entschuldigende Worte über das Benehmen seiner Schwester, die, leicht hingeworfen, doch nicht ohne Bedeutung für die Kenntniß der Verhältnisse dieser Familie waren.
»Meine Schwester macht Ihnen wahrscheinlich auch zuweilen einige Unruhe?« fragte der gnädige Herr auf seinen Teller kritzelnd.
»Mir, Herr von Schellbach?« antwortete Rudolf.
»Ich meine, mit ihrem Clavierspiel, oft spät am Abend oder in der Nacht.«
»Das Fräulein spielt so vollendet,« sagte Rudolf, »daß, wenn ich es höre, mir ein Genuß dadurch bereitet wird.«
»O ja,« fuhr Schellbach mit dem Kopfe nickend fort, »sie besitzt Virtuosität, überhaupt sie hat sehr viel Geist, sehr viel gelernt, und« – er hielt vornehm lächelnd inne – »gelehrten, geistvollen Damen muß man einige Extravaganzen verzeihen.«
Der Hauslehrer antwortete natürlich Nichts darauf. Der gnädige Herr lehnte sich in den Stuhl zurück, stocherte die Zähne und fuhr dabei fort:
»Sie haben noch nicht gesehen, wie sie malt. Ganz vortrefflich malt sie! Die kleine Landschaft, die Abendlandschaft im Salon rechts am Fenster ist von ihr, und auf der anderen Seite hängen drei Kartenspieler. Höchst charakteristisch.«
»Johanna ist sehr talentvoll,« sagte die gnädige Frau, indem sie ihre großen schönen Augen mit Bewunderung füllte und ihrer Stimme den Ausdruck der Wahrheit gab, obwohl es dem Hauslehrer vorkam, als laure heimlicher Spott dahinter. »Wie sehr bedaure ich, lieber Franz, daß ihre Stimmung sie so sehr der Einsamkeit zuzieht!«
»Sie leidet ein wenig an den Nerven,« meinte ihr Gemahl, der eine abwehrende Handbewegung machte.
»O, die Nerven!« seufzte die gnädige Frau.
»Sie sind das große Geheimniß, wie unser Medicinalrath sagt,« lächelte Herr von Schellbach. »Nerven-Affectionen – mein Gott, wer hat nicht Nerven-Affectionen?! Wenn wir nicht so innig geschwisterlich verbunden wären, würde ich gar Nichts darauf geben. Johanna wird darüber fortkommen, ich denke, gewiß bald – meinst Du nicht, theuerste Henriette?« –
Er sah die Dame durchdringend an und lächelte wieder dazu in seiner steifen Weise; dann drehte er sich zu Rudolf um und fragte fortfahrend:
»Sie haben doch meine Bilder im Salon angesehen, Herr Doctor?«
»So viel ich es zu beurtheilen vermag,« antwortete dieser, »sind sehr schöne Sachen darunter.«
»Ich kaufe jährlich,« sagte Schellbach, »es ist auch eine Modesache, so gut wie Alles; man kommt nicht davon. Das Meiste habe ich in meinem Hause in der Stadt, es kommen manche Fremde, um die Bilder zu sehen. Sie müssen einmal meinen Vetter Laxfeld angehen, Sie einzuweihen. Laxfeld ist ein bedeutender Kenner, er ist in Italien gewesen, hat viel gesehen. Es ist sehr möglich, daß er nächstens Intendant der Museen wird.«
Rudolf verbeugte sich dankend. Es kam ihm wunderlich vor, daß der junge Herr von Laxfeld ein so großer Kunstkenner sein sollte; zu gleicher Zeit aber flog bei der eigenthümlichen Frage des Herrn von Schellbach an seine Gemahlin und dem sonderbaren Blicke dazu eine Gedanken-Combination durch seinen Kopf, die sich ihm schon öfter aufgedrängt hatte. Herr von Laxfeld, Intendant der Museen, sollte das geistreiche, kunstgebildete Fräulein heirathen und damit allen Nerven-Affectionen ein Ende machen.
Wenn dies aber wirklich die Absicht dieses Ehepaares war, so hatte diejenige, welche eine Hauptrolle dabei übernehmen sollte, allem Anschein nach keine Lust dazu. Mit heimlichem Wohlgefallen erinnerte sich der Hauslehrer, daß die störrige kleine Dame den jungen Baron auffällig kalt und rücksichtslos behandelte, daß seine Unterhaltung nicht die geringste Anziehungskraft für sie hatte, und daß sie im Gegentheil ihm gewöhnlich ganz unverkennbare Beweise ihrer extravaganten Denkweise gab; denn entweder hörte sie völlig theilnahmlos zu, oder sie widersprach mit unverstecktem Spott, oder sie wandte sich plötzlich fort und ließ ihn stehen.
Frau von Schellbach gönnte dem Doctor nicht lange Zeit, darüber nachzudenken, sie wandte sich mit einer gnädigen Neigung zu ihm und sagte wohlwollend:
»In einigen Tagen werden wir auch meinen Oheim, den Minister, bei uns sehen. Ich habe mit ihm über Sie gesprochen und werde Sie ihm vorstellen.«
Diese Zusicherung erforderte wiederholten, gehorsamsten Dank.
»Mein Oheim will Sie kennen lernen,« fuhr die gnädige Frau fort, »und wo er Ihnen hülfreich sein kann, wird es ihm Freude machen.«
Ihre Mienen drückten dabei mit aller Bestimmtheit aus, daß der Minister thun werde, was seine Nichte für ihren Schützling von ihm verlange, und diese Ueberzeugung drängte sich auch dem jungen Gelehrten so mächtig auf, daß ein Strom betäubender Hoffnungen sich in seine Blicke drängte.
Der gnädigen Protectorin blieb dies nicht verborgen. Sie sah ihn an und lächelte huldvoll; es kam Etwas in ihr Herz wie ein Verlangen, diesen armen, bescheidenen Menschen wirklich glücklich zu machen.
»Aber, Herr Doctor,« sagte sie endlich weich gestimmt, »ich finde, daß Sie sehr einsiedlerisch leben. Warum bleiben Sie nicht öfter des Abends in unserem Kreise?«
Rudolf sagte Etwas von Pflichten und Studien; aber die Dame unterbrach ihn.
»Sie machen auch keine Besuche,« fuhr sie fort. »Haben Sie Ihre Frau Mutter denn noch nicht wiedergesehen?«
»Ich bin in dieser Woche noch nicht bei ihr gewesen.«
»Aber warum gehen Sie nicht? Sie müssen sich keinen Zwang auflegen. Ein Kind steht seiner Mutter immer zunächst, mag es durch Bildung oder Stellung auch einen höheren Rang einnehmen.«
»Gnädige Frau,« antwortete Rudolf, erschrocken über diese Deutung, »meine Mutter nimmt trotz ihrer Einfachheit und geringen Bildung die höchste Stelle in meinem Herzen ein.
»So gehen Sie heute noch,« sagte Frau von Schellbach lächelnd; »Ihre Mutter wird Sehnsucht nach Ihnen haben, wenn kein Anderer diese hat.« –
Sie schlug die Augen prüfend zu ihm auf und fügte dann hinzu:
»Ihr Cousin Helm hat ja wohl eine Pflegetochter?«
Rudolf verbeugte sich.
»Ich habe davon gehört. Ist es nicht ein Fräulein Willner oder Wilke, die hinterlassene Waise einer Hofräthin oder dergleichen, die sie ihm vermacht hat?«
Rudolf verbeugte sich nochmals.
»Ist sie schön?« fragte die gnädige Frau, sonderbar lächelnd.
Rudolf konnte ihren Blick nicht aushalten.
»Das wage ich nicht zu behaupten,« erwiederte er, ein wenig verwirrt, »allein sie besitzt viele treffliche Eigenschaften, große Herzensgüte.«
»So!« sagte Frau von Schellbach mit demselben eigenthümlichen Ausdrucke. »Nun, vergessen Sie heute nicht, Ihre Verwandten zu erfreuen. Wir sind im Theater. Emil kann von dem alten Paul behütet werden. Lassen Sie Sich nicht stören, Herr Doctor.«
Damit war er entlassen. Herr von Schellbach hatte sich entfernt, als die Rede von dem Minister war, der ihm aus mancherlei Gründen nicht besonders zusagte.
Das Glück unter seinen leichten Schritten, ging Rudolf durch den glänzenden Salon und blieb einige Augenblicke vor den Bildern stehen, die man ihm so eben als Arbeiten des Fräuleins bezeichnet hatte. An der kleinen, in Abendröthe getauchten Landschaft fand er nicht viel, aber die drei Kartenspieler zogen ihn lebhaft an. Es waren drei Männer, in deren schlauen Gesichtern alle mögliche Gaunerei und Spitzbüberei sich offenbarte. Bei dem verschiedenartigsten Ausdruck ihrer Gesichtszüge ließ sich doch schon an der Weise, wie sie ihre Karten hielten, in jedem dasselbe Ziel erkennen, die beiden Anderen zu betrügen, während sie die Nachbarn belauschten. Die Stellung der Köpfe, die Ausreckungen der Hälse, das Zusammengeduckte, Lauernde des mittelsten der Burschen und die Art, wie er mit ausgestrecktem Finger auf die Treff-Dame zeigte, welche er auf den Tisch geworfen hatte, schienen dem Beschauer meisterhaft zu sein.
Als er noch davor stand, sah er den Baron Laxfeld plötzlich hereintreten, und gegen die sonstige Gewohnheit dieses jungen Herrn, der bisher an dem Hauslehrer ziemlich gleichgültig vorüber gegangen war, erhielt er heute auf seinen respectvollen Gruß eine freundliche Kopfneigung, der eine Anrede folgte.
»Sie bewundern eine vortreffliche Arbeit,« sagte der Baron. »Die Charakteristik der Köpfe, ist süperb! Es ist ein kleines Juwel, von dem man nicht ahnen sollte, daß eine Dame es geschaffen hat.«
»Ich bewundere zumeist,« sagte Rudolf, »wie das Fräulein solche Studien machen konnte.«
»Eine sehr richtige Bemerkung,« erwiederte der Baron, »aber das Genie kann Alles.«
»Fräulein von Schellbach hat jedenfalls nie Spieler solcher Gattung gesehen, und doch ist dieses Bild voll lebendiger Wahrheit und Natur.«
»Voller Natur, wie Sie bemerken, gewiß!« rief der junge Herr. »Es ist übrigens ihr letztes Bild,« fuhr er fort, »vor einigen Wochen erst entstanden. Ich habe im vergangenen Winter öfters das Vergnügen gehabt, das Fräulein durch unsere Galerieen und in die Ateliers unserer Künstler zu führen. Sie hat Manches gesehen und besitzt Geschmack; man kann an diesem Bildchen erkennen, was Urtheil thut.«
Er klemmte ein schwarzes Glas in's Auge, machte einige Bemerkungen, die eben nicht von besonderem Urtheil zeugten, und empfahl sich dann, indem er zu Frau von Schellbach ging.
Rudolf warf noch einen Blick auf die Spieler, that die Augen groß und erstaunt auf, sah sich nach der Thür um, durch welche der Baron verschwunden war, und nachdem er das Bild nochmals angestarrt, wandte er sich kopfschüttelnd davon ab und verließ den Salon.
Nach einigen Stunden, als es anfing dunkel zu werden, hatte er seinen Spaziergang mit Emil beendet, diesen dem alten Diener Paul übergeben und war bereit, den Besuch bei seiner Mutter und, was ihm eben so viel freudige Erwartung erregte, bei Lottchen anzutreten.
Es war Alles still im Hause, der Wagen hatte die Herrschaft fortgeführt – plötzlich aber hörte er Schritte auf der Treppe, und gleich darauf wurde die Thür geöffnet. Ein Herr, der den Hut auf dem Kopf hatte, trat herein und bot ihm guten Abend.
»Sie kennen mich nicht, Herr Doctor Jachtmann,« sagte er, näher tretend, »eben deswegen komme ich, um mich mit Ihnen bekannt zu machen. Ich bin der Medicinalrath Neidler, Diese Woche war ich zwei Mal hier, um Sie zu sehen; beide Male waren Sie mit Ihrem Eleven in's Freie gezogen. Heute fuhr ich zu Ihrer Mutter mit heran. Eine herrliche alte Frau, ganz Güte und Gemüth; es geht mir in's Herz, wenn ich sie sehe. Nun, Ihrer Mutter habe ich versprochen, Sie heute noch aufzusuchen und nach Ihnen zu sehen, weil sie meinte, Sie könnten krank sein.«
»Ich denke meine arme Mutter noch heute selbst zu beruhigen,« erwiederte der junge Mann; »doch herzlichen Dank für Ihre Güte und Freundlichkeit, Herr Medicinalrath.«
Der Medicinalrath ging an's Fenster und setzte sich dort nieder. Das Abendlicht fiel in sein Gesicht und beleuchtete dieses mit jenem idealisirenden röthlichen Schimmer, der alle Gegenstände veredelt und verschönert; trotz dessen aber sah Rudolf seinen Gast so scharf und starr an und blieb so ernsthaft dabei, als sähe er Etwas, das ihm sehr wenig gefiele.
Der Medicinalrath war ein hochgewachsener, kräftiger Herr, der in der Mitte der Vierziger sein mochte. Er war schwarz gekleidet, trug einen Rock bis oben zugeknöpft und im obersten Knopfloch ein Bändchen. Sein Gesicht war lang und scharf, seine Augen blickten durchdringend und hatten das überlegend Bedächtige, was man nicht selten bei Aerzten findet. Eine etwas gebogene Nase vermehrte den Eindruck der Klugheit, den die Gesammtbildung dieses Kopfes hervorrief, und jedenfalls war er zugleich ein Mann von Weltbildung und feinen Sitten. Seine Art, zu sprechen, und sein gewinnendes Lächeln trugen dieses Gepräge; er drückte sich gewandt und leicht aus und berührte dabei, wie es trotz des Frühlings noch immer diesmal so viele Gesellschaften gebe, daß er keinen Abend übrig gehabt habe, weil er sonst jedenfalls schon einmal zur Theestunde hier im Hause vorgesprochen hätte.
»Gewiß sind Sie auch heute versagt?« fragte Rudolf.
Der Medicinalrath nickte wehmüthig lächelnd.
»Mein Leben,« sagte er, »ist ein Leben voller Unruhe und voller Entbehrungen.« –
Rudolf warf einen Blick auf den stattlichen Umfang des Arztes, der diesem nicht entging.
»Ich meine nicht,« fuhr er fort, »daß es mir an Brot gebräche; was dazu gehört, um nicht zu verhungern, habe ich, Gott sei Dank! und bin genügsam und zufrieden; meine Entbehrungen sind anderer Art, lieber Doctor. Sie sind beneidenswerth, wenn ich mir Ihr Loos dagegen vorstelle!«
»Ich sollte meinen, das hätte auch manche Schattenseiten,« antwortete Rudolf lächelnd.
»Vielleicht jetzt, das gebe ich zu, allein Ihre Zukunft – ich kenne nichts Schöneres.«
»Meine Zukunft!« murmelte der junge Mann vor sich hin.
»Ich war heute bei Helm mit heran, er hat sich erkältet, Brustkatarrh,« sagte der Medicinalrath. – »Erschrecken Sie nicht darüber, es hat gar Nichts zu bedeuten! Fräulein Lottchen wickelt ihn so warm ein und ist so streng in ihrer Vorsicht, daß wahrscheinlich morgen schon der liebe alte Herr Nichts mehr davon merkt. Bei Helm sprachen wir von Ihnen, und ich In der Vorlage: »er«. erfuhr, ohne Sie zu kennen, mehr, als Sie denken.« –
Er lächelte, indem er seine Augenbrauen in die Höhe zog, und seine dunkeln Augen bohrten sich auf den Hauslehrer ein, dessen Stirn sich röther färbte, während er seinen Gleichmuth zu bewahren suchte.
»Ich hörte,« sagte Neidler wohlwollend, »daß Herr von Schellbach wiederholt seine Freude geäußert hat, Sie in seinem Hause zu haben, und daß er aus allen Kräften Sie dem Onkel seiner Frau, dem Herrn Minister, empfehlen wird, wie es Ihre Kenntnisse und Talente verdienen.«
»Was diese anbelangt,« entgegnete Rudolf, »so fürchte ich mich …«
»Fürchten Sie Nichts,« fiel der Medicinalrath ein; »Schellbach kann das freilich nicht beurtheilen, aber ich kann es. – Ich habe Ihre Dissertation gelesen und bin darüber eben so erstaunt, wie erfreut. Es liegt ein Schatz von Wissen, von feinen Beobachtungen und scharfsinnigen Schlüssen darin, der nicht dort verborgen bleiben darf, bis etwa ein Anderer kommt, der ihn ausbeutet. Mein erstes Anliegen an Sie ist, übersetzen Sie diese treffliche Abhandlung, die so gelehrt und doch nicht so allgemein verständlich ist, in's Deutsche zurück, lassen Sie sie drucken und machen Sie sich damit in der Welt bekannt.«
»Ich besitze eine Uebersetzung davon, oder vielmehr das Original mit vielen Zusätzen und Erweiterungen,« sagte Rudolf, von dem Vorschlage ermuthigt und erfreut.
»Prächtig!« rief Neidler, »ich werde Ihnen behülflich sein, das Manuscript an den rechten Mann zu bringen, und zweifle nicht, daß es glänzenden Erfolg hat. Ein Gelehrter verschafft sich Ruf durch seine Schriften, ein Künstler durch seine Kunstwerke, ein Handwerker durch seine Arbeiten; wir Aerzte,« fügte er mit seinem wehmüthigen Lächeln hinzu, »schaffen nichts Dauerndes und Ewiges. All unser Streben ist darauf gerichtet, den vergänglichen Wesen höchstens eine etwas längere Dauer zu bereiten, um sie etwas später um so sicherer zu begraben.«
»Aber der hohe Beruf des Arztes, Leiden, oft der schrecklichsten Art, zu heilen oder doch zu mildern …« erwiederte Rudolf.
»O! ja, ja!« fiel der Medicinalrath ein, »wir sind die Wohlthäter der Menschheit. Das Beste, was wir ihr verschaffen können, bleibt aber immer ein gesunder Magen.«
In seiner Bemerkung lag so viel Selbstironie, daß der junge Gelehrte ihn ziemlich verwundert und ungewiß ansah.
»Vergleichen Sie nun unser Loos,« fuhr der Arzt fort, »so werden Sie nicht ungewiß sein, ob Sie tauschen möchten oder nicht. In nicht zu langer Zeit werden Sie erreicht haben, was Sie wünschen. Sie werden einen Lehrstuhl besteigen, Ihre Verdienste und gewichtigen Empfehlungen werden Ihnen diesen verschaffen; dann werden Sie ein geistiges regsames, dem höchsten Streben der Menschheit geweihtes Leben führen. Sie werden fern von allen niedrigen, kleinlichen Verhältnissen auch einen einfachen, schönen, häuslichen Kreis um Sich bilden, dessen Stern und Mitte Sie sind, und Ihr ganzes Wesen, wie Sie da vor mir stehen, stark, kräftig, gesund und klar von Augen und Stirn, Alles giebt mir die Ueberzeugung, daß Sie zu denen gehören, die von den Lüsten und Leidenschaften dieser Welt sich fern halten.«
Rudolf's Blicke leuchteten in jene Zukunft hinein, die der Medicinalrath ihm als magische Laterne vorhielt. Er verbeugte sich dankend und sagte halblaut:
»Ich glaube kaum, daß ich von Golddurst und Genußsucht jemals in Versuchung geführt werden könnte. Ein einfaches Leben wird mir das erhalten, was Sie der ganzen Menschheit geben möchten: Gesundheit oder den guten Magen, und wenn ich wirklich einmal öffentlicher Lehrer bin, dann wird mein Ehrgeiz sich darauf beschränken, dies ganz zu sein.«
»Professor!« rief der Medicinalrath, indem seine scharfen Augen sich wieder auf ihn einbohrten und das sardonische Lächeln um seine Lippen spielte. »Berühmter Professor! … Wie viele Menschenleben sind daran gescheitert! Wenn der Ruhm, der Ehrgeiz, dieses verzehrende Fieber, nicht in der Welt wäre, wie würde es dann auf Erden aussehen!«
»Sehr kläglich, meines Erachtens,« antwortete der junge Mann; »denn ohne den edlen Ehrgeiz, nach Wahrheit zu forschen und für Wahrheit zu streiten, würden wir verloren sein.«
Der Arzt nickte beistimmend.
»Streiter der Wahrheit! eine edle Aufgabe,« sagte er; »Dornenkronen können dabei leicht werden. – Sie sind jung, Sie haben Muth,« fuhr er dann fort, »Sie werden ein rüstiger Kämpfer sein; soll man Sie nicht beneiden?! Wenn Sie forschen und sich begeistern, was thue ich? Ich sitze bei einem Diner oder Souper, bei allen Herrlichkeiten, die seit Jahrhunderten erfunden worden sind, um die Gesundheit zu ruiniren und den Geist zu tödten. Schildkrötensuppen, pikante Saucen, Marionaisen und Trüffelpasteten müssen mit feurigen Weinen hinabgespült werden, damit sie sich verdauen lassen. Nerven und Organe werden zu Grunde gerichtet, und wie der chinesische Opium-Raucher fort und fort eine stärkere Dosis braucht, um in entzückende Träume zu gerathen, so braucht unsere gebildete Gesellschaft neue Schüsseln, neue liebliche Gerichte, neue verderbliche Kunststücke des Kochs, um sich zu erregen und zu beglücken.«
Der Medicinalrath faltete seine Hände über seinem Leib und lächelte wehmüthig vor sich hin. Rudolf fühlte sich mitleidig gestimmt, aber er konnte sich nicht enthalten, zu bemerken, daß Jemand, der gegen die Ausschweifungen der Tafelfreuden einen so gerechten Widerwillen empfinde, doch gewiß auch sich ihnen zu entziehen wissen werde.
»Mein lieber Freund,« antwortete der Arzt seufzend, »in dieser Welt thun die Verhältnisse Alles. Sie können sich zurückziehen, wenn Sie wollen, ich darf es nicht. Der Kreis, in welchem ich lebe und zu dem ich dadurch gehöre, verlangt, daß ich mich ihm anschließe; er würde mich von sich abthun, wenn ich ein Verächter seiner Freuden sein wollte. Ueber dies bin ich als Arzt es gewissermaßen auch mir sowohl wie denen schuldig, die sich mir anvertrauen, daß ich sie beobachte, ihre Neigungen, ihre Fehler studire, und alles dies kann ich nicht besser thun als bei ihren Festen und Gelagen. – Ein trauriges Leben, ein höchst trauriges Leben!« sagte er mit Bedauern, seine fleischigen Hände aufhebend, »aber Jeder muß sein Opfer bringen; ein Arzt vor Allem darf nicht fragen, ob er Dies oder Jenes möchte oder nicht möchte. Er muß!«
»Es ist ein schrecklicher Gedanke,« erwiederte Rudolf, »alle Tage viele Stunden lang zu tafeln und, Gott weiß, was Alles zusammen zu essen und zu trinken!«
Der Medicinalrath schien nicht recht zu wissen, wie die schaudernde Verwahrung gemeint sei.
»Ich hoffe,« sagte er, »daß Sie erkennen, welche Qualen ich dabei häufig leide!«
»Gewiß!« rief der Hauslehrer lebhaft, »es muß entsetzlich langweilig für Sie sein; denn sehr oft wird die Gesellschaft Sie nicht einmal für Ihre Opfer entschädigen.«
Hier hob der Medicinalrath lächelnd den Finger auf und sagte schelmisch:
»Man muß uneigennützig sein!«
»Ja, das muß man. Ein Arzt ganz besonders.«
»Wir alle. Reiche Leute, vornehme Leute, mein lieber Freund, sind selten mit so vielem Geiste gesegnet.«
»Fügen Sie hinzu: gelehrte Leute,« lachte Rudolf; »oder sagen Sie lieber: Geist ist überhaupt ein relativer Begriff, und was man gewöhnlich so nennt, beschränkt sich auf eine angenehme Unterhaltung, wie sie Dem oder Jenem gefällt. Was der Eine Geist oder Witz nennt und was ihm vortrefflich behagt, kann schon dem Zweiten höchst abgeschmackt und fade scheinen.«
»Eine allerliebste Bemerkung!« rief Neidler, »aber Sie haben vollkommen Recht. Nun, so mag man denn zuweilen auch Geist der allerverschiedensten Art in diesen Kreisen suchen und finden. Geist, um die jungen Damen der Gesellschaft zu befriedigen, Geist für Geheimräthe und Officiere, für junge Barone und reiche Parvenus« – er warf hierbei einen seiner stechenden Blicke dem jungen Doctor in's Gesicht, – »aber das Gemüth fehlt, lieber Freund,« fügte er dann hinzu, »es fehlt das Trauliche, das Heimische und zwanglos Natürliche. Sehen Sie, ich esse dann und wann gern einmal bei Helm, das heißt, ich esse mit, lade mich ein; aber ich kann sagen, es schmeckt mir nirgends so gut, an keinen Ort bringe ich solchen gesegneten Appetit mit.«
Rudolf dachte daran, wie seine Mutter Lottchen's Kochkunst gepriesen hatte, und er antwortete mit einem gewissen Stolz:
»Meine Cousine ist aber auch eine ganz vortreffliche Köchin!«
»Köchin!« rief der Medicinalrath lachend, »sagen Sie eine liebenswürdige, unübertreffliche Wirthin oder Virtuosin in der höheren Kochkunst! Exemplarisch gut in Allem, Herr Doctor Jachtmann, exemplarisch gut!«
»Ich freue mich über Ihr Lob,« erwiederte Rudolf sich verbeugend.
»Das können Sie,« sagte Neidler feierlich. »Ja das können Sie,« wiederholte er, ihm die Hand reichend. »Sie sollen wissen, daß ich ein großer Verehrer Fräulein Lottchen's bin. Ich habe nie eine junge Dame gesehen, die mir so viel Vertrauen eingeflößt hätte.«
»Es ist ein sehr vortreffliches Mädchen,« antwortete Rudolf.
»Das jeden Mann glücklich machen muß, der diese Perle zu schätzen weiß,« fuhr der Medicinalrath fort. »Sie …«
Er hielt inne und horchte zum Fenster hinaus, denn durch die Abendstille klangen die Töne eines Instrumentes, aus welchem eine gelenkige Hand eine Fülle rascher Läufe und starker abgerissener Accorde hervorlockte.
»Sie haben da eine unruhige Nachbarschaft,« sagte der Arzt.
»Ich höre wenig darauf,« war Rudolf's Antwort.
»Ganz recht, lassen Sie sich nicht stören. Aber es ist ein kleiner Kobold.«
»Wer?«
»Fräulein Johanna,« lächelte der Medicinalrath. »Es ist ein wunderbar organisirtes Wesen.«
»Wenigstens absonderlich,« erwiederte der Hauslehrer.
»Absonderlich genug,« nickte ihm der Arzt zu, »doch keineswegs, um damit wie Fräulein Lottchen anzuziehen und zu fesseln.«
»Sie ist sehr talentvoll.«
Der Medicinalrath machte eine Bewegung gegen die Musik, welche noch immer fortwährte.
»Durch und durch nervös,« sagte er; »es zittern durch diesen kleinen Körper fortgesetzte Gewitter, Blitze, die nach allen Seiten hin zucken. Sie kennen die galvanischen Aale Südamerika's, deren Berührung wie eine Voltaische Säule wirkt. Diese kommt mir immer wie ein solcher Gymnotus vor. – Die Schläge sind nicht angenehm,« flüsterte er Rudolf spöttelnd zu.
»Sie können Esel und Maulesel tödten,« antwortete dieser.
Der Medicinalrath lachte.
»Sie sind ein Satyriker, wie ich sehe!« rief er dann; »wir wollen nicht weiter darüber streiten, allein ich denke, wir wollen gute Freundschaft halten. Ich hoffe Ihnen nützlich zu sein, da ich die Verhältnisse des Bodens, auf dem Ihre Ernten gedeihen sollen, aus Erfahrung kenne. Sagen Sie mir aufrichtig, wie es Ihnen hier im Hause behagt.«
»Ich habe mich über Nichts zu beklagen.«
»Auch nicht über diese galvanische Nachbarin?«
»Ich berühre sie nicht, und auch sie vermeidet mich.«
»Hüten Sie sich vor ihr,« sagte der Medicinalrath. »Frau von Schellbach will Ihnen sehr wohl, und was Frau von Schellbach will, ist Gesetz für manche andere Leute. Jetzt aber wird es spät, ich muß fort. Nehmen Sie Ihren Hut, wir gehen ein Stück Weges zusammen, dabei kann ich Ihnen noch einige andere Mittheilungen machen.«
Rudolf gehorchte; Arm in Arm gingen sie durch den Park.
5.
Als Rudolf nach den Fenstern seiner Mutter hinaufsah, fand er, daß diese finster waren, und mißmuthig überzeugte er sich, daß die alte Dame ihre Thür fest verschlossen hatte. Ein augenblickliches Nachsinnen führte ihn aber bald zu der Vermuthung, daß sie nirgend anders wo sein könnte als bei Lottchen und dem Vetter, was ihm nicht unangenehm war; denn nun konnte er ohne Zögern und mit gutem Gewissen sich auch dahin begeben.
Er ging durch die großen Straßen voll geschäftiger Menschen langsam und seinen Gedanken überlassen fort. Was der Medicinalrath ihm mitgetheilt hatte, beschäftigte ihn hinreichend, aber es waren fast nur erwärmende und glückliche Bilder und Träume, in welche sich kaum dann und wann ein mißstimmender Ton mischte.
Der Medicinalrath war ohne Zweifel ein kluger und scharfblickender Mann, dessen Meinung und Rath Gewicht hatten. Seine Schilderungen der Verhältnisse in Schellbach's Hause schienen dem Hauslehrer treffend richtig zu sein; seine Ermahnung, sich die Huld der gnädigen Frau zu sichern und immer mit ihr auf gutem Fuße zu stehen, mußte Rudolf als die Leiter zu seinem Glücke anerkennen, und was ihm der Arzt vertraulich mittheilte, war mehr, als was er bis jetzt gewußt hatte.
Herr von Schellbach, sagte Neidler, ist ursprünglich der Sohn eines reichen Kaufmannes. Er wurde dazu erzogen, seines Vaters Nachfolger zu sein; aber der alte Herr starb, als sein Erbe achtzehn Jahre alt war. Das große Vermögen wurde verwaltet, der junge Eigenthümer weilte in London, reiste dann verschiedene Jahre und kam zurück mit sehr geringen Neigungen für die Comptoirstube. Sein Geld brachte ihn in Berührung mit der Familie seiner Frau, einer sehr noblen alten Familie, aber gering begütert. Es wurde ein Auge zugedrückt, als er sich um das schöne, stolze Fräulein Henriette bewarb, jedoch ihm deutlich gemacht, daß er zuvörderst sehr wohl thun würde, um die Adelsertheilung zu bitten. Er ließ sich, wie Sie denken können, nicht lange nöthigen, kaufte ein paar große Güter, um auch darin nicht zurückzustehen, und hatte die Freude, sechs Monate darauf als Herr von Schellbach die Nichte des Ministers zum Altar zu führen. –
Jetzt ist er acht Jahr glücklich verheirathet und ein sehr liebenswürdiger Gatte, überhaupt ein höchst angesehener Herr. Seine Gesellschaften zur Winterzeit sind ausgezeichnet, sein Landhaus ist prächtig eingerichtet, er hat viele Freunde; nur mit dem Oheim seiner Frau, dem Minister, steht er nicht allzu gut, denn die Excellenz hat Mancherlei an ihm zu tadeln, namentlich seinen geringen Eifer für die religiöse und politische Umwandlung der Zeit. Indeß Herr von Schellbach fügt sich, so viel er kann, und seine Frau hat ihn zur Folgsamkeit erzogen.
Die schöne Dame weiß natürlich ihr Ansehen geltend zu machen und ihre Herrschaft zu behaupten. Es hat immer etwas Eigenthümliches, wenn eine Frau glaubt, durch ihre Heirath dem Manne, dem sie sich giebt, ein Opfer zu bringen, zu ihm hinunter gestiegen zu sein. Sie wird das niemals vergessen, es sei denn, daß der Mann sie zur Achtung nöthigt, ihr das Gefühl aufdrängt, sie habe Ursache, stolz auf ihn, doch ihm gegenüber demüthig zu sein. Ist dies nicht der Fall, ist er ein gewöhnlicher Mensch, so wird sie bald sich über ihn stellen, ihm zeigen, wie sehr er nöthig hat, ein Wesen zu verehren, das sich herabließ, ihm die Hand zu reichen, und gewiß ist es für einen solchen Mann sehr weise und richtig, wenn er seine Frau anbetet und unbedingt als seine Schutzheilige verehrt.
Rudolf verstand Alles, was der Arzt sagte, und nach einigen anderen Bemerkungen, die der Medicinalrath mit vieler Feinheit und Vorsicht gab, fragte er ihn nach Fräulein Johanna.
Es ist sehr zu bedauern, antwortete Neidler mit seinem wehmüthigen Lächeln, daß diese kleine Dame so reizbar widerspenstig ist und in so eigenthümlichen Sonderbarkeiten sich gefällt. Sie ist die Einzige im Hause, die sich nicht biegen läßt und häufig, wie die gnädige Frau sagt, ihren Krämer-Ursprung nicht verläugnet. Als ihr Bruder geadelt wurde, war sie sechszehn Jahre alt. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie ebenfalls in den edlen Stand zu erheben; allein so jung sie war, erklärte sie sich entschieden dagegen und entwickelte sich später immer bösartiger, so daß fortgesetzt gespannte Verhältnisse vorkamen, seit sie im Hause lebt. –
Sie werden fragen: warum lebt sie dort? Theils aber hatten dieses dies Vormünder auf Verlangen ihres Bruders bestimmt, theils gab es allerlei Rücksichten. Seit einem Jahre beinahe ist sie jetzt mündig, und gewiß hinge es von ihr ab, zu wohnen, wo sie wollte; allein selbst die stolze Frau erträgt mancherlei Launen der kleinen Schwägerin, wenn es nicht gar zu arg kommt, und übt liebenswürdige Nachsicht mit ihren Fehlern und bizarren Einfällen, um das schutzlose, von tausend Thorheiten bedrohte Kind nicht zu verlassen. Sie trägt die zärtlichsten Sorgen für Johanna, arbeitet an deren Lebensglück mit bewunderungswürdigem Eifer und läßt sich durch Undankbarkeit nicht abschrecken.
So ist es zum Beispiel eine Eigenthümlichkeit der gnädigen Frau, nicht hören zu können, daß ihr Mann Martin genannt wird. Er heißt Martin, wie sein Vater; der ordinäre Name ist ihr ein Gräuel, und sie nennt ihn stets Franz, wie er auch heißt, sagt auch selten oder nie: mein Mann, sondern stets: Herr von Schellbach. Aber alle Bitten und Vorstellungen haben das Fräulein nicht bewegen können, ihn anders als Martin oder mein Bruder zu heißen. –
Undankbarkeit ist ein schreckliches Ungeheuer! rief Neidler, seine stechenden Blicke mit dem sardonischen Lippenzucken begleitend. Man wird in dieser Welt zu leicht verkannt, verleumdet, zurückgestoßen; allein man muß sich nicht davon abschrecken lassen, sondern stets das Rechte, das Richtige thun. Und dies, mein lieber Freund, thun auch Sie. Halten Sie die großmüthige Beschützerin fest, stehen Sie ihr bei; dafür wird sie dankbar sein. Glauben Sie mir, es ist das Beste, was Sie thun können, wenn Sie bald zu dem Glücke kommen wollen, das Ihrer wartet. Beobachten Sie die Verhältnisse, Sie werden finden, daß ich Recht habe. –
Und nun lassen Sie Ihre prächtige Mutter und das liebenswürdige Lottchen nicht länger warten, und – halt! ja – sagen Sie ihr doch – doch nein, das werde ich lieber selbst thun.
Mit diesen Worten hatte der Medicinalrath ihn verlassen, mit einer Art Geheimniß, das allerlei Deutungen zuließ. Was wollte er ihr denn sagen? was sollten die mancherlei bewundernden Ausrufungen über Lottchen denn überhaupt bedeuten? –
Der Medicinalrath hatte Etwas, das Rudolf nicht zusagte. Der eindringliche, lauernde Blick und das wehmüthige Lächeln gefielen ihm am wenigsten; es lag etwas Katzenartiges darin, das zu dem ganzen Manne nicht paßte. Wenn er diesen Blick und dieses Lächeln fortließ, war er ein stattlicher Mann mit offenem, Zutrauen erweckendem Gesicht, mit einem Wesen, ganz gemacht zu der imponirenden Würde des Arztes; und daß er Geist besitze und ein feiner Beobachter sei, konnte Rudolf nicht bezweifeln; eben so wenig bezweifelte er, daß Neidler ihm freundlich zugethan; denn was hätte er davon gehabt, ihm Freundlichkeit zu heucheln? Was konnte der Hauslehrer ihm helfen oder schaden?
Ich will seinen Rath jedenfalls benutzen, murmelte er vor sich hin, denn es ist ein guter Rath. Männer voll Lebensklugheit wie dieser mögen zuweilen in ihren Ansichten über Benutzung der Verhältnisse zu weit gehen, aber in meinem Falle bin ich mit ihm einverstanden. Ich muß mir die Huld dieser Frau sichern, muß ihrer Eitelkeit schmeicheln, so viel ich es vermag. Mein Vater konnte das nicht, er war unbiegsam; wie seufzen die noch über ihn, die ihn geliebt haben! Aber will ich denn einen krummen Rücken machen, wo ich Unrecht sehe? sagte er lebhafter zu sich selbst und lauter sprechend, als er es wollte.
Als er dies sagte, fiel ein Schatten auf ihn, und dicht an ihm vorüber ging eine dunkle Gestalt, die sich nach ihm umwandte und ihn anblickte. Es war eine Dame, in ihren Mantel eingehüllt, den Kopf in einem Hute verborgen, den ein schwarzer Schleier dicht bedeckte, welcher weit über ihr Gesicht reichte. Als er aufsah, war sie vorüber, und sie blieb nicht stehen wie er, sie entfernte sich.
Sonderbar, sagte er lächelnd, es war mir beinahe, als wäre es Lottchen gewesen; aber die ist größer, breiter und wird überhaupt keine nächtlichen Promenaden machen. –
Er sah nach der anderen Seite der Straße und fand, daß er sich dem Hause gegenüber befand, in welchem Schellbach sein großes, Geschäft hatte. Nachdenkend sah er das Gebäude an. Hoch und düster stand es mit seiner langen Reihe großer Fenster. In der Mitte war der Haupteingang, zu dessen Seiten zwei Gasflammen brannten, bei deren Schimmer Rudolf die dicht geschlossenen Läden und herabgezogenen Vorhänge betrachtete. Er erinnerte sich, daß er als Knabe hier den Vetter oft gesehen und besucht hatte, der in dem Untergeschoß arbeitete, wo der alte Schellbach sein Comptoir hielt. Die Fenster besaßen damals breite Eisengitter, bauchartig nach unten gebogen, und oft hatte er dort mit vielen anderen Menschen gestanden, die neugierig und von einer großen Ehrfurcht ergriffen hineinschauten, um die Buchhalter Geld zählen und arbeiten zu sehen.
Jetzt war das Alles fortgeschafft. Die Eisengitter waren verschwunden, große Spiegelscheiben und polirte Laden an ihre Stelle getreten, das Comptoir in die Nebenstraße verwiesen, zu welcher das Haus die Ecke bildete; denn die gnädige Frau, sagte Helm, denkt natürlich anders über die Würde und Wichtigkeit eines kaufmännischen Geschäftes als der selige alte Herr, und wollte ihren Eingang für sich haben, ohne von Lärm und Geschäftsleuten, Kassendienern und Menschen mit schmutzigen Füßen gestört zu werden.
Betrachtend ging er an dem Hause hin und lächelte für sich bei dem Gedanken, daß er darin wohnen sollte, was er niemals geahnt hatte; denn trotz aller Anpreisungen und verleitenden Reden des Vetters über den goldenen Boden des hochachtbaren Kaufmannsstandes hatte er immer den tiefsten Widerwillen davor empfunden.
Ich habe niemals rechnen können, sagte er, nun aber gilt es, mich nicht zu verrechnen und, ohne ein Kaufmann zu sein, mein Conto, wie der Vetter sagt, in Ordnung zu halten, so daß ich mit Gottes Hülfe getrost ein Inventar machen kann, wobei alle Gesichter sich, verklären; denn Lottchen …
Mit diesem Namen auf den Lippen bog er um die Ecke und stand abermals vor der schwarzen verschleierten Dame, die auf dem schmalen Trottoir ihm entgegen kam. Die Laterne an der Ecke schien hell, aber der Schleier war so dicht, daß er so gut wie Nichts von ihren Zügen sah. Jung aber mußte sie sein, und ihr Mantel von Seide war mit Sammet besetzt, die Hand, welche aus dem weiten Aermel hervorkam, schien schmal und klein und trug einen lichten, feinen Handschuh.
Rudolf wußte nicht, ob die Dame den Namen Lottchen gehört hatte, den er vor sich hin gesprochen, oder ob sie vielleicht selbst so hieß und ob sie darum etwa gelacht hatte, wie es ihm vorkam; aber das wußte er gewiß, daß es sein Lottchen nicht sein konnte. –
Er setzte seinen Weg fort, und seine Gedanken wandten sich plötzlich von dem unschuldigen Begebniß ab zu den Fenstern des Comptoirs, vor denen er sich befand. – Die Lampen brannten an mehreren Schreibpulten; da jedoch die unteren Scheiben mit grünen, dichten Vorsetzern versehen waren, so konnte er nicht bemerken, wer dort arbeitete. Plötzlich aber stand er still, denn hier hatte sich einer der Vorsetzer verschoben, und durch den Spalt erblickte er deutlich den Vetter Helm, die Hand auf das hohe Pult gelegt, den langen Kopf in der weißen Binde und die würdevollste Unterthänigkeit in seinen allergehorsamsten Verneigungen.
Das Zimmer war ein Cabinet, ohne Zweifel das Allerheiligste dieses Tempels des göttlichen Mercur, der Aufenthaltsort des Geschäftsleiters, der so eben ein Gespräch mit Jemand führte, welcher seine besondere Verehrung verdiente.
Dieser Zweite war nicht zu erkennen, und einige Zeit lang glaubte Rudolf, es sei der gnädige Principal selbst gegenwärtig, bis sich plötzlich eine Hand ausstreckte, die seines Vetters Hand freundschaftlich berührte, und gleich darauf ein Kopf erschien, vor dem er sich erstaunt zurückzog, denn er sah keinen Anderen als den jungen Baron Laxfeld, den er am allerwenigsten vermuthet hätte.
Was in aller Welt, murmelte er, hat er hier zu thun? –
Er sah noch einmal hin, es war wirklich der vornehme Herr, der mit dem Buchhalter sprach und ihm wahrscheinlich sehr angenehme Dinge sagte, denn Helm blieb bei seinen unterthänigen Verneigungen und steckte dann und wann seine langen Finger in die weiße Binde, wie er immer that, wenn ihn Etwas besonders freute. Der Baron nickte herablassend und klopfte mehrmals auf die Schulter des alten Mannes; in der anderen Hand hielt er seinen Hut, und als er sich umwandte, um fortzugehen, kehrte er noch einmal zurück, hob den Finger auf, den er auf Helm's Brust legte, und beugte sich zu ihm hin, indem er ihm Etwas zuflüsterte, was der Buchhalter mit einer devoten Betheurung beantwortete.
Das ist doch sonderbar! sagte Rudolf, indem er vom Fenster fort auf die andere Seite der Straße ging und sich in die Tiefe eines Thorweges stellte. Ich müßte mich täuschen, wenn er nicht den Vetter ersucht hat, Niemanden Etwas von seinem Besuche zu sagen, was dieser ihm allerunterthänigst versicherte.
Inzwischen trat der Baron drüben aus der Thür und ging die Straße hinauf. Rudolf konnte ihn ohne Mühe erkennen, obwohl er den Hut in die Augen drückte und den Kragen seines Paletots hoch herauf zog, als suche er sich zu verbergen. Einige Male wandte er den Kopf suchend um, dann ging er rascher, hielt ein, wartete und kehrte ein paar Schritte zurück; denn leise schlüpfte eine Dame ihm nach – dieselbe schwarze Dame, welche zwei Mal Rudolf's Aufmerksamkeit erregt hatte. – Gemeinsam setzten Beide nun ihren Weg fort, und neugierig folgte der Beobachter ihnen.
Er hatte Lust, sich zu nähern, aber keine Lust, erkannt zu werden, und ehe er mit sich einig war, ob es gut gethan sei, sich in eine Angelegenheit zu mischen, die ihn Nichts anginge, erreichten die Verfolgten einen Platz, auf welchem öffentliche Fuhrwerke standen, setzten sich in eines derselben, zogen die Fenster zu und fuhren davon.
Rudolf sah ihnen nach und ging dann seine Wege. Eben schlug es vom nahen Thurme acht Mal, er erschrak, so viele Zeit verloren zu haben. –
Wie thöricht ist es doch von mir, mein weniges Gut auf diese Weise zu verprassen! sagte er. Was schiert es mich, was dieser junger Schwelger mit meinem würdigen Vetter zu verhandeln hat! Vielleicht verlangt er Geld von ihm, ein Wechsel soll untergebracht werden, oder mein edler Principal hat ihm eine Anweisung auf seine volle Casse gegeben. Und draußen wartet inzwischen ein verhülltes schönes Kind lüstern auf sein Gold und begierig auf den Erfolg. –
Eine Minute lang lachte er mitleidig und verächtlich, dann eilte er um so rascher der stillen Straße zu, wo Lottchen bei hellem Lampenschein ihn erwartete.
Als er in das Zimmer trat, saß sie fleißig, wie immer, bei ihrer Nadelarbeit am Tische. Eben fuhr ein Wagen vorüber, vor dessen Gerolle sie nicht hörte, wie er die Thür leise schloß und stehen blieb. Die Schirmlampe warf ihr helles Licht auf das weiße Leinenzeug, und einige Zeit über konnte er sie ungestört beobachten.
Ihre Nadel flog emsig hin und her, die Locken bewegten sich von der Anstrengung des Arms; Gestalt und Gesicht waren in völliger Ruhe und harmonirten mit der dämmernden Stille, die auf dem ganzen Gemach lagerte. Er sah, wie ihr der Faden aus der Nadel glitt, der widerspenstig sich nicht in das kleine Oehr fädeln lassen wollte; aber keine ärgerliche Ungeduld kam in ihre Züge, keine heftigere Bewegung wurde dadurch bewirkt. Mit geduldigster Gelassenheit versuchte sie es immer von Neuem, bis der Schelm zur Einsicht gebracht war.
Plötzlich lachte der Lauscher laut auf, und mit einem Schrei sprang Lottchen von dem Sessel.
»Guter Gott!« rief er, zu ihr eilend, »was habe ich angerichtet!«
Lottchen versuchte zu lächeln, indem sie die Hand auf ihr Herz drückte; allein sie vermochte in der ersten Minute seine Bitten und Entschuldigungen nicht zu beantworten.
»Sie sind wirklich ein böser Mensch,« sagte sie endlich mit ihrer gewöhnlichen Sanftmuth, indem sie sich von ihm losmachte.
»Sie – Sie!« erwiederte Rudolf, »das darfst Du nicht sagen, liebes Lottchen. Wir haben ja unsere Freundschaft beschworen und besiegelt. Aber ist meine Mutter nicht hier?«
Lottchen verneinte es.
»Sie wird gewiß noch kommen,« setzte sie hinzu, als sie sah, daß er ernsthaft wurde. »Sie hat es mir versprochen, ich denke also« – sie schlug verlegen die Augen nieder und machte eine Pause – »der Herr Doctor wird sie erwarten können.«
»Das will ich gern thun,« sagte er sich zu ihr setzend, »wenn Du mich recht herzhaft ansehen willst. So, liebes Lottchen, so recht gerade in meine Augen, da wirst Du finden, wie sehr ich mich freue, bei Dir zu sein.«
»Nach so langer Abwesenheit,« flüsterte sie.
»Ja, weiß es Gott!« rief Rudolf, »die ganze Woche habe ich mich danach gesehnt und mich jeden Tag darauf gefreut.«
»Und warum sind Sie denn nicht eher gekommen?«
»Darauf gebe ich keine Antwort,« sagte er, »bis Du mich Du nennst.«
»Nein, nein! bitte nein!« lispelte sie verschämt, die Locken schüttelnd.
»Nun, dann muß ich freilich mich auch wieder auf meinen Standpunkt zurückziehen und Fräulein Lottchen um Verzeihung bitten,« sagte er mit einer gewissen Bitterkeit.
»O, nicht doch! nein … das dürfen Sie … das darfst Du nicht,« erwiederte sie verwirrt, und indem sie ihre Augen zu ihm aufhob, leuchteten ihn diese mit einem Glanze an, daß er ein plötzliches stärkeres Klopfen seines Herzens fühlte.
»So ist es recht!« rief er, ihre Hand fest haltend. »Das Du ist ein wunderbares Band zwischen zwei Menschen. Es ist die Pforte eines höheren Vertrauens, höherer Forderungen, höherer Ansprüche. Mit Jemand, den man Sie nennt, kann man niemals eine innige Freundschaft schließen, ihm sein Herz nie ganz öffnen und Alles von ihm erwarten.«
»Was soll man denn erwarten?« fragte Lottchen lächelnd.
»Daß er uns anhängt, fest an uns glaubt und in Freud' und Leid bei uns steht,« erwiederte Rudolf. »Das erwarte ich von meiner Freundin und hoffe von ihr, daß sie mir zutraut, Nichts würde mir zu schwer sein, was sie von mir begehrte.«
Lottchen sah ihn noch einmal mit dem glänzenden, bezaubernden Blicke an und sagte dann, den Finger aufhebend:
»Wer hat aber sein Wort schlecht gehalten?«
»Ich konnte nicht kommen,« versicherte er. »Ah, wie gern wäre ich den ersten Tag schon zu Dir gelaufen!«
»Es ist aber länger als eine Woche her,« sagte sie, »seit Du zuletzt hier warst. Ein Stündchen wäre doch wohl möglich gewesen.«
»Vielleicht ja, aber ich hatte Gründe, die mich zurückhielten.«
»Geistreiche Gesellschaft,« flüsterte sie lächelnd, indem sie die Näharbeit wieder aufnahm.
»Gewiß nicht, liebes Lottchen, ich war meist des Abends ganz allein, und meine einzige Unterhaltung, wenn ich es so nennen soll, war, daß ich der Musik zuhörte, die dicht neben mir von Fräulein Schellbach gemacht wurde.«
»Sie wohnt nebenan?« fragte Lottchen, ohne aufzublicken.
»Dicht nebenan, und sie spielt entzückend schön.«
Lottchen erwiederte Nichts, sie hörte zu, was er weiter erzählte, indem er ihr den Verlauf seiner Tage und seine häuslichen Einrichtungen beschrieb; aber sie schien doch fortgesetzt zu schmollen und hatte dann und wann eine kleine Einwendung, die immer wieder andeutete, daß er wohl hätte kommen können, wenn er nur gewollt hätte.
Rudolf mußte sich vertheidigen, seine Gründe wiederholen und deren Triftigkeit betheuern. Er that es gern, denn es that ihm sonderbar wohl, daß Lottchen über sein langes Ausbleiben unzufrieden war, und doch fühlte er sich in seinem Stolze verletzt, daß sie ihm nicht glauben wollte.
»Du hast mich also gewiß täglich erwartet?« fragte er, »und ich habe Dich getäuscht ohne meine Schuld.«
»Erwartet? O, nein!« war ihre Antwort, die sie ohne aufzublicken gab. »Ich sagte ja gleich: wir werden sehen, was wahr ist. Und was hätte ich denn auch für Ansprüche!«
»Alle möglichen Ansprüche!« fiel er ein. »Du hast mir ja noch auf der Treppe in's Ohr gesagt, ich möchte recht bald wieder kommen.«
»So?« lächelte sie mit einem Seitenblicke; »davon weiß ich Nichts. Nein, gewiß, ich weiß gar Nichts. Wenn es aber wahr wäre, so wäre es um so mehr …«
»Was denn, liebes Lottchen?«
»Ich will gar Nichts mehr hören; bitte, ich will Nichts hören!« sagte Lottchen.
»Aber, liebe Freundin, es war unmöglich.«
»Giebt's denn keine Feder und kein Papier im Park?« fragte sie, die Nadel aufstemmend »konnte der Herr Doctor nicht wenigstens ein Briefchen schreiben? Nicht an mich – nein! – auf solche Ehre mache ich keine Ansprüche, aber doch an die arme, gute Mutter, die nicht wußte, was ihrem Liebling geschehen sei, und, wenn sie zu mir kam, was sehr oft geschah, voll Angst und Sorgen war.«
»Ja, das konnte ich freilich, das konnte ich wirklich; aber ich muß bekennen, ich habe nicht daran gedacht.«
»Nicht daran gedacht,« sagte sie, sanft lächelnd und auf die Arbeit niedergebeugt, »das ist ein schönes Bekenntniß! Nicht an uns gedacht!«
Sie nahm die Nadel wieder auf und nähte weiter.
»An Dich, an Euch Alle habe ich sehr oft gedacht, wie könnte es denn anders sein!« erwiederte er, »nur an das Briefschreiben nicht. Ich glaubte, der Vetter würde von Schellbach und aus dem Hause über mich hören, bis ich selbst kommen könnte.«
»Das hat wohl noch andere Gründe,« sagte Lottchen sanft vor sich hin.
Er schwieg darauf, es kam ihm wie ein Unmuth an.
»Mein einziger Grund war der,« begann er dann nach einem Weilchen, »daß ich den Knaben nicht verlassen, die Gebote der gnädigen Frau erfüllen und so lange lieber meine Abende allein oder mit dem Kinde verleben wollte, bis die Herrschaften selbst mich zu größerer Freiheit aufforderten.«
»Entzückend schöne Musik hören ist auch eine sehr angenehme Unterhaltung,« sagte Lottchen, wieder sehr sanft und lächelnd.
Ueber die blasse, hohe Stirn des Hauslehrers flog ein röthlicher Schimmer; er blieb freundlich und schwieg.
»Heute,« fing er dann das Gespräch wieder an, »besuchte mich Jemand, der mit meinem Verhalten sehr zufrieden war und dabei Dein begeisterter Verehrer ist.«
»Mein Verehrer?« fragte Lottchen, »und begeistert? Wer könnte sich wohl für mich begeistern! Ich bin gar nicht musikalisch.«
»Muß man denn dazu musikalisch sein?« lachte er. »Giebt es keine anderen Harmonieen, als die aus den Saiten kommen? Du hast sehr viele begeisterte Verehrer, liebes Lottchen.«
»Ich, Verehrer?« – Sie nähte, ohne aufzusehen. »Ich bin weder gelehrt, noch geistreich, noch im Geringsten interessant oder witzig.«
»Aber gut und lieb,« fiel er ein, »und verehren wir Dich denn nicht Alle? Ich zumeist, als der jüngste Chorführer in der begeisterten Schaar.«
»Ja, ich merke es,« sagte sie, mit dem glänzenden Seitenblicke, »darum bist Du … darum ist der Herr Doctor auch vor lauter Verehrung nicht gekommen.«
»Wenn ich eifersüchtig sein wollte,« lachte er, ohne auf den neuen Stich zu achten, »dann hätte ich heute erst recht fortbleiben müssen; denn nicht allein mußte ich die langen Lobeserhebungen für Dich in Empfang nehmen, sondern auch Aufträge sollten mir ertheilt werden.«
»Für mich?« fragte Lottchen. »Was denn?«
»Wer weiß es! Geheimnisse der gefährlichsten Art; Dein Anbeter zog es vor, sie Dir selbst morgen in's Ohr zu flüstern.«
Fräulein Lottchen machte plötzlich ein ziemlich ernsthaftes Gesicht und sagte dann:
»Ich habe keinen Anbeter, gehöre auch nicht zu den Damen, die sich Anbeter halten.«
»Aber, liebes Lottchen,« rief Rudolf, »Du kannst es doch keinem Menschen verwehren, wenn er Dein Anbeter sein will. Kannst Du es mir verwehren?«
»Pfui!« sagte sie, das Gesicht abwendend, »wer wird so leichtsinnig spotten! Es ist Alles Nichts als Spaß.«
»Ernst! vollwichtiger Ernst, so wahr ich lebe! Sagen Sie doch dem lieben Lottchen, fing Dein Anbeter an, aber dann hörte er auf, besann sich und setzte hinzu: Ich werde es ihr lieber selbst sagen. – Bist Du nun neugierig?«
»Ich bin niemals neugierig,« erwiederte Lottchen sanft.
»So rathe, wer es ist. Ein feiner, liebenswürdiger Herr von Rang und Stand und hohem Ansehen.«
»Mit solchem habe ich gar Nichts zu schaffen.«
»Aber er mit Dir. Er kennt Dich ganz genau, Du hast ihm öfter schon die schönsten Genüsse bereitet?«
Fräulein Lottchen wurde wiederum ernsthaft, und ihre Augen drückten einen deutlichen Vorwurf aus, als sie sanft wie immer sagte:
»Herr Doctor! Herr Doctor! der Spaß geht fast zu weit«
»Zu weit!« rief Rudolf lachend; »ich meine Euren Arzt, den Medicinalrath. Er war ganz entzückt von den schönen Gerichten, die Du ihm öfter vorgesetzt hast, und Alles, was ich berichtete, ist wahr. Er wollte mir einen Auftrag geben, den er schließlich für sich behalten hat.«
Lottchen's Gesicht verklärte sich, sie lachte jetzt selbst.
»Der Medicinalrath also!« sagte sie, »o, dann weiß ich auch, was es ist.«
»Was denn?«
»Nein, ich sage es nicht,« erwiederte Lottchen. »Es ist gefährlich.«
»Gefährlich für mich?«
»Für alle leichtfertigen jungen Herren, die – nicht Wort halten.«
»Rechnest Du mich denn wirklich dazu?« fragte er. »Gewiß nicht, das kannst Du nicht, das würde mir, wenn es wahr wäre, sehr unlieb sein.«
Die Klingel am Hause ließ sich unten hören, Lottchen stand auf, um nach der Thür zu gehen, aber Rudolf hielt sie an beiden Händen fest. –
»So kommst Du nicht fort,« rief er, »erst sprich die Wahrheit. Glaubst Du wirklich, daß ich leichtsinnig sein kann?«
»Da kommt die Mutter,« sagte Lottchen, »sie soll darüber entscheiden, allein ich denke …«
Plötzlich ließ Rudolf ihre Hände fallen und trat zurück, denn die Thür that sich auf, und der gewaltige Kopf eines Hundes steckte sich herein, neben diesem aber wurde die behende Gestalt einer Dame sichtbar, welche er sogleich erkennen mußte, deren Erscheinen in diesem Hause jedoch eben so überraschend wie befremdend war.
Fräulein Johanna Schellbach hielt sich nicht damit auf, eine Entschuldigung, wie diese gewöhnlich ist, vorzubringen; eben so wenig beachtete sie die Verbeugung des Hauslehrers oder diesen selbst. Sie sah das große Mädchen scharf an, das, ziemlich verwirrt über dieses Intermezzo, nicht recht zu wissen schien, was es thun sollte. Dann trat sie in ihrer raschen Weise näher und sagte laut:
»Sie sind Helm's Nichte oder Pflegetochter?«
Fräulein Lottchen verbeugte sich, still lächelnd.
»Wo ist er?«
»Noch nicht zu Hause,« antwortete Lottchen. »Wollen Sie nicht gefälligst Platz nehmen?«
»Ich werde warten,« sagte sie, indem sie sich auf Lottchen's Platz setzte, die vergebens eine Bewegung gegen das Sopha machte. Der mächtige Hund setzte sich neben sie und legte seinen Kopf auf ihr Knie.
»Darf ich Ihnen nicht das Tuch abnehmen?« fragte Lottchen schüchtern und bittend.
»Ich danke Ihnen,« war die Antwort, »das Tuch ist mir nicht zu warm. Glauben Sie, daß Helm bald kommen wird?«
»Ich erwarte meinen Onkel jeden Augenblick.«
Johanna legte die rechte Hand auf den Tisch, die linke auf den Kopf ihres Begleiters. Ihre Blicke flogen über das Zimmer betrachtend hin, ohne daß sie eine neue Frage that. Rudolf hatte sich an den Ofen gestellt, das Fräulein schien ihn auch dort nicht zu bemerken. Lottchen stand noch immer vor ihr, ungewiß, was sie mit diesem Besuch beginnen sollte.
»Es ist ein sehr schöner Abend,« sagte sie endlich.
»Haben Sie das Alles selbst gestickt?« war die Antwort darauf.
»Ich habe viele Zeit,« erwiederte Lottchen, so demüthig, als wollte sie sich entschuldigen.
»Die müssen Sie allerdings haben,« antwortete Johanna, indem sie ihre dunklen, warmen Augen fest auf Lottchen richtete.
»Und wenn man allein ist,« fuhr Lottchen, den Blick senkend fort, »so kann man nichts Besseres thun, als sich beschäftigen.«
»Jeder in seiner Weise,« versetzte die Dame. »Ich habe zuweilen von Ihnen gehört.«
»Von mir?« lispelte Lottchen, sich verbeugend.
»Durch Julie.«
»Julie Stern,« sagte Lottchen. »Sehr gütig von ihr.«
»Ganz recht, sie kennt sie.«
Fräulein Schellbach antwortete mit einem sonderbaren Ausdrucke, den sie ihrem Gesicht zu geben wußte. Er war nicht verächtlich, nicht höhnisch, nicht bedauernd oder mitleidig, und doch lag dies Alles darin. –
»Ich erwarte Julien in wenigen Tagen,« sagte sie dann, »sie hat es mir geschrieben.«
»Das ist schön,« erwiederte Lottchen. »Ich habe sie sehr lieb und werde sie gewiß auch sehen; besonders erfreut aber bin ich …«
Sie hörte auf und rieb lächelnd die Hände, sah nach dem Ofen hin und horchte dann gegen die Thür. –
»Jetzt kommt mein Onkel wirklich,« fuhr sie fort, »ich höre, wie das Drückerschloß schließt, und will ihm entgegen gehen.«
»Bleiben Sie,« sagte Fräulein Johanna, indem sie mit bestimmtem Tone den Finger aufhob, »lassen Sie ihn herein kommen.«
Zugleich mit diesem Bescheide erhob sich draußen eine laute helle Stimme, an welcher Rudolf sogleich seine Mutter erkannte. –
»Wo sind sie denn?« rief die Frau Zoll-Inspectorin. »Also ist er hier? Schon lange ist er hier, und ich laufe zu Pontius und Pilatus und suche ihn!«
»Hoho!« lachte der Vetter dazwischen, »nur nicht zu hitzig, Muhme Jachtmann! Ich denke, Lottchen hat ihn gehörig in's Gebet genommen. Ist es wahr, Lottchen, oder ist es nicht wahr?« setzte er hinzu, indem er die Thür aufmachte.
»Ich will ihm noch ganz anders den Kopf waschen, dem Herrn Gouverneur,« schrie die alte Dame, »denkt er …«
Hier brach sie ab, blieb stecken und machte einen tiefen Knix, während zu gleicher Zeit der große Hund tief anschlug.
Der Vetter verneigte sich ebenfalls mit respectvoller Rückenwendung, faßte in Eile nach seinem Hute, den er noch auf dem Kopfe hatte, und stotterte mit seinem angenehmsten Grinsen einen guten Abend.
»Sie haben mich nicht hier vermuthet,« sagte das Fräulein, ohne aufzustehen.
»In der That nein, ganz gewiß nicht,« antwortete der Buchhalter.
»Man erwartet nicht häufig das, was man findet, oder findet nicht das, was man erwartet,« fuhr sie fort. »Das Eine ist so wohlfeil wie das Andere. Ich bin zu Ihnen gekommen, Herr Helm, um Etwas mit Ihnen zu sprechen. Führen Sie mich an einen Ort, wo dies geschehen kann.«
»Ich stehe zu Befehl, sogleich zu Befehl,« erwiederte der alte Herr. »Zünde ein Licht an, Lottchen. Ihr gehorsamster Diener, mein gnädiges Fräulein, einen Augenblick, wenn ich bitten darf.«
»Lassen Sie sich Zeit,« sagte sie.
»Und allein sind Sie gekommen, ohne Begleitung?« fragte Helm mit seiner üblichen Unterthänigkeit, indem er Lottchen das Licht hielt.
»Hier ist mein Cavalier,« antwortete sie, auf den Hund deutend, »der mich besser beschützt als irgend ein wedelndes zweibeiniges Geschöpf.«
»Vortrefflich! ganz vortrefflich!« rief Helm lachend, indem er Lottchen und die Muhme ansah, als sollten Beide ihm dabei helfen – »aber für die jungen Herren nicht besonders erfreulich. Haha! eben nicht besonders erfreulich.«
»Das Licht brennt,« sagte sie, und indem sie aufstand, fügte sie hinzu: »Welche Thür, diese oder jene?«
»Bitte unterthänigst!« bemerkte der Buchhalter, »dort geht es in Lottchen's Allerheiligstes, aber hier, wenn es Ihnen gefällig ist. Mein Häuschen ist sehr klein, doch große Ehre ist ihm heute widerfahren, unschätzbare, unvergeßliche Ehre!«
Das Fräulein öffnete die Thür und trat in das dunkle Hinterzimmer, der Hund folgte ihr nach, und Helm machte den Beschluß.
Als sie hinaus waren, entstand eine lange Pause. Die Zurückbleibenden sahen sich an und horchten, was sich weiter begeben würde.
»Was hat denn das zu bedeuten?« flüsterte die Frau Zoll-Inspectorin endlich.
Lottchen zuckte die Schultern und lächelte.
»Das war sie also,« fuhr die Wittwe fort, »ich kannte sie doch gleich wieder. Aber der Vetter hat Recht, wie eine Verrückte sieht sie aus.«
»Pst!« sagte Lottchen. »Sie ist doch sehr liebenswürdig.«
»Liebenswürdig? Wie so denn?«
»Sie ist äußerst musikalisch, macht himmlische Musik,« zischelte Fräulein Lottchen mit einem Seitenblick nach dem Ofen.
»Davon merkt man Nichts,« antwortete die alte Frau. »Wie sie die Worte vorstößt, wie ein Mann so hart! Wie sprechen Sie dagegen, Lottchen!«
»O, bitte!« sagte Lottchen sanft, »ich weiß ja Nichts von Musik, gar Nichts.«
»Das haben Sie auch nicht nöthig, das sind Narrenspossen,« erwiederte die Frau Zoll-Inspectorin, die sich immer mehr erhitzte. »Haben Sie die Augen gesehen, wie die rechts und links flogen, und dabei so über uns hin, als ob wir gar nicht in der Welt wären? – Was sie nur wollen mag?«
»Der Onkel wird es uns wohl sagen,« lächelte Lottchen.
»Hören Sie Nichts?«
Sie schwiegen Beide, allein es war Nichts zu verstehen. Trotz ihrer lauten, harten Stimme, welche die Wittwe gerügt hatte, mußte Johanna Schellbach doch auch leise sprechen können, denn nur dann und wann drang ein einzelner Ton vernehmlicher durch die Thür.
»Und was das für Manieren sind!« sagte die Widersacherin noch ärgerlicher, weil sie Nichts verstehen konnte. »Mit einem Hunde, so groß wie ein Kalb, bei Leuten in's Haus zu kommen, und das Beest beißt und bellt, daß man vor Schreck den Tod davon haben kann.«
»Den Hund hat sie immer bei sich,« flüsterte Lottchen. »Frau von Schellbach ist oft schon sehr böse darüber gewesen.«
»Und mit vollem Recht!« rief die Frau Zoll-Inspectorin, energisch mit der Hand drohend. »Mir sollte sie damit in's Haus kommen!«
»Pst!« winkte Lottchen beruhigend, »es ist eine Liebhaberei. Ich habe ja auch ein Canarien-Vögelchen.«
Hier schlug die alte Frau ein helles Gelächter auf und streichelte Lottchen's Kinn. »Das gute Kind!« sagte sie, »ein Canarien-Vögelchen, das lass' ich mir gefallen. Aber die da …«
»Bitte, bitte!« bat Lottchen sanft, »der Onkel könnte es übel nehmen; sie könnte denken, wir lachten über sie.«
»Ja, das verdient sie, ausgelacht müßte sie werden, Jeder müßte sie auslachen!« sagte die Zoll-Inspectorin, den Arm in die Seite stemmend. »So ein kleines, unbedeutendes Ding und ohne Lebensart. Auch Rudolf hat sie mit keinem Blick angesehen, der doch mit ihr in einem Hause lebt.«
»Fenster an Fenster,« sagte Lottchen leise.
»Wie man nur so hochmüthig und verkehrt sein mag,« seufzte die Wittwe, »das kann ich nicht begreifen. Ich habe ihr einen Knix gemacht wie vor einer Prinzessin; haben Sie bemerkt, daß sie sich bewegte? Und wie artig waren Sie, Lottchen! Sie können auf sie herunter sehen wie von oben, einen ganzen Kopf sind sie größer, und ganz anders sehen Sie aus, wie der Zwerg, der Nichts hat als sein Geld.«
»Ich beneide sie nicht!« flüsterte Lottchen, indem sie die Augen aufschlug – »nein, ganz gewiß nicht!«
»Warum denn,« antwortete ihre Freundin lebhaft den Kopf schüttelnd, »warum wollten Sie die auch beneiden? – Geld? du lieber Gott! Was ist Geld? Geld ist gar Nichts, man kann es nicht essen und nicht trinken, und ich sage Ihnen, Lottchen, man kann alle Taschen voll haben und dabei doch unglücklich sein.«
»Glauben Sie denn, liebe Frau Zoll-Inspectorin,« fragte Lottchen sanft, »daß das Fräulein unglücklich ist?«
Diese Frage kam der alten Frau in die Quere, sie sah einen Augenblick so aus, als wüßte sie nicht recht, was sie antworten sollte; aber schnell hatte sie sich besonnen, und ohne weiteres Bedenken fuhr sie fort:
»Das versteht sich ganz von selbst, daß sie nicht glücklich sein kann. Denken Sie doch nur, wie sie lebt. Keine Menschenseele hat sie, die es so recht gut und treu mit ihr meint, und sie meint es auch mit keinem Menschen gut. Ihre Mutter ist ihr gestorben, wie sie noch nicht wußte, was eine Mutter einem Kinde ist; den Vater nahm auch der Himmel zu sich, da saß sie mit ihrem Gelde unter Fremden, die keine Liebe für die Waise hatten, und so wurde sie erzogen und verzogen. Nun ist sie bei dem Bruder, der auch kein Herz für sie besitzt, paßt nicht zu der Frau Schwägerin, die sie gern los sein möchte, obgleich es andererseits ganz hübsch sein muß, sie bei sich zu haben. Denn um ihr Vermögen bekümmert sie sich nicht, gebrauchen thut sie nicht viel, der Herr Bruder verwaltet Alles und gebraucht ganz gehörig für sie mit; dennoch aber wollen sie sie gern verheirathen, und da liegt der Hase im Pfeffer. Geben Sie Acht, Lottchen, was noch dabei herauskommt! Es kommt nichts Gutes heraus, sage ich. Ist das also etwa ein Glück, so viel Geld haben und so leben wie die, und zuletzt einen Mann nehmen, der bloß das Geld haben will? Denn um ihretwegen nimmt die Keiner; so ein Narr ist Keiner, aus Liebe kommt Keiner. Wo ist denn also das Glück? Wo ist es denn?«
»Aber, liebste Frau Zoll-Inspectorin,« sagte Lottchen erstaunt, »wo haben Sie denn das Alles erfahren?«
»Still!« flüsterte die Wittwe umherblickend, »der Herr Vetter hat mir allerlei unterwegs erzählt, als wir uns trafen und zusammen gingen. Darum machte er auch wohl so große Augen, daß der Wolf da war, wie wir von ihm sprachen.«
Sie hatte verschiedentlich ihre Blicke auf Rudolf geworfen, der immer noch am Ofen stand, ohne ein Wort einzumischen; jetzt aber ging sie auf ihn zu und faßte ihn an, denn es kam ihr vor, als läge ein finsterer Schatten auf ihm.
»Wie siehst Du denn aus, Rudolfchen!« rief sie besorgt, »Du hast ja Falten auf der Stirn und pressest die Lippen zusammen, wie Dein Vater, wenn er so recht böse war. Du hast Dich geärgert?«
»O nein,« sagte Rudolf.
»Aber gekränkt,« fuhr sie fort, »gekränkt über den Hochmuth. Laß es gut sein, mein liebes Kind, Hochmuth kommt vor dem Fall, das werden wir noch Alle erleben. Ich habe es wohl gesehen, wie sie Dich behandelte, und habe auch gehört, wie sie es im Hause treibt.«
»Liebe Mutter,« antwortete der Sohn, gewaltsam lachend, »glaube doch nicht, daß ich darnach frage.«
»Nun also,« sagte die Wittwe stolz, »Du weißt, wer Du bist, und der Vetter hat mir gesagt, es würde gar nicht lange dauern, so« – sie sah Lottchen triumphirend an – »es giebt Leute, die es sich zur Ehre schätzen, Dich zu kennen, und sorgen werden, daß hohe Personen« – hier machte sie mit seligen Blicken einen Knix – »sich für Dein Wohl interessiren.«
»Ja, ja,« erwiederte Rudolf hastig, »aber verzeihe, daß ich Dich nicht früher besuchte, ich konnte nicht fort.«
»Ja, Du Schelm!« rief die alte Dame lachend, »Du hast uns sitzen und warten lassen. Mehr wie einmal hat Lottchen umsonst Kaffee gekocht, und Abends, wenn wir beim Thee saßen, und es klopfte oder klingelte, sprangen wir sämmtlich auf – es war aber immer vergebens.«
»Das thut mir recht von Herzen leid,« sagte er, die Augen zu Lottchen hinüberschickend, die ihre Arbeit wieder genommen hatte und nicht aufsah.
»O, das glaube ich, das glaube ich!« lachte die gutmüthige Frau. »Ich sagte es auch immer: wenn er kommen könnte, er käme gewiß; wo könnte er denn wohl lieber sein als hier, als bei – uns!«
Sie hörte auf, lachte aber mit dem allervergnügtesten Gesicht und drückte seine Hände, während Rudolf's Herz sich mit Liebe füllte. – Sie glaubte seinem ersten Wort, sie hatte ihn vertheidigt, gesagt, was er gesagt, und kein Mißtrauen, kein Vorwurf blieb zurück.
»Ich danke Dir, daß Du so milde bist.,« sagte er zärtlich.
»Ei was!« rief sie lustig, »da ist Nichts zu danken. Was nicht geht, geht nicht, und Du mußt es am besten wissen, was Du kannst oder nicht kannst. Gestorben sind wir nicht davon, jetzt bist Du bei uns, und endlich wird die Zeit kommen, wo Du auch nicht wieder zu gehen brauchst. Ist es nicht wahr, Lottchen?«
Aber Lottchen gab kein Zeichen der Beistimmung. Sie hob den Kopf nicht auf, und hätte man aus dem Nicken ihrer Locken urtheilen wollen, so hatte man glauben müssen, daß diese Nein sagten.
Alle weiteren Fragen und Beweise erreichten jedoch damit ein Ende, daß jetzt in dem Nebenzimmer die Stimme des Fräuleins so laut und deutlich wurde, daß Lottchen die Hand mit der Nadel fallen ließ, und Alle aufhorchten.
»Ich will es so!« rief Johanna, »und ich befehle es Ihnen!«
Helm schien eine unterthänige Einwendung zu machen, aber nicht damit durchzudringen.
»Sie sind ein ehrlicher Mann,« fuhr das Fräulein mit derselben Heftigkeit fort, »wenigstens halte ich Sie dafür. Sagen Sie mir jetzt auf Ihr Gewissen, habe ich Recht oder Unrecht, das zu fordern?«
Die Antwort wurde wiederum so leise gegeben, daß sie unverständlich blieb.
»Das sind Ausflüchte!« rief das Fräulein. »Wenn Jemand weiß, was Recht ist, so muß er sich nicht scheuen, offen vor alle Welt hinzutreten, um es zu bezeugen. Darum ist es so übel bestellt im Leben, weil selten ein Mensch den Muth hat, wahr und gerecht zu sein.«
»Ich bitte inständigst,« antwortete der Vetter, »dringen Sie nicht weiter in mich, bedenken Sie meine Lage.«
Was er weiter sagte, verlor sich wieder in Gemurmel, bis nach einigen Minuten Johanna von Neuem zu reden anfing. –
»Gut,« begann sie dieses Mal ruhiger. »Sie sind ein schwacher Mann; ich habe Niemanden, der bei mir stände, so muß ich denn meine Sache selbst führen. Was Sie mir gerathen haben, soll geschehen, ich will es versuchen. In den nächsten Tagen werden Sie davon hören, bis dahin schweigen Sie, doch,« fügte Sie mit einem spöttischen Ausdruck des Tones hinzu, »ich denke, das habe ich nicht nöthig, Ihnen einzuschärfen. Sie wollen Nichts damit zu thun haben und werden Mund, Augen und Ohren möglichst zuhalten.«
Helm machte sicher eine stumme Verbeugung, es folgte eine kleine Pause.
»Geht die Thür dort auf die Flur hinaus?« fragte das Fräulein.
»Ja,« sagte der Vetter.
»So öffnen Sie. Gute Nacht!«
»Soll ich Ihnen nicht einen Wagen holen lassen?«
»Nein, ich danke Ihnen.«
»Oder – oder,« stotterte Helm, während Beide auf die Flur traten, »dürfte ich unterthänig meine Begleitung antragen, oder mein Verwandter – der Doctor Jachtmann …?«
»Ich brauche keinen Begleiter,« sagte sie mit harter Stimme indem sie sich entfernte.
»Gott sei Dank!« rief die Frau Zoll-Inspectorin drinnen, die Hände zusammenschlagend; »das wäre eine schöne Geschichte gewesen, wenn sie Ja gesagt hätte! Denken Sie an, Lottchen, der arme Rudolf mit ihr fort, bis in den Park!«
»O!« antwortete Lottchen aufblickend und sonderbar lächelnd. –
Sie sagte Nichts weiter, aber dieser Eine Laut drang brennend in Rudolf ein. Er fühlte es heiß in seinen Kopf steigen und ging mit großen Schritten durch das Zimmer zum Fenster, wo er auf die Straße hinaus in den Vorgarten blickte.
»Siehst Du sie?« fragte seine Mutter. –
Er antwortete nicht.
»Sie wird gewiß nicht zu Schaden kommen,« sagte Lottchen sanft; »aber wenn Rudolf sie begleitet hätte, wäre es doch wohl am besten gewesen.«
»Einfältig!« murmelte er zwischen den Zähnen.
»Da kommt der Vetter!« rief die alte Dame, »der wird uns viel zu erzählen haben!«
Allein darin hatte sie sich verrechnet.
Helm trat mit dem Lichte in der Hand herein, und bei seinem Anblick verstummten alle Erwartungen. Er steckte sogleich seine Hand in die Binde und fuhr rund um seinen Hals, was ein bestimmtes Zeichen seines aufgeregten Gemüthes war. Sein langes Gesicht schien noch länger zu sein, die Nase trat noch spitzer darin hervor, und die Falten auf seiner Stirn nahmen einen drohenden Charakter an, als er auf die letzten Worte der Frau Muhme sich zu dieser hinwandte, das Licht vor sich ausgestreckt sie beleuchtete und mit feierlicher Gemessenheit sagte:
»Muhme Jachtmann, ich habe Ihnen Nichts zu erzählen, Nichts mitzutheilen. So wenig ein Staatsbeamter davon spricht, wovon nicht gesprochen werden soll, so wenig spreche ich von den Geschäften meines Hauses.«
»Aber, liebster Herr Vetter …« fiel die Zoll-Inspectorin ein.
» Silentium!« sagte Helm, das Licht noch näher haltend. »Lottchen, mein Kind, besorge den Thee.«
»Ich sage blos,« rief die alte Frau, unerschrocken den Arm in die Seite stemmend, »daß etwas ganz Besonderes dies bewerkstelligt hat, hier bei Nacht Mutterseelen allein herzulaufen, und daß es eine Unverschämtheit ist, mit einem Hunde zu kommen und sich nicht einmal zu empfehlen.«
»Wie!« sagte Helm, seine Augen zornig aufmachend, »wie, Muhme Jachtmann!« –
Er blickte sie durchbohrend an und hielt das Licht so nahe, daß die alte Dame den Kopf schnell zurückbog und beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. –
»Ein für alle Mal,« sagte er, sich würdevoll aufrichtend, »bitte ich Sie, vergessen wir nicht, was wir uns und ihr und dem Hause schuldig sind. Ich« – er stellte den Leuchter auf den Tisch und setzte seinen langen Finger auf seine Brust – »ich habe Nichts damit zu schaffen; auch Keiner von uns, Sie eben so wenig, Muhme Jachtmann, hat Verluste zu erwarten. Klug muß man sein, bedächtig und überlegt in jeder Stunde handeln.« –
Er setzte sich nieder und schlug mit der silbernen Dose an seine Nase.
»Das Klügste ist, gar nicht davon zu reden,« fuhr er nachdenklich vor sich hinsehend fort; »gar nicht, verstehen Sie mich, gar nicht!«
Die Frau Zoll-Inspectorin verstand den Herrn Vetter freilich nicht, aber so viel begriff sie, daß er in übler Laune war und weder Etwas über seinen Besuch mittheilen, noch überhaupt davon reden wollte.
Es entstand eine ziemlich peinliche Stille, während welcher Helm fortgesetzt die Dose zwischen Daumen und Zeigefinger drehte und äußerst feierlich geradeaus in's Licht sah, die beiden übrigen Anwesenden aber keinerlei Geräusch machten. Endlich kam Lottchen mit dem Thee, und der Tisch wurde bestellt; allein mit aller Fröhlichkeit und Gemüthlichkeit war es vorbei. Lange Pausen entstanden, kein Gespräch wollte in Gang kommen, kein Scherzwort ein anderes hervorrufen, und Lottchen selbst schien eben so zurückhaltend oder traurig zu sein, wie Rudolf nachdenkend und einsilbig war.
Es dauerte auch nicht lange, so mahnte die Wittwe zum Aufbruch, und ihr Sohn griff nach seinem Hute. Der Vetter ließ es geschehen, ohne ein Wort dagegen zu sagen; auch Lottchen nöthigte nicht; sie lächelte nur sanft, die Augen niederschlagend, vor sich hin, als Rudolf halblaut sagte, daß er hoffe, jetzt nicht wieder so lange auszubleiben, und machte eine kleine beistimmende Bewegung, die eben so gut einen Zweifel ausdrücken konnte.
»Eh, Rudolf!« rief Helm, als er ihm die Hand reichte, »also es steht gut mit Dir, und was ich sagen wollte, es wird bald noch besser stehen. Aber klug und vorsichtig, immer klug und vorsichtig! Du weißt doch, daß übermorgen große Gesellschaft bei Euch ist?«
»Ich habe davon gehört,« erwiederte der Doctor.
»Geburtstag,« sagte Helm, die Dose aufhebend.
»Davon habe ich Nichts gehört. Wessen Geburtstag?«
»Wird etwas geheim gehalten,« fuhr der Vetter fort. »Sie, die hier war, Fräulein Johanna, wird fünfundzwanzig Jahre alt, ein respectables Alter für eine Dame, eine Erbin.« –
Er legte den Kopf in die Binde zurück, beschrieb mit dem Finger darin den üblichen Halbkreis und ließ zum ersten Male das lange trockene Gesicht wieder von dem bedeutsamen Grinsen freundlich werden. –
»Der Herr Minister wird kommen, also aufgepaßt! Ehrfurchtsvolle Bescheidenheit, unterthänigste Dankbarkeit, gehörige Devotion, wenn er mit Dir spricht, und nicht etwa leichtfertiges Wesen, wie es jetzt die jungen Leute haben, sondern gehörige tiefe Verbeugungen und demuthsvolle Mienen, in denen man den Respect erkennt!«
Rudolf hatte große Lust zum Lachen, denn der alte Herr stand bei seiner Ermahnung auf, verbeugte sich bei jedem Satz zur Probe und füllte sein Gesicht mit allen den empfehlungswürdigen Eigenschaften, die er seinem Verwandten vorschrieb. –
»Gewiß,« sagte er endlich, so ernsthaft er es vermochte, »ich werde dem Herrn Minister keinen Anlaß zur Unzufriedenheit geben. Allein warum wird dieser Geburtstag so hoch gefeiert? Wie ich die Verhältnisse betrachte, sollte ich meinen …«
» Silentium!« fiel Helm ein, »Du sollst gar Nichts meinen oder betrachten, nur an Dich selbst sollst Du denken.«
»Aber meine Augen und Ohren kann ich doch nicht vor unmittelbaren Wahrnehmungen verschließen,« erwiederte der junge Mann.
»Wie sein Vater, Muhme Jachtmann, accurat wie sein Vater war!« rief der alte Herr kopfschüttelnd. »Machte man dem Vorstellungen, klug zu handeln, war er gleich mit der Antwort da, er könne sich vor der Wahrheit nicht verschließen. Und dadurch ist er eben nicht weiter gekommen, dadurch hat er sich Feinde, hohe Feinde gemacht und sein Glück verscherzt.«
»Besorgen Sie Nichts!« sagte Rudolf; »wie könnte ich denn auch durch eine unkluge Handlung mein Glück verscherzen? In meiner Stellung in jenem Hause liegt es ganz von selbst, daß Alles, was dort geschieht, mich Nichts angeht. Mögen die Herrschaften meinetwegen treiben und thun was sie wollen, Geburtstage und Hochzeiten halten, wie es ihnen beliebt, ich glaube doch Bürgschaft genug zu bieten, daß ich sehr wohl weiß, was ich zu thun und zu lassen habe.«
»Hehe! – gut, so ist es!« erwiederte Helm zufrieden. »Laß sie machen, was sie wollen, kümmere Dich um Nichts. Mache Dich beliebt, angenehm, gieb keinerlei Anlaß zu Unzufriedenheit, Augen und Ohren fest zugemacht, sobald Du merkst, es könnte nützen – und höre noch Eins,« rief er dem Hauslehrer nach, der sich lächelnd umdrehte – »von heut Abend kein Wort. Verstanden? kein Wort! Es wäre denn« – er machte eine achselzuckende Bewegung, indem er beide Hände ausstreckte – »aber nein, jetzt noch nicht, keine Einmischung! Klug und vorsichtig nach allen Seiten. Und nun gute Nacht, und komme gleich zu uns, wenn es vorbei ist; ich muß hören, was der Minister gesagt hat, Lottchen auch.«
Lottchen fügte dieser Versicherung Nichts hinzu als ein sanftes, aber offenbar ungläubiges Lächeln. Sie begleitete dann die beiden Scheidenden hinaus, und an der Treppe gab es noch eine zärtliche Abschieds-Umarmung für die Frau Zoll-Inspectorin und einen halb furchtsamen, halb vermittelnden Händedruck für Rudolf, der in drei Tagen spätestens wieder hier zu sein versprach.
»Wenn nur nicht wieder eine Unmöglichkeit dazwischen kommt!« lispelte Lottchen hinterher; aber Rudolf schien es nicht gehört zu haben. Er rief von der Flur noch ein »Gute Nacht, Lottchen!« herauf, in das seine Mutter sehr bekräftigend einfiel, dann klappte die Thür zu.
Während des Weges bis zu ihrer Wohnung unterhielt die Wittwe ihren Sohn abwechselnd bald mit ihren neugierigen Betrachtungen über den Grund, weshalb Fräulein Schellbach zu dem Vetter gekommen, dem sie den Kopf ganz verdreht habe, bald mit ihrem Aerger, daß dadurch der ganze Abend verdorben sei; endlich aber langte sie bei den unerschöpflichen Tugenden Lottchen's an, und in ihrer Rührung darüber vergaß sie alle anderen Kümmernisse.
»Und das ist Alles geordnet,« sagte sie endlich, »da fehlt Nichts, so versorgt und ausgestattet ist nicht leicht ein Mädchen. Wenn sie heirathet, braucht nicht erst gewartet zu werden, um die Ausstattung anzuschaffen, alle Kasten sind voll. Seit Jahren hat sie den Vetter immer gebeten, wenn er ihr Etwas schenken wolle, solle es kein Putz und Staat, sondern Leinwand, Tischgedecke und Wirthschaftssachen sein, und das hat der Vetter gethan, wie es nicht bald Einer thut. Zum Geburtstag und zu Weihnachten, und wenn großer Markt war, suchte er ganze Stücke von allerbester Waare aus, auch Silberzeug, einen ganzen Kasten voll hat sie, und dann gab's immer noch baares Geld obenein, und Lottchen giebt keinen Pfennig unnütz fort, die hält das Ihrige fest zusammen.«
»Das ist sehr gut! – sehr gut!« erwiederte Rudolf, wie Einer, der irgend Etwas sagen will.
»Die wird eine Frau werden!« fuhr die Mutter fort, »eine zweite soll man suchen. – Und für Dich sorgt sie auch, sie ist schon dabei« – sie lachte in glückseliger Erinnerung – »ja, wirklich, sie ist schon dabei!«
»Sie sorgt für mich? Vielleicht zu viel,« sagte der Sohn vor sich hin.
»Nicht zu viel, bewahre! nicht zu viel, Rudolfchen. Sie ist so, sie sieht Alles, weiß gleich, was man nöthig hat; denn so einfach sie scheint, so hat sie doch mehr in ihrem Kopf als Manche, die Wunder denken, wie es bei ihnen beschaffen ist. Du kannst stolz sein, ja das kannst Du, wie ein König so stolz kannst Du sein.«
»Warum? worauf, Mutter?«
»Es ist ein Geheimniß, ich soll es Dir nicht sagen,« flüsterte die alte Frau vergnügt.
»Es scheint allerlei Geheimniß los zu sein,« erwiederte er.
Sie schwieg einen Augenblick, dann faßte sie ihn fester unter den Arm und fuhr leise fort:
»Hast Du denn nicht angesehen, was Lottchen näht?«
»Nein.«
»Und hast auch gar nicht danach gefragt?«
»Nein.«
»Was Du für ein blinder Heide bist! Sie näht Etwas für Dich.«
»Für mich?«
»Freilich,« sagte sie zutraulich. »Du bist jetzt in einem vornehmen Hause, alle Herren tragen da feine Faltenhemden, du armes Kind hast keine; trägst Vorhemdchen mit Bändern gebunden, das schickt sich jetzt nicht mehr für Dich. Nun habe ich Lottchen Dein Maß geben müssen, und danach hat sie sechs Hemden zugeschnitten, feine holländische Leinwand, es ist eine Pracht anzusehen, kein Baron kann sie besser haben. Aus einer Handlung hat sie sich ein Modell geliehen, nach der neuesten Mode mit einem Schock Steppsäumen und kleinen Falten, und nähen kann sie – da ist ein Stich wie der andere, wie eine Perlenschnur! Es kann Keine so nähen wie sie, und schneidern auch. Kein Schneider kommt in's Haus, sie näht Alles selbst; sie braucht nur einen neuen Schnitt zu sehen, so hat sie ihn weg.«
»Aber das setzt mich in große Verlegenheit, Mutter,« meinte Rudolf.
Die alte Frau stand still – denn sie waren eben vor ihrer Wohnung – und legte beide Hände auf seine Arme.
»Kind,« sagte sie, kichernd zu ihm aufblickend, »wie kann es Dich denn in Verlegenheit setzen? Was Dir Lottchen schenkt, kannst Du annehmen, und solch Geschenk – solch Geschenk – man weiß ja, wie es damit ist; Du wirst zu seiner Zeit ihr auch Etwas schenken. – Gute Nacht, Rudolfchen, knöpfe Dir den Rock zu, der Wind fängt an zu blasen. Und komm ja, wie Du versprochen hast, Lottchen hat sich so schon genug geärgert. Gute Nacht, mein Sohn! gute Nacht! Du wirst aussehen wie ein Prinz, gute Nacht, Rudolf!« – –
Als er nach Hause kam, war es spät, er hatte weite Wege und Umwege gemacht, jetzt lag Alles im Schlaf. Der alte Diener Paul, der seine Rückkehr erwartet hatte, öffnete die Thür und leuchtete ihm hinauf.
Der Knabe war friedlich und so folgsam gewesen, daß der alte Mann mit vielem Wohlgefallen davon sprach, wie der junge Herr in der kurzen Zeit ganz anders geworden sei. –
»Es ist wohl zu sehen,« sagte er, »daß er jetzt in die richtigen Hände gekommen ist; denn wie es bis dahin war, wurde es Nichts, es kümmerten sich zu Viele und doch gar Keiner um ihn; blos das gnädige Fräulein – ja die – aber die – daß Gott erbarm'!«
Die letzten Worte murmelte er vor sich hin und sah den Hauslehrer von der Seite an; da aber dieser Nichts erwiederte, so wünschte er wohl zu ruhen und entfernte sich.
Sie hassen sie Alle, murmelte Rudolf leise vor sich hin. Haß und Liebe der Menschen, es ist seltsam damit. –
Er öffnete das Fenster und sah in die milde Frühlingsnacht hinaus. Der Mond brach durch Dünste und weißliches Gewölk, matte Sterne zitterten durch feinen Nebel. Er legte den Arm auf das Kreuz des Fensters, legte den Kopf darauf und athmete die weiche Luft. –
Plötzlich klang neben ihm das Instrument; leise, süße Töne voll Trauer, voll Schmerzen und Klagen, wie er sie nie gehört, umschwebten ihn, und es war ihm, als würden sie Gedanken, die er lesen und verstehen könnte.
6.
Am nächsten Tage, als der Hauslehrer sich eben anschickte, seinen gewohnten Spaziergang mit Emil zu machen, erhielt er einen unerwarteten Besuch. Herr von Laxfeld trat in sein Zimmer.
»Ich habe eine kleine Bitte an Sie, Herr Doctor,« begann er, »zu welcher auch Frau von Schellbach mir Erlaubniß ertheilt hat.«
Er nahm einen Stuhl und deutete mit einer einladenden Handbewegung an, daß Rudolf seinem Beispiele folgen möge.
»Morgen,« fuhr er, die Füße kreuzend, dann fort, »ist, wie Sie vielleicht wissen werden, Fräulein Johanna's Geburtstag.«
Der Hauslehrer verbeugte sich beistimmend.
»Es gehört zu den liebenswürdigen Eigenthümlichkeiten des Fräuleins,« sagte der junge Baron lächelnd, »von jeder besonderen Feier dieses glücklichen Tages Nichts wissen zu wollen; diesmal jedoch hat die Zärtlichkeit ihrer Verwandten und Freunde beschlossen, sie zu überraschen. Am Abend wird eine größere Gesellschaft sich vereinigen, der engere Familienkreis aber schon beim Dejeuner versammelt sein, wo, wie Sie wohl denken können, die Glückwünsche erfolgen sollen.«
Rudolf verbeugte sich nochmals. Der Baron strich mit den Fingerspitzen durch sein glänzendes Haar und sah in den Spiegel, der an der Wand hing. Eine gewisse Selbstzufriedenheit war in seinen schönen Zügen; der schlanke, elegante Mann richtete sich ein wenig auf und schien einen Augenblick Etwas zu überlegen, indem er seinen Nachbar zugleich beobachtete. –
»Um gleich zum Ziele zu kommen,« sagte er dann, »so handelt es sich um ein sinniges Gedichtchen, das in einen Blumenstrauß gesteckt werden könnte. Kostbare Geschenke liebt das Fräulein nicht, aber einen Blumenstrauß, ein paar Verse – Sie errathen, lieber Doctor, was ich meine!«
»Ich glaube gewiß zu sein,« antwortete der Hauslehrer, »daß Frau von Schellbach wünscht, ich möge einige passende Verse entwerfen, die Emil …«
»Das wäre freilich das Beste,« fiel Laxfeld ein; »aber das Kind mit seinem Ungestüm und seiner Ungeschicklichkeit könnte leicht unser Vorhaben verderben, darum will ich selbst mich dem unterziehen.«
Die Blicke der beiden jungen Männer begegneten sich. Der Baron lächelte und nickte leichthin, doch bedeutsam. Das Verständniß war fertig.
»Ich bin nur leider ein schlechter Gelegenheits-Dichter,« sagte Rudolf, dem eine plötzliche prickelnde Hitze über den Kopf fuhr, während sein Gesicht so farblos blieb, wie es immer war. »Sie, Herr Baron, werden mich gewiß darin weit übertreffen – namentlich bei einer Feier wie diese,« setzte er mit sinkendem Tone hinzu.
Um die Lippen des jungen Herrn spielte ein eigenthümlicher, spöttischer Ausdruck, den seine Augen aufnahmen, als er den Widerwillen des Doctors bemerkte. –
»Frau von Schellbach hat also doch Recht,« erwiederte er belustigt: »sie sagte es mir vorher, daß Sie sich sträuben würden.«
»Frau von Schellbach … ich bin in der That nicht im Stande.«
»Aber, lieber Doctor,« lachte der Baron, »Sie werden von allen Seiten gebeten. Fräulein Johanna weiß allerdings Ihre großen Verdienste nicht ganz zu würdigen, doch nicht ihretwegen, sondern um uns zu erfreuen, bitten wir um Ihre Beihülfe, von der überdies kein Mensch Etwas erfahren soll. Ich dagegen werde mich glücklich schätzen, Ihnen in jeder Weise der zu sein, wie ich es nur vermag.«
»Herr Baron,« sagte Rudolf, jetzt dunkel erröthend, »ich werde gern Ihren Willen nach Kräften ausführen, nur muß ich fürchten, nicht zu genügen, und jedenfalls kann von keinerlei Belohnung die Rede sein.«
Laxfeld nickte lächelnd.
»Machen Sie nur das Gedicht.« fuhr er fort; »freundliche Dienste erfordern Gegendienste. – Ihr Zartgefühl, Herr Doctor, will ich nicht verletzen. Wenn dieser Geburtstag glücklich vorüber ist, soll es mir wahrhaftes Vergnügen gewähren, Sie meinem Onkel, dem Minister, so nahe wie möglich zu bringen.«
Er stand auf und wiederholte sein gnädiges Kopfneigen.
»Zeit haben wir nicht viel,« sagte er dann, »heut Abend muß das Gedicht in meinen Händen sein. Lassen Sie den Emil heute laufen, wohin er will, und machen Sie sich an's Werk. So kurz wie möglich, aber recht schwungvoll und möglichst pointenreich. Sie wissen ja, was junge Damen gern haben. Nur nicht sentimental, dafür ist Fräulein Johanna nicht. Legen Sie Sehnsucht hinein, Innigkeit und feurige Empfindungen; die Blumen werden die ausgewähltesten sein, die zu bekommen sind.«
Herr von Laxfeld befahl die Anfertigung und den Inhalt des Gedichtes mit der Miene und dem Tone eines Herrn, der seinem Secretär einen Brief zu schreiben befiehlt, und der Hauslehrer nahm das Recept mit der duldenden, höflichen Schweigsamkeit eines Untergebenen in Empfang.
»Noch Eins – ein Wort im Vertrauen, lieber Doctor« – sagte der Baron, indem er seine Hand auf Rudolf's Arm legte. »Es wird Ihnen nicht verborgen sein, was ich beabsichtige, lassen Sie also meine Gefühle durchleuchten. Am Schluß besonders müssen diese hervortreten. Ungefähr: die Hand, welche Dir diese Blumen reicht, wird Dich durch ein Blumenleben führen oder Dich mit Rosenketten umwinden; kurz, wie Sie wollen, nur daß eine solche Phrase nicht fehlt.«
»Ich werde es nicht vergessen,« antwortete Rudolf demüthig.
»Gut. Um sieben Uhr werde ich im Salon sein. Kommen Sie herunter und lesen Sie uns das Gedicht vor.«
»Ich werde erscheinen, Herr Baron.«
»Endlich – doch das versteht sich von selbst – keinem Menschen ein Wort davon! Ich würde mich selbst gern der kleinen Arbeit unterziehen, allein mir fehlt es leider an Zeit. Da Sie mir den gefälligen Dienst leisten, für den ich immer dankbar sein werde, so muß ich mich mit Ihren Federn schmücken, und ich hoffe, Sie haben Nichts dagegen.«
»Nicht das Geringste.«
»Also es bleibt dabei, um sieben Uhr,« fuhr Laxfeld erfreut fort. »Noch ein letztes Wort. Ich habe Ihren Verwandten, den Disponenten in Schellbach's Geschäft kennen gelernt. Er scheint Ihnen sehr zugethan zu sein.«
»Er ist mir ein zweiter Vater gewesen,« sagte Rudolf.
»Jedenfalls ist er ein zuverlässiger Mann, auf dessen Wort zu bauen ist.«
»Ohne Zweifel beweis't dies schon das langjährige Vertrauen des Hauses, dessen Geschäfte er leitet.«
Der Baron schien noch Etwas sagen zu wollen, aber nach einem augenblicklichen Besinnen brach er ab. –
»Sie haben Recht!« rief er dann, »er muß alle Verhältnisse genau kennen und dieses Vertrauen verdienen. Auf Wiedersehen denn, Herr Doctor Jachtmann!«
Als er fort war, ging auch Rudolf, um seinen Schüler aufzusuchen, der sich inzwischen in dem Garten herumtummelte. In der Ferne erblickte er ihn bald am Rande des Parks, wo er unter der frischgrünenden Bäumen vor zwei Damen herlief, die dort auf und ab gingen. In der einen erkannte er sogleich Fräulein Johanna, in der anderen vermuthete er Frau von Schellbach; doch schon nach wenigen Schritten sah er, daß es eine Fremde sei; und wie hätte Johanna auch mit ihrer Schwägerin so vertraulich Arm in Arm gehen mögen wie mit dieser!
Langsam näherte er sich den beiden Lustwandelnden, die in lebhaftem Gespräche zu sein schienen und, da sie vor ihm her gingen, ihn auch nicht bemerkten. Er hörte dagegen die helle klingende Stimme der Fremden um so besser, weil der Luftzug sie ihm zuführte, und ganz deutlich verstand er zuletzt die Worte:
»Es ist Thorheit, Johanna; aber was ist denn Weisheit? Jeder Mensch will seine Freiheit bewahren und soll doch seine Bestimmung erfüllen. Wie kann man das besser, als ohne von Leidenschaft verblendet zu sein! – Sieh da, wer ist das?«
Bei den letzten Worten drehte sie sich um, und eben trat Rudolf aus den Fliederbüschen hervor, die eine Art Laubengang bildeten.
»Der Hauslehrer,« sagte Fräulein Schellbach.
»O, der also!« antwortete die Fremde.
Der große Hund, welcher auf dem Rasen lag, hatte sich aufgerichtet und kam dem Doctor entgegen. Gegen seine sonstige Gewohnheit war er sehr freundlich, wedelte mit seinem mächtigen Schweif und legte schmeichelnd den Kopf auf Rudolf, der erkenntlich sein langes gelocktes Haar streichelte.
So geleitet, war er nur noch wenige Schritte entfernt, als er ehrerbietig grüßte und mit einigen Worten die Störung zu entschuldigen bat.
»Sie suchen Emil,« sagte Johanna, ihn zu seinem Erstaunen anredend. »Sie haben auf den wilden Jungen eingewirkt und scheinen überhaupt beruhigende Eigenschaften zu besitzen. Der Hund ist selten freundlich gegen Jemand, den er nicht genau kennt.«
»Thiere,« erwiederte Rudolf lächelnd, »fühlen instinktmäßig oft besser als Menschen das Wohlwollen, das man für sie hegt, und wissen ihre Freunde zu erkennen.«
»Man weiß leichter, wie man mit ihnen steht,« antwortete sie, »denn sie wissen sich nicht zu verstellen.«
Die Fremde hatte zugehört und sagte nun lächelnd:
»Mit solcher Philosophie kann man dahin kommen, in den Thieren wahre Propheten Gottes zu erkennen und ihnen besondere Begabung beizulegen. – Ich liebe die Thiere auch. Ich sehe gern, wenn schöne farbige Vögel sich wiegen, höre die Frühlingssänger sehr gern, oder bewundere Kraft, Muth und Gewandtheit; aber ich kann die Kluft nicht überwinden, die den Menschen von der Natur trennt. Zur Natur gehören alle Geschöpfe, die in ihr und mit ihr leben und Befriedigung bei ihr finden. Der Mensch dagegen, der über alle gebietet, die Natur und ihre Erzeugnisse ausbeutet, künstlerisch schafft und geistig die ganze Welt in Beschlag nimmt, ist ein Wesen, das einen anderen Platz beansprucht.«
»Also ein höheres, besseres, göttliches Wesen,« erwiederte Johanna, und mit ihrer harten, spottenden Stimme setzte sie hinzu: »Wo diese Göttlichkeit eigentlich zu finden ist, habe ich noch nicht entdecken können.«
»Herr Doctor,« sagte die Fremde, »darin müssen Sie mir beistehen. Sie sind kein geistlicher Herr, der die Religion zur Hülfe rufen möchte, aber Sie sind ein Gelehrter, ein Verkündiger der Größe des menschlichen Geistes, der ein Recht auf ihre Vertheidigung hat.«
Während sie sprach und stritt, hatte Rudolf Zeit gehabt, sie zu betrachten, und ihr schönes, geistvolles Gesicht heimlich bewundert. Sie war mehr üppig als schlank von Formen. Ihr dunkles Haar lag von der Stirn nach hinten gekämmet und halb lockig gerollt; hoch gewölbte Augenbrauen, die fest zusammen liefen, vermehrten die kühne und interessante Lebendigkeit ihrer Augen, deren Feuer von langen, schwarzen Wimpern gemildert wurde. Ihre Lippen waren stark wie die ganze fleischige Bildung; aber es war keine todte Masse, sondern überall von geistiger Regsamkeit beherrscht, und die raschen und doch nirgend übertriebenen Bewegungen des Körpers und der Hände, mit denen sie ihre Worte begleitete, bezeugten ihr lebhaftes Empfinden und dessen geregelte Beherrschung.
»Wie ich glaube,« sagte Rudolf …
»Warten Sie noch einen Augenblick,« unterbrach sie ihn. »Ich kann es nicht leiden, daß zwei Menschen eine Unterredung halten, ohne zu wissen, an wen sie ihre Gedanken richten. Du mußt uns gegenseitig bekannt machen, liebe Johanna.«
»Meine Freundin, Frau von Stern,« sagte Fräulein Schellbach so ernsthaft eintönig wie immer.
»Das ist genug,« antwortete die schöne Frau. »Ihren »Namen habe ich schon gehört. Herr Doctor Jachtmann. War es nicht so, Johanna?«
»Ja, Julie.«
Also dies war Julie Stern! Rudolf warf einen so festen inhaltsvollen Blick auf sie, daß sie mit einer kleinen schalkhaften Verbeugung fragte, ob er sich ihrer aus früherer Zeit erinnere.
»Wenigstens Ihren Namen habe ich gestern schon einmal nennen hören,« erwiederte er.
»Mein Name war also eher hier, als ich. Wo haben Sie ihn gehört?«
»Bei meiner Cousine,« sagte er zögernd. »Sie werden sie kennen, gnädige Frau, Fräulein Charlotte Wilke.«
»O, Lottchen Wilke! das gute Lottchen!« rief Frau von Stern.
Ihre Augen schienen voll von Erinnerungsfreundlichkeit, sie that ein paar kurze Fragen und sagte dann lebhaft:
»Wer kann es ihr mitgetheilt haben, daß ich kommen würde?«
Rudolf blickte das Fräulein an, die dieser Aufforderung, welche eigentlich an sie gerichtet war, keine Folge leistete.
»Vielleicht,« ließ er nun sich selbst hören, »hat es der Medicinalrath gethan.«
Die Augen der schönen Frau öffneten sich weiter, sie blickte ihn an, als wollte sie Etwas errathen, aus ihm heraus lesen, während ihre Züge von dem freundlichsten Lächeln belebt wurden.
»Ja, das ist möglich,« sagte sie dann, »so wird es sein. Der Medicinalrath, o, der Verräther! Nun aber, Herr Doctor, fahren Sie fort, vertheidigen Sie die Würde der Menschheit, das Göttliche in uns.«
»Wie ich glaube,« begann Rudolf nochmals, »dürfen wir uns auf keine philosophische Untersuchung über die beiden Seiten der Schöpfung, über Geist und Natur, einlassen, eben so wenig aber in die Untersuchungen der neuen Lehre radicaler Naturforscher eingehen, welche dem Menschen alle göttlichen Vorrechte absprechen und Nichts weiter in ihm sehen als ein sterbliches, vergängliches, mit manchen eigenthümlichen Eigenschaften ausgerüstetes Thier, das denselben Ursprung und dasselbe Ende hat wie alle übrigen minder organisirten und minder entwickelten Geschöpfe der Natur.«
»Das hört sich entsetzlich an, das ist unchristlich und unheilig!« rief Frau von Stern.
»Wir dürfen uns damit nicht befassen,« fuhr der junge Gelehrte lächelnd fort; »allein was jene das Christenthum nicht beachtenden Forscher auch sagen mögen, so giebt es doch Etwas, das eben die tiefe Kluft zwischen Menschen und allen übrigen Wesen bildet und seine edlere, wie Sie sagen, göttliche Natur beweist.«
»Und das ist?« fragte Frau von Stern.
»Das sittliche Bewußtsein,« erwiederte Rudolf. »Das Gefühl des Guten und Wahren; das jeder Mensch in sich trägt, und wäre er der Verworfenste.«
»Sehr gut!« rief die Dame. Sittlichkeit, sittliches Gefühl, was sagst Du dazu, Johanna? – Doch warum nicht Glaube, Religion, Furcht vor Gott?«
»Weil es viele giebt,« sagte der Doctor, »die weder Glauben noch Religion haben und Gott so wenig fürchten, wie dies Tiger oder Affen thun. Jeder Mensch aber hat Etwas in sich, das er niemals loswerden kann, was er Vernunft, Denken oder Nachdenken, Gewissen oder Bewußtsein nennt, das seine Handlungen bestimmt und diese beurtheilt.«
»Und daraus, aus dem vielen Unvernünftigen und Schlechten, das in der Welt geschieht, wollen Sie Ihre Göttlichkeit beweisen?« fragte das kleine Fräulein.
»Ich will Nichts beweisen,« erwiederte Rudolf, »als daß wir im Guten wie im Bösen als bewußte Wesen handeln, während das Bewußtsein des Thieres von untergeordneter Art ist.«
»Das heißt,« antwortete sie lebhaft, »Menschen machen Pläne zum Betrug, zum Verrath und Verderben ihrer Mitmenschen, während das Thier nur einer einfachen Eingebung oder einer Gewohnheit folgt.«
»Aber Menschen machen auch Pläne zur Erstrebung des Guten und Schönen,« sagte der junge Mann. »Ihre Freundschaft, ihre Treue, ihre aufopfernde Liebe und Anhänglichkeit hat, weil sie vom Bewußtsein getragen wird, eine ganz andere Kraft und Bedeutung.«
»Sehr schön! sehr vortrefflich!« rief Frau von Stern.
Johanna Schellbach hob ihre Hand auf, in welcher sie eine Fliederblüthe hielt, und indem sie diese auf Rudolf's Brust legte, trat sie dicht vor ihn heran und sah ihn mit den dunklen, glänzenden Augen fest an. –
»Sie,« sagte sie, »der so schön zu sprechen weiß, glauben Sie denn wirklich, daß Menschen wahr und treu sein können?«
»Es wäre Frevel, daran zu zweifeln!« erwiederte er, erröthend vor ihrer Nähe und ihren Blicken.
»Und sind Sie selbst solch ein Ritter der Wahrheit, daß Falschheit und Lüge gar keine Macht über Sie haben?«
Mein Gott! sprach er in sich hinein, indem er sie besorgt ansah, was geht in ihr vor? –
»Ich glaube,« sagte er dann laut, »daß ich zu denen gehöre, die Falschheit und Lüge verachten.«
»Doch wenn diese Vortheile bringen?« rief sie triumphirend, »wenn man einsieht, daß Wahrheit schadet, Lüge nützt? Man nennt das Lebensklugheit, nennt man es nicht so? – Was denken Sie davon?«
Nicht ohne Verwirrung stand Rudolf unter ihren forschenden Augen. Was sie sprach, lautete beinahe, als habe sie den Sermon des Vetters mit angehört, obwohl sie weit davon war, und über ihre schmalen Lippen lief ein spöttisches Zucken, wahrend ihre Blicke sanft und kummervoll wurden und ihre Stimme so weich und schmerzlich klang wie gestern, als sie sagte, daß sie verlassen in der Welt sei.
»Ich denke,« antwortete er, »daß solche Lebensklugheit, wie Sie diese schildern, erkannt und verachtet werden muß, wo sie sich zeigt. Wo es gilt, die Wahrheit zu Ehren zu bringen, wird kein Vortheil den sittlich guten Menschen bewegen können, sich zu erniedrigen.«
Johanna antwortete nicht, aber es leuchtete Etwas über ihr Gesicht wie junger Sonnenschein, der durch eine Nacht bricht und einen Wald voll frischer Blüthen beglänzt.
»Du lieber Engel!« rief Julie von Stern, indem sie ihre Arme um die Freundin schlug, »in Deinen himmlischen Augen liegt für den Ungläubigsten die Ueberzeugung menschlicher Göttlichkeit. Wer kann in Deiner Nähe an Wahrheit und treuer Freundschaft zweifeln? – O, gewiß! es giebt viel Böses und Gemeines in dieser leichtfertigen, selbstsüchtigen Welt, aber noch weit mehr Gutes und Erhabenes, und über das Gewöhnliche und Niedrige müssen edle Seelen sich beruhigen.
Wohin sind wir doch mit unserer Unterhaltung gerathen!« fuhr sie lachend fort, als sie keine Antwort erhielt; denn Johanna sah nachsinnend in die Ferne oder nach dem Hause, auf dessen Terrasse so eben ihr Bruder in Begleitung des Herrn von Laxfeld erschien, und Rudolf richtete seine Blicke auf Emil, der mit allerlei Gras und Kraut herbei eilte, deren Namen und Beschreibung er von seinem Lehrer forderte. –
»Es ist sonderbar,« sagte sie, »wie es Menschen giebt, mit denen nicht zu spaßen ist, weil die leichteste Causerie bald eine gewisse ernstere oder tiefere Wendung nimmt, während Andere niemals ernsthaft bleiben können und mit den schwierigsten Dingen in's flache Wasser schwimmen.«
Der anmuthige Ausdruck in ihrem Gesichte ließ errathen, daß sie dem jungen Doctor eine Schmeichelei sagen wollte, während sie ein paar ihrer schalkhaften Blicke den beiden Herren entgegen schickte, welche sich langsam näherten.
Rudolf antwortete mit einer Verbeugung und einigen Worten des Abschiedes.
»Ich hoffe, wir sehen uns öfter, da ich einige Wochen zu bleiben gedenke,« sagte die schöne Frau.
Er verbeugte sich nochmals und ging, mit dem Knaben, der nicht länger warten wollte. Fräulein Johanna neigte sich leise gegen ihn; sie hatte das liebliche Lächeln noch in ihren Zügen, die wunderbar dadurch verschönt wurden.
7.
Der Hauslehrer kehrte nach einer Stunde von seinem Spaziergange zurück; zerstreuter war er nie gewesen, unruhiger hatte er sich nie gefühlt. Er konnte Nichts mehr weder von den Damen noch von den Herren entdecken und hörte von dem alten Paul, daß sie sämmtlich nach der Stadt gefahren seien, weil Frau von Stern die neuen Einrichtungen im Hause des Herrn von Schellbach sehen sollte.
»Wohnt die Dame hier?« fragte er den Diener.
»Wir werden sie bekommen,« sagte der Alte. »Heute früh ist sie mit der Eisenbahn zugereist, und bis hier die Festlichkeiten vorüber sind, will sie im Gasthofe bleiben.«
»Es ist eine Freundin des Fräuleins …«
»Eine Verwandte, so eine Art Cousine,« antwortete Paul redselig. »Der selige Herr ließ sie erziehen, oder nahm sie vielmehr in's Haus, und sie wurde mit unserem Fräulein zusammengethan, bis er starb, und da war es aus. Aber gesorgt hatte er doch für sie, hatte ihr eine Summe ausgesetzt, wofür sie in eine Pension gebracht wurde, wo man Lehrerinnen erzieht. Da sollte sie selbst so Etwas werden und wurde es auch, kam in das Haus eines alten gnädigen Herren, ich habe ihn recht gut gekannt, er war mehr als einmal hier, war auch so ein Verwandter von dem jungen Herrn Baron Laxfeld. Was geschah aber? Kaum war sie ein Jahr da« – er lachte pfiffig auf und faßte sich an's Ohr – »na, Sie können wohl denken, was geschah – richtig, der Alte heirathete sie. Ja, meiner Seele, Herr Doctor, er hat sie geheirathet! Wie Tag und Nacht war es; er hatte Haare wie Schnee so weiß, aber sie hat ihn doch genommen.«
»Das ist eben nichts Besonderes,« sagte Rudolf, »daß junge schöne Mädchen alte Männer heirathen, die ihnen dafür Titel und Geld und ein Leben voll Freuden geben.«
»O ja, wenn es das gewesen wäre, so ließe es sich hören,« antwortete der alte Mann; »aber es war Nichts, sie hatte sich angeführt. Schulden waren da, die Kinder taugten Nichts, waren meist schon erwachsen und voller Aerger und Wuth, und dann – mit dem Leben voll Freuden war es auch nicht weit her. Der alte Herr« – er machte mit der Hand die Bewegung, als führe er ein Glas an den Mund und kippte es um – »verstehen Sie, Herr Doctor? Wenn Einer alle Tage zu tief hinein sieht, kann's nichts Gescheidtes werden.«
»Das ist traurig. Die arme Frau!« murmelte Rudolf.
»Na,« sagte Paul, »jetzt ist er todt. Weihnachten war's jährig. Kam voll nach Hause gefahren; wie sie den Wagen aufmachen, liegt er drinnen und rührt kein Glied mehr. Groß Trauern und Herzleid ist nicht um ihn gewesen, das können Sie denken, denn ihr geht's besser, wie vorher. Mit den Kindern ist sie aus einander, hat auch Etwas heraus bekommen, und unsere Herrschaft sorgt auch. Jetzt will sie wieder in die Stadt ziehen.«
»Sie wohnte also seither auf dem Lande?«
»Freilich,« versetzte Paul, »auf einem Gute, und vorigen Sommer und Herbst ist unser Fräulein bei ihr gewesen, sogar im Winter auch wieder, und wenn sie nicht da war, kam die gnädige Frau hierher. Es ist eine Freundschaft zwischen Beiden aus der Kinderzeit, das läßt nicht los, und dann passen sie auch gut zusammen. Unser Fräulein ist immer ernst und für sich, sitzt und malt oder macht Musik und liest, hält Nichts von Gesellschaften und Lustbarkeiten; die Andere aber ist lauter Leben und Freudigkeit, möchte immer sprechen und auf den Beinen sein und hat für alle Leute ein gutes Wort und ein Kopfnicken und einen Spaß.«
»Das Fräulein,« sagte der Doctor mit einiger Anstrengung, »ist wohl überhaupt … ich meine, nicht sehr beliebt?«
»Nein,« antwortete der greise Diener leiser, »sehr beliebt ist sie nicht, weil's so in ihrem Wesen liegt, kurz angebunden zu sein, ohne viele Freundlichkeit, meisthin, als ob Einer ihr im Wege wäre; aber gut ist sie doch, Herr Doctor, gut ist sie doch. Wie ich krank war, habe ich es gesehen. Wie Keiner in meine Kammer kam, kam sie, und wie ich wieder aufsaß – ich hör's noch, wie sie sagte: Alter Paul, Du darfst mich nicht verlassen, bist ja mein guter getreuer Freund! und dabei machte sie ein Gesicht, wie ein Engel, so voll Güte und Liebe.«
Rudolf brach das Gespräch ab, er hatte genug gehört. Johanna schwebte vor ihm mit dem Lächeln, das er heute zuerst bemerkte, und mit den klaren, tiefblickenden Augen, die ihn noch immer anschauten. Je mehr er aber überlegte, desto mehr entschwand der Zauber, der ihn gefangen hielt. Er dachte an sich im Vergleich zu ihr, und statt des verblassenden Bildes sah er plötzlich Lottchen, wie sie am Tische saß, die Bräutigams-Ausstattung nähte und die blonden Locken schüttelte.
Es war vorbei mit allem wesenlosen Träumen. Er sollte ein Gedicht machen, wie Herr von Laxfeld es befohlen, und indem er mit der Hand über die Stirn fuhr, lachte er laut und hohnvoll auf.
»Warum lachst Du denn so sehr?« fragte Emil, der eben herein sprang.
»Ah! bist Du da?« antwortete Rudolf. »Ich lache, weil Du heut den ganzen Tag umherspringen kannst und Nichts zu lernen brauchst.«
»Warum soll ich Nichts lernen?« fragte das Kind.
»Weil ich Dich frei geben und an Deiner Stelle bei Büchern und Papier schwitzen werde.«
»O, Du brauchst Nichts zu lernen!« rief Emil, »Du weißt Alles! Ich habe es der Tante Julie auch gesagt, die meint aber, sie wüßte noch mehr.«
»Und darin hat sie sicherlich Recht,« erwiederte der Doctor. »Jetzt geh und springe umher, bis ich Dich wieder einfange.«
Er setzte sich an den Arbeitstisch und schrieb nach allerlei wirren Anfängen ein Gedicht nieder, das, je länger er daran arbeitete, um so mehr lebendig von ihm empfunden wurde. Er dachte nicht mehr daran, daß er dafür gedungen war, daß er die Maschine sei, aus der Empfindungen und Gedanken kommen sollten. Ein heißer Strom rollte ihm durch Brust und Kopf; Bilder und Worte kamen, er wußte nicht wie, und er gab sich ihnen hin, als seien sie der Ausdruck seines innersten Lebens.
Als er aufhörte, starrte er entzückt darauf nieder, und leise murmelte er die wohllautenden Verse. Da war auch der Schluß wie er sein sollte: die schönste Blume forderte der Gärtner für sich selbst, um ewig anbetend vor ihr zu knieen.
Rudolf fuhr mit der Hand durch die Luft und schleuderte das Papier auf den Tisch. Mitten durch seine poetische Begeisterung, durch sein sanftes, entzückendes Lächeln brach sich die Wahrheit Raum – denn in der Zimmerecke schlug die Glocke an, die ihn zum Tische seines Herrn rief, und alle seine Illusionen verschwanden vor dieser mahnenden Stimme.
Als er in das Eßzimmer trat, fand er die Familie schon an ihren Plätzen. Seine ehrerbietige Begrüßung wurde in der gewöhnlichen herablassenden Weise erwiedert, und schweigsam wie immer, wenn er nicht aufgefordert wurde, hörte er dem Geplauder zu, das fortgesetzt zwischen dem gnädigen Herrn und Frau von Stern geführt wurde. Sie war die einzige Fremde, denn der Baron fehlte heute, aber sie brachte Regsamkeit in den ganzen kleinen Kreis. Selbst Frau von Schellbach war gesprächiger, und die Art, wie sie mit der Freundin ihrer Schwägerin umging, bewies, daß sie ihr geneigt sein mußte.
Es war auch kaum möglich, dies nicht zu sein. Alles, was die schöne Frau sagte, hatte etwas Einnehmendes und Einschmeichelndes. Bald klang es muthwillig herausfordernd und neckisch, bald waren es keck hingeworfene Behauptungen und drollige Einfälle, die eben so wohl auf die Anwesenden wie auf Abwesende Bezug hatten. Ihr Lachen war so ansteckend, daß die Anderen mitlachten, selbst wenn der Sinn ihrer Worte eben nicht dazu aufforderte; allein ihre Spöttereien und Witzeleien wurden eben so schnell durch feine Schmeichelworte vergütet, und trotz aller Lebhaftigkeit ihrer Unterhaltung wußte sie diese doch immer in das rechte Maß des Schicklichen zu bannen.
Ohne Zweifel, sagte Rudolf heimlich zu sich selbst, ist dies eine Frau von feiner Weltbildung und großem Verstande, der alle ihre Gefühle regelt und beherrscht. Sie wird von diesen Leuten da eben deswegen geachtet, vielleicht selbst gefürchtet; denn wie würden sie sonst mit der armen Verwandten, die sie unterstützen, in solcher Weise umgehen? Diese hat sich mit ihnen auf den Fuß der Gleichheit gesetzt. Sie ist schön, sie ist jung und liebenswürdig, sie ist eingeweiht in alle Geheimnisse und Künste der Gesellschaft; sie hat einen Namen, den sie mit jahrelangem Unglück erkaufte, aber was thut es, sie hat ihn doch! Ist es etwa dieses Unglück, ihre Jugend, ihre Verlassenheit oder ihre Tugend, was diese Menschen bestimmt, Theilnahme und Zuneigung zu fühlen? Gewiß nicht. Wenn sie blaß und schweigend, furchtsam und bittend an ihrem Tische säße, sie würden hochmüthig sein; aber sie ist frisch und lebhaft, sie weiß ihre Zunge und ihre Augen zu gebrauchen, sie vertraut sich selbst, darum weiß sie zu leben, und vielleicht …
Er richtete seine Blicke nachdenkend auf sie. Julie erzählte eben Etwas, wobei ihre Augen besonders glänzten; dann nahmen diese plötzlich einen Ausdruck sanfter Bescheidenheit an, und nachdem sie den Hauslehrer angeschaut hatte, schlug sie ihre langen Wimpern lächelnd nieder.
»Ich glaube,« sagte sie, »auch Herr Doctor Jachtmann wird mir Recht geben. Nicht wahr?«
Rudolf wußte nicht, was er sagen sollte.
Damen haben immer Recht,« antwortete er, sich verbeugend.
»O! das ist galant,« antwortete sie, »aber leider nicht wahr. Sagen Sie Ihre aufrichtige Meinung.«
»Ich muß bekennen,« erwiederte der junge Gelehrte verwirrt, »daß ich …«
»Daß Ihre Gedanken sich mit höheren Gegenständen beschäftigten,« fiel sie ein. »Sind Sie auch ein Dichter, Herr Doctor?«
»Wer zuweilen Verse macht, ist deswegen noch kein Dichter,« war die Antwort.
»Also Sie machen Verse? Das ist schön! Ich liebe Verse, und Johanna ist eine kleine Poetin. Als wir noch Kinder waren, schwärmten wir schon für Gedichte. Sie müssen uns Etwas von Ihren Poesien vorlesen, Herr Doctor, ich bin überzeugt, daß es Vorzügliches ist.«
Frau von Schellbach warf ihrem Manne einen eigenthümlichen Blick zu. Der Doctor sagte erröthend:
»Meine Versuche sind von der Art, daß ich sie auch der nachsichtigsten Kritik nicht aussetzen darf.«
»Aber wenn wir bitten!« rief die Dame. »Johanna sowohl wie meine theure Cousine werden sich mit mir vereinigen. Gewiß sind es zarte Gefühle, lyrische Ergüsse, eine Blumenlese voll Phantasie und edler Schwärmerei.«
Sie lächelte so reizend bei diesen Worten und sah so schelmisch drohend aus, daß Rudolf, noch mehr verwirrt, mit der Gabel dermaßen an das Weinglas schlug, daß dieses sein Gleichgewicht verlor und der Inhalt überfloß.
»Hoho!« sagte Herr von Schellbach, »setzen Sie unseren guten bescheidenen Doctor nicht in zu große Verlegenheit. Gelehrte Herren haben selten Ueberfluß an Phantasie und sind am allerwenigsten Poeten. Kein Naturforscher ist bis jetzt ein Dichter gewesen.«
»Goethe!« antwortete Fräulein Johanna, die ganz schweigsam gewesen war.
»Ah! was da! – Wer ernsthafte Studien macht, kann keine Komödien und Gedichte schreiben.«
»Schiller!« sagte Johanna nochmals. – »Lessing!«
»O! Gelehrte so obenhin können Manche sein,« rief der gnädige Herr ärgerlich, »aber ein Professor, ein Mann von Fach, ist eine andere Sache.«
»Schiller war Professor,« sagte das Fräulein. »Uhland auch.«
Frau von Schellbach kam ihrem Manne zu Hülfe, der zum Schweigen gebracht war.
»Sei dem wie ihm sei,« sagte sie, »Gelehrte und Dichter haben wenigstens das gemein, daß sie zerstreut sind. Eine der köstlichsten Figuren dieser Art kommt in Eugen Sue's Mathilde vor. Haben Sie die Mathilde nicht gelesen, Herr Doctor?«
»Ich lese wenige Romane, gnädige Frau, französische gar nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich habe keine Zeit dazu, und was ich von den beliebtesten und gepriesensten oberflächlich angesehen, machte mir den Eindruck von Unnatur und Unwahrheit auf Kosten des guten Geschmackes.«
»O, dieser Gelehrte ist köstlich!« rief Frau von Stern, indem sie Rudolf anblickte und ihrer gereizten Cousine zulächelte. »Er ist so ehrlich, so plump, so einfältig und so aufrichtig, als käme er aus einer andern Welt oder aus Deutschland. Nichts ist vor ihm sicher. Er wirft Tassen um, zerbricht Stühle, zertritt Schoßhündchen und weiß nie, wovon gesprochen wird, denn er versetzt sich mitten in der Gesellschaft nach irgend einem Winkel des Mondes und denkt über das Geheimniß nach, woher der erste Anstoß in der Schöpfung kam. – Sie müssen das lesen, Herr Doctor; gewiß, das müssen sie lesen!«
Herr von Schellbach schlug ein ungeheures Gelächter auf und gerieth in Gefahr, an einem Fasanenbein zu ersticken.
»Das ist vortrefflich!« rief er. »Eine wundervolle Satyre auf die gelehrten Herren.«
»Eine Satyre, ja, aber auch Nichts weiter,« fuhr Frau von Stern fort. »Von Gelehrten ist nicht zu verlangen, daß sie, wie die leichtfertigen Herren unserer Modewelt, zierlich und angenehm unterhalten, sich bewegen, tragen und kleiden sollen. Ein Gelehrter muß meines Erachtens sich schon von Weitem ankündigen. Er muß etwas Einfaches, Schlichtes, Würdiges besitzen.«
»Das heißt, er muß kein Geck sein,« sagte Johanna.
»O! das darf überhaupt kein Mann sein, und wer,« fragte Julie lächelnd, indem sie sich zu ihrem Nachbar wandte, »wer glaubt das auch von sich selbst, und wer darf hoffen, uns zu gefallen, wenn wir ihn in solchem Lichte sehen? Wir verlangen gewiß nach unserer Stellung, unseren Ansprüchen und unseren Eigenthümlichkeiten sehr verschiedene Eigenschaften von dem, der unsere Aufmerksamkeit erregt; aber lächerlich darf uns ein Bewunderer niemals erscheinen, und das ist es, was alle Frauen mit wenigen Ausnahmen gemein haben. Der Gelehrte erweckt unsere Achtung!«
Sie drehte sich dabei ein wenig zu dem Hauslehrer, und mit einer leisen unnachahmlichen Senkung ihrer Augen sagte sie ihm, daß er gemeint sei.
»Gut, Herr Doctor,« rief Schellbach lachend, »lassen Sie uns auf diese Achtung anstoßen. Wenn ich aber ein junger Gelehrter wäre, ich würde nicht damit zufrieden sein. Denn die Achtung ist ein Attribut des Alters. Wenn die Damen uns achten, haben wir Nichts weiter zu hoffen, und wenn ein Gelehrter so ein rechtes Ungeheuer an Weisheit, Falten und langschößigem Klapprock ist, hat er die allermeiste Achtung zu erwarten.«
Fräulein Johanna stieß ihren Stuhl zurück und stand auf.
»Falsch und unwahr ist Alles, was Du sagst, Bruder Martin,« antwortete sie. »Ohne Achtung wird jeder Mann verächtlich. Nur wo man achtet, kann man lieben; weil aber oft Liebe da sein soll, wo keine Achtung ist, so …«
Sie warf das Tellertuch fort und entfernte sich.
»Nun so – was so?« fragte ihr Bruder, das Glas an den Lippen.
»So giebt es viele miserable Ehen,« sagte sie, indem sie hinausging.
Ein ziemlich gewaltsames Lachen machte den Beschluß des Mahles, und obwohl das Thema sofort abgethan war und anderen, gleichgültigeren Gesprächen Platz machte, so schien doch die letzte Aeußerung des wahrheitsliebenden Fräuleins eine verstimmende Nachwirkung zurück zu lassen. –
Herr von Schellbach trommelte nach seiner Gewohnheit eine Zeit lang mit den Fingern auf den Tisch und folgte dann plötzlich seiner Gemahlin, die sich in's Nebenzimmer zurückzog, wohin Julie von Stern sie Arm in Arm begleitete und ihr laut von neuen Frühlingshüten erzählte, die sie gesehen habe. Der Hauslehrer dagegen wollte sich eben mit seiner hergebrachten Verbeugung entfernen, als Frau von Stern zurückkehrte und ihn anhielt.
»Auf ein Wort noch, Herr Doctor,« sagte sie. »Ich möchte heute Abend meine Freundin Lottchen, wenn es angeht, aufsuchen. Sie wissen, wo sie wohnt?«
Rudolf nannte die Straße, sie hörte lächelnd zu und that verschiedene Fragen, indem sie das sanfte, häusliche, immer beschäftigte und immer liebenswürdige Mädchen kaum weniger lobte als der Medicinalrath. –
»Sie müssen wissen,« sagte sie dann, »daß Lottchen meine Schulfreundin ist, und obwohl wir in den letzten Jahren wenig zusammentrafen, haben wir doch Beide die alte Anhänglichkeit bewahrt. Vielleicht finde ich Sie heute ebenfalls dort?«
Rudolf verneinte es, da er gestern erst dort gewesen sei.
»Aber mein Gott!« erwiederte sie, »was man gern sieht, kann man nicht oft genug sehen. Und Sie sehen Lottchen doch gern.«
»O gewiß – ja – allein auch wenn dies der Fall ist, so bin ich doch gezwungen, mich zu beschränken.«
Sie weidete sich an seiner Verlegenheit und sagte dann halblaut:
»Wo man gezwungen wird, soll man um so kühner im Bezwingen sein. Wenigstens werde ich Lottchen grüßen und ihr sagen, wie gern Sie kämen.«
Rudolf verbeugte sich. –
»Und was noch?« fragte sie.
»Ich weiß weiter Nichts.«
»Und daß Sie bald Ihre Hoffnungen erfüllt sehen würden,« flüsterte sie lächelnd. »Sie haben es in Ihrer Hand, ich weiß es. Adieu!«
Den ganzen Rest des Nachmittags verlebte der Hauslehrer in einer gewissen fieberhaften Aufregung. Er hätte fortlaufen mögen in alle Weiten, so unruhig war sein Gemüth, und so zerfallen war er mit seinen Empfindungen. Zum ersten Male wurde er von seinen Handlungen gequält, die doch unschuldig und von Pflicht geboten waren; aber zum ersten Male fühlte er sich auch von dem Gedanken gedemüthigt, arm und abhängig und dadurch gezwungen zu sein, Etwas zu thun, was er sonst nicht gethan haben würde.
Die Scene bei Tisch und die Art, wie er verspottet wurde, trieb ihm das Blut in den Kopf. Im Grunde hatte Niemand ihn persönlich beleidigt, dennoch empfand er gegen das coquette Wesen der Frau, die mit ihm ihr Spiel versuchte, einen lebhafteren Groll, als dieser sich rechtfertigen ließ. Er dachte mit Unwillen daran, was sie über sein Verhältniß zu Lottchen ganz deutlich merken ließ, und er fand ihre Einmischung unverschämt, ihre gnädige Protection demüthigend.
O, wie ganz anders war ihm heute Johanna erschienen, die er bisher für halb todt und bösartig gehalten hatte! Sie war ein anderes Wesen geworden, wenigstens kam es ihm so vor. Was sie that und sagte, meinte er, sei recht und gut, entfernt von aller Lüge und Verstellung. Sie war im Kampfe mit den Menschen, die sie umgaben – diese erschienen ihm wie arglistige Schelme, die sich verschworen hatten, das arme kleine Fräulein in ihre Netze zu locken; sie dagegen war muthig, trotzig, keine Gefahr fürchtend, wie ein schöner stolzer Adler, der seine Feinde umkreis't. –
Es waren Worte gefallen, die Johanna gewiß nicht ohne Absicht gesprochen hatte; sie wußte ohne Zweifel, was gegen sie im Werke war, und während Rudolf das Gedicht abschrieb, wünschte er und hoffte er vom ganzen Herzen, daß es verlacht und verhöhnt werden möchte. Mehr als einmal warf er die Feder fort und hielt den Kopf in beiden Händen fest, indem er vor sich hin auf das Papier starrte.
Ah! sagte er endlich traurig, was wird sie thun und was kann sie thun?! Sie wird sich überreden lassen wie Viele haben das schon gethan! Ist es nicht ein glänzender junger Herr, ein Kunstkenner, ein Baron, ein Mann, der ihr einen Platz in der Gesellschaft giebt, und den die Welt bewundert?! Wie soll sie sich weigern, bei aller Entschlossenheit vielleicht, dies zu thun, wenn Bruder, Verwandte, Freunde, der ganze Troß bitten und beschwören?
O! ich glaube, daß ich der Einzige bin, der ihr sagen möchte: thue es nicht, und dabei mache ich ein Liebesgedicht auf Commando für ihn, helfe die Schlinge drehen, helfe sie betrügen, weil ich – weil ich Lebensklugheit besitze.
Mir dieser Selbstverspottung wurde die Arbeit beendet, und als es sieben Uhr schlug, stieg Rudolf, das abgeschriebene Gedicht in seiner Brieftasche, in den Salon hinab, wo er Frau von Schellbach mit ihrem Cousin allein und ihn erwartend fand.
Der Baron sah ihm freundlich entgegen.
»Nun, da sind Sie,« sagte er, »und Alles in Ordnung?«
Frau von Schellbach winkte ihm zu einem Sessel am Tische.
»Lesen Sie rasch, wir könnten überfallen werden,« lächelte sie.
Rudolf las die Verse, sie fanden Beifall.
»Allerliebst!« sagte die gnädige Frau; »ich glaubte kaum, daß es Ihnen so gut gelingen würde, meine Schwägerin zu verherrlichen. Sie haben dichterisches Talent.«
»Das heißt,« fiel Laxfeld ein, »Dichter können sich für jeden Gegenstand begeistern, wenn sie wollen; ich bin Ihnen dafür tausend Dank schuldig.«
Er überflog das Gedicht noch einmal, faltete es dann zusammen und legte es in sein Taschenbuch.
»Süperb!« rief er dabei aus, »ganz meine Gedanken! Sie haben die kleinen Winke vortrefflich benutzt. Es ist sehr zart, sehr blühend, und eine schwungvolle Sprache, prächtig!«
»Kommen Sie morgen um zwölf Uhr zum Frühstück herunter,« sagte Frau von Schellbach, »und bringen Sie Emil mit, er muß seiner Tante gratuliren. Mein Onkel, der Minister, wird auch herauskommen und zu Mittag bei uns bleiben.«
»Auf Wiedersehen also!« fügte der Baron hinzu. »Ich bleibe Ihr Schuldner, Herr Doctor, aber ich revanchire mich, mein Wort darauf! Um zwölf Uhr somit, Sie müssen Zeuge sein, wie die Verse gefallen und was sich begiebt.«
Der Mohr hat seine Schuldigkeit gethan, der Mohr kann gehen! murmelte Rudolf, als er die Thür zumachte und die beiden Verwandten allein ließ.
Herr von Laxfeld steckte das Taschenbuch ein, legte sich in den Plüschstuhl zurück und besah seine Nägel.
»Ein anstelliger Bursche, dieser Doctor,« sagte er, »er hat seine Sache gut gemacht. Du wirst zunächst mit dem Onkel über ihn sprechen, liebe Henriette.«
»Morgen, wenn es möglich ist; ich bin mit ihm zufrieden. Emil hat ihn gern, er benimmt sich bescheiden und dienstwillig, überdies hat er Mancherlei gelernt.«
»Wer sagt das? Du?« fragte Laxfeld lächelnd.
»Der Medicinalrath sagt es. Er hat ihm ein Buch oder so Etwas gegeben, das er verfaßt hat.«
»Um so besser,« antwortete der junge Herr, die Füße kreuzend. »Der Mensch hat auch sonst Gedanken. Gestern stand er draußen vor Johanna's Kartenspielern und machte ein paar vernünftige Bemerkungen. Da er schreibt, ist er vielleicht öfter zu gebrauchen, und wie Du sagst, hat er ein dankbares Gemüth.«
»Es thut mir leid,« erwiederte sie, »dasselbe nicht von Allen sagen zu können.«
»Von mir, o!« rief er lächelnd. »Theuerste Henriette, wie kannst Du ungerecht sein!«
»Du sagst mir nicht ganz die Wahrheit!« flüsterte sie, mit dem Finger drohend.
»Auf mein Wort, ich weiß nicht, was Du meinst!«
»Du bist mit dem Onkel ganz im Reinen?«
»Vollkommen.«
»Er billigt Alles?«
»Alles. Er ist Geschäftsmann, sieht die Sache von der finanziellen Seite an. Ihm war es Allein darum zu thun, genau zu wissen, wie groß das Vermögen sei.«
»Er kann sich beruhigen,« sagte die Dame lächelnd.
Ich habe ihn beruhigt. Schellbach und ich haben ihn gemeinschaftlich heute Nachmittag aufgesucht.«
»Und es giebt Niemanden, der mit Deiner Heirath unzufrieden wäre?« fragte sie ihn anblickend.
Er lachte laut auf.
»Ah bah! nein! Alles in schönster Einigkeit. Aber was meinst Du, theure Henriette?«
»Nichts,« sagte sie, »und ich mag Nichts meinen. Du bist ein Wildfang, der arge Streiche macht.«
»Der aber mit Deinem gütigen Beistand in das richtige Fahrwasser schwimmen wird.«
»Ich bin Dir Ersatz schuldig,« sagte Frau von Schellbach, »das habe ich nicht vergessen.«
»Ist das ein Ersatz?« fragte er mit spöttischem Ausdruck, indem er die Arme kreuzte. »Doch immerhin, ja, ich bin entschlossen und danke Dir für Deine Huld. Ich werde aus Deiner Hand die Frau empfangen, die Du für mich ausgewählt, und erkenne die Vortheile an, welche ich dadurch erreiche. Wir werden gleiches Schicksal haben, Henriette, darin liegt ein Trost für mich. In den Armen dieser liebenswürdigen, reizenden, junonischen Schönheit – welche Seligkeit! Und wenn ich sie neben Dir sehe … Nun, wenigstens stehe ich dann auch neben Deinem Schellbach, dem Gatten Deiner Wahl, gerade so gewählt, wie ich diese wähle, und wir können gemeinschaftlich spotten.«
»Still!« sagte sie, »ich höre ihn, er kommt.«
»Da ist er!« rief Laxfeld, indem er seinen Arm nach der Thür ausstreckte, welche Herr von Schellbach geöffnet hatte.
8.
Die große pariser Pendule über dem Marmorkamin im Salon that eben den zwölften Schlag, als Rudolf, seinen Zögling an der Hand führend, hereintrat. Er warf einen raschen Blick auf den Velour-Teppich, auf welchem eines jener prachtvollen Arbeitstischchen stand, mit eingelegter Perlmutterarbeit und goldigen Arabesken überdeckt, zu beiden Seiten blühende Orangen und Blumen; dann fielen seine Augen auf einen schmalschultrigen ältlichen Herrn, der die Hände auf den Rücken gelegt hatte und sich so zu den Geburtstags-Geschenken niederbeugte.
»Da kommt Emil!« rief die gnädige Frau, und bei diesen Worten richtete sich der Herr auf und sah den Hauslehrer an, der sich ehrfurchtsvoll verbeugte. Auf seinem schwarzen Rocke trug der Fremde einen Stern, um den Hals ein farbiges Band, an welchem ein achteckiges Kreuz hing. Sein Gesicht war lang und blaß, die Stirn kahl, das Haar, von der Seite über die Mitte des Kopfes gelegt, war grau und dünn. Seine Augen lagen tief und sahen schwarz und streng aus, und wenn er lächelte, was er jetzt that, war es, als sei eine gewaltsame Anstrengung dazu nöthig.
»Finden Sie nicht, daß Emil gewachsen ist, lieber Onkel?« fragte die Dame. – »Jedenfalls ist er verständiger und artiger geworden,« fuhr sie fort, »und dies haben wir den Einwirkungen des Herrn Doctor Jachtmann zu danken, dem wir auf's Innigste dafür verbunden sind.«
Der Minister trat einige Schritte näher, gab dem Knaben die Hand und sprach einige Worte, dann blickte er den belobten Lehrer prüfend und wohlwollend an.
»Ich habe schon von Ihnen gehört,« begann er jetzt, »und freue mich, Sie kennen zu lernen. Sie sind nicht Theologe?«
»Nein, Excellenz.«
»Richtig, Naturwissenschaften, man sagte es mir. Theologen bleiben immer die geeignetsten Erzieher, indeß, auch wer die Natur recht studirt, wird dadurch zur Erkenntniß Gottes geleitet. Wo sind Sie gewesen?«
Rudolf beantwortete die verschiedenen Fragen des mächtigen Gönners mit Bescheidenheit. Seine schlichte Weise, wie seine höfliche, an Demuth gränzende Haltung schienen dem Minister zu gefallen, der sich länger mit ihm unterhielt, als er Anfangs geneigt schien.
»Und was ist Ihre Absicht?« fragte er endlich.
»Ich würde, wenn es mir vergönnt wäre, am liebsten versuchen, mich an einer Universität zu habilitiren.«
»Die große Carriere also. Haben Sie Vermögen?«
Rudolf ließ den Blick an sich hingleiten und erwiederte dann:
»Nein!«
Der Minister verstand den Ausdruck seiner Züge, der zu sagen schien, wenn ich Vermögen hätte, würde ich nicht hier sein. –
»Es ist für jeden jungen Gelehrten,« sagte er, »mag man es auch nicht nöthig haben, immer eine sehr gute Vorbereitung, wenn er einige Zeit sich praktisch dem Erziehungswesen widmet. Die Regierung ist übrigens weit entfernt, aus den Lehrstühlen an den Universitäten ein Monopol für Wohlhabende zu machen. Reiche Professoren wenden ihre Unabhängigkeit zuweilen übel an. Männer von Gesinnung und Gesinnungstreue sind uns nöthig; es ist daher unsere Aufgabe, diese zu erwecken und zu beschirmen, wo wir sie finden. Die Regierung unterstützt gern hervorragende Talente, wenn diese beweisen, daß sie ihrer Sorgfalt würdig sind, und gerade die Naturwissenschaften sind das Feld, wo man mit Freuden den guten Samen pflegt, denn von dort aus drohen der Jugendbildung die schlimmsten Gefahren. Die Naturwissenschaften sind der Tummelplatz des rohesten Materialismus geworden; mit ihrer Hülfe streut man das ärgste Gift aus, ruft sie auf als Streiter für den Unglauben unserer Zeit und macht aus ihnen Bundesgenossen für jede Verspottung und Entwürdigung des Bestehenden.«
»Und dennoch sind sie es, die alle Irrthümer und Nebel zerstreuen und der höchsten Wahrheit dienen sollen,« antwortete Rudolf ermuthigt.
»Der höchsten Wahrheit!« wiederholte der Minister, »Sie haben Recht, das ist ihre Bestimmung. Ich sehe, Sie sind auf dem richtigen Wege, das freut mich. Schließen Sie sich den würdigen, christlichwissenschaftlichen Männern an, deren es manche und doch immer noch zu wenige giebt, und wirken Sie in diesem Geiste. Junge, eifrige Kämpfer sind nöthig. Treten Sie hervor, schreiben Sie, ich ermuntere Sie dazu. Es wird mir lieb sein, wenn ich recht bald Etwas von Ihren Arbeiten sehe.«
Der hohe Gönner winkte ihm huldreich zu. Er sprach Nichts weiter, allein seine Mienen sagten genug; die Aufforderung war so deutlich, daß Rudolf nicht zweifelte, sein Weg werde gebahnt sein, sobald er nur zeigte, daß er kein Unwürdiger sei. In der ersten Aufwallung fiel es ihm nicht ein, die Forderungen des gebietenden Herrn zu zergliedern und sich Bedenken zu wachen. Er fühlte die Kraft in sich, etwas Bedeutendes zu leisten, und seine Blicke glänzten so feurig und so dankbar, daß Frau von Schellbach lächelnd ihrem Cousin Etwas in's Ohr flüsterte, was diesen sehr zu ergötzen schien.
Jetzt aber wurde der Salon geöffnet, und Johanna trat herein. Sie war so einfach wie immer gekleidet, doch glaubte Rudolf in ihrem Gesicht eine besondere Röthe zu bemerken, in ihren Augen eine lebhafte Unruhe und auf ihrer Stirn eine krause, zornige Falte. –
Als sie eintrat, eilten ihr die Verwandten entgegen und empfingen sie mit ihren Glückwünschen und Grüßen. Ihr Bruder umarmte sie, ihre Schwägerin breitete die Arme aus, und Emil drängte sich zwischen Beide und hängte sich jubelnd an ihr Kleid.
»Meine theure Johanna,« sagte Herr von Schellbach, »liebe, gute Schwester, ich habe Niemand wie Dich, und so ist dieser Tag mir ein doppelt beglückter und gesegneter; Dein Glück mein innigster, brüderlicher Wunsch.«
»Und ich, Johanna, ich vereinige mich mit ihm!« rief die gnädige Frau. »Das edelste, das beglückteste Loos möge Dir werden, alle Freuden der Erde Dich begleiten, alle Blumen und Blüthen Dein geliebtes Haupt schmücken!«
»Das wäre zu viel für mich,« antwortete Johanna, »ich bin mit weniger zufrieden.«
Der Minister faßte dies auf. In seiner stolzen Würdigkeit trat er heran und nahm ihre Hand in seine beiden Hände.
»Die Fülle der Blumen ist es nicht,« sagte er, »was froh und stolz macht, sondern deren Seltenheit und Schönheit. Und wie Sie selbst eine schöne, seltene Blume sind, so sollen auch die schönsten Ihnen den Kranz Ihrer Freuden bilden.«
»Und als symbolisches Zeichen für die Erfüllung der Wünsche meines verehrten Oheims,« fiel der Baron ein, der neben ihm stand, »erlauben Sie mir, daß ich diese Blumen Ihnen überreiche, diesen kleinen duftigen Strauß, der Alles einschließt, was ich zu sagen, zu wünschen und zu hoffen wage.«
Der Hauslehrer stand von fern. Er allein bemerkte, daß auf einen Augenblick Jemand an der Thür erschien, diese ein wenig öffnete, hineinsah und sich dann sogleich wieder zurückzog. Es war der Medicinalrath, hinter dem noch eine zweite Person stand, in welcher Rudolf Frau von Stern zu erkennen meinte. Eine Dame war es jedenfalls; er war jedoch seiner Sache nicht gewiß und viel zu sehr mit dem Schauspiel vor ihm beschäftigt, um jener Entdeckung seine Aufmerksamkeit zu schenken.
Fräulein Johanna hielt den köstlichen Strauß in ihrer Hand und lächelte auf das goldberänderte rosige Papier, das zwischen den Blumen halb verborgen hervorschaute. Ihr Gesicht hatte alle Aufregung und Unruhe verloren; sie sah den schönen, galanten Cavalier mit einem so dankenden, freundlichen Blicke an, daß ein sonderbares kaltes Gefühl Rudolf's Augen zudrückte; dann ließ sie sich auf den Teppich an den Tisch führen und nahm die Geschenke mit sichtlicher Rührung in Empfang.
»Ich weiß zu gut,« sagte ihr Bruder, »daß wir nicht mit Schmuck und allerlei theurem Putz kommen dürfen. Du bist ein Sonderling, der solche Dinge nicht achtet und nicht mag, und was soll man Dir auch schenken, was Du nicht leicht haben könntest, wenn Du wolltest? Das Tischchen aber aus Perlmutter ist in seiner Art ein Kunstwerk und ganz neu, eben erst aus Paris angekommen. Henriette hat es für Dich, ausgesucht, ich habe die Orangen und Granaten daneben gestellt, und was in dem Umschlage da ist, weiß ich nicht, unser gnädigster Onkel hat es mitgebracht.«
Johanna lüftete das feine, an den Ecken gesiegelte Papier und hielt ein in schwarzen Sammet gebundenes, reich mit Gold geziertes Gebetbuch in der Hand.
»Verschmähen Sie mein Angedenken nicht,« sprach der Minister, »gebrauchen Sie es bei Ihrer Andacht als einen treuen Freund und Begleiter. Jeder Mensch hat Trost und Stärkung nöthig.«
»Gewiß, o gewiß!« rief das Fräulein. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen; Ihr Geschenk gewährt mir Trost und Freude.«
»Ein kindliches, gläubiges, unschuldvolles Gemüth,« sagte der hohe Beamte würdevoll umherblickend, »ist die schönste Gabe Gottes.«
»Und daß es gedeihe und Segen bringe, theuerster Onkel,« rief Herr von Schellbach, »darauf lassen Sie uns ein volles Glas leeren.«
Der Minister reichte Fräulein Johanna seinen Arm, der Baron bot diesen seiner Cousine, und wie gerufen trat eben jetzt Frau von Stern in den Salon, welcher Herr von Schellbach sogleich entgegen ging, ihr ein Dutzend Schmeicheleien und neckende Vorwürfe in Einem Athem sagte und sie dann der übrigen Gesellschaft nach in ein Nebenzimmer führte, wo die feinsten Speisen und duftende schäumende Weine den Tisch besetzten. – Der Hauslehrer machte mit dem Knaben an der Hand den Schluß.
»Jede Festlichkeit, die der Freude geweiht ist, verlangt ihre Weihe durch den goldenen Saft der Reben und liebliche Speisen,« sagte der Minister, als sie Alle Platz genommen hatten. »Es ist eine uralte schöne Sitte der Menschen, die von den Göttern stammt, ihre Feste mit bekränzten Bechern zu begehen; es ist auch eine christliche Sitte, denn alle christlichen Völker der Vorzeit und Neuzeit saßen bei frohen Tafeln, wenn sie die Gäste ehren, ihre häuslichen Glückstage begehen oder angenehme Begebnisse verherrlichen wollten. Unser Volk aber steht darin allen Völkern der Erde voran. Wir feiern im Kleinen wie im Großen, in der Hütte wie im Palaste, was uns erfreut oder was wir bewundern und verehren, mit einem Festmahle, bei welchem die Herzen sich aufthun, die Wünsche und Hoffnungen sich ergießen, die Bitten um Erfüllung und Erhörung emporsteigen. So sei es mir denn auch heute vergönnt, in diesem trauten Kreise meine innigsten Wünsche und Bitten hören zu lassen.« –
Er machte eine kleine Pause, faßte sein Glas mit zwei Fingern, sah nach beiden Seiten, neigte sich lächelnd gegen das schweigsame Festkind an seiner Rechten und fuhr dann fort:
»Wir begehen das Geburtsfest unserer theuren Verwandtin gewiß mit vielen schönen, geheimen, ahnungsvollen Empfindungen. Edel und hochgebildet, zart und schicklich, wie wir sie kennen, kann, was in unseren Herzen lebt, nur ein freudiges Verlangen sein, sie, die mit so vielen Reizen geschmückt ist, immer uns nahe, immer mit uns verbunden, immer mit uns vereinigt zu sehen. Ueber die Gegenwart hinaus auf die Zukunft richten sich somit unsere Blicke; nicht was sie im reichen Maße besitzt, wünschen wir ihr, sondern das, was ihr noch fehlt, um das höchste irdische Glück zu finden. Vereinigen Sie sich mit mir zu dem Gesammt-Ausdruck unserer Gefühle: Möge es mir vergönnt sein, möge es uns Allen vergönnt sein, unsere geliebte Freundin und Verwandte die schönsten Feste des Lebens feiern zu sehen; möge ihr edles Haupt sich bald mit dem glückseligsten Kranze schmücken, den es tragen kann, und möge die liebende Hand dann Blumen auf ihren Weg streuen, Blumen, die niemals welken, Blumen, deren Farben nie verbleichen! Darauf lassen Sie uns anstoßen, darauf unser Glas leeren!«
»O, wie herrlich, wie aus meiner Seele hat der Onkel gesprochen!« rief Frau von Schellbach.
»Ausgezeichnet! Unübertrefflich«« sagte ihr Gemahl. »Liebste Johanna, nimm es Dir zu Herzen und …«
Die gnädige Frau winkte ihm zu, und Julie zupfte ihn leise.
»Und was sagen Sie?« fragte Johanna mit ihrer starken Stimme, als sie bemerkte, daß der Baron den Blumenstrauß, der neben ihr lag, aufnahm und feurige, lächelnde Blicke in ihr Gesicht warf.
»Blumen sprechen, wo Lippen schweigen müssen,« antwortete er, sich zu ihr beugend.
»Im Orient,« antwortete sie. »Ich verstehe die Blumensprache nicht.«
»Vielleicht giebt es einen Schlüssel dazu,« fuhr er fort, indem er auf das halbversteckte Papier deutete.
Sie zog es heraus, schlug es auf, las, und ihre Mienen wurden heiter.
»Verse, sehr schöne Verse, ein sinniges, liebliches Gedicht,« sagte sie. »Ich danke Ihnen« – ihre dunklen Augen schlugen sich auf und strahlten über ihn hin – »ich danke Ihnen für so viel schönes Empfinden.«
»Nur Wahrheit, auf mein Wort! bezaubernde Wahrheit!« antwortete Baron Hermann, ihre Hand an seine Lippen ziehend.
»Wahrheit und Dichtung.
»Ich schwöre,« rief er, »ich habe viel zu wenig gesagt! Auf mein Wort, viel zu wenig!«
»Wir müssen die Verse hören,« sagte Sau von Schellbach.
»Und werden dann den richterlichen Spruch fällen,«fügte der Minister hinzu.
»Lies es uns vor!« forderte Schellbach. »Ein Dichter lies't seine Werke immer so, daß sie zum Herzen gehen.«
»Darf ich es thun?« fragte Laxfeld lächelnd.
»Nein, nicht Sie, Sie sind Partei,« antwortete Fräulein Johanna in ihrer entschiedenen Weise. – »Nehmen Sie das Gedicht, Herr Doctor Jachtmann, und tragen Sie es vor, ich bitte darum.«
Sie reichte dem Hauslehrer das rosenfarhige Papier, das er zögernd nahm, während er zu der gnädigen Frau hinübersah, die ihm mit den Lippen zuckend winkte.
»Da es meiner Schwägerin Wunsch und Wille ist,« sagte sie, innerlich belustigt von seiner Aengstlichkeit und dem Verhängniß, »so lesen Sie doch, wir bitten Alle darum.«
»Johanna will nicht bestochen sein, Hermann,« lachte Schellbach, »sie will uns nicht von dem Zauber Deiner dichterischen Stimme bestechen lassen. Es lebe die Unparteilichkeit! Fangen Sie an, lieber Doctor.«
Der Minister schlürfte mit einem gnädigen, ermunternden Kopfneigen gegen den Candidaten sein Glas aus, aber Rudolf zögerte noch immer. Er war sichtlich verlegen und starrte auf das Papier, um sich zu sammeln. –
»Ich bin ein sehr schlechter Vorleser,« sagte er demüthig, »und würde daher unterthänigst bitten …« –
Er hielt seiner Nachbarin, Frau von Stern, das Blatt hin, allein Baron Hermann's Gebot unterbrach ihn.
»Dagegen protestire ich!« rief dieser., »Ein Damen-Vortrag paßt nicht für dieses Gedicht. Sie haben den Auftrag empfangen, Herr Doctor, führen Sie ihn aus, so gut Sie können.«
So gedrängt, blieb dem Hauslehrer Nichts übrig, als zu gehorchen. Seine Stimme zitterte ein wenig bei den ersten Worten, aber mit jeder Zeile wurde sie fester, und da sie tiefklingend und wohllautend war, so hörte Jeder mit Genugthuung zu. Die Verse rollten leicht und ausdrucksvoll von seinen Lippen, am Schluß aber hob sich der Ton so warm und bedeutungsvoll, daß der Minister seinen Neffen mit einer Miene ansah, in welcher deutlich zu lesen war: Der Erfolg ist gesichert.
Alle schienen dieses Gefühl zu theilen. Sie horchten, lächelten, beobachteten und rechneten. Ueber das Blatt fort richtete Rudolf bei dem letzten Laute seine Blicke auf die festlich Geehrte, und er sah in ihre dunklen Augen wie in ein Feuer, dessen Flamme über ihn zusammenschlug.
Der Beifall war allgemein; doch mitten unter den frohen Betheuerungen und Glückwünschen ließ sich Emil's helle Stimme vernehmen, der lustig in seine kleinen Hände schlug und aus voller Kehle schrie:
»Er hat es gemacht, gestern Abend schon habe ich es gehört! Eher als ihr Alle habe ich es gehört! Als ich im Bette lag, hat er es gelesen, gerade so wie jetzt, nur noch viel schöner.« –
Eine plötzliche Stille folgte.
»Wer hat es gemacht?« fragte Johanna.
»Er – er – der Doctor – o weh!« schrie der erschrockene Knabe, denn Frau von Stern faßte ihn beim Arme.
Das Fräulein warf einen schnellen, fragenden Blick auf Rudolf, der, bestürzt wie er war, weder Ja noch Nein sagte.
Dann warf sie das Blatt, das sie aufgenommen, zu den Blumen auf den Tisch und rief mit ihrem harten Tone:
»Wozu lassen die Ritter der Wahrheit sich nicht benutzen!«
»Hehe! Possen, albernes Zeug!« lachte ihr Bruder.
»Fort mit dem unnützen Buben und seinem Geschwätz!« sagte Frau von Schellbach zu gleicher Zeit, und einer ihrer bestimmten Winke bedeuteten dem Hauslehrer, daß er sich zu entfernen habe. Er nahm den betrübten, weinenden Emil daher bei der Hand und führte ihn hinaus; mit ihm zugleich stand auch Frau von Stern auf, half den Knaben transportiren und warf sich in dem Nebenzimmer heftig lachend, aber das Tuch vor dem Munde in den nächsten Stuhl.
»Du Bösewicht! was hast Du angerichtet?« rief sie dem kleinen Sünder nach. »Bleiben Sie in der Nähe, Herr Ritter der Wahrheit, und denken Sie daran, sich vor Schaden zu behüten.«
Rudolf setzte seinen Weg fort; er war von Allem, was geschehen war, so erregt, daß er unmöglich jetzt Frau von Stern Rede stehen konnte.
Kaum aber war er aus dem Zimmer, als Julie leise aufstand, zur Thür des Speisesaales eilte und ihr Auge an's Schlüsselloch brachte, während sie mit gespannter Aufmerksamkeit auf das Gespräch horchte, das nach und nach immer deutlicher und lauter drinnen geführt wurde. Die fünf zurückgebliebenen Personen befanden ich allein an dem Tische, die Bedienten waren schon vorher entfernt worden; die Erklärungen konnten ungestört stattfinden.
»Auf mein Wort,« sagte Baron Hermann lachend, »der kleine Schelm hat mich arg verleumdet! Doch was thut es, das ganze Intermezzo ist an sich unbedeutend und gleichgültig: Meine Empfindungen und heißen Wünsche werden dadurch nicht im Geringsten alterirt, und was jene Verse ausdrücken, ist nicht der tausendste Theil von dem, was sie ausdrücken müßten, wenn ich damit zufrieden sein sollte.«
»Mein Schwesterchen,« fiel Schellbach ein, indem er den Arm um das kleine Fräulein legte, »schmolle nicht länger, wir haben Dich Alle ja so herzlichlieb, und Hermann – sieh ihn an, wie er bittend vor Dir steht – höre und erhöre ihn!«
Der Baron warf einen Blick seitwärts in den großen Spiegel, der seine elegante Gestalt wiedergab. Groß, schlank, der schöne Kopf so untadelhaft, wie der modische Rock des nobelsten Schneiders, alle Formen so glänzend, alle Manieren gefällig und selbstbewußt, jede Bewegung aristokratisch sicher, war er seiner Sache gewiß. Er hatte bisher mit Johanna gescherzt, gelegentlich über sie gespottet, ihre Anmaßung verachtet, ihren Launen Trotz geboten oder sie wie die Launen eines ungezogenen Kindes behandelt, dabei aber niemals gezweifelt, daß, sobald er Ernst machen und offen erklären würde, er sei gesonnen, ihr die Ehre anzuthun, sie zu heirathen, sie nicht Nein sagen könnte.
Vor drei Tagen noch war er darüber mit sich selbst in Zweifel gewesen, und gestern erst nach einer letzten Unterredung mit seinem Oheim hatte er sich entschlossen, die Wünsche seiner Cousine Henriette zu erfüllen, welche diese Partie längst beabsichtigte. Jetzt stand er vor dem kleinen, schmalen Mädchen mit dem schlichten, schlechtgekämmten Haar und den ärgerlich aufgeworfenen Lippen, wie ein übermüthiger, hochgeborener Herr, der mit der Krämertochter sich belustigen möchte.
»Darf ich sprechen, angebetete Johanna!« fragte er mit einem Siegerblicke.
»Reden Sie, wenn es Ihnen beliebt,« antwortete sie trotzig.
»Erlaube mir, daß ich das Wort nehme,« sagte der Minister.
»Ja wohl, mein theurer Onkel!«
»Fräulein Johanna,« begann der Staatsmann, würdevoll lächelnd, indem er ihre Hand nahm und zwischen seine Hände legte, »es besteht zwischen meinem Neffen und mir ein so inniges Verhältniß wie zwischen Vater und Sohn. Er hat mir daher seine Wünsche anvertraut, sein Herz geöffnet und um meine Einwilligung gebeten, Ihnen seine Hand antragen zu dürfen. Ich habe ihm dazu nicht allein meine volle Zustimmung ertheilt, sondern überdies es übernommen, selbst für ihn zu werben. Dies thue ich nun, und hier steht mein Neffe. Meine liebe Nichte Henriette ist glücklich an der Seite Ihres Bruders, vollenden Sie dieses schöne Familienglück – mein Segen über Euch Alle, Ihr geliebten Kinder!«
Der Minister hob seine beiden Arme empor, um sie mit Blicken der Rührung auf Johanna's Kopf zu senken; allein zu seinem Erstaunen machte diese eine zurückweichende Bewegung und sagte laut und fest:
»Sie erzeigen mir eine sehr große Ehre, aber – es kann nicht sein!«
»Wie?« fragte der Minister lächelnd, wie Einer, der nicht glaubt, was er hört.
»Auf mein Wort,« rief Laxfeld, »es ist volle Wahrheit!«
»Es kann doch nicht sein,« wiederholte sie, langsam den Kopf schüttelnd.
»Aber, Mädchen – Schwester – Johanna, besinne Dich!« sagte ihr Bruder.
»Warum kann es denn nicht sein?« fragte Frau von Schellbach, ihre Erbitterung bezwingend, aber mit zitternder Stimme.
»Liebes Fräulein,« begann der Oheim nochmals mit süßem Tone, »was könnten Sie gegen eine Verbindung haben, die Ihre ganze Familie so sehnlich wünscht, und welche, wie ich denke, ehrenvoll für alle Theile ist?« –
Bei den letzten Worten hob er den Kopf steif auf, das Lächeln verschwand aus seinen Zügen, und ein erstarrend eisiger, strenger Blick fiel auf das kleine, trotzige, unerschrockene Fräulein.
Allein, wie Johanna in diesem Kreise war, gehörte viel Muth dazu, jetzt standhaft zu bleiben, wo von allen Seiten Bitten, Betheuerungen, Gelöbnisse und Vorwürfe auf sie eindrangen. Klein und schwach stand sie hinter der hohen Lehne eines Fauteuils, den sie als Bollwerk zwischen sich und ihre Verwandten geschoben; aber auch diesen Schutz gab sie bei den letzten Worten des großen, stolzen Mannes auf, um dicht vor ihn hin zu treten.
Eine Andere in ihrer Lage hätte Thränen zu Hülfe gerufen, Entschuldigungen gemacht, Bedenkzeit gefordert und mit allen weiblichen Abwehrwaffen sich vertheidigt – ihre Augen dagegen glänzten unverzagt, und ihr Gesicht zeigte nicht die geringste Besorgniß oder Furcht; es schien vielmehr noch kühner und ruhiger zu werden. Sie legte ihre Hand einen Augenblick auf ihre Stirn, als wollte sie diese kühlen oder ihre Gedanken besänftigen, dann sah sie den lächelnden, schönen, an seinem Bärtchen drehenden Bräutigam an, und indem sie sich ihm bis auf einen Schritt näherte, sagte sie:
»Lieben Sie mich wahr und aufrichtig?«
»Auf mein Wort, ich bete Sie an!« rief er betheuernd.
»Falsch!« war ihre Antwort, »ich habe bis jetzt Nichts davon gemerkt. Und wie wäre es auch möglich? Es wäre unnatürlich, denn ich habe diese Liebe durch Nichts verdient.«
»Liebe wird durch Hindernisse um so mehr gereizt,« erwiederte Laxfeld. »Sprödigkeit ist das beste Mittel. Zweifeln Sie nicht länger, theure Johanna, ich lege mich, mein Herz und Leben Ihnen zu Füßen.«
»Bleiben Sie stehen!« sagte sie, ihre Hand ausstreckend. »Wenn Sie mich wirklich lieben, wie. Sie behaupten, so kann ich es nicht hindern, aber ich, Herr Baron Laxfeld, ich liebe Sie nicht! Nach dieser Erklärung werden Sie nicht weiter in mich dringen.«
»Oho!« rief er, erstaunt und verstört, Hohn um die Lippen und aufsteigenden, verächtlichen Grimm in der röthlichen Färbung seines Gesichtes, während er noch immer nicht an den vollen Ernst glaubte. – »Sie können mir nicht alle Hoffnung rauben wollen, theure Johanna. Sie können unmöglich so grausam sein.«
»Hoffnung, wo ich selbst keine Hoffnung habe, wäre Thorheit,« sagte sie.
»Aber Johanna, wäre es wirklich möglich?« begann Schellbach. »Könntest Du so eigensinnig sein?«
»Es ist eine ihrer Launen, ihrer liebenswürdigen Launen,« fügte Frau von Schellbach hinzu, die sich an die Schulter ihres Mannes lehnte.
»Du bist in dem Alter, wo es der Welt auffällig wird, daß Du keine Wahl triffst,« fuhr ihr Bruder fort, »und wo Deine nächsten Verwandten sich mit dieser Lebensfrage beschäftigen müssen.«
»Sehr viel Sorge um Nichts!« antwortete Fräulein Johanna.
»Du solltest diese Sorge dankbar anerkennen,« fiel die gnädige Frau ein. »Wir haben Dein Wohl reiflich überlegt. Du sprichst von Thorheit! Frage die Verständigsten und Besten, was Thorheit genannt werden muß. Alles paßt sich, Alle werden Dich loben und beneiden. Mein Gott! was verlangst Du denn?«
»Nichts als mich selbst,« sagte Johanna.
»Und warum weigerst Du Dich? – warum?«
»Weil es eine jämmerliche Welt ist und die Herren und Meister dieser Welt – jämmerliche Geschöpfe sind!«
Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer unter dem Schweigen der Zurückbleibenden, das durch ein spöttisches Auflachen des jungen Barons zuerst unterbrochen wurde.
»Also eine Männerfeindin, eine complette Männerfeindin!« rief er, seine weißen zarten Hände aus den langen Manchetten aufhebend. »Das ist, auf mein Wort! sehr tragisch und sehr komisch zu gleicher Zeit.«
»Ich glaube,« antwortete der Minister, der die Hände auf den Rücken gelegt hatte und finster blickend auf und ab ging, »daß man die Launen und Einbildungen dieses starrsinnigen Fräuleins hätte besser prüfen und mich nicht in die unangenehme Lage hätte versetzen sollen, einen solchen Auftritt herbeizuführen.«
Ein strenger Blick auf den unglücklichen Schellbach begleitete diese Rüge; zugleich blieb er vor ihm stehen, sah ihn an und sagte streng:
»Was nun?«
»Theuerster Onkel, Sie haben Recht,« erwiederte Henriette an Stelle ihres Mannes, »aber wer konnte das denken! Wir glaubten Alle, daß ihr Eigensinn Ihnen gegenüber und von uns bestürmt keinen Widerstand leisten könnte. – Aber Du bist daran schuld,« fuhr die Dame, gegen ihren Mann gewendet, fort. »Du hättest längst ein ernstes Wort mit ihr reden, ihre Verkehrtheiten und ihr widerspenstiges Betragen nicht dulden sollen.«
»Liebe Henriette,« antwortete der Gescholtene sanftmüthig, »ich that, was ich konnte, hätte auch jetzt noch gesprochen; allein Du ersuchtest mich ja überhaupt, Dir die Einleitungen zu überlassen und Julien, die …«
»Die Nichts zu Stande brachte,« fiel sie ein, »obwohl diese großmüthige, geistvolle Freundin eine – sehr kostbare Freundin ist.«
»Nichts davon!« sagte Laxfeld. »Wenn Einer schuldig ist, so ist es dieser alberne Hauslehrer, der wie ein ertappter Schulbube aussah. Hätte er sich anders benommen, so war Alles auf dem besten Wege. Was hat der Narr noch am, späten Abend seine schlechten Verse sich vorzulesen? Es ist ein eitles, unbehülfliches Geschöpf, dem man Nichts anvertrauen kann. Nehmen Sie ihn so bald wie möglich hin, bester Onkel, und stecken Sie ihn irgend wo in ein räucheriges Loch zu langhaarigen Studenten, denen er Orakel sein mag. – Was soll jetzt geschehen?« fuhr er belustigt fort. »Auf mein Wort, ich habe es mir nicht im Traume einfallen lassen, daß ich verworfen werden würde, als angehörig dem großen, jämmerlichen Geschlecht in dieser jämmerlichen Welt.«
Seine Parodie brachte die verlorene Fröhlichkeit zurück; auch der Minister lächelte und ließ die alten aus seinen grauen Augenbrauen verschwinden.
»Du willst die Braut also nicht aufgeben?« fragte er.
»Gewiß nicht, lieber Onkel! ich halte es für meine Pflicht, die kleine Männerfeindin zu bekehren.«
»Wir Frauen müssen ihm helfen,« sagte Henriette; »solche Grundsätze sind beleidigend für uns.«
»Und staatsgefährlich,« fügte der Minister hinzu.
»Was uns dagegen anbelangt,« meinte Laxfeld, »so ist es Gewissenssache und Lebensfrage, nicht zu ruhen und zu rasten, bis eine solche Rebellin besiegt und gedemüthigt ist. Wir wollen mit allen Mitteln sie vereint bekämpfen und auf ihr Wohl und ihre Niederlage Deinen besten Champagner versuchen, mein lieber Schellbach.«
9.
Der Tag war vergangen und mit ihm die veranstalteten Festlichkeiten, welche freilich nicht das mit sich brachten, was man von ihnen erwartet hatte. Weder bei dem Mittagsmahle im engeren Kreise, noch bei dem glänzenden Feste am Abend war irgend zu bemerken, daß sie dazu bestimmt waren, die Verlobung Johanna's mit dem jungen Baron zu veröffentlichen; dennoch gingen die Gäste wenigstens mit dem Bewußtsein nach Hause, daß dieser feierliche Act nicht mehr fern sein könne.
Die Taktik des begünstigten Cousins war gut gewählt. Er war immer in Johanna's Nähe, immer bereit sie zu unterhalten, immer ritterlich um sie bemüht: bei Tische an ihrer Seite, bei jeder Gelegenheit zu ihrem Dienste und dabei unbefangen, heiter, ohne irgend eine Anspielung auf die geheime Geschichte der letzten Stunden aber ohne einem beobachtenden Blicke zu verbergen, wie angelegentlich er sich um die Gunst der reichen Erbin bemühe.
Die Gäste machten ihre stillen Betrachtungen, welche sehr zu Gunsten des vornehmen jungen Edelmannes ausfielen. Viele wußten, daß sein Vermögen gering sei, allein sein Onkel war ein mächtiger Herr, seine Familienverbindungen bedeutend, er war aus dem Holze, aus welchem in jetziger Zeit allerlei Würdenträger und Gewaltige hervorgehen.
Aber dieser junge Baron war obenein, wie man meinte, begabt und befähigt und dabei schön von Gestalt, angenehm in seinen Sitten, fein in seinem Benehmen, ein Muster von Zierlichkeit und gutem Geschmack. Er hatte alle Vorzüge, die ein Mann sich wünschen kann, nur ein einziger fehlte ihm, und diesen besaß Johanna. Kein Mensch zweifelte daran, das eben um deshalb er dieser Lea diene, und kein Mensch verwunderte sich darüber – so mächtig, so bezaubernd ist das Gold.
Viele Augen sahen mit heimlichem Spott auf die kleine, unansehnliche Gestalt des gefeierten Festkindes, auf ihre eckigen Bewegungen, auf ihre ungraziöse Hast. Der große und fest ausgebildete Kopf war nicht eben häßlich, die dunkeln, glänzenden Augen waren sogar schön; aber wie rauh war ihr Organ, wie abgerissen ihr Sprechen, wie unliebenswürdig und heftig Alles, was sie that! Bei allem dem jedoch beneideten sehr Viele den glücklichen Besitzer dieser Frau, und die schlanken, blonden und braunen Schönheiten, welche glänzend und geschmückt zahlreich auf diesem glänzenden Feste sich befanden, verschwanden vor der einfachen, schmucklosen Johanna, die mit der unsichtbaren Majestät ihrer halben Million alle diese Locken und Ketten, Rosenwangen und Liliennacken zu Boden schlug.
Auch Rudolf war bei dem abendlichen Feste zugegen und beruhigter, als er es hoffen durfte. Niemand hatte ihm irgend ein Wort über sein Verhalten gesagt oder gar einen Vorwurf daraus gemacht; die gnädige Frau hatte mit ihm gesprochen und war sehr freundlich gewesen. Sie hatte gescherzt, ihn ermuntert, an den Freuden des Balles Theil zu nehmen, und als dieser begann, hatte sie nicht allein selbst ihn aufgefordert, sondern ihn auch einigen anderen Damen vorgestellt.
So war der Hauslehrer über sein eigenes Schicksal vollkommen beruhigt; was jedoch weiter sich begeben, als er das verhängnißvolle Frühstück verlassen, konnte er sich nur aus verschiedenen Muthmaßungen zusammensetzen. Es hatte gar nicht lange gewährt, als er das Fräulein im Garten bemerkte, wo sie unter den Kastanien mit Frau von Stern auf und ab ging. Aus ihren lebhaften Bewegungen und aus dem Gelächter ihrer Freundin reimte er sich Allerlei zusammen, was ihn heimlich froh machte. Die übrigen Mitglieder der Gesellschaft erschienen nicht, der Baron ließ sich nicht sehen, somit war es entweder zu keiner Erklärung gekommen, oder diese war abgelehnt worden.
Er wußte nicht, was er denken und glauben sollte; denn mit welcher Freundlichkeit, Liebe und Sorgfalt sah er Johanna bald darauf umgeben. Alle schienen ihr den Hof zu machen, am meisten aber Laxfeld, der nur Augen für sie hatte, und ihm kam es vor, als ob diese schmeichelnde Aufmerksamkeit nicht ganz unbelohnt bliebe. Früher hatte er öfter bemerkt, wie das spröde Fräulein sich kurz von dem jungen Herrn abwandte, wenn er anfing, ihr Artigkeiten zu sagen; heute hörte sie freundlich zu, nahm seinen Arm, ging mit ihm und schien sich zu gefallen.
O, sagte er endlich leise zu sich selbst, was ist da noch zu bezweifeln! Sie hat vielleicht für den Augenblick spröde gethan, um den Fisch an der Angel noch ein Weilchen zappeln zu lassen, aber der Haken sitzt fest und …
»Was denken Sie?« fragte der Medicinalrath lächelnd, der plötzlich neben ihm stand. Sie begrüßten sich und gingen sprechend durch den Saal in ein Nebenzimmer, wo es nicht so geräuschvoll war.
»Ich habe jetzt Ihr ganzes Manuscript gelesen,« sagte Neidler,»es ist vortrefflich, voll tiefer Beobachtungen und dabei geistvoll und lichtvoll componirt. Das Aufsehen kann nicht ausbleiben; ich habe mit einer befreundeten Buchhandlung schon Rücksprache genommen, es muß sofort erscheinen. Inzwischen bin ich zweifelhaft, ob Sie sogleich mit Ihrem Namen hervortreten oder diesen noch etwas geheim halten. Anonymität ist oft von außerordentlicher Wirkung. Man wittert dahinter zuweilen weit mehr, als darin steckt, räth nach allen Richtungen, und je mehr Neugierde, desto mehr Erfolg!«
»Ich möchte zu keinen Irrthümern Anlaß geben,« erwiederte Rudolf.
»Irrthümer, bester Freund, sind uns zuweilen zuträglicher, als Wahrheit,« lachte der Medicinalrath; »ich kann als Arzt darüber am besten urtheilen. Der Nimbus der Anonymität ist aber besonders jetzt zu mancherlei Dingen gut; denn wir leben in einer Zeit der Verketzerung, der Autoritäts-Gläubigkeit und der Hexen-Processe. Hätten Sie einen berühmten Namen, ständen Sie in einer gesicherten festen Position, wo sich Geschrei und Getümmel ruhig abwarten lassen, so würde ich es für Pflicht halten, daß Sie Ihren Namen vorsetzten; da das Alles aber erst kommen soll, so müssen wir vorsichtig sein.«
»Ich denke nicht, daß meine Abhandlung irgend welche gefährliche Dinge enthält,« sagte der junge Gelehrte.
»Aber, theuerster Freund,« antwortete Neidler, »was ist denn jetzt gefährlich oder nicht gefährlich? Dafür haben wir allen Maßstab verloren. Ihnen mag es freilich so vorkommen, als hätten Sie die unschuldigsten Dinge gesagt, und so wie Sie hat schon Mancher gedacht, der sich nicht einzubilden vermochte, daß seine Gedanken und Ueberzeugungen, würdig ausgesprochen, Anstoß erregen könnten, obenein in einem Lande, wo Preßfreiheit herrscht.«
»Aber, mein Gott!« fiel Rudolf ein, »es handelt sich ja nicht um Politik oder Gesellschaftszustände, überhaupt weder um Kirche noch um Staat, sondern um eine Reihe mikroskopischer Untersuchungen über die Uranfänge des thierischen Lebens.«
Der Medicinalrath sah seinen Begleiter mit dem forschenden, tief eindringenden Blicke an, den er zuweilen hatte, und sein sardonisches Lächeln trat dabei in seine Mundwinkel.
»Mein lieber Doctor,« sagte er dann, »ich bin ein guter, gläubiger Protestant und wende mich mit Mitleid von der Indifferenz sowohl wie von der verderblichen realistischen und atheistischen Verwilderung ab, der mit Recht entgegengearbeitet werden muß. Darin kann man aber auch im Eifer oder in der Leidenschaft zu weit gehen, und leugnen können wir uns nicht, daß wir Parteistandpunkte erreicht haben, wo es genügt, nicht zur Partei zu gehören, um als Gegner und Feind zu gelten – wenigstens nicht berücksichtigt zu werden,« setzte er nachdrücklicher hinzu. »Nun haben Sie eine ausgezeichnete Abhandlung geschrieben, die sich streng mit ihrem Stoffe beschäftigt und nicht eine einzige Anspielung oder einen Nadelstich auf Zeitverhältnisse enthält, was sonst junge, kecke Gelehrte selten unterlassen. Aber Ihre Abhandlung ist sehr populär geschrieben, dabei lebendig, klar, voller Gedanken, die Fleisch und Bein haben, voller Untersuchung, Urtheile und Beweise vom allgemeinsten Interesse. Das ist bedenklich!«
»Das nennen Sie bedenklich?« fragte Rudolf.
»Ich nenne es geradezu gefährlich,« fuhr der Medicinalrath fort. »Sie haben Folgesätze aufgestellt und sind zu Schlüssen gekommen, die leicht übel aufgenommen werden könnten. Sie haben an gewissen Schalthieren, Madreporen und Schnecken, die noch jetzt vorkommen, aus denen aber ganze Gebirge zusammengesetzt sind, bewiesen, daß Millionen Jahre dazu gehörten, ehe solche Riesenbauten fertig werden konnten, und haben dabei Dinge demonstrirt, die durchaus gegen die sechs Schöpfungstage sind.«
»Ja, das habe ich wirklich gethan,« sagte der junge Gelehrte erstaunt.
»Sehen Sie wohl?« fuhr Neidler fort. »So haben Sie auch an einer anderen Stelle erwähnt, daß man aus den Ueberresten in den Magen urweltlicher Geschöpfe ganz unzweifelhaft erkennen könne, daß Viele sich gegenseitig aufgefressen haben.«
»Aber, mein Himmel! das thun sie auch heute noch.«
»Vor dem Sündenfalle haben auch die Thiere paradiesisch gelebt,« antwortete der Medicinalrath so salbungsvoll und so seltsamlich nickend, daß Rudolf nicht wußte, ob es ernstlich gemeint sei. »Glauben Sie mir, daß ich Ihr Freund bin,« fuhr der Arzt dann fort, »ich habe allerlei Gründe dazu. Sie sind doch heute dem Minister vorgestellt worden?«
»Er ist nicht mehr hier,« sagte Rudolf.
»Nein, aber ich habe selbst von ihm gehört, daß er Ihnen sehr wohl will. Der Minister ist ein ausgezeichneter Mann, doch von strengen Grundsätzen, höchst gläubig, höchst christlich-eifrig. Seine Gegner sagen: zu eifrig, phantastisch-blind oder kurzsichtig – Sie wissen, was die Parteisprache für leidenschaftliche Ausdrücke hat; um so mehr muß man sich hüten, einem mächtigen Gönner Anlaß zur Unzufriedenheit zu geben.«
»Sie haben ganz recht,« antwortete der Hauslehrer nachdenkend, indem er die Hand des Warners drückte, »ich darf das nicht. Ich will lieber die ganze Veröffentlichung unterlassen.«
»Warum das?« fragte der Medicinalrath. »Es geht auch nicht mehr, denn Ihre Arbeit wird schon gedruckt. Lassen Sie sie vom Stapel laufen, wer weiß, wozu es gut ist? Nur vor der Hand geschwiegen und geheim gehalten; die Zeiten können sich ändern. Was heute Schaden bringt, kann ein ander Mal nützlich sein. Wissenschaftliche Untersuchungen müssen sich nicht unterdrücken lassen, wenn man auch seinen Namen zurück hält; kommt dieser später an den Tag, so ist der Ruf der Freimüthigkeit und Unerschrockenheit nicht zu verachten. O,« lächelte er in das nachdenkliche Gesicht des Doctors, »ich bin weit entfernt von Mantelträgerei – nein! jeder Mann muß, wie Alexander Humboldt so schön sagt, den Muth seiner Meinung haben und diese offen vertheidigen, wenn seine Offenheit der Sache Nutzen bringen kann; nutzlos aber sich selbst ruiniren, ist Thorheit. Ihr trefflicher Verwandter, Helm, hat die praktische Regel für solche Fälle: Lebensklugheit beobachten! Immer bedenken, was man thut, das ist die Aufgabe, sagt er, und das ist sie wirklich.
Apropos,« fragte er dann abbrechend, »Sie haben ja auch Frau von Stern kennen gelernt, wie gefällt sie Ihnen?«
»Eine sehr fein gebildete Dame.«
»Ein wahres Muster von Feinheit,« erwiederte Neidler mit seinem lauernden Lächeln.
»Jung und schön.«
»Geistvoll.«
»Und – Wittwe.«
»Ja wohl, Wittwe und von sehr strengen Grundsätzen.«
Rudolf wußte wieder nicht, wie er dies nehmen sollte.
Der Medicinalrath sah so hinterlistig und doch so ehrbar aus wie der Fuchs in der Fabel.
»Diese junge Dame hat seltsame Schicksale gehabt,« fuhr Neidler leise fort. »Es ist sehr traurig mit den Täuschungen des Lebens, man verfällt ihnen trotz aller Klugheit; allein sie besitzt außerordentliche Geistesstärke und durchdringenden Verstand. Haben Sie sich ihr genähert?«
»Ich hatte bis jetzt wenig Gelegenheit.«
»Versäumen Sie keine. Ich weiß, daß Sie von ihr geschätzt werden. Jungen Männern ist Nichts dienlicher, als die Freundschaft geistiger Frauen; Nichts bildet mehr und giebt Form und Fassung für schwierige Verhältnisse.«
Rudolf erröthete. Es kam ihm vor, als hätte der gereifte Freund ihm damit vorhalten wollen, was ihm fehle, und unwillkürlich fiel ihm die Morgenscene ein, bei der er alle Fassung verloren hatte.
»Gestern habe ich auch Lottchen gesehen,« fuhr Neidler inzwischen fort. »Hören Sie, Doctor, da steht es schlimm.«
»Wie so, schlimm?« fragte Rudolf. »Sie ist doch nicht krank?«
»Ein kleines Fieber,« sagte der Arzt, »eines von den unergründlichen, wo ein Anderer die Medicin verschreiben muß. Nun, Sie werden schon sehen. Vorläufig kann ich Ihnen sagen, daß keine Gefahr dabei ist. Lottchen vergißt alle Schmerzen in erinnerungsvoller Thätigkeit. Sie näht prachtvolle Oberhemden, wahre Meisterstücke. Ich möchte den Glücklichen kennen, dem alle diese feinen Stiche und die darin eingewirkten obligaten Wünsche und Gedanken als Stammbuchverse gewidmet sind.«
Er ließ lachend Rudolf's Hand los und stand auf, weil Herr von Schellbach an der Thür erschien und ihm winkte.
Rudolf blieb eine Zeit lang allein; die Mittheilungen des Medicinalraths hatten ihn aufgeregt, und wie er die Klugheit des erfahrenen Mannes bewunderte, so drängte sich ihm doch dabei wiederum die unangenehme Empfindung auf, die er vom ersten Male, wo er ihn sah und sprach, zurückbehalten hatte.
Seine Rathschläge mußte er anerkennen, und doch fühlte er sich davon erniedrigt; was er sagte, war richtig, allein es war heuchlerisch und zitterte unmuthig, vorwurfsvoll durch sein unverdorbenes Herz; die Späße über sein Verhältniß zu Lottchen bildeten aber eine Gegenwirkung für diese Plagen, denn es war ihm noch unerträglicher, daß Neidler mit ihm darüber scherzte und mit vertraulicher Ueberlegenheit sich unterstand, die geheimen Fäden seines Lebens, das zarte, wankende Gebäude einer Verbindung, die er vor sich selbst versteckte und verhüllte, ohne alle Schonung aufzudecken.
O, murmelte er in sich hinein, während seine Augen durch die Flügelthüren auf den schwebenden Gestalten ruhten, welche im strahlenden Glanze der großen Kronen den zündenden Klängen der Musik folgten, wozu treibt uns die Armuth! Was müssen wir dulden, wozu uns bequemen, feige uns bücken, feige uns fügen und Ueberzeugung, mannhaftes Widerstehen, stolzes Denken, Alles aufgeben, weil wir unfrei, abhängig, willenlos sind!
Rudolf's schwermüthige Betrachtungen wurden von dem Rauschen eines Gewandes unterbrochen, und mit einer achtungsvollen Verbeugung erhob er sich, als er Frau von Stern bemerkte, die aus einem der Seiten-Cabinette getreten war. Wie schön sah sie aus, und mit welcher liebenswürdigen und schalkhaften Freundlichkeit näherte sie sich!
»Darf ich Ihre Einsamkeit stören?« fragte sie, indem sie sich setzte; »doch die Einsamkeit des Gelehrten stören soll ein Verbrechen sein, weil man dadurch der Welt irgend einen großen Gedanken rauben kann.«
»Die Gedanken, welche sich verscheuchen lassen und auf diese Weise verloren gehen, verdienen nichts Besseres,« antwortete er.
»Sie haben Recht,« rief sie lachend. »In meinen Mädchenjahren, als ich mir einbildete, sehr geistvoll und geschickt zu sein, Verse machte und Parabeln schrieb, geschah es mir zuweilen, daß ich wie Julius Cäsar Nachts nicht schlafen konnte. Es fielen mir dann häufig großartige, wundervolle Gedanken ein – Nichts ärgerte mich mehr, als daß ich diese am Morgen regelmäßig vergessen hatte. Ich legte daher Bleistift und Pergament vor mein Bett und setzte Feuerzeug und Licht daneben. Jetzt war ich gewiß, daß der Menschheit Nichts entzogen würde, und ich versichere Ihnen, daß ich in mancher Nacht dreimal Licht anzündete, weil ich überzeugt war, ich müsse meine beglückenden und tiefsinnigen Wahrheiten sofort niederschreiben. Nachdem ich dies jedoch einige Dutzend Male gethan hatte, war ich wirklich vernünftig genug, mir einzugestehen, daß bei Tage und auf Papier meine hochgearteten Gedanken wie sehr gewöhnliche Einfälle aussahen, und seit dieser Zeit schlief ich fest und gesund und machte auch keine Verse mehr, was überhaupt mancherlei üble Folgen haben kann.« –
Bei diesen letzten Worten zeigte sie ihre schönen Zähne und sah den Hauslehrer neckisch an, der in Verlegenheit gerieth; doch da ihm eben erst Fassung und Form zu lernen empfohlen worden war, so nahm er sich zusammen, und mit einem kleinen Seufzer sagte er:
»Ich wünschte von ganzem Herzen, daß ich immer Ihrem Beispiele gefolgt wäre.«
»Vielleicht ist es noch nicht zu spät,« erwiederte sie.
»O! ich denke mich wohl zu hüten,« war seine Antwort, »und hoffe …«
Was er hinzufügen wollte, verschwieg er, allein sie errieth es und vollendete statt seiner den Satz.
»Sie hoffen, Nichts mehr damit zu thun zu haben; warum nicht? Im Grunde war es doch komisch genug, und wenn ich nicht so anhaltend gelacht und mich ergötzt hätte, würde ich Ihnen nachgeeilt sein, um mich bei Ihnen zu bedanken.«
»Bei mir zu bedanken?«
»Gewiß, Herr Doctor. Wenn Sie, statt zu schweigen und nach Hülfe umher zu sehen, mit ehrbarer Gelassenheit den kleinen Verräther Lügen straften, dann hätte die ganze Scene unendlich verloren und vielleicht ein anderes Ende genommen. Dafür, daß dies nicht geschah, bin ich Ihnen Dank schuldig, und eigentlich ist es mit mir diese ganze ehrenwerthe Versammlung.«
»Auch diese Versammlung? Warum diese Versammlung?« fragte er lächelnd.
»Nicht ohne Ausnahme,« fuhr sie fort, »aber doch der allergrößte Theil, der heute die pikantesten Bemerkungen machen kann und mit der süßen Hoffnung nach Hause fahrt, bald wieder, und zwar zu einer Verlobungsfeier, geladen zu werden.«
»Und die Unzufriedenen?«
»Die mit Ihnen Unzufriedenen, mein gelehrter Herr Doctor, das sind diejenigen, die da meinen, es sei besser gewesen, wenn heute dieses schöne Geburtstagfest noch eine edlere, festlichere Weihe erhalten hätte, und die da glauben, dies sei sehr wohl möglich gewesen, wenn ein gewisser junger Herr etwas weniger wahrheitsliebend und etwas mehr schnell mit der nöthigen Antwort bereit gewesen wäre.«
Die Art, wie Frau von Stern ihre Spöttereien ihm in's Gesicht sagte, trieb ihm das Blut in den Kopf, aber er bezwang sich und sagte galant:
»Es würde mich doppelt unglücklich machen, wenn ich glauben müßte, daß auch Sie, gnädige Frau, zu diesen Unzufriedenen gehören.«
»Sie machen Fortschritte!« antwortete sie, mit dem Fächer spielend und hinter diesem hervor ihn heiter betrachtend. »Sie haben wirklich heute Etwas gelernt, und ich wette …«
»Was wetten Sie?«
»Daß Sie beim nächsten Male nicht wieder in eine ähnliche Lage kommen.«
»Ich werde,« sagte Rudolf, »mich Ihrer erinnern, gnädige Frau, und ein schirmender Genius wird mir nahe sein.«
»Schmeicheln also können Sie auch,« entgegnete Julie von Stern, »bis zu der Höhe haben Sie schnell sich heraufgearbeitet, wo man lächelnd und ohne Anstoß glatte Worte findet, die für Alles und für Alle passen.«
»Halten Sie mich für so fähig, ein auserwähltes Mitglied der Gesellschaft zu werden?«
»Ich halte Sie für einen sehr bildungsfähigen, sehr fein empfindenden, klug- und klarsehenden jungen Herrn und habe dieses Lob erst vor ganz kurzer Zeit über Sie von Jemand aussprechen hören, der dazu das größte Recht hat.«
»O!« sagte er, sich verneigend, »ich bin doch noch nicht auf der Höhe, dieses Urtheil ohne eine bescheidene Selbstbezweiflung zu hören. Sie haben gestern Ihren Vorsatz ausgeführt, gnädige Frau, und, wie ich annehme, Ihrer Freundin Lottchen einen Besuch gemacht.«
»Dem guten Lottchen – freilich, das habe ich, und habe mich entzückt an diesem stillen, genügsamen, in sich selbst zufriedenen Gemüth. Welch ein anderer Lebenskreis öffnet sich in ihrer Nähe! Da ist kein Grollen und Anstemmen gegen eindringende Verhältnisse, keine Stürme bewegen diese bescheidene Seele. Der Kreis ihrer Vorstellungen geht nicht weit, und überall ist ruhiges Wollen ohne zerstörendes Empfinden; überall steht in der Mitte ihres Glückes ein Steuermann, der sein Schiff durch ein stilles Meer führt, ohne Besorgniß, daß es an eine Klippe stoßen könnte.«
Ihre Worte fielen schwer auf Rudolf. Er sah vor sich hin, ohne zu antworten, und wagte es nicht, Frau von Stern anzublicken, aus Furcht, Etwas zu erkennen, was in ihm selbst lauerte. Ehe er jedoch eine Antwort ausdenken konnte, wurde er durch eine Unterbrechung überrascht. Eine Stimme neben ihm sagte plötzlich laut:
»Ich bitte um Ihre Hand!« –
Als er aufsah, war es Johanna Schellbach.
»Nun, das ist wirklich ein merkwürdiger Tausch!« rief Frau von Stern lachend. »Ich entlasse Sie, Herr Doctor, folgen Sie dem neuen Stern. Man tanzt den Cotillon, nicht wahr, Johanna?«
»Ja,« sagte das Fräulein, »und hier ist der Orden für meinen Ritter.«
Sie befestigte mit der Nadel, die am Bande steckte, das Kreuz an seiner Brust.
»Ein Kreuz mit einer Krone!« lachte Julie. »Sie sieht so zackig wie eine Dornenkrone aus.«
»Keine Krone ohne Dornen.«
»Und keine Rose, nach dem alten Gemeinplatz!« rief die schöne Frau ihnen nach. Dann sagte sie leiser: »Er, hat weiches Fleisch genug, die Stiche können nicht schaden.«
Es blieb nicht ohne Aufsehen, daß Johanna den Hauslehrer aus seiner Ecke geholt und ihm Band und Stern gegeben hatte; die geheimen kleinen Spöttereien fanden aber neue Nahrung durch die kecke Galanterie des Bevorzugten, der in der nächsten Tour seinen Strauß der reichen Erbin als Ersatz brachte und damit dem Baron Laxfeld zuvor kam, der eine andere Tänzerin wählen mußte. – Man lachte, beobachtete und fand es ungemein amüsant, als Johanna sich zurückzog, ihren Arm in Rudolf's Arm legte und sich von ihm in den Hintergrund des Saales führen ließ, wo zwei Sessel entfernt von den übrigen standen.«
»Es ist heiß,« sagte sie, »setzen Sie sich zu mir.«
In dem Augenblicke, wo er sich dazu anschickte, stand Laxfeld vor Beiden. Der junge, elegante Herr warf dem Hauslehrer einen Blick zu, in welchem Alles lag, was er wollte. Es war ein Blick, der diesen sich zurückziehen hieß, ein lächelnder, fragender, übermüthiger Blick, halb Befehl, halb Verwunderung und voll abweisender Bestimmtheit, die unmuthiger und drohender wurde, als Rudolf sich nicht rührte und nicht wich.
Die in einher Entfernung Stehenden genossen aufmerksam den sonderbaren Anblick der Verwegenheit des Hauslehrers, der mit seiner breiten Stirn und seinen breiten Schultern, die Hände auf den Rücken gelegt, sich so aufgepflanzt hatte, daß er seine ganze Front dem schlanken, schönen Herrn entgegen stellte. Der kalt lächelnde, über ihn hinfliegende Blick machte gar keine Wirkung; als der Baron aber, sich zu Johanna niederbeugend, seine Hand auf die Lehne des Stuhles legte und die Absicht zu haben schien, auf diese Weise den Ueberlästigen zur Entfernung zu zwingen und dessen Platz zu erobern, setzte sich der Hauslehrer in die weichen Kissen und machte jeden weiteren Versuch unmöglich.
»Sie entfliehen,« sagte Baron Hermann, »warum fliehen Sie?«
»Um mich zu retten!« antwortete Johanna.
»Sind Sie in Gefahr?« fragte er, die Augen spöttelnd seitwärts auf den Hauslehrer richtend.
»In Gefahr gewesen.«
»Und wo ist der Frevler?!«
»Wollen Sie freundlich sein?« fragte sie.
»Mit Aufopferung meines Lebens.«
»Dessen bedarf es nicht. Nur ein Glas Wasser.«
»Ein Glas Wasser!« rief der Baron dem Doctor zu, aber auch dies blieb ohne Wirkung. – Rudolf sah ihn an ohne eine Spur von Dienstfertigkeit; so eilte er denn selbst fort.
Johanna's Gesicht wendete sich mit einem eigenthümlichen Ausdrucke zu dem Gelehrten.
»Es freut mich, daß Sie geblieben sind,« sagte sie, »hören Sie mich jetzt!«
»Ich höre.«
»Ich wollte Sie sprechen, wir haben hier keine Zeit dazu. Seien Sie morgen Abend, wenn es zehn Uhr geschlagen hat, unter den Kastanien. Jetzt gehen Sie. Gute Nacht!«
Er stand auf und ging, ohne recht zu wissen, was er that; denn in seinem Kopfe drehte sich plötzlich der ganze Saal wirr umher. Die geputzten Menschen sahen ihn forschend und lauernd an; es kam ihm vor, als schienen die Kerzen bis in seine Brust, und alle Augen schauten hinein wie in einen der großen Krystallspiegel. Eine sonderbare Angst ergriff ihn, die Angst einer Schuld, eines Geheimnisses, und dabei wühlte eine Freude in seinem Blut, das Funken zu sprühen schien, die aus seinen Augen sprangen.
Ein plötzliches Glück hatte ihn ergriffen, ein Glück, das ihn betäubte, das er nicht fassen konnte, und das eben so schnell zerfloß und die Furcht zurückließ, es könnte ihn Jemand anhalten, mit ihm sprechen, ihn zum Erzählen zwingen wollen. Er sah sich scheu um: da saß Laxfeld auf seinem Platze und hielt das kleine Silberbrett höchsteigenhändig, auf welchem das Glas stand, das er Johanna bot. Es kam ihm aber vor, als hefteten sich die Augen des Barons auf ihn, und sein Lachen galt ihm, der Hohn in seinem Gesicht verfolgte ihn. Er sagte irgend eine nichtswürdige Spötterei, und sie hörte diese freundlich und gefällig an!
Ein wüthender Schmerz stieg in ihm auf, er wandte sich um und trat in das nächste Zimmer, doch auch hier war keine Ruhe. Da saß in der Ecke jetzt neben Frau von Stern die gnädige Frau und vor Beiden der Medicinalrath, der Juliens Hand hielt und sie küßte. Es schien ein geheimes Gespräch zu sein, denn sie flüsterten sich die Worte zu; aber was es auch sein mochte, es war nichts Gutes. Rudolf wußte nicht, warum, doch eine Stimme sagte ihm, er müsse dabei betheiligt sein, und eben hob Frau von Stern den Kopf auf und rief lachend:
»Es wäre sehr komisch, aber ich traue es ihr zu und will dahinter kommen.«
So schnell er konnte, zog er sich zurück, und unbemerkt entschlüpfte er der Gesellschaft, um in dem Mansardenzimmer weiter zu träumen, zu zürnen und zu wachen.
10.
In der kleinen Stube seiner Mutter saß der Hauslehrer am nächsten Abend wieder in dem alten Lehnstuhl, und neben ihm saß die Frau Zoll-Inspectorin, seine eine Hand haltend und die ihre andere auf seiner Stirn, während sie ihn besorgt anblickte. –
»Es taugt Dir Nichts,« sagte sie, »Du bist an solche Nachtschwärmereien nicht gewöhnt, und wenn Du auch zehnmal versicherst, es fehle Dir Nichts, so sehe ich es Dir doch an … stille, Kind, stille! … ich sehe es Dir doch an, daß Dir Etwas ist; denn umsonst hat man nicht so trübe Augen und Ringe darum. Und wie Du heute blaß aussiebst und gar nicht wie sonst, Rudolf! Du hast doch keine Schmerzen, mein Sohn? Kopfschmerzen, Augenschmerzen, Stiche, Fieber? Du lieber Gott! Deine Stirn brennt ja wie Feuer! Wart' ein Bischen, wart' ein Bischen! – Ich habe Cremortartari Weinsteinrahm, dient besonders in der Medizin als kühlendes, säuerlich-salziges, gelind abführendes Mittel, besonders gegen Kongestionen (d. h. Zunahme der Blutmenge in einem bestimmten Gebiet des Körpers, etwa durch erhöhten Blutdruck oder örtlich begrenzte Entzündungen). zu Hause, oder ein Brausepülverchen; da ist noch ein halbes englisches, die andere Hälfte hat Lottchen gestern genommen.«
Rudolf hielt die besorgte Mutter fest und sagte mit aller möglichen Bestimmtheit:
»Mir fehlt wirklich gar Nichts, und das Brausepulver ist mir zuwider. Das Glas frisches Wasser, das dort steht, reicht hin. Aengstige Dich gar nicht über mein Aussehen; ich bin spät zu Bette gegangen und habe schlecht geschlafen.«
»Getanzt hat er!« rief der Vetter, die Kammerthür aufmachend und den Kopf hereinsteckend, »getanzt mit den schönsten Damen, Galopp und wie die verdrehte Hopserei weiter heißt, die jetzt aufgeführt wird.«
Mit diesen Worten wälzte der alte Mann sich lustig drehend bis mitten in das Zimmer, daß seine spitzen Rockschöße wagerecht um ihn her schwebten.
Rudolf war überrascht aufgestanden, er sah jetzt wirklich sehr blaß aus.
»Ist Lottchen auch hier?« fragte er.
»Spitzbube!« rief Helm, sich vor ihn hinstellend, »danach fragt er, Muhme Jachtmann! Accurat wie sein Vater war, hehe! ganz wie der. Du suchst sie aber vergebens heute, denn sie wollte nicht mitgehen. Es ist Etwas in ihr, Rudolf, ich sage Dir, sie wollte nicht. Gehen Sie nur allein, Onkelchen,« sagte er mit Lottchen's sanfter Stimme, »und bringen Sie dem Herrn Doctor meinen schönsten Gruß; damit mußte ich abziehen. – Merkst Du was, Du Sappermenter, merkst Du was?!«
»Ich merke wirklich Nichts,« sagte Rudolf.
»Er merkt Nichts, Muhme Jachtmann, er merkt Nichts!« lachte der alte Herr, seine langen Hände zuklappend, worauf er eine mächtige Prise mit einem unermeßlichen Athemzuge in seine Nase stopfte und die Dose daran legte. Er sah ungemein schalkhaft und vergnügt aus und ließ seine belebten Augen über seines Mündels Gesicht irren. –
»Er sieht wirklich angegriffen aus, ich sehe es jetzt selbst; wovon können Menschen angegriffen aussehen, Muhme Jachtmann? – Es ist merkwürdig! Lottchen sieht gleichfalls angegriffen aus. Hehe! Du bist ja ein Doctor, ein Gelehrter, ein Weltweiser. Weißt Du, wie Einem dergleichen passiren kann und was dagegen für Mittel erfunden sind!«
Eine plötzliche Röthe färbte die Stirnhaut des jungen Mannes, und indem der Vetter mit seinem Zeigefinger darauf tippte, schrie er voller Lustigkeit:
»Jetzt merkt er es, Muhme Jachtmann, jetzt merkt er den Braten, so wahr ich lebe!«
»Aber, liebster Herr Vetter, er wird ja ganz schamroth,« sagte die Wittwe, die den Kopf ihres Sohnes an ihre Brust drückte.
»Um so besser, Muhme Jachtmann,« sprach der alte Herr, würdevoll in die Halsbinde fassend; »lassen Sie ihn sich schämen, er kann und soll sich schämen; denn wenn er artiger gewesen wäre, so würde Lottchen mich begleitet haben, und wenn sie mich begleitet hätte, he! es ist die Wahrheit, so würden wir Allerlei erlebt haben.«
»Aber, bester Vetter,« fiel Rudolf lächelnd ein, »ich weiß es wirklich nicht, wie ich Lottchen beleidigt hätte.«
»Das ist es ja eben,« rief Helm, »er weiß es nicht einmal, Muhme Jachtmann, daß er beleidigend gewesen ist!«
»Es war eine Neckerei,« sagte die Frau Zoll-Inspectorin begütigend, »und wie die Männer sind, sie sind immer nicht zart genug.«
»Weil so ein Mädchen wie ein rohes Ei ist,« sagte der alte Herr, »faßt man zu, giebt's einen Knick.«
»Ich danke Ihnen für die Vertheidigung,« fiel der Doctor ein, »aber ich habe auch keine Gelegenheit zu einem Knick gegeben.«
»Sehen Sie, wie er ist, Muhme Jachtmann!« rief Helm, mit der Dose aufschlagend. »Gerade wie sein Vater war, accurat wie sein Vater! Immer Recht haben, und wenn man ihm den Finger reicht, um sich herauszuhelfen, will er die ganze Hand. – Silentium! Du Bösewicht, beleidigt hast Du sie, hast Dein Wort nicht gehalten und dann nicht einsehen wollen, daß Du Unrecht hattest. Lottchen ist eine feinfühlende Seele, ein zartes, empfindliches Gemüth.«
»Aber die Güte selbst!« sprach die Wittwe dazwischen.
»Die Güte selbst,« sagte der alte Herr, »nur muß man sie nicht reizen, ihr nicht in die Quere kommen.«
»Immer sanftmüthig, immer bescheiden.«
»Und dabei Charakter, Muhme Jachtmann, keine Puppe, die mit sich spielen läßt.«
»Ein edler Stolz, den muß jedes Mädchen haben,« erwiederte die Frau Zoll-Inspectorin eifrig; »vergeben darf man sich Nichts; aber die Güte dabei, die himmlische Güte!«
»Also, Rudolf,« sagte Helm, ihm den Finger auf die Brust setzend, »es bleibt Nichts übrig, als zu kommen und abzubitten. – Mach keine Flausen und sage kein Wort; Du mußt abbitten, Lottchen thut es nicht anders. Weiber sind einmal so, sie wollen geschmeichelt sein und wollen das letzte Wort haben. Dein Vater war ein heftiger, harter Mann, und Deine Mutter – es ist die Wahrheit, Muhme Jachtmann – hat doch oft das letzte Wort gehabt.«
»Weil es nöthig ist, weil es durchaus meistentheils nothwendig ist,« rief die alte Dame, stolz auf den Ausspruch des Vetters.
»Also weil es nöthig ist,« fuhr dieser fort, »und nöthig ist es; denn ein Mann will Frieden und freundliche Gesichter haben, will kein Seufzen und kein Brummen, kein Schweigen und kein Traurigthun um sich leiden, und ein Bräutigam kann's wo möglich noch weniger leiden, wenn die Herzliebste umhergeht, als hatte sie in einen sauren Apfel gebissen.«
Rudolf betrachtete den Vetter, der offenbar in seine eigene Brust griff und seine eigene Geschichte herausholte. Er war nachgiebig, weil er Lottchen freundlich haben wollte, und diese gab nicht nach, weil sie wußte, was sie mit sanftem Schmollen, Schweigen und Seufzen erreichte. Sein Rath für den jungen Bewerber war ein triftiger Rath, und Lottchen's gerühmte Charakterstärke zeigte sich deutlich genug; denn ohne Zweifel hatte sie den Besuch abgelehnt, weil sie forderte und verlangte, daß Rudolf zuerst kommen und Abbitte leisten sollte.
Es war ihm jedoch im innersten Herzen lieb, daß Lottchen nicht gekommen war, und von einem Gefühle der Dankbarkeit geleitet, sagte er zu dem Vetter:
»Ihre Lehren sind Goldes werth. Morgen denke ich Alles zu erfüllen, was Sie mir befehlen.«
»So ist es recht!« rief Helm. – »Er ist doch auch zu weilen anders als sein Vater, Muhme Jachtmann. Wo der einmal seinen Kopf aufgesetzt hatte, ließ er nicht los, mochte Alles reißen oder brechen; aber ich sagte heute auch noch dem Medicinalrath: Er ist klüger als sein Vater, er sieht sich die Dinge an, wie sie sind, und paßt sich dazu, wie es geht.«
»Der Medicinalrath hat Sie also heute besucht?« fragte Rudolf.
»Er und sie,« sagte der alte Herr grinsend.
»Wer, sie?«
»Nun, sie … ja so, das weiß er noch nicht … Hm ja, ich weiß es eigentlich auch noch nicht, aber ich denke es mir so. Hehe! es ist einmal so und nicht anders in der Welt. Berg und Thal kommen nicht zusammen, aber Menschen, wo man es noch weniger denken sollte. – Sie ist Deine Freundin, noch mehr beinahe, wie er Dein Freund ist. Nun, meinetwegen, ob sie zusammen passen, ist ihre Sache. Pfiffig ist sie, es war schon ein pfiffiges Ding, wie sie noch klein war, und hübsch ist sie auch, und eine Zärtlichkeit zu Lottchen hat sie, als wollte sie sie aufessen.«
»Wie? Sie meinen doch nicht Frau von Stern?« fragte Rudolf.
»Na, wen denn sonst?« sagte Helm trocken. »Es ist eine Muthmaßung, aber es ist mir so, wie richtig calculirt. Der Medicinalrath – Du brauchst Dir Nichts merken zu lassen – hat voriges Jahr eine Zeit lang so gethan, als wäre es auf Lottchen abgesehen, mit Einem Male sprang er ab, und damals war diese da Wittwe geworden und kam nach der Stadt. Gewisses kann ich nicht sagen, jetzt scheint es aber, als haben sie sich ihre Bilanz gezogen und eine erfreuliche Zahl gefunden. Umsonst trafen sie sich heute Mittag nicht bei uns und gingen zusammen fort. Lottchen meint, es sei abgemacht gewesen, und Weiber haben darin einen besseren Blick, wie der Cours steht, als Rothschild an der Börse.«
Rudolf schwieg, denn seine Gedanken beschäftigten sich mit allerlei Gespinnsten.
»Von denen haben wir denn zuerst gehört, wie es gestern zugegangen ist,« fuhr der alte Herr fort. »Allerliebste Streiche, Muhme Jachtmann! er macht ein Gedicht zum Geburtstage, liest es vor, der Junge schreit: Das hat mein Doctor gemacht! und es wird ein Scandal, Alles kommt in Unordnung. Statt nun aufzutreten, wie es sich gehört, schweigt er still, und das eigensinnige Mädchen sagt, sie will nicht, will sich nicht verloben, hat noch keine Lust. Ist gestern Fünfundzwanzig geworden und hat noch keine Lust! Sie können sich denken, Muhme Jachtmann, was es für ein Aerger war – Alles eingeleitet, Alles bestellt, der Minister da, die ganze Verwandtschaft. Es soll Verlobung gehalten werden, Alles Nichts. Der Zwerg will nicht, will warten! Schief ist sie, Fünfundzwanzig alt – dabei ein junger Baron, ein Mensch wie ein Bild, und leutselig, vornehm, mit der gnädigen Frau Geschwister-Kind – sie will aber nicht, und ich sage, die hat noch Dinge vor, die ihr Keiner zutraut – Keiner traut sie ihr zu!«
»Aber, lieber Vetter,« sagte der Doctor, »wenn sie den Mann nicht liebt, mag er vornehm und schön wie ein Gott sein, was kann ihr es helfen?«
»Ach, dummes Zeug!« rief Helm ärgerlich. »Gott ist nicht vornehm, der ist für Arme und Reiche da, aber diese Familie wollte die Heirath. Es konnte gar nicht besser passen, und wenn Du Dich besser benommen hättest, so, meinen sie Alle, wäre es richtig gewesen.«
»Dann ist es mir lieb, daß ich mich nicht besser benommen habe,« erwiederte Rudolf.
»Pst!« lachte der alte Herr; »rühme Dich nicht noch damit, aber es kann sein« – er zog die Augenbrauen in die Höhe und trommelte auf den Tisch – »es kann sein, daß es doch gut gewesen ist. Lottchen ist stolz darauf, daß Du die Verse gemacht hast, und böse ist Keiner. Silentium! ich weiß Alles. Der Herr Minister Excellenz hat ihm gnädigst versprochen, für ihn zu sorgen, Muhme Jachtmann.«
»Ich dachte es ja! ich sage es ja!« flüsterte die Wittwe so gerührt, daß sie nicht laut sprechen konnte. »Er durfte ihn nur sehen.«
»Na, wie große Herren sind,« fuhr der Buchhalter gelassen fort. »Sehen hilft Nichts, versprechen ist auch nicht viel, Worte sind wohlfeil, man muß sie zum Worthalten zwingen.«
»Aber, liebster Vetter, so ein Herr wie der!«
»Es ist besser, Muhme Jachtmann, es ist besser!« sagte Helm nachdrücklich mit der Dose aufklopfend. Dann drehte er den Kopf zu dem Doctor um und fügte mit einem gewissen Wohlgefallen hinzu: »Getanzt hat er auch mit dem Fräulein, einen Orden hat sie ihm angesteckt, und dann hat er sich neben sie gesetzt, daß der Herr Baron stehen mußte.«
»Ach, mein Gott!« schrie die Frau Zoll-Inspectorin.
»Stille, Muhme Jachtmann, stille! es hat dieses Mal Nichts zu sagen,« fuhr der alte Herr beschwichtigend fort. »Wenn er klug ist, kann es ihm nützen, und klug wird er sein, muß er sein. Das Fräulein hat ein besonderes Vertrauen plötzlich zu ihm gefaßt und will sogar mit ihm eine heimliche Unterredung halten.«
»Woher wissen Sie das? wer bat es Ihnen gesagt?!« fragte Rudolf aus seiner Ruhe auffahrend, mit dunkelgerötheter Stirn und eben so überrascht wie erschrocken.
Helm lachte laut auf und winkte ihm zu.
»Wie er aussieht!« rief er, »als ob er Bankerott machen wollte! Als ob er falsche Wechsel ausgegeben hätte! Wir wissen Alles, sage ich Dir, Lottchen hat sich ausschütten wollen vor Lustigkeit. Jetzt wird er geheimer Rath und Vertrauter bei dem Fräulein werden und alle seine Fehler wieder gut machen.«
»Es ist unmöglich, daß Jemand Etwas wissen kann, was sie nicht selbst gesagt bat,« murmelte Rudolf halb laut vor sich hin.
»Also hat sie es gesagt, und so ist es auch,« sagte Helm, entzückt über die Verwirrung und das Erstaunen seines Mündels. »Sie hat es der Frau von Stern offen erklärt, zu Keinem habe sie Zutrauen wie zu Dir; mit Dir wolle sie reden, Dich wolle sie fragen, was sie thun solle. – Sie ist halb verrückt, Muhme Jachtmann, aber es ist gut so, darum sage ich, es ist gut so. Die Julie hat mit der gnädigen Frau gesprochen, und dann ist sie zu mir gekommen und zu Lottchen. So kam auch der Medicinalrath, und es wurde ein Consilium gehalten. Es war spaßhaft, hehe! ungeheuer spaßhaft. Neckerei wegen Eifersucht und dergleichen, aber es ist Nichts damit; nur wollte Lottchen durchaus nicht selbst mit Dir sprechen, weil es zu komisch wäre und dabei unpassend. Also übernahm ich es selbst, schrieb, Du möchtest doch ja heute Abend zu Deiner Mutter kommen, und die gnädige Frau ließ Dir noch besonders sagen, Deine Verwandten erwarteten Dich.«
»So also hängt diese Kette Glied an Glied!« murmelte der junge Mann.
»Und nun sind wir auf den richtigen Punkt gekommen,« fuhr der Vetter fort, »wo ich Dir mittheilen will, was wir beschlossen haben, was der Medicinalrath darüber denkt und was ich denke. Bei jedem Geschäft handelt es sich um Gewinn für beide Theile, verlieren will Keiner. Sie brauchen Dich, und Du brauchst sie; aber sie brauchen Dich heute mehrnoch als gestern, und je nachdem eine Sache, eine Waare oder ein Mensch gebraucht wird, was ganz einerlei ist, um so höher steigen alle im Preise. Haben sie Dir bisher versprochen, sie wollten Etwas für Dich thun, so kannst Du jetzt Bedingungen machen, Du kannst sie zwingen.«
»Bedingungen, wofür?« fragte Rudolf.
»Für Deine Mühen, für Deine Dienste! Eine Hand wäscht die andere – für Nichts ist Nichts! Sollst Du ihr rathen und es dahin bringen, daß sie dem Baron ihr Geld überliefert (denn das Geld ist es doch, wer wollte die ohne Geld haben!), wenn Du also für sie arbeitest, so müssen sie Dir dafür erst Sicherheit geben, daß Du Deine Anstellung in der Tasche hast.«
»Und welche Sicherheit hat Laxfeld Ihnen für Ihre Dienste gegeben?« fragte Rudolf, der sich plötzlich an jenen Abend erinnerte, wo er den Baron in dem Comptoir sah.
»O, ich – ich!« rief Helm verwirrt und unsicher, »was habe ich damit zu thun? Du bist jung und stehst mir nahe – was mir etwa zu Gute käme, kommt Dir zu Gute. Du hast sie aber jetzt, und ich sage Dir noch einmal, Du kannst sie zwingen. Der Medicinalrath weiß es am besten. Wenn der Minister will, sagt er, kostet es ihm einen Federstrich. Stellen sind da, Geld ist auch da, und Titel – Titel kann man alle Tage machen, ohne ärmer zu werden. Eine reiche Frau für seinen Neffen ist mehr werth als ein ganzer Sack voll Professor-Patente. Das sind ja Nichts wie Stücke Papier ohne Werth; also sage Du dreist: das will ich, das schafft mir, dafür will ich das Geschäft anfassen. Verstanden?«
»Vollkommen,« erwiederte der junge Gelehrte mit dem Gefühle des tiefsten Hohnes.
»Es ist ein Zug von Einsicht in ihm, Muhme Jachtmann,« sagte Helm wohlgefällig. »Ich sage Dir, Rudolf, es ist schade, daß Du den goldenen Handelsstab nicht ergriffen hast. – Vortrefflicher Thee, Muhme Jachtmann! Sie hat ihn von mir, den Thee, Deine Mutter, Rudolf; Lottchen hat ihn herausspeculirt. Die weiß immer, was gut und billig ist. Alle Vortheile wahrnehmen, genau rechnen, immer auf dem Platze sein und dabei ehrlich verdienen, redlich seinen Gewinn machen, das ist die goldene Regel.«
Sie saßen beisammen an dem Tische, und während des Thee's hörte Rudolf fast ohne Unterbrechung alle diese schönen Lehren an. Ekel und Verachtung erfüllten ihn je mehr er nachsann, wie es möglich sei, daß ein so strenger, an Redlichkeit und besonnene Geschäftsführung gewohnter Mensch, ein Mann, der uneigennützig so viel für ihn gethan, von dem er wußte, daß er bereitwillig auch manchem Anderen schon Dienste geleistet, und der eine große Gewissenhaftigkeit besaß, ihm Rathschläge ertheilen, Dinge von ihm fordern könnte, die ihm schamvoll und schändlich dünkten.
Aber Helm sah darin Nichts, als ein ganz erlaubtes Geschäft. Was sein Mündel sich verschaffen sollte, war ihm die gerechte Provision und Makler-Courtage; und Rudolf war überzeugt, daß seine Einwendungen ihm lächerlich und abgeschmackt erscheinen, ein Protest gegen die Unehrenhaftigkeit eines solchen Handels seinen Zorn erwecken würde, wenn er damit hervortreten wollte.
Wo der Eigennutz die Menschen treibt, sind sie alle sich gleich, murmelte er heimlich; aber Alles, was der Vetter zu seiner Ermunterung und Ermuthigung sprach, vermehrte seine schmerzlichen und widerwärtigen Empfindungen. Alle hatten beigestimmt. Der weltkluge, feine Medicinalrath scheute sich nicht, gemeinsame Sache mit der falschen Freundin Johanna's zu machen, und Lottchen wußte, was man verlangte, sie freute sich, daß er ein Wesen täuschen und betrügen sollte, welches furchtlos den Gegnern bekannte, daß es Zutrauen zu ihm allein gefaßt habe.
Was würde mein Vater thun, den sie so oft aus seinem Grabe heraufholen, um ihn mir als abschreckendes Beispiel vorzuhalten? flüsterte er sich zu, und langsam hob er seine Augen aufwärts über den Vetter fort nach der Wand, wo der selige Zoll-Inspector in Pastellfarben gezeichnet unter Glas und Rahmen hing. Ein zerknitterter Immortellenkranz umgab den Kopf mit einem Halbkreise, auf welchen ein helles Streiflicht wie Glorienschein fiel, und unter dem Glase traten die starken, festen Züge und die lichten, muthigen Augen hervor, als wenn sie lebten.
Die Wittwe war seiner Bewegung gefolgt, und jetzt senkten sich ihre Blicke nieder – sie wagte nicht, ihren Sohn anzusehen. Sie verstand den Vorwurf, der in seinem Gesichte lag, sie empfand auch Etwas davon, daß nicht Alles recht und gerecht sei, was der Vetter erklärte; sie wußte wenigstens ganz gewiß, daß ihr Kind mit Anstrengung seine Abneigung dagegen zu beherrschen suchte, und es kam ihr so vor, als würde der Selige dort an der Wand mit der Hand auf den Tisch geschlagen und mit seiner markigen Stimme ausgerufen haben: Nimmermehr will ich es thun!
»Es geschieht ja Alles zu ihrem wahren Besten und zu ihrem Glück,« sagte die Frau Zoll-Inspectorin halblaut, sich selbst und ihren Sohn tröstend.
»Versteht sich!« rief der alte Herr. »Es ist ein undankbares, leichtsinniges Mädchen! Der Herr Doctor soll sie curiren, sagte der Medicinalrath, Lottchen läßt viel Vergnügen wünschen. Hehe! Du siehst, Rudolf, Alle setzen das größte Zutrauen in Deine Geschicklichkeit, also nimm Dich zusammen, denn es kommt darauf an, wie Dein Capital-Conto nachher aussieht.«
»Es ist mir unerträglich!« murmelte der junge Mann.
»Ich glaub's Dir wohl,« lachte der Vetter, »aber ein Mensch, der Nichts ist und Nichts hat, muß in dieser Welt viel thun, damit er Etwas wird und zu Etwas kommt. Häßlich ist sie, schief ist sie, grob und ungezogen ist sie, und verrückt ist sie auch; aber mach die Augen zu, denke Dir, Du sprächest mit Lottchen, denke Dir, es wäre ein allerliebstes Kind mit langen, blonden Locken – hehe!« rief er laut lachend und hielt den Aufspringenden fest, »versteh doch Spaß, Du Hitzkopf – es muß einmal so sein, aber eben darum – umsonst muß ein Mensch nur nicht thun, was er nicht gern thut, und damit es Dir leicht wird, will ich Dir ein Wort im Vertrauen sagen. Du hast verhindert, daß gestern eine Verlobung gehalten wurde, und dafür hast Du heute Deine Strafe, daß Lottchen nicht hier ist, denn ich weiß nicht, was sonst geschehen sein könnte; jetzt mach, so schnell Du kannst, daß dort im Park die Ringe gewechselt werden, und wenn es so weit ist, dann geh zu dem großen Juwelier am Schloßplatz. Kaufe allda zwei Goldreife und bringe sie in ein Haus, das einen Brunnen vor der Thür und einen Balcon in der Mitte hat, auf welchem hinter den Blumen täglich ein angenehmes Kind sitzt, das alsdann seinen Finger nehmen lassen und sich erbitten lassen wird, das Ringelchen anzustecken.«
»Gute Nacht, Vetter! Gute Nacht, Mutter!« rief Rudolf, sich frei machend.
»Bleib hier, höre an!« schrie der alte Herr.
»Ich muß fort,« sagte er und griff nach dem Hute.
»Wohin denn, mein Kind? Du hast noch Zeit,« bat die Wittwe.
»Keine Zeit, sie erwartet mich, ich muß die Braut verdienen!«
Mit diesen Worten eilte er hinaus, und er hörte, wie Helm laut lachte und ihm nachrief; aber er lief so schnell er konnte, und als er auf der Straße stand und die kühle Luft um sein heißes Gesicht wehte, athmete er tief auf und sah sich erschreckt um, als fürchtete er, Lottchen könnte ihm entgegen springen oder ein anderer der Verschworenen ihn aufhalten.
Als er durch das Gitterthor des Parks trat, schlug es zehn Uhr, und über die hohen Baumgruppen stieg der Mond und streute sein feines, klares Licht auf die Rasenfläche. Die Vorderseite des Landhauses stand im Schatten, fast schien es, als wache Niemand mehr darin.
Das Fest hatte bis an den Morgen gewährt, den ganzen Vormittag über hatten die Ermüdeten geschlafen. Der Hauslehrer speis'te mit seinem Zögling allein, und am Nachmittage brachte man ihm Helm's Billet und die Botschaft der gnädigen Frau. So hatte er den ganzen Tag über die Familie nicht gesehen, auch von Fräulein Johanna Nichts gesehen und erfahren, und nun näherte er sich erwartungsvoll, doch entschlossen den Kastanien, die sie ihm als den Ort der Zusammenkunft genannt hatte. Er wollte sie hier erwarten und kein Spiel mit sich treiben lassen. Was es auch war, warum sie ihn beschieden, er wollte rathen und hülfreich sein, doch auch wahrhaft und aufrichtig. Wie es ihm Klugheit und männliche Festigkeit geboten, so wollte er mit ihr sprechen.
Langsam schritt er den Gang hinab, plötzlich aber klopfte sein Herz lauter, denn dort unter dem größten Baume vor ihm saß am Stamme auf der Bank eine dunkle, regungslose Gestalt. Als er still stand und sie anblickte, hob sie die Hand auf, und die harte, feste Stimme, die er kannte, redete ihn an.
»Kommen Sie näher,« sagte sie, »ich erwarte Sie.«
Er trat zu ihr hin, sie deutete auf den Platz neben sich.
»Warum sprechen Sie nicht?« fragte sie.
»Was soll ich Ihnen sagen?«
»Was Sie denken. Was Sie glauben.«
»Ich glaubte Sie nicht hier zu finden.«
»Und doch kamen Sie!«
»Weil Ihr Wunsch mich herbeirief. Vielleicht aber, so sagte ich mir selbst, war es ein augenblicklicher Einfall, der heute schon vergessen ist.«
»Ich vergesse Nichts,« antwortete sie. »Als ich Sie gestern bat, mich hier zu erwarten, hatte ich wohl überlegt, was ich that. Man fragte mich später, was ich mit Ihnen gesprochen, und ich hielt mit der Wahrheit nicht zurück. Es ist möglich daher, daß es jetzt Alle wissen, dort im Hause nämlich; möglich auch, daß man Ihnen schon besondere Aufträge ertheilte?«
Rudolf schwieg.
»Als Sie gestern mit mir tanzten,« begann sie nach einem kurzen vergeblichen Warten auf seine Antwort, »war ich noch ungewiß, was ich thun sollte. Sie vertheidigten Ihr Recht gegen die Anmaßung, welche Sie verdrängen wollte, das entschied meinen Entschluß. Ich dachte nach und fand, daß Sie trotz Ihrer Bescheidenheit immer Würde bewahrt, niemals geheuchelt und geschmeichelt hatten. Auch mir hatten Sie das nie gethan. Sie waren kalt und fremd, Sie beachteten mich nicht, zuweilen fand ich Haß und Mißachtung in Ihren Zügen.«
»O, niemals!« sagte er.
»Wohl auch Mitleid, das wie ein brennender Tropfen auf mich fiel,« fuhr sie fort. »Nun traf es sich vor einigen Tagen, daß Sie hier auf dieser Stelle Worte sprachen, die mich bewegten wie seit Jahren Nichts. Sie sagten, das Sittliche im Menschen sei das Göttliche. Das Schöne und Wahre erhebe über die gemeine Schlechtigkeit und das Bewußtsein, menschlich gut und gerecht zu handeln, könne Falschheit und Lüge überwinden. Ich sah Sie an, als Sie diese Worte sprachen. Wo es gilt, Wahrheit und Ehre zu vertheidigen, wird kein Vortheil den sittlich guten Menschen bewegen können, sich zu erniedrigen, das waren Ihre Worte. In Ihren Augen loderte ein Stolz, der mich erfreute, auf Ihrer Stirn lag ein Zürnen – ein göttliches Zürnen war es – Sie empfanden, was Sie sagten.. Sie glaubten daran. Wissen Sie nun, weshalb ich Sie bat, hierher zu kommen?«
»Sie wollen prüfen, was echt, was falsch an mir sei,« erwiederte er mit leiser, aber fester Stimme.
»Nein,« sagte sie, »ich will Ihnen meine Geschichte erzählen. Ich habe es bisher meist gleichgültig gefunden, was Menschen von mir denken; bei Wenigen bedauerte ich es, wenn ich merkte, daß ich ihnen mißfiel, bei den Meisten freuete ich mich darüber. Sie aber sollen nicht übel von mir urtheilen, ich will versuchen, Ihnen zu. erklären, was mich dahin gebracht hat, anders zu sein als Andere.
Als ich ein Kind war, wurde mir früh gesagt, daß ich nicht zu sorgen und zu arbeiten nöthig habe. Alle, die mir nahe kamen, waren dienstwillig und bereit, meine Launen und Einfälle zu bewundern, meine Unarten zu belachen, und ich merkte es ihnen an, daß sie mir zu gefallen suchten. Mein Vater selbst freute sich über das, was man besondere Fähigkeiten und frühe Entwickelung nannte. Er war streng, scharf und gebieterisch, und er liebte meine raschen Antworten, meine Heftigkeit und meine Entschlossenheit. Als er starb, wurde ich von Leuten erzogen und überwacht, die sich vor mir beugten, und deren Schwächen ich bald durchschaute. Ich fand nur Ein Wesen, das sich mir gleichstellte und mich nicht fürchtete, das eben so wie ich die Menschen zwang, ihren Willen zu thun, obwohl durch ganz andere Mittel. Julie bewirkte durch ihren fröhlichen Sinn, ihre schmeichelnde Heiterkeit, ihr gefälliges Anschmiegen Alles, was sie wollte. Sie war durch Schönheit und Liebenswürdigkeit der Liebling Aller, obwohl sie arm war; ich wurde gelobt und gepriesen, weil ich Reichthum besaß.
Dieser Schein, der mich umgab, erfüllte mich bald mit Bitterkeit. Je älter ich wurde, je mehr mein Verstand reifte, um so mehr sah ich durch die Hülle von Ergebenheit und Entgegenkommen, ich fand Nichts als Falschheit und Lüge. Ich hatte ein warmes und offenes Herz, ich hatte gute Eigenschaften, ich bemühte mich, gut zu sein; aber gut oder schlecht, überall fand ich dieselbe heuchlerische Erbärmlichkeit. Ich war klug genug, um mich nicht täuschen zu lassen, konnte seltsam durch alle ihre Verstellung sehen, und was ich sah, erfüllte mich mit Verachtung. Ich sagte mir selbst unzählige Male, daß es unschön sei, daß mein Benehmen Tadel verdiene, daß ich empfindlich zurechtgewiesen und gestraft werden müßte, allein statt dessen wurden mir Artigkeiten zu Theil; ich wurde gesucht, man bewunderte mich und suchte mir zu gefallen. Wäre ich arm gewesen, keine Erbin, nicht die Waise mit der goldenen Hand, wie verlacht und verhöhnt wäre mein Leben! Ich sah den Spott in den Augen derer, die mit Liebe mich erdrücken wollten, ich hörte zuweilen unbemerkt die volle Wahrheit, ich erkannte diese trotz aller Ränke. Wer hätte mich auch lieben können, wie ich ihnen entgegentrat! Und mit dieser Ueberzeugung faßte mich der Ekel vor der Gemeinheit, eine Verzweiflung, wenn ich es so nennen darf, vor allen diesen jämmerlichen Geschöpfen, die, je rauher und wegwerfender ich sie behandelte, um so mehr mich heimlich haßten und verdammten, aber öffentlich um so demüthiger waren.
Ich will Sie nicht ermüden, Sie werden mich verstehen. Jeder wollte Vortheile von mir ziehen – einen treuen Freund fand ich nicht. Was ich in diesem Hause sah, war nicht besser und nicht schlechter, als was ich immer gesehen. Mein Bruder hatte sich für die Befriedigung seiner Eitelkeit verhandelt, und jetzt kam die Zeit, wo auch ich verhandelt werden sollte. Ich wußte es längst und zeigte es ihnen deutlich. Ich malte sie als gaunerische Spieler, sie hängten ihre Schmach frohlockend an die Wand. Zurückgezogen auf mich selbst, trat ich ihnen nur näher, um sie von mir zurückzuschrecken; aber was ich thun mochte, die selbstsüchtige Gier solcher Menschen fürchtet Nichts. So stolz und hochmüthig sie sind, so grausam hart und unbarmherzig, wo sie es sein können, sie warfen sich vor mir in den Staub mit geheimen Racheschwüren, Alles zu seiner Zeit zu vergelten. O! ich weiß Alles, ich sehe und empfinde besser als tausend andere bethörte Geschöpfe. Was wäre mein Loos, wenn ich ihrer Heuchelei glaubte? Ich – ich! Sehen Sie mich an, der Mond scheint hell genug dazu. Wo sind die Vorzüge, die mich liebenswerth und begehrt machen? Wo sind meine Reize? Wie finden Sie dieses Gesicht, diese Gestalt, diese harmonische Gliederung?!«
Der Mond schien durch das dünne, knospige Geblätter, sie hob den Kopf auf und ließ das blasse Licht darauf fallen, ein gespenstisches Lachen war auf ihren Lippen.
»Sind es denn die vergänglichen Reize nur, die Liebe aufwecken?« sagte Rudolf.
»O, fort damit, fort mit diesem Troste!« antwortete Johanna. »Was fragen diese Menschen nach geistiger Schönheit, und was habe ich ihnen davon geboten? – Sie, der Sie an sittliche Wahrheit glauben, der Sie an Gott glauben, weil Sie ein göttliches Sein im Menschen anerkennen, glauben Sie nicht, daß ich verkauft werden soll? Glauben Sie nicht, daß ich elend werde, unermeßlich elend, getreten, verlacht, verhöhnt, verachtet, wenn jener Mann mich zu sich erhebt und sich erniedrigt? Glauben Sie, daß er mich will, nicht mein Gold? Meinen Sie, daß irgend ein anderes Gefühl in seiner Seele sei, als Gier und Heuchelei, und daß er diese nicht abzuwerfen lechzt, um sich für allen Zwang zu entschädigen?«
»Alles ist so – Alles!« sagte Rudolf.
»Dank Ihnen, Dank!« fuhr Sie fort. »Sie werden sich also nicht herbeilassen, mir Vorstellungen zu machen, daß ich meiner lieben Verwandten Wünsche erfüllen und den jungen, schönen, hochgeborenen Freiherrn als Geburtstags-Geschenk nachträglich in Empfang nehmen soll?«
»Wie könnte ich das, nachdem ich Sie gehört habe!« antwortete er bewegt.
»Sie haben aber Aufträge dazu erhalten?«
»Ja, Fräulein Schellbach.«
»Und man versprach Ihnen reichen Lohn dafür?«
»Lohn, den ich verachte.«
»So haben Sie Mitleid mit mir?«
»Das innigste, tiefste Mitgefühl.«
»Aber ich kann Ihnen Nichts geben,« sagte sie, und ihre Stimme wurde plötzlich so weich und sanft, daß sie in seinem Herzen zitterte; »denn was ich geben könnte … was ich geben könnte … o! wer will es von mir?«
»Johanna!« flüsterte er, ihre Hand ergreifend »was können Sie mir geben?«
Sie legte ihre andere Hand auf die seine und blickte ihn an. Es war, als sähe er ihre Augen weit und glänzend geöffnet, und um die schmalen Lippen lief das schöne, stille Lächeln.
»Bei Allem, was Sie glauben,« sagte sie, ihn starr betrachtend, »bei allem Hohen und Ewigen, und wenn es Großes und Schönes auf Erden giebt, reden Sie wahr: Lieben Sie mich?!«
Einen Augenblick nach dieser Frage blieb er ohne Regung und wie bewußtlos, plötzlich aber schlang er beide Arme um sie. Ein Strom von Gluth und Seligkeit verwehte alles Denken; er konnte Nichts als sich niederbeugen und gewaltsam die Worte hervorstoßen:
»Du sprichst es aus, ich vermochte es nicht!«
»Lieber, geliebter Mann!« flüsterte sie unter seinen Küssen. »Endlich, endlich Wahrheit!«
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1.
Am frühen Vormittage des nächsten Tages wurde Rudolf durch den Besuch des Medicinalrathes überrascht, der mit seiner lächelnden, lauernden Freundlichkeit zu ihm herein trat und, als er ihm die Hand gedrückt hatte, den Knaben zu seiner wartenden Mama schickte.
Des Hauslehrers Gesicht hatte sich geröthet, er sah verlegen und ernsthaft aus. Neidler setzte sich nieder und beobachtete ihn.
»Nun, bester Doctor,« sagte er, »Ihre Sache ist in Ordnung, der Druck der Bogen wird heute fertig sein, das Geheimniß gut bewahrt werden, hoffentlich aber wird auch materieller Vortheil für Sie daraus entstehen. Ich habe es eingerichtet, daß Sie ein Honorar je nach dem Erfolg erhalten.«
»Ich habe nicht darauf gerechnet,« erwiederte der junge Mann.
»Darauf müssen Sie rechnen!« war die Antwort. »Wie das Getriebe der Welt einmal ist, muß Jeder auf seinen Vortheil bedacht sein. Ich bin es auch, wir Alle sind es, und ein Mann wie Sie, der erst in's Leben tritt, muß, je eher, desto lieber, alle falschen Vorstellungen ablegen.«
»Ich glaube nicht zu den Ideologen zu gehören,« sagte Rudolf lächelnd.
»Gewiß nicht, das wäre übel für Sie.« –
Der Medicinalrath betrachtete ihn aufmerksam in seiner Weise und fuhr dann fort:
»Sie haben Gelegenheit, dies sogleich zu beweisen. Waren Sie gestern bei unserem trefflichen Helm?«
»Ich war bei meiner Mutter und traf ihn dort.«
»Also an der Quelle des allerbesten Rathes.«
»Mein Vetter theilte mir wenigstens das mit, was Sie mir als das Beste anrathen ließen, um …«
Der Medicinalrath legte die Hand auf Rudolf's Arm und hob die andere warnend auf, indem er nach der Thür blickte. Dann erhob er sich, ging und horchte, öffnete und sah hinaus. Als er zurückkehrte, sagte er mit gedämpfter Stimme:
»Lassen Sie uns leiser sprechen, die Sache ist für alle Theile von größter Wichtigkeit. Ich komme so eben von der gnädigen Frau: sie ließ mich rufen, weil sie unruhig geschlafen hat, und schickte mich zu Ihnen als Parlamentär, um die Unterhandlungen zu eröffnen. Lassen Sie mich ausreden, lieber Doctor, ich bin gleich fertig. Frau von Schellbach weiß natürlich, daß Sie gestern Abend pünktlich Ihr Stelldichein abgehalten haben. Sie sind beobachtet worden; es hat etwas lange gedauert. Um zehn Uhr sind Sie gekommen, und Mitternacht ist vorüber gewesen, als Fräulein Johanna an Ihrem Arm hier in's Haus zurückgekehrt ist.«
»Das weiß man so genau?« fragte der Hauslehrer.
»Es ist allerdings seltsam und belustigend genug, aber ganz in der Verfahrungsweise dieses wunderlichen Fräuleins. Sie hat gar kein Geheimniß aus der nächtlichen Zusammenkunft mit Ihnen gemacht; im vollen Mondschein sind Sie Beide umher gewandelt; nun, wenigstens hat sie damit dem Baron gezeigt, daß sie Nichts hinter seinem Rücken thut.«
»Dem Baron?« fragte Rudolf. »War er denn hier?«
Der Medicinalrath nickte und lächelte spöttisch.
»Er saß dort unten in dem Eckzimmer und sah zu den Kastanien hinüber. Es war grausam, lieber Doctor, ihn so lange zappeln zu lassen, aber machen Sie sich keine Besorgnisse darüber. Er ist in Ihrer Hand, und Helm hat es schon gesagt, benutzen Sie das. Sie sind jetzt der Deus ex machina, alle Hoffnungen und Erwartungen ruhen auf Ihnen; sprechen Sie dreist aus, unter welchen Bedingungen Sie helfen wollen.«
»Gegen wen soll ich das aussprechen?«
»Sehr richtig bemerkt,« antwortete Neidler; »das führt uns weiter. Ich habe die Vermittlung übernommen, überlassen Sie die Sache mir. Frau von Schellbach wird mit Allem zufrieden sein, was ich ihr vorschlagen werde; zunächst aber theilen Sie mir mit, wie Ihre lange Unterredung ausgefallen ist, und was Sie gesagt und gethan haben.«
Rudolf schwieg einen Augenblick und sah vor sich nieder.
»Sie scheinen sich zu bedenken?« fragte der Medicinalrath.
»Wenigstens vor der Hand.«
Es entstand eine kleine Pause.
»Ich denke doch,« fuhr der Arzt dann etwas ernster fort, »daß Sie alles Vertrauen zu mir haben könnten.«
»Seien Sie überzeugt,« sagte Rudolf, »daß, wenn ich einem Menschen den Inhalt meiner Zusammenkunft mit Fräulein Johanna mittheilen könnte, Sie es wären; aber …«
»Nun aber?«
»Ich habe die triftigsten Gründe, darüber heute noch zu schweigen.«
»O!« flüsterte Neidler lächelnd, »Sie haben doch keinen Eid abgelegt?«
»Nein, aber um meiner selbst willen muß ich vorsichtig sein.«
»Ich verstehe, antwortete der Medicinalrath, »Sie wollen ganz sicher sein, und ich tadle Sie nicht. Machen Sie es meinetwegen wie ein Kaufmann. Nehmen Sie Wechsel, Schwarz auf Weiß, wir leben in einer wortbrüchigen Zeit. Doch Eines sagen Sie mir: Glauben Sie, daß Sie es zu einer Heirath bringen?«
»Das glaube ich gewiß.«
»Auf ihr Wort und Gewissen?«
»Nach meiner innigsten Ueberzeugung.«
Die Augen des Medicinalrathes erhielten einen triumphirenden Glanz. Er hielt die Lippen dicht geschlossen, aber sein ganzes Gesicht trug den Ausdruck größter Befriedigung; so stützte er das Kinn auf seinen Stockknopf und schien zu rechnen und zu überlegen.
»Nur noch Eines, Doctor Jachtmann,« sagte er dann, »Sie sind also im vollen Vertrauen der kleinen launenvollen Person?«
»Ich glaube es wirklich zu sein.«
»Sehen Sie sich vor! Ich habe das auch einmal geglaubt.«
»Und Sie haben darauf besondere Hoffnungen gegründet?«
Der Medicinalrath sah ihn durchdringend an. –
»Das wissen Sie also auch?« begann er, die Augen sanft und trauervoll aufschlagend, »das hat sie Ihnen mitgetheilt? Dann müssen Sie allerdings weit mit ihr gekommen sein.«
»Ich glaube, Sie haben Recht!« erwiederte Rudolf, »ich bin meiner Sache gewiß; nur Eines ist es, was mich besorgt macht: die Scheu vor mir selbst, ein Schamgefühl vor dem Urtheile der Welt.«
»Was man von der Welt fürchtet, muß man ihr verbergen,« murmelte Neidler lächelnd.
»Aber wenn es dennoch offenkundig wird und sich nicht länger verbergen läßt?«
Der Arzt blickte mit überlegener Sicherheit zu ihm hin.
»Wenn man es so macht,« antwortete er, »daß die Welt bekennen muß, man hat sich klug benommen, dann vertheidigt oder entschuldigt sie alles Uebrige.«
»Aber sie verdammt den gewissenlosen Egoismus,« flüsterte Rudolf Jachtmann, »oder legt unseren Handlungen die schlechtesten Motive unter.«
»Mein Gott,« sagte der Medicinalrath, »quälen Sie sich doch nicht so! Glauben Sie mir, lieber Doctor, Wenige würden in Ihrer Stelle anders handeln als Sie.«
»Sie sagen mir eine große Beruhigung,« antwortete der junge Mann, als er die Hand drückte, die ihm der erfahrene Freund reichte.
»Was ist denn Egoismus?« fuhr Neidler sanft lächelnd fort. »Es ist Nichts als das jedem Menschen angeborene Bewußtsein, Sorge für sich selbst zu tragen. Ich kann mir kein vernünftiges Wesen denken, das nicht egoistisch wäre; selbst ein Wilder, ein Geschöpf aus der Wüste, ist ein Egoist; je höher aber die Cultur steigt, je weiter wir in der gesellschaftlichen Entwickelung kommen, um so entwickelter wird auch das Bewußtsein dessen, was wir uns selbst schuldig sind, um hinter unseren Mitmenschen nicht zurück zu bleiben. Nun, mein lieber Freund, denken Sie sich, daß ein Jeder unter uns demgemäß empfindet, ein Jeder danach strebt, eine würdige Stellung in der Gesellschaft zu erringen und zu behaupten. Wir gerathen damit in einen Zustand der Nothwehr, sehen uns in einen Kampf verwickelt, den wir nur siegreich führen können, wenn wir Egoisten, das heißt eben kluge, die Verhältnisse begreifende und benutzende Menschen sind, nicht sentimentale Narren, die sich einreden, besser, das heißt hier so viel wie dümmer sein zu müssen, als Andere.«
»Aber das Gemeinste, Nichtswürdigste läßt sich auf diese Weise vertheidigen, das Edelste, Erhabenste als Narrheit verspotten!« rief Rudolf aus.
Der Medicinalrath sah mit einem scharfen Lächeln zu ihm auf und legte seufzend die Hände zusammen.
»Wer wäre nicht erfreut, wenn es anders wäre!« sagte er mit seiner weichen Stimme. »Wäre diese Welt wirklich eine weise, gerechte und vollkommene, so würden wir zu unserem Glücke Nichts nöthig haben, als tugendhaft zu sein; aber wohin gerathen wir, wenn wir uns den bloßen Gefühlen überlassen wollen?! – Richten Sie Ihren Blick auf diesen speciellen Fall, lieber Doctor, was wollen wir denn mit allem unserem Egoismus erreichen? Nichts als unser allseitiges Heil und Glück. Wir wollen einem reichen Mädchen einen angenehmen Mann verschaffen. Wollen wir das?«
»Ich denke, ja,« sagte Rudolf.
»Wir wollen, abgesehen von vielem Anderen, diese junge Dame von allerlei Fehlern und übeln Angewohnheiten befreien, ihre reizbaren Nerven beruhigen und ihre schwermüthigen Gedanken zerstreuen. Wollen wir das nicht auch? Nun sehen Sie, lieber, bester Doctor, so erfreulich steht die Sache. Endlich in Bezug auf Sie selbst, was soll da geschehen? Sie wollen heirathen, nicht wahr?«
»Das will ich.«
»Können Sie aber heirathen, ohne unser kleines, eigensinniges Fräulein ebenfalls dazu zu bringen?«
»Sie haben wirklich Recht!« sagte Rudolf, dessen finsteres Gesicht sich plötzlich aufhellte.
»Also,« fuhr Neidler fort, »Ihr ganzes Lebensglück hängt davon ab, daß Sie ein Egoist sind, ohne nach dem Urtheile der Welt zu fragen. Sie wollen Ihr Leben genießen, wollen Ehren, wollen Ansehen und Macht … denken Sie an Goethe, den großen Goethe, was sagt er?
An unsers himmlischen Vaters Tisch
Greift wacker zu und bechert frisch:
Denn Gut' und Böse sind abgespeist',
Wenn's
Jacet ecce Tibullus heißt.«
Er rieb sich lachend die Hände und sah den ernsthaft lächelnden Doctor mit hohnvoller Ueberlegenheit an.
»Also das Leben genießen, mein junger Freund, und nicht ängstlich fragen, was derselbe große Dichter so schön ausdrückt:
Das Glück Deiner Tage
Wäge nicht mit der Goldwage.
Willst Du die Krämerwage nehmen,
Mußt Du Dich schämen und Dich bequemen.
Darum gar keine Wage, sondern das, was uns frommt und uns Glück verheißt! Ja, Goethe war ein gewaltiger Geist. Kein Mensch ist mehr als Egoist verschrieen worden als er, und wie groß ist sein Ruhm, wie unantastbar seine Unsterblichkeit!«
»Doch nicht durch seinen Egoismus, wie Sie es nennen,« sagte Rudolf, »und würde er jemals …«
»Gethan haben, was Sie thun werden?« fiel der Medicinalrath ein. »Wenn das möglich gewesen wäre, er hätte sich nicht lange besonnen, denn er war zu klug, um nicht augenblicklich zu wissen, daß er Hammer und nicht Ambos sein müsse. – Was soll ich also der gnädigen Frau sagen? Haben Sie Ihren Plan gemacht?«
Rudolf wandte sich ab und ging einige Schritte durch das Zimmer. Neidler sah ihm wie Mephistopheles nach.
»Fordern Sie doch,« flüsterte er, »es wird Ihnen so leicht Nichts abgeschlagen werden. Bedingen Sie sich, außer der Stellung, eine bestimmte Summe aus.«
»Und Sie selbst,« fragte der Doctor plötzlich, indem er zurückkehrte, »was haben Sie sich bedungen?«
»Ich?« antwortete der Arzt … »glauben Sie, daß ich …!« –
Er schlug die Augen sanft und langsam auf.
»Ein Mann wie Sie, mit Ansichten wie die Ihrigen, wird mir nicht zumuthen, zu glauben, er handle nur in meinem Interesse.«
Neidler behielt sein Lächeln, indem er seine Uhr zog und an's Ohr hielt. –
»Sie haben ganz Recht,« sagte er dann, »ich habe auch meine Absichten, und ich bemerkte Ihnen schon früher, daß wir durch gegenseitige Freundschaft uns nützen könnten. Ich werde mich auch verheirathen.«
»Mit Frau von Stern.«
»Sie wissen es schon, das ist gut. Ihre Heirath, Ihr Glück hängt davon ab, daß wir dem Baron verschaffen, was er Glück nennt; das meine ist nicht minder damit verbunden.«
»Wie!« fragte der Doctor, »macht Frau von Stern Bedingungen?«
»Allerdings. Nur wenn ihre Freundin sich erweichen läßt, will sie die Meine werden.«
»Das ist seltsam,« sagte Rudolf, der ihn forschend betrachtete.
»So sind die Frauen!« rief Neidler lächelnd. »Aber Muth, mein lieber Freund, wanken Sie nicht, Ihnen winkt ein herrliches Loos!«
»Ich bin fest entschlossen, es zu verdienen!«
»So ist es gut. Wollen Sie mit der gnädigen Frau sprechen?«
»Heute noch nicht,« antwortete der Hauslehrer, »aber morgen gewiß. Ich will zunächst ganz in's Reine kommen.«
»Vortrefflich. Und Sie glauben …«
»Ich glaube, daß ich das Fräulein dazu bringe, meinen Wünschen und Vorschlägen unbedingt zu folgen. Heute werde ich sie nochmals sehen. Veranstalten Sie, daß Niemand uns stört.«
»Unbesorgt, lieber Doctor, ganz unbesorgt. Ich werde unten Bericht erstatten; kein Schatten wird auf Ihren Weg fallen.« –
Er legte die Hand auf Rudolf's Schulter und lächelte ihn an.
»Lassen Sie sich durch Nichts irre machen,« sagte er. »Sie sehen energisch aus: Energie muß man haben, um sein Ziel zu erreichen, und Sie können es weit bringen, – Sie werden es weit bringen unter des Himmels Beistand!«
Er drückte ihm die Hand mit so heuchlerisch süßer Miene, daß Rudolf seine Finger heftig zurückzog und stehen blieb. An der Thür kehrte der Medicinalrath um und sagte, eben so süß lächelnd:
»Sie wissen, wie Helm, Lottchen und Ihre Mutter denken, welche Hoffnungen Alle, die Sie lieben, auf Sie setzen. Es könnte viel verloren gehen. Kommen Sie heute Abend noch einmal zu Ihrer Mutter und überlegen Sie wohl.«
»Ich werde kommen,« antwortete Rudolf, »seien Sie ohne Sorge.«
»Gut, lieber Doctor. Ich denke Ihnen noch einige wichtige Mittheilungen zu machen. Bis dahin herzliches Lebewohl.«
Draußen stand er still und sah zurück.
Du wirst uns nicht entkommen, murmelte er leise, an zehn Leimruthen bist Du fest! …
Dann ging er hinab und trat in den Salon, wo Frau von Schellbach sich neugierig von der Bergere aufrichtete und den französischen Roman, den sie in der Hand hielt, fortlegte.
»Nun?« sagte die gnädige Frau.
»Es steht sehr gut,« antwortete der Medicinalrath.
»Er besitzt ihr vollständiges Vertrauen.«
»Ist es möglich!«
»Und glaubt ganz sicher, daß sie seinem Rathe und seinen eindringlichen Ermahnungen unbedingt Folge leisten wird.«
»Wie erklären Sie sich das?«
»Sehr einfach,« sagte der Arzt. »Sie ist eine durchaus nervös gereizte Natur.«
»Ueberspannt! unsinnig!« erwiederte sie.
»Durchaus nicht,« fuhr er fort, »aber von lebhafter Einbildungskraft, die bis in's Krankhafte geht. Was Anderen unmöglich wäre, erscheint ihr als nothwendig und gerechtfertigt. Sie hat bemerkt, daß sie allein steht. Julie hat ihren Einfluß verloren, sie hat ihr Vorwürfe gemacht. Dieser junge Mensch, der sie immer kalt und gleichgültig behandelte, hat neulich ein paar Redensarten über Sittlichkeit und Wahrheit gesagt, die sie mit ihrem ganzen Ungestüm aufgefaßt hat. Dazu kommt die Geschichte mit den Versen. Er hat die Augen niedergeschlagen und, wie sie meint, nicht lügen können. So betrachtet sie ihn denn als einen Ritter oder Engel der Wahrheit, und ich kenne diese Naturen; sie haben den Fanatismus, sich Allem gläubig zu unterwerfen, was ein solcher Engel räth, während sie allen vernünftigen Menschen Trotz bieten.«
»Aber wird er – wird er jetzt auch lügen können!« fragte die gnädige Frau lächelnd.
»Es wird ihm noch etwas sauer,« erwiederte Neidler, »jedoch ich bin überzeugt, er kommt in Geschmack und wird Wunder thun.«
»Er ist dankbar,« sagte sie, »dergleichen Leute sind dankbar.«
Der Medicinalrath lächelte fein.
»Dankbarkeit, meine liebe gnädige Frau,« erwiederte er, »ist eine sehr schöne Tugend, allein diese in unserem Jahrhundert so ziemlich in Verruf gekommene Dankbarkeit paßt zu dem Zeitalter der Romantik; das reale Zeitalter lächelt darüber, wie über ein Märchen aus Tausend und einer Nacht.«
»Sie meinen,« antwortete Frau von Schellbach, »man muß Nichts davon erwarten.«
»Vortheile,« sagte Neidler, »das ist das Bindemittel für Anhänglichkeit, Treue, Hingebung. Es ist sehr betrübend, es auszusprechen, allein es ist noch betrübender, sich zu täuschen. Wenn wir die schöne, fromme Zeit zurückführen könnten, wo die Menschen demüthig und bescheiden ihren Herren dienten, so würden wir nicht so viele schmerzliche Klagen über Unglauben, Untreue und Verrath hören; heut zu Tage jagt die Welt nach Genuß und Gewinn, jede Hand streckt sich nach dem Baume der Erkenntniß aus, Jeder möchte die Aepfel für sich pflücken.«
Als er dies sagte, trat Laxfeld herein, den der Medicinalrath mit einer halb vertraulichen, halb unterthänigen Beugung begrüßte. Der junge Baron machte dagegen gar keine Umstände, er behandelte den Arzt wie Einen, dem man nicht nöthig hat, Höflichkeiten zu erweisen.
»Was haben Sie herausgebracht? Ich bin neugierig,« sagte er, indem er vor ihm stehen blieb.
Neidler rieb sich lächelnd die Hände.
»Der Wagen ist im Gange, lieber Baron,« war seine Antwort, »aber – die Räder müssen geschmiert werden.«
Der junge Herr wandte sich mit einem stolzen, verächtlichen Blicke von ihm ab.
»Ich bin gewohnt, Dienste, die man mir leistet, anständig zu bezahlen, das wissen Sie.«
Der Medicinalrath veränderte keine Miene. Mit derselben freundlichen Gelassenheit wie bisher fuhr er fort:
»Ich weiß, daß Sie, mein lieber Baron, hülfreiche Freunde zu schätzen wissen, namentlich wenn Ihre scharfsinnigen Combinationen sich dafür erklären. Hier handelt es sich aber um den Doctor Jachtmann, der, wie es mir scheint, den eigensinnigen Vorsatz gefaßt hat, zunächst für sich selbst zu sorgen.«
»Solche Menschen sind einmal so,« sagte der Baron gleichgültig. »Sie verkaufen sich zu allem Möglichen. Was verlangt er?«
»Wie ich denke, zunächst wohl eine gewisse Sicherheit in Betreff einer Anstellung. Wenn die Excellenz ihm ein bestimmtes gnädiges zusicherndes Wort darüber sagen wollte, so wäre dies gewiß sehr wünschenswerth.«
»Ich werde mit meinem Oheim sprechen!« rief Laxfeld ungeduldig. »Was mehr?«
»Das Beste wäre,« erwiederte Neidler, »wenn Sie selbst mit ihm eine Unterredung hielten und darin zeigten, welch' großmüthige Absichten Sie haben. Dieser junge Mensch hat ungefähr wie Faust zwei Seelen in seiner Brust. Die eine will sich von der anderen trennen. Die eine zeigt ihm mit klarem Verständniß das Leben, wie es ist, und seine Zukunft. Er ist jung, ist ehrgeizig, möchte erwerben und besitzen. Die andere dagegen umwickelt ihn mit allerlei Wolkengebilden und Glorienschein. So steht er denn mit leerer Tasche am Scheidewege. Geben Sie ihm Gewißheit, lieber Baron, daß die vollen Eimer ihn tränken und segnen werden, so glaube ich, wird Ihnen morgen die Sonne mit einem Myrthenkranz aufgehen.«
Der Baron lachte auf und setzte sich zu der gnädigen Frau, deren Buch er aufnahm, hineinsah und hinlegte.
»Der Medicinalrath kann poetisch werden, wenn er von vollen Taschen und vollen Eimern spricht,« sagte er; »aber auf mein Wort, er hat Recht, ich muß mit diesem Schulmeister reden und ihm Logik beibringen.«
Ein langes, vertrautes Gespräch hielt den Medicinalrath noch eine halbe Stunde auf, ehe sein Wagen ihn weiter brachte; dann sank das Landhaus in seine vornehme Stille zurück. Sonnenschein fiel auf Blumen und frisches Geblätter, die Fontaine allein war geschwätzig; Frühlingsvögel flogen singend durch die Hecken, aber vergebens sah der Hauslehrer hinaus, vergebens hinüber nach dem Balcon seiner Nachbarin, die sich weder erblicken noch hören ließ. –
Nach einigen Stunden, welche er Emil gewidmet hatte, war er allein, als der alte Paul sein ehrliches, langes Gesicht durch die Thürspalte steckte und dann den mageren Körper hinterher schob. Ein pfiffiges Lächeln war auf seinen Lippen, dabei sah er geheimnißvoll, furchtsam und glückselig aus und trat auf den Zehen näher, als wolle er sich nicht verrathen.
»Wie ist es, Herr Doctor, soll ich Frühstück bringen?« fragte er.
»Ich habe keinen Hunger,« antwortete Rudolf, der sich zu ihm wandte.
»Eh,« flüsterte der Alte, »ich habe doch Etwas, was Ihnen schmecken wird.«
Er faßte in die Brusttasche seines Rockes und sah sich forschend um. Dann holte er ein Briefchen hastig heraus.
»Nehmen Sie, lesen Sie und geben Sie mir Antwort.«
Rudolf griff nach dem schmalen Billet, die Augen des alten Dieners hingen an seinem Gesicht und glänzten beinahe eben so hell wie die des jungen Mannes, der, als er geendet hatte, den Zettel sinken ließ und eine Minute lang nachdachte.
»Sie wissen Alles, Paul?« fragte er.
»O Gott, ja,« sagte der Greis, indem er seine Hand auf sein Herz legte, »und da ist in mir so viele Freude, als wäre ich wieder jung geworden.«
»Sie sind gut, Sie lieben Johanna auch,« antwortete Rudolf.
»Gottes Segen über sie!« flüsterte Paul. »Aber mir ist bange, Herr Doctor. Wenn's nur erst Alle wüßten, oder wenn ich nur helfen könnte! Du mein Gott! und wenn's mein Leben kostete, es sollte geschehen.«
Der Doctor sah still vor sich hin. Der Alte fuhr fort:
»Sie hat keine Furcht, die muß man auch nicht haben, aber einen Spectakel wird es geben, ich kann's kaum denken. –
›Paul,‹ sagte sie vorhin, als sie mich rufen ließ, ›ich will Dir Etwas vertrauen. Ich will mich verheirathen.‹
Ich verneigte mich unterthänigst, ich dachte an den Herrn Baron.
›Da werde ich wohl nicht mitkönnen,‹ sagte ich.
›Du mußt bei mir bleiben,‹ fuhr sie fort; ›doch bis morgen sage keinem Menschen ein Wort davon. Jetzt geh, gieb meinem Geliebten dieses Billet, ich werde ihn in einer halben Stunde erwarten. Bringe mir Antwort.‹
Da las ich Ihren Namen auf dem Briefe, Herr Doctor, und wie ich ausgesehen habe, weiß der Herr. – Nein, nein! Schrecken war es nicht, es war Freudigkeit, ich hätte es jedoch nimmermehr vermuthet. Darauf legte sie den Arm auf meine Schulter, sah mich an und lachte und sagte mit ihrer herzlichen Stimme:
›Alter, guter Paul! Vater und Mutter habe ich nicht, aber Du giebst uns doch Deinen Segen?‹ –
Na, na!« stotterte der alte Mann, seine Augen wischend, »Sie können wohl denken, wie mir wurde. Es ist ein Engel Gottes, man weiß es nur nicht. Nehmen Sie sie fort von hier, denn hier ist es nicht gut und wird auch niemals gut werden. – Was soll ich nun sagen?«
»Daß ich kommen werde, Paul,« antwortete Rudolf, ihm die Hand drückend, »und daß ich Muth habe, Allem zu trotzen, was mich hindern könnte, bei ihr zu sein.«
»So ist es recht!« flüsterte der Alte. »Sie sehen danach aus! Ah! wenn nur erst Alles vorbei wäre! Ich wollte, sie fielen über mich her.«
Ist das auch ein Egoist?! fragte Rudolf, als Paul hinaus war. Treibt ihn irgend eine selbstsüchtige Berechnung? Weiß er seine Dienste zu verkaufen? – O ihr, die ihr in diesem Getriebe Nichts weiter erkennt als einen Haufen Betrüger, die sich gegenseitig mit Lug und Verrath lohnen, die Dankbarkeit und Treue als Dummheit verhöhnen, die Nichts kennen als Vortheile, welche zum Genuß führen, straft dieser alte Mann euch nicht Lügen? Nein, unser großer Dichter wird ewig Recht behalten: die Tugend ist kein leerer Wahn! Der göttliche Drang zum Guten wird nie aus der Menschenbrust entweichen! Das Edle, Gerechte, Schöne wird die Kinder Gottes ewig über die Drangsale des Lebens erheben, ihnen den Sieg geben über das Schlechte und Gemeine.
Er warf einen Blick in den Garten hinab und sah die, welche seine Augen suchten, mitten auf dem freien Platze stehen und zu ihm heraufschauen. Der helle Tagesschein fiel auf ihre hohe Stirn, ihr braunes Haar trieb der Frühlingsathem darüber hin, ihr Lächeln galt ihm, ihre Hand mit dem wehenden Tuche rief ihn. Rasch eilte er zu ihr hinab, unbekümmert, welche Späher ihn belauschen möchten.
Johanna stand noch auf derselben Stelle und erwartete ihn. Sie reichte ihm ihre Hand, und ihre Augen ruhten auf dem Freunde mit so seelenvoller Innigkeit und solchem Vertrauen, daß ihm war, als müsse er sie küssen und seine Liebe laut ausrufen.
»Ich will nur ein Wort von Dir wissen,« sagte sie, »oder vielmehr ich wollte Dich sehen, um dieses Wort zu sprechen, und nun ich Dich sehe, weiß ich, daß es nicht gesprochen werden darf.«
»Ob ich Dich liebe!« antwortete er. »Gestern, als es Nacht war, machte die Nacht mir Muth, Dir mein Leben zuzuschwören; heute, wo der Tag in mein Gesicht scheint, braucht es keines Wortes mehr, es muß auf meiner Stirn stehen, daß ich glücklich bin.«
»So lebe wohl!« sagte sie.
»Wohin?«
»Dort stehen sie hinter dem Fenster, sie sollen hören, was ich sage.«
»Ich habe Dir viel noch mitzutheilen,« bat er.
»Morgen, mein lieber Freund, morgen,« war ihre Antwort. »Bereite Deine Mutter heute noch auf Deine Entschlüsse vor, ordne, was sich ordnen läßt. Wir haben gestern uns so gut verständigt, heute mit einem Sonnenblick unser Bündniß besiegelt, daß wir getrost bis morgen warten können.« –
Indem sie dies laut und hart sprach, blieb sie unter dem Fenster stehen.
»Morgen pünktlich um elf Uhr will ich bereit sein,« fuhr sie fort; »darf ich meinen vielgetreuen Berather erwarten?«
»Ich werde nicht zögern,« erwiederte er.
»So will ich meine lieben Verwandten denn nicht länger harren lassen, sondern meine Erklärung ganz nach den Wünschen meines Freundes abgeben. So soll es doch sein?«
»Ja, so soll es sein.«
»Dann auf Wiedersehen! Auf morgen!«
Sie lächelte ihm zu und entfernte sich. –
»Bravo, Bravo!« flüsterte eine gedämpfte Stimme durch den Fensterspalt, und mit erglühendem Gesicht drehte sich Rudolf rasch um und ging unter die schattigen Bäume zurück.
Als er den Sitz an dem mächtigen Stamme erreicht hatte, der gestern alle seine Bekenntnisse hörte, träumte er noch einmal den entzückenden Traum, der Wahrheit geworden war. Er legte seine Hand dahin, wo Johanna's Hand gelegen, er sah in den leeren Raum, wo er zuerst ihr mondhelles Gesicht gesehen, und es war ihm, als könne er noch in ihr Auge schauen, noch erkennen, was er darin erkannt hatte. Der süße Rausch mit allen seinen Wonnen, denen er nun schon so viele Stunden nachging, zog ihn durstiger an sich, Alles, was ihn wecken wollte, stieß er von sich; es war eine magische Gewalt in seinem stolzen Denken, die alle Adern und Nerven elastisch spannte.
Und plötzlich hörte er hinter sich leise Schritte, welche rasch sich näherten. Ein Frauengewand rauschte dicht bei ihm, wer konnte es sein, als die wiederkehrende Geliebte? – Als er aufsprang, welche Täuschung! Frau von Stern stand vor ihm. Heiter und schön in dem Sommerhut voll Blumen und in dem coquetten Jäckchen, das ihre üppigen Formen vortheilhaft zu schauen gab, nickte sie ihm wohlgefällig zu.
»Trifft man den Herrn Philosophen endlich einmal allein?« fragte sie scherzend. »Bleiben Sie auf Ihrem Platze, Herr Doctor, ich weiß, Sie lassen sich nicht gern verdrängen.«
»Wo ich berechtigt bin,« erwiederte er.
»Wozu wären Männer nicht berechtigt?« lachte sie, und ihre blitzenden Augen strahlten groß auf.
»Doch gehört viel Kühnheit dazu, an seine Allberechtigung zu glauben,« sagte Rudolf.
»Nur Selbstvertrauen,« antwortete die schöne Frau.
»Das uns gewöhnlich mangelt,« sagte er halblaut vor sich hin.
»Ich muß Ihnen Recht geben!« rief sie, »und seltsamer Weise ist es so, daß Diejenigen, welche das meiste Selbstvertrauen haben sollten, am furchtsamsten, scheuesten und voller Zweifel sind.«
»Sie sprechen ein großes Lob und einen strengen Richterspruch zugleich aus.«
»Er soll Sie und alle Diejenigen treffen, die an sogenannter Bescheidenheit leiden,« antwortete Frau von Stern.
»Bescheidenheit ist Zweifel an uns selbst, Unselbstständigkeit, Ungewißheit. Man fürchtet sich damit vor seinem eigenen Schatten, traut sich Nichts zu und verliert sich in der Menge, um nicht hervorzutreten und nach einer Spitze zu fassen.«
»Das trifft mich nicht,« sagte er, die Augen erhebend.
»Eine andere Bemerkung, die mir dabei einfällt,« fuhr sie fort. »Es giebt viele Männer, die an ihrer Bescheidenheit zu Grunde gehen, weil sie keine richtige Wahl treffen, wenn sie eine Lebensgefährtin suchen. Eine begabte, geistig erregbare Frau muß einem bedeutenden Manne die Sonne sein, die ihm leuchtet; eine unbedeutende Frau, eine gute Haushälterin läßt ihn in den häuslichen Nebeln sich zu Tode erkälten.«
»Ich fühle die Wahrheit Ihrer Bemerkung,« antwortete er.
»Fühlen Sie das,« rief sie mit einem drohenden Lächeln, »so hüten Sie sich!«
»Gewiß!« sagte er, indem ihre Blicke sich trafen, »gewiß!«
»Nichts zerstört ein reiches Leben so gründlich, als eine langweilige Ehe mit ihren bitteren Täuschungen und trostlosen Trübsalen.«
»Und Sie …« Rudolf brach ab.
»Ich,« sagte Frau von Stern. – »sprechen Sie aus, was Sie denken! Ja, ich – ich habe alle diese Tiefen durchmessen, habe aus allen diesen Bechern getrunken; Sie dürfen mir glauben. – Ich will Ihnen sagen,« fuhr sie fort, »was mich unglücklich machte: meine Armuth! – Ich war verwaist, ich stand allein, vor mir sah ich ein Leben voll Abhängigkeit, voll Erniedrigung, das Leben einer Gouvernante oder Gesellschafterin. Mir graute davor. Oftmals, als ich noch ein Kind war, hörte ich die Leute sagen: Wie schade, daß sie nicht unter anderen Verhältnissen geboren wurde! Also die Verhältnisse thaten es, das prägte ich mir ein. Je älter ich wurde, desto mehr sah ich die Kluft. Weil ich arm war, darum wurde ich zur Arbeit und Dienstbarkeit bestimmt, und alle meine Fähigkeiten, meine Vorzüge halfen mir zu Nichts, als mich um einen etwas höheren Lohn zu verdingen, das dienstbare Werkzeug einer noch mehr bevorzugten Klasse zu werden. Ich sah Andere neben mir, die tief unter mir gestanden hätten, wenn die Verhältnisse nicht gewesen wären, verwahrloste, elende Geschöpfe; aber sie wurden geehrt, geschmeichelt, wahrend ich im Winkel stand und heimlich weinte. Ein bitterer Haß gegen diese Günstlinge des Schicksals erfüllte mich. Ich sah wohl ein, wie wenig ich zu ändern vermochte, Nichts konnte ich thun! Kein Stern fällt vom Himmel, kein Gott hat Mitleid mit unserer Qual, kein Gebet kann den Fluch lösen, den schrecklichen Fluch der Armuth und der Niedrigkeit. Ich mußte demüthig ihre Wohlthaten empfangen, aber ich sagte mir, daß es nur Ein Mittel gebe, diese abzuschütteln: selbst zu den Bevorzugten zu gehören, um an ihren Vorrechten Theil zu nehmen.«
»Glaubten Sie nie an eine Aristokratie des Geistes?« fragte er, sie unterbrechend.
»Aristokratie des Geistes!« rief sie spottend. »O, ich habe auch einmal daran geglaubt, allen ist diese geistige Macht nicht eine verfolgte und gekreuzigte, so ist sie eine gnädig geduldete, die es verdienen muß, wenn sie bis in die Gesellschaftszimmer der geborenen Aristokratie gelangt, um dort zur Unterhaltung beizutragen oder als Rarität gezeigt und besichtigt zu werden.«
Der Hauslehrer erröthete.
»Mit dem Stolze der Armuth,« sagte er, »verachtet man hochmüthiges Gepränge, und wer sich seines Werthes bewußt ist, wird überall sich Achtung zu verschaffen wissen.«
Frau von Stern sah ihn mit einem Blicke an, der sein Blut in Bewegung brachte. Glaubst du denn, daß sie dich achten? las er darin, und plötzlich sagte er mit gereizter Härte:
»Was mich betrifft, so werde ich mir diese Achtung erzwingen, wäre es auch die, welche die Furcht hervorbringt.«
»Mein Herr Philosoph,« antwortete die Dame lächelnd, »jetzt sind Sie auf dem richtigen Wege. Man kann sehr stolz und voll erhabener Tugend sein, wenn man im Dachstübchen sitzt und die Welt verachtet; um aber von denen geachtet zu werden, welchen diese Weltherrlichkeit trotz alles Widersprechens gehört, muß man entweder nach den Eigenschaften ringen, die sie allein schätzen, oder sie müssen uns fürchten.«
»Sie rangen danach und wurden getäuscht,« sagte Rudolf.
»Ich rang danach und verlor,« erwiederte sie; »allein warum verlor ich? weil der Mann unwürdig war, von dem ich ein neues Leben hoffte. Sie kennen die Geschichte eines verrathenen Herzens noch nicht, Sie wissen noch nicht, was es heißt, an ein Wesen festgeschmiedet zu sein, das wir lieben sollen, und vor dem wir zittern, dessen Nähe wir ertragen müssen, und das uns in jeder Berührung unerträglicher wird, das wir von uns stoßen möchten und nicht können, nicht dürfen, bei aller grausamen Folter nicht vermögen.«
Wie in Erstarrung hörte Rudolf zu. Eine tiefe Angst faßte ihn an. Er blickte in einen unermeßlichen Abgrund und sah sich zerschmettert hinein fallen. Dabei preßte Mitleid und Mitgefühl seine Brust zusammen.
»Es muß entsetzlich sein!« murmelte er vor sich hin. »Gott sei Dank, daß es vorüber ist!«
»Ich weiß es nicht,« flüsterte sie, ihn sanft anblickend und traurig den Kopf schüttelnd, »ich lebe jetzt von der Hoffnung.«
Ihm fiel der Medicinalrath ein, und er konnte sich einer Regung nicht erwehren.
»Sie haben eine neue Wahl getroffen,« sagte er, »möge sie glücklicher sein!«
»Schweigen wir davon!« rief sie aufstehend, »mich bindet noch Nichts, auch soll mich Nichts binden. Ich bin frei und will keine neuen Fesseln eher tragen, als bis ich weiß, daß ich glücklich mache und glücklich bin. Vergessen Sie meine Geschichte nicht, bester Doctor. Glauben Sie mir, in einer unglücklichen Ehe hilft keine Philosophie – sie ist das Grab alles Guten im Menschen.«
Mit einem traurigen Lächeln nickte sie ihm zu und entfernte sich; ihre letzten Worte hatten ihn sehr erschüttert. –
»Unglückliche Frau!« sagte er. »Das Grab alles Guten, welche furchtbare Wahrheit! Aber wie ist es möglich, daß sie mit ihrer Ueberzeugung die Absichten dieser Familie begünstigen, daß sie ihrer Freundin rathen kann, eine unglückliche Ehe zu schließen?!«
Er verlor sich in Vorstellungen darüber; endlich aber schien es ihm nach Allem, was er gehört hatte, daß Julie ihren ganzen Glauben an Glück dem Reichthum und den äußeren Lebensverhältnissen anheim gab. Ihr Unglück war es, daß sie eben darin getäuscht wurde, und ihr Haß gegen die Günstlinge des Schicksals war unversöhnt geblieben, weil sie vergebens um Glanz und Genuß sich verkauft hatte.
So widerwärtig dieser Gedanke war, so fand er dennoch ein tragisches Geschick darin. Die junge schöne Frau hatte ihn mit ihren Schmerzen und ihrer Trauer gerührt. Er hatte ihre Theilnahme erregt, und sie erweckte die seine. Sie war wie er ein Opfer der Lebensverhältnisse, der Armuth, vor der schon Hiob im inbrünstigen Gebete Gott angefleht hatte: Herr, bewahre mich vor ihr, damit ich nicht schlecht werde! Auch heute griff Julie in das geheimste Blatt seines Lebens, allein es war ihm nicht so unheimlich dabei, wie auf dem Balle, denn dieses Blatt lag zerrissen vor seinen Füßen. Sie warnte ihn, wie eine Prophetin, und er empfand tiefe Dankbarkeit.
Viel hätte nicht gefehlt, so hätte er sie zurückgerufen, ihr bekannt, was ihm geschehen, und ihre Freundschaft zur Hülfe aufgefordert; aber er hatte Johannen gelobt, gegen Jeden zu schweigen, nur seine Mutter wo möglich vorzubereiten, darum hielt er sich zurück; doch er sah ihr mit hülfreichen Vorsätzen und Plänen nach.
2.
Die Frau Zoll-Inspectorin stand über den Tisch gebeugt, auf welchem die Lampe wieder brannte, und neben ihr fielen die langen, blonden Locken von Lottchen's Kopfe und schaukelten hin und her. Sie betrachteten Beide ein blaues Papier, in welchem zierlich gefaltetes Leinenzeug lag, das einer genauen Prüfung unterzogen wurde. Die alte Dame hatte sich dazu die Hornbrille unter die Backenhaube geschoben, ihr ganzes Gesicht leuchtete voll Seligkeit.
»Mein Gott, Lottchen, wie Sie das Alles gemacht haben! Kind, das kann Ihnen Keine nachmachen, nein, Keine!« rief sie stoßweise. »Es ist eine Sauberkeit darin, eine Accuratesse! Da kann man lange suchen, ja, lange suchen kann man!«
»Liebste Frau Zoll-Inspectorin,« antwortete Lottchen sanft, »es ist doch nicht Alles so, wie es sein sollte, aber …«
»Und wenn Eine aus Paris käme!« rief die Wittwe, die den Kopf mit der Hornbrille energisch aufhob und den Arm in die Seite stemmte, »es könnte Keine es besser machen. Sie sind zu bescheiden, Lottchen, viel zu bescheiden!«
Fräulein Lottchen lächelte gerührt und drückte die Hand ihrer Freundin.
»Wenn es Ihnen nur gefällt,« lispelte sie, »und wenn …«
»Nun, was denn … wenn, Kind?« fragte die alte Frau.
»Wenn … wenn er … Rudolf … wenn er nur damit zufrieden ist.«
Die Wittwe schlug in die Hände und lachte selig auf.
»Zufrieden sein!« rief sie, »außer sich wird er sein, glückselig und voller Wonne; denn wovon ist dies ein Beweis, Lottchen? Was erhält er dadurch für eine innerste Ueberzeugung, die ihm mitten durch sein Herz gehen wird!«
»Nein, nein!« sagte Lottchen ängstlich, »er darf es nicht wissen. Sie müssen ihm sagen, es wäre Etwas für ihn gekommen, Sie wüßten nicht woher; es wäre abgegeben worden.«
»Als ob er das nicht auf der Stelle merken sollte!« fuhr die alte Frau jubelnd fort. »Kind, bei solchen Gelegenheiten wissen die Männer sogleich, woran sie sind, und wer könnte ihm denn auch ein solches Geschenk machen? Das thut Keine, die nicht ihre besonderen Absichten hat.«
»Frau Zoll-Inspectorin!« rief Lottchen, die Hände vor ihr Gesicht haltend.
»Herzenskind!« sagte die Mutter, ihr die Hände fortziehend, »es muß doch mit Euch zu Ende kommen, ja, zu Ende kommen muß es, und mein ganzes Herz thut ich auf, daß Er Dich haben soll, was immer mein liebster Wunsch gewesen ist. Ich muß Dich Tochter nennen, Lottchen, so muß ich Dich endlich nennen, und das Wort muß gesprochen werden, je eher, desto lieber, damit mein armer Knabe auch zur Ruhe kommt; denn es drückt ihn und drängt ihn, er sah ganz blaß und verstört gestern aus, und so sieht man aus, so lange nicht Alles in Richtigkeit ist. Wenn's heraus ist, da kommt erst die wahre Seligkeit. Ich weiß ja, wie es mir ging; ich konnte nicht schlafen, nicht essen, nicht trinken, that Alles verkehrt und antwortete verkehrt, bis der da an der Wand endlich den Mund aufthat und fragte, ob ich ihn haben wollte. Es kam mir glühend vom Herzen herauf, wie ich ihm aber in die Augen blickte, so schrie ich auf: Ja, ja! und ich hatte ihn um den Hals gefaßt, und da war es aus, rein aus! – Und so sollst Du es auch machen, Kind,« fuhr sie, ihr herzliches Lachen unterbrechend, fort, »so accurat sollst Du es machen, hier auf der Stelle. So wie er kommt, soll es losgehen.«
»Um des Himmels willen, beste, beste Mutter!« rief Lottchen, die still lächelnd in den Armen der alten Frau zugehört hatte, »das könnte ich nicht! Nein, das könnte ich nicht!«
»Du wirst es schon können,« antwortete die Matrone mit der Sicherheit der Erfahrung. »Das können wir Alle, und die Allerstolzeste wie die Allerfurchtsamste kann es und thut es, wenn nur der Rechte kommt, ja, wenn nur der Rechte kommt!« –
Sie sah Lottchen so siegesgewiß an, und Lottchen lächelte so süß und verschämt, daß sie in ein neues lautes Lachen ausbrach und behauptete, sie sähe schon ganz so aus, wie eine Braut aussehen müsse.
»Ach, wenn er nur nicht heute käme!« lispelte das große Mädchen, einen Blick nach der Thür werfend; »ich fürchte mich, liebe Frau Zoll-Inspectorin, ich fürchte mich wirklich!«
»Mutter sollst Du sagen, Kind,« antwortete die Wittwe, »und alle Deine Furcht wird zu Ende sein, wenn er nur erst hier ist. Warte, Du Schelm!« fuhr sie dann lustig fort, »sage die aufrichtige Wahrheit. Bist Du nicht selbst gekommen, weil das Herz Dich trieb?«
»Nein, wahrhaftig: nein, wirklich!« betheuerte Lottchen. »Ich wäre nicht hier, ich hatte es mir fest vorgenommen, er sollte zuerst abbitten, aber …«
»Aber es ging nicht,« lachte die alte Frau. – »Oh, ob ich das nicht kenne! Wir wollen böse thun, wollen schmollen, wollen uns bitten lassen, und es ist dann, als müßte es so sein. Je länger es aber dauert, um so weicher wird es da drinnen, und zuletzt können wir die Zeit nicht erwarten, wo der liebste Mann wieder mit uns lachen und sprechen soll.«
»Da kennen Sie mich nicht,« erwiederte Lottchen. »Nein! man muß sich Nichts vergeben und den Männern zeigen, daß man auch einen Willen hat. Ich wäre ganz gewiß nicht gekommen, aber – ich sage es im tiefsten Vertrauen, beste Mutter – der Onkel hat mich darum gebeten und auch der Medicinalrath.«
»Was, der?« fragte die Frau Zoll-Inspectorin. »Was will denn der?«
»Er hat mit Rudolf gesprochen, und er ist ihm, wie er sagt, sehr aufgeregt, verstimmt und übel gelaunt vorgekommen. Sie wissen doch, daß Fräulein Schellbach ihn jetzt plötzlich mit ihrem Vertrauen beehrt.«
»Du darfst nicht eifersüchtig sein, liebes Lottchen, ganz gewiß nicht,« beruhigte die Mutter.
»Eifersüchtig? lieber Himmel! nein, ich bin auch gar nicht eifersüchtig. Wie könnte ich denn eifersüchtig sein? es ist ja kein Gegenstand danach. Ich muß wirklich lachen, daß Sie glauben könnten, ich wäre eifersüchtig.«
»Aber der böse Mann, der Medicinalrath, hat es dahin bringen wollen,« sagte die alte Frau.
»Nein, nein!« antwortete Lottchen, »er meint es sehr gut und will unser Glück; Sie wissen gar nicht, beste Mutter, wie gut er es meint. Alles liegt jetzt an Rudolf, er kann fordern, was er will, und der Onkel sagt, wenn er zehntausend Thaler haben wollte, so könnte er sie bekommen.«
»Ist es möglich!« rief die Frau Zoll-Inspectorin mit starr stehenden Augen. – »Ah, Lottchen, das ist ja Alles Spaß!« setzte sie dann voller Zweifel hinzu.
»Ernst ist es, voller Ernst,« sagte Lottchen eifrig, »er muß nur fordern, dreist fordern und es sich verschreiben lassen. Das schiefe Johannchen ist reich genug; der Onkel hat einen Vermögens-Auszug gemacht und meint, sie hätte mehr, als er selbst geglaubt, und der junge Baron Laxfeld, der genau wüßte, wie es stände, wäre ein Mann von Ehre, großmüthig und dankbar. Sehen Sie, liebste Mutter, darum bin ich gekommen, weil Onkel und der Medicinalrath meinten, ich möchte es thun, selbst mit ihm sprechen, ihm rathen, und um meinetwillen« – Lottchen senkte lächelnd verschämt die Augen – »um meinetwillen würde er Muth bekommen, für unser Glück zu sorgen.«
»Freilich wird er! o, ganz gewiß wird er!« rief die Wittwe.
Aber in ihren Blicken und in ihrer Stimme lag doch etwas Nachdenkliches und Schwankendes, was früher nicht darin gewesen war. –
»Ich glaube, da kommt er,« fuhr sie fort, als auf dem Gange von der Treppe her Schritte sich hören ließen. »Das muß er sein!«
Lottchen schlüpfte schnell in den Versteck zwischen Ofen und Wand. –
»Stille, stille!« flüsterte sie, »er soll mich suchen.«
Kaum hatte sie sich verborgen, als der Doctor herein trat. Er sah verstört aus, und gegen seine Gewohnheit behielt er den Hut auf dem Kopf, als seine Mutter auf ihn zu eilte und ihn zärtlich empfing. –
»Was ist Dir denn, Rudolf?« fragte sie. »Was siehst Du denn so umher, als suchtest Du Jemanden.«
»Mir ist Nichts, Mutter,« antwortete er. »Aber war Niemand hier?«
»Wer soll denn hier sein, Kind?« lachte sie. »Erwartest Du Einen?«
»Ich dachte an ihn,« sagte er halb vor sich hin.
»Du dachtest an ihn? An wen denn?« fragte sie, und plötzlich faßte sie ihn an dem Arm und zog ihn an den Tisch. – »Sieh mal hier!« fuhr sie fort, das Papier aufschlagend, »das ist angekommen für Dich.«
»Für mich? Von wem?«
»Ja, ich weiß es nicht,« sagte sie, in komischer Weise die Achseln zuckend, »es ist abgegeben worden, kein Mensch weiß, von wem. Drei wundervolle feine Oberhemden, zehn Thaler kann man für jedes bezahlen und bekommt sie noch nicht einmal so prachtvoll. Es muß irgend eine gütige Fee geben, die dergleichen für Dich zaubert, irgend einen lieben Engel, der gar keine Mühe scheut, eine solche Arbeit zu machen.«
Er antwortete nicht, still sah er das Leinen an und schien über Anderes zu sinnen.
»Es ist aber noch ein Geschenk für Dich da,« fuhr die Mutter fort, »ein noch viel schöneres, Rudolf … So höre doch, so sieh doch! … Sieh Dich doch um, da steht es hinter dem Ofen.«
Mechanisch folgte der Doctor der Richtung, die sie ihm mit liebender Gewalt gab; doch als sie ihn zwei Schritte fortgeschoben hatte, fühlte sie den plötzlichen Widerstand, mit dem er stehen blieb. Im Halbdunkel erblickte er Lottchen, die in süßer Verwirrung den Kopf senkte, die Hände gefaltet hielt und doch die niedergeschlagenen Augen lächelnd und einladend ein wenig zu ihm aufhob.
»O, Lottchen!« rief er, »vergieb mir, verzeihe mir!« –
Seine Stimme war bewegt, er streckte beide Arme nach ihr aus.
»Er bittet ja, Kind, er thut es ja!« rief die Wittwe, als Lottchen keine Bewegung machte. »Er ist ja so sanft und lieb, wie Dein Vögelchen. – Zieh sie hervor aus der Festung, Rudolf, sie muß sich ergeben.«
Aber der Sohn folgte dieser mütterlichen Anweisung nicht. Er ließ seine Hände sinken, und plötzlich drehte er sich um und ging an's Fenster, um auf die finstere Straße hinaus zu schauen.
Die beiden Frauen sahen ihm erstaunt nach. Die Gesichter veränderten sich, die freundlichen Züge des großen Mädchens wurden kalt und fest.
»Aber so komm doch, Rudolf!« sagte die Mutter.
»Was hast Du denn? Was ist denn?«
»Er hat gewiß etwas Besseres zu thun,« antwortete Lottchen sanft. »O, gewiß etwas viel Besseres!«
»Was man für Noth hat mit solchen Leuten!« rief die Frau Zoll-Inspectorin ärgerlich. »Eigensinnig sind sie, übelnehmend sind sie, wo Keiner einen Haken findet, sie bleiben daran sitzen und ritzen sich. – Wollt Ihr verständig sein, Ihr alle Beide, wollt Ihr gleich freundlich Euch ansehen und Gutes thun?! Gieb mir Deine Hand, Rudolf, und Du auch, Lottchen; so, haltet Euch fest, jetzt werden die Herzen sprechen, und mit aller Neckerei hat es ein Ende.«
In ihrer sorglichen Haft holte sie Rudolf und führte ihn der schmollenden Braut zu, ohne zu bemerken, welcher Kampf in dem jungen Manne arbeitete. Es war ihm unmöglich, zu widerstreben, unmöglich, in dieser Minute die Wahrheit zu gestehen; er wußte, daß er damit seiner Mutter einen Todesstoß geben würde. Alle ihre Hoffnungen, ihre Lebenswünsche, das Glück ihrer Zukunfts-Träume, in welche sie sich seit langer Zeit eingewiegt hatte, und deren Erfüllung ihr keinen Zweifel mehr übrig ließ, Alles das ließ sich deutlich in jeder Miene, in jedem Blick erkennen. Sie war gewiß, daß diese beiden ihr so theuren Menschen sich innig liebten, und daß eben nur die Launen der Verliebten, diese unerklärlichen und doch so üblichen Launen, in ihnen stäken, um sich zu quälen. Ihr Gesicht drückte dies schalkhaft spottend aus, und ihr frohes Gelächter begleitete ihre Worte und den mütterlichen Griff, mit dem sie die Schwiegertochter erobern und ihre Kinder an sich ziehen wollte.
Wie schrecklich mußte dies ganze Haus voll Segen zerfallen, wenn der Sohn jetzt ein vernichtendes Bekenntniß ablegte! Aber er durfte dies auch Johanna's und seines eigenen Heiles wegen nicht; denn was geschehen sollte, konnte erst morgen geschehen; seiner Mutter allein, keinem Anderen durfte er eine Andeutung geben. Mit einem Gedankenschlage überblickte er Alles, was daraus entstehen mußte, und sich sammelnd, sagte er, so mild er vermochte:
»Ihr müßt mir Beide verzeihen. Mein Kopf ist heute so wüst und schwer, es geht so Vieles darin um, was mich betäubt und verwirrt, Nichts ist heute mit mir anzufangen.«
Er hielt Lottchen's Hand fest und lächelte ihr bittend und mit Ueberwindung zu, als sie ihre Finger zurückziehen wollte.
»Du darfst mir nicht zürnen,« sagte er, »ich will nicht rasten, bis ich Dich versöhnt habe.«
»Ich bin gar nicht böse,« lispelte Lottchen. »Ich kam nur her …«
»Um mir eine Freude zu machen,« fiel er ein. »Ich weiß es.«
»Der Onkel gab mir einen Auftrag,« sagte sie hartnäckig, »sonst wäre ich nicht gekommen. Du bist der vertraute Freund von Fräulein Schellbach geworden.«
»Sprich von Allem,« rief er mit einer heftigen Bewegung, »nur davon nicht! Sprich nicht von ihr!«
Sie fuhr vor dem Tone zurück, er sagte ruhiger:
»Es klingt wie Spott. Thue es nicht, liebes Lottchen, spotte nicht; es sind deren genug vorhanden, die nichts Anderes für sie haben.«
Lottchen stand einen Augenblick regungslos. Die Röthe auf ihren Wangen zirkelte sich durch einen fahlen Streifen ab, ihr Stolz war tief gekränkt.
»O,« sagte sie noch sanfter und leiser als gewöhnlich, »ich schweige ja schon; ich lasse mir nicht gern Schweigen befehlen.«
Mit diesen Worten ging sie zu dem Stuhl, auf welchem Shawl und Hut lagen, und ließ sich durch die versöhnlichen Reden der erschrockenen Mutter nicht davon zurückhalten.
»Nein, bitte, theuerste Frau,« sagte sie, »halten Sie mich nicht auf. Ich muß nach Haus, es ist das Beste.«
»Aber er hat es ja nicht so gemeint. Wer wird denn gleich Alles so übel auslegen!« rief die Wittwe. »Sage es ihr doch selbst, Rudolf, daß Du es nicht so gemeint hast.«
Der Doctor hatte sich in den alten Lederstuhl geworfen und stützte den Kopf in seine Hand. –
»Sie sehen ja, liebste Mutter,« lispelte Lottchen, »daß seine Gedanken viel zu sehr mit anderen Personen beschäftigt sind. Ich schweige sehr gern, ich bin viel zu unbedeutend, um nicht zu schweigen, aber ich wollte – ich wäre nicht gekommen, denn … denn … es ist schmerzlich, wenn man sich in seiner Freude, in seinem Glauben täuscht, zu schmerzlich!«
Mitten unter diesen zitternd geflüsterten Worten, die mit den lauten, widerstrebenden Bitten und Vorstellungen der Frau Zoll-Inspectorin sich kreuzten und sich verloren, entfernte sie sich; aber in steigender Noth lief die arme Frau zu ihrem Sohne und sagte halb entrüstet, halb überzeugt:
»Du wirst sie doch nicht gehen lassen? ganz allein in Nacht und Dunkelheit? Geh' ihr nach, ich bitte Dich, geh' ihr nach!«
»Ich kann nicht, Mutter,« antwortete er, »ich darf nicht!«
»Du darfst nicht? – Du mußt es thun! Warum denn nicht?«
»Ich erwarte Jemanden hier,« sagte er, den Vorwand benutzend, der ihm einfiel.
»Wen denn, mein Sohn? wen denn?«
»Den Baron Laxfeld.«
»Mein Gott!« rief die Frau Zoll-Inspectorin, »warum sagst Du denn das nicht? Wenn es Lottchen wüßte, so würde sie gar nicht böse geworden sein.« –
Dabei winkte sie nach der Thür hin und sah den Doctor tröstend an; denn sie war überzeugt, daß Lottchen noch draußen stand und Alles gehört hatte. –
»Ach, wenn nur meine Gardinen nicht so schwarz wären!« rief sie dann plötzlich, bedauernd nach den blaugestreiften Vorhängen sehend, indem sie ihren Mantel umwarf; »was wird der vornehme junge Herr davon denken! – Nein, Du kannst nicht gehen, das ist gewiß, ich werde Lottchen selbst begleiten, und laß mich nur machen, mein Kind, laß mich nur machen, ich werde sie schon wieder freundlich stimmen; so gut und vernünftig und liebevoll wie die ist noch Keine; nein, Keine, so viele ihrer auch sind! Aber Du mußt Dich auch ändern, das mußt Du; so darf man nicht auffahren gegen ein Frauenzimmer, obenein, wenn man in dieser Zeit lebt, wo man zart sein soll, wo jedes Mädchen zart behandelt sein will. Bleibe mir ja still sitzen und denke nach, bis ich wiederkomme.«
Damit eilte sie dem Flüchtlinge nach, der noch auf der Treppe zögerte, und während sie alle Beruhigungs- und Entschuldigungsmittel anwandte, saß der Doctor nach ihrem Gebote fast lautlos in dem alten Sorgenstuhl und lehnte den Kopf in das dunkelfarbige Polster. –
Er war in hohem Grade aufgeregt, nicht allein von dem, was eben jetzt erlebt war und was schon überdies auf ihn drückte, sondern er hatte auch kurz vorher auf dem Wege zu seiner Mutter Etwas gesehen, was zu allem Uebrigen kam und mitwirkte.
Als er die große Straße hinaufging und in die Promenade einbog, war er, um ungestörter zu sein, in der Mitte derselben zwischen den Baumreihen fortgegangen. Von beiden Seiten schimmerte aus den glänzenden Gewölben der Häuser der Lichtschein auf eine dunkle Allee. Wagen donnerten rechts und links vorüber, die Ströme geschäftiger Menschen mit ihrem Lärm drängten sich auf den Trottoirs, unter den Bäumen aber gingen Wenige, und in diesem Halbdunkel irrten nur da und dort solche umher, die sich hier finden oder versteckt verweilen wollten.
Plötzlich sah er hart vor sich einen Herrn und eine Dame, und er schrak auf, als es ihm vorkam, er höre seinen Namen nennen. In demselben Augenblicke erkannte er auch den Baron, und wieder war es jene schwarze Verschleierte, die er schon einmal an Laxfeld's Arm gesehen hatte. Dieses Mal jedoch hörte er auch ihre Stimme, und es war keine Täuschung, er erkannte sie bei den ersten Worten, die sie sprach, und welche obenein bedeutungsvoll für ihn waren.
Als er überrascht stehen blieb, sah sich der Baron um. Ob Laxfeld ihn erkannt hatte, war ungewiß; er selbst ging rasch zurück, allein er hörte hinter sich ein lautes Auflachen, das er auf seine Entdeckung beziehen konnte. Voller Mißmuth und in vermehrten Sorgen hatte er die Wohnung seiner Mutter erreicht, wo er den Medicinalrath zu finden glaubte; statt dessen aber traf er nun mit Lottchen zusammen, die ihn vollends verwirrte.
Von Unruhe erfüllt, empfand er die ganze Last der Bedrängnisse, denen er entgegen ging; doch Nichts schien ihm so schwer zu sein, als was er mit seiner Mutter zu ordnen hatte. Ein tiefer Kummer sank auf ihn, wenn er daran dachte, daß er heute noch ihr wenigstens die halbe Wahrheit sagen sollte, damit sie morgen von der ganzen nicht erdrückt würde. Er wußte nicht wie zu beginnen, um ihre Vorwürfe weniger hart zu machen, und schmerzlich ließ er den Kopf vor dem Gedanken sinken, daß es vielleicht so kommen könne, daß sie im Zorn ihn gehen hieße oder mit Frauenheftigkeit irgend ein nie auslöschendes, beschimpfendes Wort, einen Fluch oder ein Gelübde zwischen sich und ihn werfen möchte, das trennend weiter und weiter aufwucherte.
Plötzlich hörte er, daß eine Hand auf den Drücker der Thür griff, und in der Gewißheit, daß es die zurückkehrende Mutter sei, sprang er auf, um mit einem raschen Entschlusse allen peinlichen Erzählungen und Aufforderungen zuvor zu kommen; allein im nächsten Augenblicke befand er sich dem Baron Laxfeld gegenüber, der, in seinen kurzen, weiten, modischen Mantelkragen gehüllt, ihn vertraulich lächelnd begrüßte.
»Sind Sie allein, lieber Doctor?« fragte er, ohne den Hut abzunehmen und indem er stehen blieb.
»Wie Sie sehen, ja,« antwortete Rudolf entschieden kalt.
»Wir können ohne Störung plaudern?« fuhr Laxfeld fort.
Der Doctor nickte ernsthaft.
»Dann will ich mich zu Ihnen setzen, sonst hätte ich Sie gebeten, mich zu begleiten. Das Wetter ist übrigens unangenehm geworden, und die Treppen hier herauf sind so dunkel, schmal und steil wie Himmelsleitern. Ja, Himmelsleitern!« rief er lachend, indem er den Hut auf den Tisch stellte, »das sollen sie mir sein, denn ich bin heraufgeklettert, um meinen Engel zu suchen, meinen Schutzengel nämlich, und das sind Sie! auf mein Wort, das sind Sie!«
»Sie legen mir eine Bedeutung bei, die vielleicht nicht in meiner Macht steht, zu Ihrer Zufriedenheit auszufüllen,« sagte der Hauslehrer.
»Warum denn nicht?« fuhr der junge Herr in guter Laune fort, »Sie dürfen den Muth nicht verlieren und werden ihn nicht verlieren. Auch bin ich Ihnen schon so vielen Dank schuldig, daß ich in jeder Weise mich revanchiren muß. Man hat mir gesagt, daß Sie die liebenswürdige Johanna dazu bestimmt haben, morgen ihre Erklärung abzugeben. Ist dem so?«
»Es ist so, wenn …«
»Wenn es sich nicht bis morgen ändert,« fiel der Baron ein, »dafür müssen Sie sorgen, alle Beredtsamkeit anwenden. Wollen Sie das?«
»Ich werde mir jede mögliche Mühe geben; allein Herr von Laxfeld …«
»Ich weiß, was Sie sagen wollen,« rief der junge Herr mit einer abweisenden Handbewegung, »und will Ihnen die weiteren Erörterungen sparen. Vertrauen Sie fest auf mich, Sie sollen mit mir zufrieden sein. Oder wollen Sie das nicht, so sprechen Sie aus, was Sie wünschen. Der Medicinalrath ist ein praktischer Mann, Ihr Verwandter auch; ich bin darauf vorbereitet, zu bewilligen, was man von mir fordert.«
Der vornehm gleichgültige Ton der hingeworfenen Satze vermehrte Rudolf's Zorn, aber er erstickte ihn in der Ironie, die sich als Entschädigung geltend machte.
»Ich wünsche Nichts und fordere Nichts,« sagte er mit seiner gewöhnlichen Höflichkeit. »Warten Sie ab, gnädiger Herr, was morgen geschieht, dann bestimmen Sie selbst über Ihren Dank.«
»Sie sind bescheiden, allzu bescheiden!« erwiederte Laxfeld lachend; »aber ich achte diese Eigenschaft, und, auf mein Wort! mögen Sie dabei rechnen oder nicht rechnen, Sie sollen sich nicht täuschen. Vor einer Stunde sagte mir eine Dame, Sie wären bei Alledem gescheidter – nun, wie man so zu sagen pflegt – gescheidter, als Sie aussähen. Es war durchaus gut gemeint, lieber Doctor, sie wollte sagen, daß trotz aller Bescheidenheit und Ergebenheit Sie gewandt und lebensklug seien.«
»Ich bin Frau von Stern für diese gute Meinung sehr verbunden,« sagte der junge Mann.
»Nun, da haben wir gleich die Probe, daß sie Recht hatte,« lachte Baron Hermann. »Aber wissen Sie, daß Sie eine Eroberung gemacht haben? Julie schwärmt für Sie.«
»Und der Medicinalrath?«
»Bah, der Medicinalrath!« – Er drehte sein Bärtchen und legte sich in den Stuhl zurück. »Wie gefällt Ihnen Frau von Stern?«
»Sie ist schön und klug.«
»Ich hätte Lust, mit Ihnen die Rolle zu wechseln, Ihr Schutzengel zu werden,« fuhr Laxfeld fort, »und bin gewiß, keine große Mühe dabei zu haben. Julie ist ein himmlisches Wesen. Mein Wort darauf, ich beneide Sie!«
»Und dieses himmlische Wesen läßt sich zuweilen auf die dunkle Erde herab und macht Abend-Promenaden,« sagte Rudolf.
»Also habe ich doch richtig gesehen, Sie waren es, der hinter uns stand!« rief der Baron; »dann muß ich Ihrer Offenherzigkeit zu Hülfe kommen. Ich habe eine Liaison mit Julien gehabt, die ziemlich ernsthaft war. Ein alter Mann, eine junge Frau, ein zärtliches Herz, eine unglückliche Ehe, da haben Sie die Bestandtheile. Auf mein Wort, denken Sie nichts Unstatthaftes! Die schöne Wittwe war viel zu gescheidt, um mich nicht in Schranken zu halten, und ich liebte sie, bei Gott! ich wäre im Stande gewesen, sie keinem Anderen zu lassen, wenn es anginge. Meine Cousine hatte mir inzwischen ihre Schwägerin ausgesucht, und Julie ist verständig genug, um selbst einzusehen, was geschehen muß. Statt zu zürnen, bot sie mir ihre Hülfe an, und ich, entzückt über so viele Einsicht und Großmuth, schwor ihr zu, ewig ihr dankbarer Freund und Verehrer zu bleiben.«
Rudolf hörte aufmerksam – eine unsägliche Verachtung sammelte sich in ihm, je mehr sich die Fäden dieser Geschichte vor seinen Augen entwickelten.
»Sie soll, auf mein Wort, eine gute Partie sein!« rief Laxfeld; »ich werde ihr dreißigtausend Thaler geben, dazu habe ich mich verpflichtet.«
»Dreißigtausend Thaler,« wiederholte der Doctor, »und obenein Frau Medicinalräthin!«
»Das ist auch wieder ein Plan meiner Cousine. Der alte Mensch, der Medicinalrath, ist heirathssüchtig und brauchbar. Denken Sie, daß er sogar seine Augen einmal zu Johanna erhob, die ihn freilich übel ablaufen ließ. Jetzt möchte er Julien und ihren Brautschatz.«
»Und er weiß das Alles? – Er muß es wissen; jetzt begreife ich seine Andeutungen,« murmelte Rudolf halb laut.
»Sie schlagen ihn aus dem Felde,« sagte Laxfeld. »Erst helfen Sie mir, dann helfen wir Ihnen. Den Medicinalrath finden wir ab. Mir kommt ein prächtiger Einfall. Sie haben eine Bekanntschaft mit einer Verwandten. Julie versichert, es sei eine langweilige, pedantische Schönheit und ganz unmöglich, daß Sie ernsthaft daran denken könnten. Die geben wir dem Neidler zum Ersatz. Auf mein Wort, die muß er haben!«
Er lachte ausgelassen und streckte sich in dem Stuhl aus. Rudolf stand vor ihm mit brennend heißen Augen, die Hände zusammengeballt, kaum mehr fähig, sich zu beherrschen, und überlegend, wie er dies könne.
»Was haben Sie da für ein altes Bild an der Wand?« fragte der Baron.
»Es ist mein Vater.«
»Gut gemacht, wie es scheint. Ein stolzes Gesicht, es sieht Ihnen ähnlich.«
»Ich hoffe,« sagte Rudolf, »daß ich ihm überhaupt ähnlich bin, obwohl es scheinen möchte, als sei es nicht wahr.«
»Wie das?« fragte Laxfeld.
»Mein Vater war ein Mann, der jede Verstellung haßte und, ob es ihm Glück und Leben gekostet hätte, zu keinem Unrecht schweigen konnte.«
»Ah so!« lachte der junge Herr, »darin liegt also der Unterschied. Sie sind klüger als er.«
Die Adern schwollen auf der Stirn des Doctors, er, biß die Zähne zusammen, und seine Augen nahmen einen so furchtbaren Ausdruck an, daß der Baron aufstand.
»Was ist Ihnen denn?« fragte er. »Was fehlt Ihnen?«
»Dank Ihnen, daß Sie mich an die Klugheit mahnen!« murmelte Rudolf, heftig athmend. »Verdammt sei alle Klugheit! aber morgen … morgen sollen Sie meine Antwort haben. Heute lassen Sie mich, ich will Nichts mehr hören. Kein Wort mehr zwischen uns! Scham und Schande, wenn ich es länger ertrage!«
Indem er dies sagte, trat die Frau Zoll-Inspectorin herein.
»Brr! wie es regnet!« rief sie, die Thür aufmachend. – »Ach! Herr Baron, nehmen Sie es ja nicht übel – aber Rudolf, mein Sohn, wo willst Du denn hin? Es regnet ja fürchterlich! Er hat keinen Regenschirm, er wird sich erkälten!«
»Er wird sich abkühlen und hat es nöthig,« antwortete Laxfeld, indem er sich von Neuem setzte und sich mehrere Minuten lang gar nicht um die Wittwe kümmerte, die an ein Fenster gelaufen war, dieses öffnete und den Namen ihres Sohnes mehrmals, so laut sie konnte, hervorstieß. –
»Du mein Gott! da läuft er!« sprach sie dann, »und es blitzt und donnert, und der Regen stürzt über die Dächer. Was ist ihm geschehen? Was hat er denn vor?«
Laxfeld hörte alle ihre Ausrufungen ruhig an. Er legte den rechten Fuß auf sein linkes Knie, stützte den Ellbogen auf die Stuhllehne, setzte seinen Hut auf und drehte an seinem Bärtchen. –
»Lassen Sie ihn nur,« sagte er endlich lächelnd, »das Naßwerden schadet ihm nicht, er wird von dem Sturzbad zur Vernunft gebracht werden.«
»Und der neue Rock, der neue Hut, Alles verdirbt!« rief die alte Frau wehklagend.
»So kaufen wir ihm einen neuen,« antwortete Laxfeld.
»Als ob das so leicht wäre!« sagte sie ärgerlich. »Wenn man arm ist, hat man Noth um seine Sachen.«
»Frau Zoll-Inspectorin,« begann der Baron nach einer kleinen Pause, in welcher es ihm Vergnügen machte, die verschiedenen zornigen Worte seiner Gesellschafterin zu hören. »Sie sind eine sehr verständige Dame, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich das Davonlaufen Ihres Sohnes nicht verschulde, es aber wohl begreife.«
»Aber er war ja wie außer sich,« fiel die alte Frau ein.
»Haben Sie die Güte, mich anzuhören,« fuhr Laxfeld fort. »Sie wissen wahrscheinlich Etwas davon, daß ich Fräulein Schellbach heirathen werde.«
»O, ja wohl, Etwas, Herr Baron,« sagte sie beruhigter.
»Sie wissen auch, daß der Doctor mir einige freundliche Dienste bei meiner Bewerbung leistet.«
»Freilich, freilich, geehrter Herr Baron.«
»Nun, sehen Sie, theure Frau Zoll-Inspectorin, ich möchte dagegen gern dankbar sein und habe hier bei mir ein Schreiben meines Oheims, des Ministers, an Ihren Sohn, in welchem ihm eine vorläufige Unterstützung zu seinen Studien ertheilt wird, bis sich eine passende, einträgliche, ehrenvolle Stellung findet.«
Er zog ein Papier in Briefform heraus und hielt es zwischen seinen Fingern. Die Frau Zoll-Inspectorin machte einen tiefen Knix, ihr Gesicht war roth vor Ueberraschung.
»O, mein Gott!« rief sie, »ein Brief von dem Herrn Minister!«
»Damit aber nicht genug,« sagte Laxfeld, »so war ich auch Willens, dem Doctor nach der glücklich beendeten Affaire ein Geschenk zu machen, das seine Zukunft überhaupt sicher stellte. Ich wollte mich verpflichten, ihm zehntausend Thaler zu zahlen.«
»Ach, gnädigster Herr Baron!« sagte die alte Frau, »ich kann es gar nicht denken! Und davor ist er fortgelaufen? das hat er nicht angenommen?«
»Er ist ein wenig eigensinnig,« sagte der junge Herr spottend; »er hat mir erzählt, sein Vater sei auch so gewesen oder noch ärger; aber er wird sich besinnen.«
Die Wittwe warf einen Blick nach dem Bilde hinauf, und in solchem alten Bilde sitzt oft eine wunderbare Kraft der Erinnerung – sie erschrak davor. –
»Ich kann es mir wohl denken,« flüsterte sie kleinlaut, »der da hätte es nimmer gethan, aber …«
Sie besann sich auf den Vetter und auf Lottchen und auf Alles, was sie wünschte und hoffte.
»O!« sagte sie mit einem Seufzer, »arme Menschen müssen vieles thun, was sie niemals thun würden, wenn sie nicht müßten.«
»Sehr wahr und sehr vernünftig,« erwiederte der junge Herr; »eben deswegen aber erhält sich die Welt, wie sie soll. Der Doctor ist einsichtig, nur zu empfindsam. Ich will diese Gefühle nicht weiter unangenehm berühren. Er wird morgen zu Ihnen kommen, geben Sie ihm dann diesen Brief, den ich Ihnen hier lasse, er soll ihn aus den Händen seiner Mutter empfangen.«
Mit den lebhaftesten Dankbezeugungen nahm die Wittwe das Schreiben in Empfang, und sie faßte es so ehrfurchtsvoll mit den Fingerspitzen an, als säße der Minister selbst darin.
»Alles soll geschehen, wie Sie es wünschen, bester Herr Baron,« sagte sie knixend und voll Dankbarkeit. »Mein Sohn wird sich Ihrer gnädigsten Güte gewiß immer würdig zeigen; aber … wie war es denn, sagten Sie nicht … o, Sie werden es gewiß nicht übel nehmen, wenn ich darnach frage, Sie werden es mit meinem mütterlichen Herzen entschuldigen – war nicht noch von etwas Anderem die Rede?!«
»Von meinem Versprechen?« fragte Laxfeld.
»Ach, ja! verehrtester Herr Baron. Von den Zehntausend.«
»Auf mein Wort, ich werde es halten!«
»Aber wenn Sie doch …«
Die alte Frau hielt inne und sah überaus einladend zuthunlich aus. Ihr fiel wieder der Vetter Helm ein, und was der oft an Weisheitslehren ausgegeben.
»Wir sind ja Alle sterbliche Menschen,« sagte sie, demüthig lächelnd und die Hände reibend, »die Gott abrufen kann, ehe es Jemand ahnet; und große Herren haben so viel zu denken, haben den Kopf so voll, daß sie Mancherlei vergessen, ohne es zu wollen; darum dachte ich, bester Herr Baron …!«
»Was dächten Sie denn, wertheste Frau Zoll-Inspectorin?« fragte Laxfeld, der sich höchlich belustigte.
»Ich dachte, so ein Zettelchen Schwarz auf Weiß würde Keinem von uns Etwas schaden,« rief sie, verlockend schmeichelnd, »aber es wäre doch gar so schön.«
Der Baron lachte, was er konnte.
»Gewiß, theuerste Frau Zoll-Inspectorin,« antwortete er. »Ihre Wünsche sind voller Verständigkeit. Sie sind eine kluge Dame, viel klüger als Ihr Herr Sohn, der Doctor.«
»Mit dem lassen Sie mich nur fertig werden,« fiel sie ein, »der soll kommen und Ihnen danken.«
»Aber wo bekommen wir Papier und Feder her?« fragte Laxfeld.
»O, Beides ist gleich zu Ihren Diensten!« antwortete sie geschäftig. »Mein Sohn hat neulich Briefe geschrieben, so ein Gelehrter muß immer sein Handwerkzeug im Hause haben.« –
Sie zog den Tischkasten auf, nahm Schreibzeug heraus und stellte Alles vor den jungen Herrn.
»Nun sollen Sie mir auch selbst dictiren,« sagte er.
»Was soll ich schreiben?«
»Ich will es Ihnen schon sagen,« erwiederte sie unerschrocken. »Ich Unterzeichneter sichere hiermit auf Ehre und Gewissen dem Doctor Rudolf Jachtmann … haben Sie Jachtmann?«
»Da steht es schon!« sagte Laxfeld.
»Also Jachtmann, Zehntausend Thaler zu, dafür, daß er sich bemüht, das Fräulein Johanna Schellbach zu überreden, meine Frau zu werden.«
Baron Hermann warf die Feder fort, und während er im Lachen blieb, rief er:
»Das ist ein satanischer Schuldbrief, über alle Maßen gut ausgedacht, um mich zum pünktlichen Zahlen zu zwingen. Und anders wollen Sie es nicht thun?«
»Sie haben mich ja selbst aufgefordert, daß ich dictiren soll, bester, gnädigster Herr,« nickte sie ihm zu. »Jetzt unterschreiben Sie.«
»Nun, meinetwegen,« war seine Antwort. »Es soll geschehen, da! … Aber heben Sie das Papier gut auf und schweigen Sie still, bis ich es einlöse. Zeigen Sie es dem Doctor, so zerreißt er es im tugendhaften Eifer. – Gute Nacht denn, würdige Frau Zoll-Inspectorin, wir müssen gute Freunde bleiben. Jetzt fehlt Nichts mehr zu Ihrem irdischen Wohlergehen, als eine reizende Schwiegertochter. Nicht wahr?«
»O, mein liebster Herr Baron, auch die denke ich zu bekommen,« jubelte die alte Frau.
»Ich werde dazu helfen,« sagte Laxfeld vertraulich, »ich verspreche es Ihnen. Also auf Wiedersehen bei der Verlobung! Ich darf doch kommen?«
»Ach, mit tausend Freuden sollen Sie willkommen sein!« knixte sie, indem sie leuchtete. »Stoßen Sie sich nur nicht an den Balken, und fallen Sie nicht, und daß wir recht bald die Ehre haben, Sie wieder zu sehen!«
Die alte Hexe! lachte der Baron in sich hinein, sie wünscht mein Geld zu verschlucken; aber Julie wird sie belohnen.
Die Wittwe hörte davon Nichts. Der Brief und der Schuldschein lagen auf ihrem Tische, und sie stand vor beiden mit unbeschreiblichem Entzücken.
Wenn ich nur dürfte, wenn ich nur könnte! rief sie athemlos, ich lief noch heute zu dem Vetter und zu Lottchen in meiner Herzensfreude; aber ich muß schweigen bis morgen, ich muß. Ein Brief von dem Herrn Minister und Zehntausend Thaler! Herr des Himmels, Zehntausend Thaler! –
Ein unermeßlicher Goldstrom schwamm vor ihren Augen, dann sah sie nach dem Bilde hinauf.
Alter, Alter! sagte sie bittend, was siehst du mich. so strenge an! Es ist ja für unser Glück, und Alles geschieht zum Guten und zum Besten. – Nein, nein! es ist nichts Böses, es ist ganz gewiß nichts Böses! –
Sie faltete die Hände zusammen und blieb lange in Gedanken sitzen.
3.
Wenige Minuten fehlten an der vollendeten elften Stunde, als Herr von Schellbach aus seinem Zimmer in den Gemäldesaal trat, wo er seine Frau fand, die von dem Gärtner Blumen stellen und Festons befestigen ließ. Während dies geschah, ging er auf und ab, steckte die Hand in seine Weste, putzte mit seinem Taschentuche an einem Goldrahmen, schlug den Staub von einem anderen Bilde und sah verdrießlich aus, bis er endlich vor den Kartenspielern, dem Werke seiner Schwester, stehen blieb und sie nachdenklich betrachtete.
Als der Gärtner hinaus war, drehte er sich um, denn Frau von Schellbach näherte sich ihm und strich ihm lächelnd über die Stirn.
»Alles ist bereit,« sagte sie; »aber was hast Du vor? Du bist mißgestimmt.«
»Es ist Nichts,« sagte er.
»Ueber Nichts sieht man nicht so grämlich aus. Ich dachte, Du müßtest heiter sein. Wer war bei Dir? Ich glaube Helm.«
»Ja,« antwortete er. »Ich habe Allerlei erfahren, was mir nicht angenehm ist.«
Als er nicht weiter fortfuhr, sagte die gnädige Frau, den Handschuh aufstreifend:
»Diese lästigen Handelsgeschäfte solltest Du doch ganz aufgeben und Dein Vermögen besser benutzen.«
»Wozu?« fragte er rasch.
»Du hast ja Güter und kannst mehrere kaufen.«
»Thorheit!« murmelte er ärgerlich. »Ich habe theuer gekauft, das große Gut bringt weniger ein, als ich dachte. Die Bewirthschaftung taugt Nichts, ich verstehe Nichts davon; ich muß es verpachten, wenn ich nicht betrogen sein will.«
»Helm hat Dir gewiß einmal wieder Rechnungen vorgelegt,« lachte sie, »die Dir böse Launen machen.«
»Er hat mir Abschlüsse gebracht,« fuhr er fort, »und ich habe daraus ersehen, daß wir viel Geld ausgegeben haben. Du hast ungemein viel verbraucht, Henriette.«
»Ich?« fragte Frau von Schellbach in höherem Tone. »Doch nicht mehr, als nöthig war, lieber Franz.«
»Ich kann es nicht beurtheilen,« erwiederte er einlenkend, »allein ich muß Dir gestehen, daß ich künftig einen bestimmten Etat machen werde, der die Ausgaben einschränkt.«
»Einschränken?« rief sie, in einer Weise, als sei das Wort eine Beleidigung. »Ich begreife Dich nicht!«
»Liebe Henriette,« sagte er beruhigend, »nimm es von der richtigen Seite. Bis jetzt ist Johanna's Vermögen von mir mit verwaltet worden. Sie hat, da ich die Güter kaufte, viel Geld in dem Geschäft, das dadurch zum bedeutenden Theile ihr gehört. Zieht sie es heraus, wenn sie heirathet, so wird es ganz aufgegeben werden müssen.«
»Gott sei Dank!« sagte die gnädige Frau.
»Nicht Gott sei Dank, das verstehst Du nicht,« fuhr er fort. »Das Haus liefert bedeutenden Gewinn, und Hermann, der richtiges Einsehen besitzt, ist Willens, die Sache zu lassen, wie sie ist. Aber beste Henriette, bisher hat meine Schwester nicht nach ihren Zinsen und ihrem Gewinn-Antheil gefragt, das wird sich künftig ändern, und sollte ich ihr Rechnung ablegen, so würde ihr eine beträchtliche Summe, die verbraucht ist, gut geschrieben werden müssen.«
Frau von Schellbach hatte aufmerksam zugehört, sie begriff recht gut die Bedeutung dieser Mittheilung.
»Darüber habe ich wirklich noch nicht gehörig nachgedacht,« sagte sie.
»Wollten wir unseren Vortheil berücksichtigen,« war seine Antwort, »so hätten wir wünschen müssen, Johanna wäre unvermählt geblieben. Dazu war alle Aussicht. Sie ist Fünfundzwanzig alt, ihre Denkungsweise und ihre körperliche Schwäche, Alles half mit. Aber Gott behüte mich!« fuhr er rascher fort, als er den unmuthigen Ausdruck im Gesicht seiner Frau bemerkte, »ich habe Nichts dagegen, wenn sie glücklich wird, und Hermann …«
»Er wird Dir keine Rechnungen abfordern,« fiel die Dame ein.
»Nein, das wird er nicht, er hat es mir selbst gesagt,« versetzte ihr Gatte. »Wir haben darüber gesprochen, und eben deswegen habe ich den Vermögens-Bestand, wie dieser gegenwärtig ist, von Helm aufnehmen lassen, aber ich habe dabei gehört …«
»Was?« fragte sie, als er schwieg.
»Ich möchte es Dir eigentlich gar nicht sagen, denn Du erzürnst Dich darüber, und Johanna stimmt schon wenig genug zu Dir.«
»Dann hättest Du überhaupt schweigen müssen.«
»Wahr!« erwiederte er, »aber so sind wir den Frauen gegenüber. Wir fühlen uns der Mittheilung bedürftig und haben doch Furcht, Feuer damit anzuschüren; daher muß immer eine abkühlende Erinnerung vorangehen.«
Frau von Schellbach lächelte stolz.
»Lieber Freund,« sagte sie, »ich hoffe Dir nie Gelegenheit gegeben zu haben, meiner Einsicht zu mißtrauen. Die Heirath Deiner Schwester ist mein Werk und soll es bleiben. Die Verbindung ist ehrenvoll auch für Dich; Hermann wird kein Verschwender sein, er wird das Vermögen seiner Frau bewahren, und wer weiß denn, ob es nicht dennoch einst Emil wieder zufällt?«
Er ging auf und ab, während sie sprach, und stand dann still.
»Sonderbar,« erwiederte, er, »sie hat sich niemals um ihr Vermögen gekümmert, sie lebte mit ihren Büchern, mit ihrem Hunde und mit ihren Einfällen, darum hast Du sie oft kindisch und unverständig genannt.«
»Nun?«
»In letzter Woche ist sie eines Abends plötzlich und unerwartet bei Helm erschienen und hat von ihm einen detaillirten Nachweis ihres Vermögens gefordert.«
»Und das sagt er Dir erst jetzt?« fragte die gnädige Frau drohend.
»Der alte Mann ist ängstlich und glaubte am klügsten zu handeln, wenn er ihr den Rath ertheilte, sich unmittelbar an mich zu wenden, ihn selbst aber aus der Affaire zu lassen.«
»Er hat also Nichts gegeben, und sie hat Nichts weiter verlauten lassen?«
»Nein, aber sie hat mit solcher Bestimmtheit gesprochen, daß er davor gezittert hat, wie er sagt. Sie wollte eine genaue Rechnungs-Ablegung, sprach von den Zinsen, die seit langer Zeit zum Kapital geflossen sein müßten, und machte ihn verantwortlich, da er wisse, daß sie die Miteigenthümerin des Geschäftes sei kraft Testaments ihres Vaters, folglich Rechenschaft von ihm fordern könne.«
»Unverschämt!« sagte die gnädige Frau.
»Nun, das hat Nichts zu sagen, das sind leere Worte,« beruhigte Herr von Schellbach. »Ich bin der Chef des Hauses; aber sie hat bei dieser Gelegenheit ganz ungewöhnliche Kenntniß der Verhältnisse gezeigt, so fest und klar sich ausgedrückt, daß Helm meint, es wäre ihm gewesen, als sei meines Vaters Geist in sie gefahren. Von kindischem Wesen und Phantasterei keine Spur. Und so glaube ich beinahe, liebe Henriette … es wäre sehr möglich, daß wir unangenehm überrascht würden.«
»Wodurch?« fragte sie aufgeregt.
»Dadurch,« antwortete er mit gedämpfter Stimme, »daß sie ihr Vermögen selbst verwalten will und Bedingungen festsetzt, die für Laxfeld sehr unangenehm sein können, während es mir auch nicht gleichgültig ist, wenn sie ihre vollen Rechte beansprucht.«
»O, über die blasse Furcht!« rief Frau von Schellbach spottend, »das Kind wird sich schon handhaben lassen. Ist sie dazu geeignet, ihr Vermögen zu verwalten, hat sie jemals dazu die geringste Lust gezeigt? Daß sie plötzlich zu Helm lief, ist eben auch einer ihrer verkehrten Einfälle, wie diese ihr häufig aus der Luft fallen. Wahrscheinlich denkt sie nicht mehr daran; sollte es aber dennoch der Fall sein, so wollen wir sie von diesen Grillen heilen. Ueberlaß das Hermann und mir, ebenfalls wird auch ihr geheimer Rath helfen.«
»Was diesen betrifft,« sagte Schellbach …
»Was diesen betrifft,« fiel sie ein, »so soll er fort; er hat seine Dienste gethan und könnte unbequem werden; Hermann hat Recht und hat für ihn gesorgt. Der Onkel hat ihm Unterstützung zugesagt, davon und von einem anständigen Geschenke kann er leben, bis ihm eine Anstellung wird. – Aber da sind sie, wir haben jetzt Besseres zu thun.«
Damit endete die Unterredung, denn die Thür that sich auf, und mit Frau von Stern und dem Medicinalrath trat die eine der Hauptpersonen des Drama's herein, das in diesem Saale aufgeführt werden sollte. Der junge Baron warf einen Blick in den großen Wandspiegel und blieb einen Augenblick bei seinem Freunde stehen, während er es seinen beiden Begleitern überließ, die Dame des Hauses zu begrüßen. Er hatte seine Toilette mit größter Zierlichkeit gemacht, die schlanke Gestalt konnte nicht vortheilhafter gehoben werden; sein Gesicht war von der vertrauensvollsten Gewißheit beseelt. Als er mit seiner Cousine den ersten Blick wechselte, sagte ihm dieser, daß er unwiderstehlich sei, und lächelnd beugte er sich auf ihre Hand nieder, die er an seine Lippen zog.
Als er dies that, schlug die Pendule im Salon Elf, und bei dem letzten Schlage erschien Johanna am Arme des Hauslehrers. Die schöne, große Schwägerin mußte sich Gewalt anthun, um aus ihrem Gesicht allen Spott zu verbannen, den sie beim ersten Anblick dieser Braut empfand; denn auch das kleine, verbildete Fräulein hatte sich geschmückt, nur in sehr eigenthümlicher Weise. Johanna's Kleidervorrath war viel zu einfach, um damit besonders zu prunken, doch das weiße Gewand und die Rose an ihrer Brust standen ihr gut. Ihr reiches Haar fiel lockig auf ihre Schultern, Perlentropfen von bedeutendem Werth und eine kostbare Perlenkette, die einst ihrer Mutter gehört hatte, waren ihr einziger Schmuck. –
Rudolf führte sie herein, und sie hielt sich an seinem Arme fest, als die Versammelten ihr mit Liebesworten entgegen kamen, bis der Doctor bescheiden zur Seite trat. Frau von Stern nickte ihm einen lächelnden Gruß zu, den er erwiederte, dann sah sie ihn nochmals an und flüsterte dem Medicinalrathe Etwas zu, was dieser mit einem seiner stechenden, scharfen Blicke auf den jungen Freund erwiederte. Der Doctor sah noch bleicher aus als gewöhnlich, aber er trug den Nacken so aufrecht, als wollte er zeigen, daß er länger sei als alle Anderen; seine Augen sahen groß und glänzend aus, seine eckige, gedankenkühne Stirn trat in ganzer Kraft hervor.
»Nun, liebe Johanna,« begann Herr von Schellbach nach der genommenen Verabredung, »Du hast mir gesagt, daß Du heute zur festgesetzten Stunde uns eine Eröffnung machen wolltest; wir sind versammelt, diese zu hören.«
»Ich habe Alles, was Ihr von mir, als zu meinem Lebensglücke nöthig, wünscht, reiflich überlegt,« antwortete sie. »Ich soll mich also wirklich verheirathen?«
»Ja, theure Johanna,« fiel Frau von Schellbach statt ihres Mannes ein, »Nichts kann, Nichts wird so sehr Dein Lebensglück sichern und befestigen.«
»Du meinst es also auch?« fragte das kleine Fräulein leise lächelnd.
»Nur durch den Mann erhält die Frau ihre Stellung in der Gesellschaft,« fuhr die Schwägerin fort. »Sieh um Dich her, liebe Johanna, wir Alle folgen der Bestimmung, die Gott uns gab; wir folgen dem Zuge unseres Herzens und dem natürlichen Verlangen nach einem Schützer, der für uns wacht und sorgt, nach einem theuren, geliebten Freunde in aller Noth.«
»Und Du, mein Bruder Martin,« sagte das Fräulein, »Du hast so viel Glück gefunden, daß Du mir räthst, Deinem Beispiele zu folgen?«
Der Name Martin erregte, wie immer, der gnädigen Frau eine unangenehme Empfindung. Die daran geknüpfte Bemerkung erhöhte aber noch mehr ihren Unwillen, denn sie klang wie ein Zweifel an dem Glücke ihres Mannes. Zu einer anderen Stunde würde sie diese Rücksichtslosigkeit nicht ruhig hingenommen haben, jetzt jedoch sah sie triumphirend auf Schellbach, der lebhaft betheuernd ausrief:
»Ich kann Dir mein Beispiel nicht anpreisen, denn Du bist ja die tägliche Zeugin meines Glückes. Mein innigster Wunsch ist es, daß Du eben so glücklich sein mögest. Und das hoffe ich, das erwarte ich, nein, das weiß ich gewiß!«
»Ich werde noch glücklicher sein, wenn es möglich ist!« sagte Johanna sanft. »Ja, ich werde Euren Wunsch erfüllen, ich werde mich verheirathen und werde mein Lebensgeschick in die Hände eines Mannes legen, den ich achte, ehre, von dem ich weiß, daß er mich liebt trotz aller meiner Fehler und Schwächen.«
»Himmlisch, liebenswürdig!« rief Laxfeld, indem er näher trat.
»Nein,« fuhr die Braut fort, indem sie einen kleinen Schritt zurück wich, die Augen senkte und wieder aufschlug, »ich weiß, daß ich nicht schön bin, daß meine Formen Mangel haben, daß ich niemals glänzen kann, sondern bescheiden sein muß. Ich weiß auch, daß ich häufig mich durch rasche, rücksichtslose Worte verging, die viele Nachsicht nöthig machten, und ich bitte deshalb um Verzeihung Alle, denen ich jemals wehe gethan.«
»Ich begreife sie nicht!« flüsterte Frau von Stern.
»Der Doctor hat Wunder gethan!« antwortete der Medicinalrath.
»Theure Johanna!« rief Frau von Schellbach, »laß die Vergangenheit ruhen, sie ist abgethan. Nur keine Bekenntnisse! davor haben sich Frauen zu hüten. Du liebst und wirst geliebt, und wir danken der Vorsehung« – hier lächelte sie zu Rudolf hin, – »die dies vollbrachte. Was bleibt uns noch zu thun übrig, als den schönen Bund zu segnen!«
»Halt, noch, einen Augenblick!« fiel das Fräulein rasch ein, als der ungeduldige Baron Miene machte, sie anzureden.
»In Betreff meines Vermögens, Bruder Martin …«
»Laß das, laß das!« winkte Schellbach, »Alles ist geordnet.«
»Ich will nur sagen,« fuhr sie fort, »daß ich die Sorge dafür ganz meinem Gemahl überlasse, ich mir Nichts eigen vorbehalte, als seine Liebe, sein Herz, das mir allein gehören soll.«
»Auf mein Wort!« rief Laxfeld, »diese Bedingung beweist Ihre göttliche Unschuld und Güte.«
Johanna eilte an Laxfeld hin, er streifte mit seiner ausgestreckten Hand den Saum ihres Kleides und stand eben so sprachlos, eben so verwirrt wie seine Verbündeten, als er sah, daß das Fräulein den Hauslehrer herbei führte und mit fester, ruhiger Stimme sagte:
»Hier ist der Mann, den ich mir erwählt habe. Ich bitte Dich, mein lieber Bruder Martin, nimm ihn gütig auf, er verdient es. Du kannst so stolz auf ihn sein, wie ich es bin.«
Einen Augenblick wirkte die Ueberraschung so heftig, daß nicht der leiseste Laut gehört wurde. Frau von Schellbach raffte sich zuerst auf. Sie war geisterbleich geworden, und indem sie die Hände zusammenschlug, sagte sie fast tonlos:
» Sie ist wahnsinnig! Allmächtiger Gott! sie ist wahnsinnig!«
»Johanna,« rief Schellbach gleichzeitig, »Du bist eine Närrin!«
»Unerhört! unglaublich!« fiel Frau von Stern ein.
»Warum soll ich eine Närrin sein, und warum bin ich wahnsinnig?« fragte das Fräulein, ohne von dem Lärm und der Leidenschaft, die sie umgab, erregt zu werden. »Ich bin mündig, kann über mich und meinen Willen frei schalten, wie es mir beliebt, und habe Nichts gethan, was Jemanden berechtigen könnte, an dem ungestörten Gebrauche meiner Vernunft zu zweifeln.«
»Handlungen,« sagte der Medicinalrath in ernstem Tone, »die so außerordentlich sind, daß sie gegen Sitte und Herkommen streiten und sowohl in der öffentlichen Meinung, wie in dem am nächsten davon betroffenen Familienkreise heftigen Widerstand und Anstoß erregen, sind allerdings bedenkliche Zeichen vorhandener Störungen, die mit der vernünftigen Freiheit des Willens nicht in Einklang zu bringen sind.«
»Ich habe bisher geschwiegen,« begann der Doctor, »finde es aber nöthig, dies nicht länger zu thun.«
»Es ist ein Scherz, eine Laune meiner Schwägerin!« rief die gnädige Frau. »Ist es nicht so, Herr Doctor? Sie konnten unmöglich im Ernst an einer solchen Widersinnigkeit Theil nehmen. Johanna will uns erschrecken, wir kennen ihre pikanten Scherze. Du lachst, Johanna; wir glauben es nicht. Nein, nein! der Doctor wird uns die Sache aufklären.«
»Fragt ihn nur, fragt ihn nur!« sagte das Fräulein, indem sie ihre Hand auf Rudolf's Schulter legte. »Sage ihnen Alles, verschweige Nichts!«
»Sie werden mir zürnen,« begann der junge Mann, »wenn ich Ihnen bekenne, daß ich vom ersten Tage an, wo ich dieses Haus betrat, mich zu Johanna hingezogen fühlte.«
»Es ist meine Schwester, Herr Doctor Jachtmann, von der Sie reden!« fiel Herr von Schellbach mit beleidigendem Hochmuth ein.
»Es ist meine Braut!« antwortete Rudolf kalt.
»Was wollen Sie damit sagen?« schrie Schellbach wüthend.
»Die Bedeutung ist klar genug,« gab Rudolf zurück. »Aus meiner Braut wird meine Frau werden.«
Ein hohnvolles Lachen der gnädigen Frau war die Antwort.
»So haben Sie unser Vertrauen in unwürdigster Weise gelohnt!« begann sie. »Abscheulich! nichtswürdig!«
»Madame!« erwiederte der Hauslehrer, und vor seinem flammenden Blicke verstummte sie, »ich überlasse es Ihnen, zu bedenken, was abscheulich und nichtswürdig ist. Genug davon. Ich stehe hier gewürdigt von der Liebe derjenigen, der ich niemals bekannt hätte, welche Gefühle mich erfüllten, hätte sie selbst nicht mich zu sich erhoben.«
»Wollin Sie damit sagen, daß meine Schwägerin sich Ihnen angetragen hat?« fragte die erzürnte Dame.
»Er will damit sagen,« antwortete Johanna, »daß, als er zu mir kam Abends im Garten, Ihr wißt es ja, wohin ich ihn bestellt hatte, ich ihm zuerst gestand, daß ich ihn achte, ehre und liebe.«
»Unglückliches Mädchen!« sagte Frau von Schellbach. »Und ist dies kein Wahnsinn? Ist noch daran zu zweifeln? Sie gesteht solche Dinge einem Manne!«
»Das war sehr wohl überlegt,« erwiederte das Fräulein lächelnd. »Ihr, die Ihr Alles auf die Verhältnisse gebt, Ihr müßt einsehen, daß es nicht anders sein konnte. Ich wußte, daß er sein Herz mir nicht öffnen würde, und doch kannte ich es. Ich mußte ihm sagen, was ich von ihm erwartete, und ich denke, meine liebe Henriette, Du bist meinem Bruder auch entgegen gekommen und hast ihm das Geständniß erleichtert.«
»Gott schütze uns vor solcher Geistes-Verwirrung!« rief die gnädige Frau; »doch wir müssen Mitleid haben. Wie kannst Du nur wagen, Deinen Bruder mit diesem – Herrn da zu vergleichen!«
»Vergleichen? Ich vergleiche ihn nicht!« erwiederte das Fräulein zum ersten Male heftiger und rauher. »Versucht es nicht, ihn zu beleidigen, Ihr könnt es nicht, er steht zu hoch über Euch. Er ist mehr werth als Ihr Alle zusammen.«
Frau von Schellbach faltete die Hände, schlug die Augen zum Himmel auf und sah den Medicinalrath an.
»Beruhigen Sie sich,« murmelte der Arzt halb laut, »hier ist Ruhe durchaus nöthig.«
»Sie – ja, Sie müssen zunächst hier ein Urtheil sprechen,« begann Frau von Schellbach von Neuem, »Sie müssen als Arzt gehört werden. Ist das Gesundheit? Ist sie bei vollen Geisteskräften? Ist es nicht Alles unnatürlich, unsinnig, was wir hier hören und sehen?«
Neidler zuckte die Achseln und richtete seine stechenden Augen auf Johanna, die einige Worte heimlich mit Rudolf sprach.
»Ich muß in Wahrheit glauben,« sagte er bedauernd, »daß die nervösen Affectionen des lieben Fräuleins bis zu einem Grade von Ueberreizung gesteigert sind, daß gerechte Besorgnisse eintreten.«
»Eine Närrin ist sie geworden! Ich sage es noch ein Mal, eine Närrin!« schrie Herr von Schellbach.
»Unter dieser Voraussetzung läßt sich allerdings nicht hoffen, zu einer Verständigung zu gelangen,« sagte der Hauslehrer, »eben so wenig, wie sich hoffen läßt, daß Fräulein Johanna in Ihrem Hause, Herr von Schellbach, sich länger wohl zu fühlen vermag. Ich erkläre Ihnen daher, daß Johanna genöthigt ist, es zu verlassen. Was mich betrifft …«
»Was Sie betrifft,« rief Schellbach, den letzten Rest von Mäßigung aufgebend, »so packen Sie sich auf der Stelle! Was meine Schwester aber betrifft, so bin ich deren natürlicher Beschützer und werde auf keinen Fall sie in diesem Zustande verlassen.«
Der kleine, wohlbeleibte Herr war in heftigster Aufregung. Die Haut unter seinem dünnen, blonden Haar schimmerte dunkelroth, und seine sonst matten Augen funkelten vor Zorn. Indem er die Gesichter seiner Umgebung ansah, fand er, daß jedes ihm beistimmte, und daß er vollkommen richtig gehandelt habe. Bisher hatte er eine gewisse Scheu vor seiner Schwester gehabt, in diesem Augenblick aber steigerte ihr unerschrockenes Anstarren seine Heftigkeit.
»Nein,« rief er ihr zu, »ich werde Dich nicht in dieser Tollheit untergehen lassen, denn ich habe die Pflicht, Dich davon zurück zu halten. Was würde unser Vater sagen, unsere Mutter, wenn sie aufwachen könnten!«
»Und die gnädigen Verwandten und die ganze Gesellschaft!« sagte Johanna. »Die Du anrufst, sind todt, Martin, die Lebenden aber sind viel schlimmer.«
»Sie schämt sich nicht!« murmelte Herr von Schellbach, zitternd vor Grimm.
»Schäme Dich selbst, schämt Euch Alle!« antwortete das Fräulein. »Sieh das Bild dort an, Bruder Martin, die Kartenspieler, Du wirst Dich überzeugen, daß ich es bei vollem Verstande gemalt habe. Betrachte sie genau, vielleicht findest Du einige Aehnlichkeiten heraus. Wer sie sind« – sie sah ihren Bruder, den Baron und den Medicinalrath an – »und um was sie spielen, ist nicht schwer zu erkennen. Ihr habt Alle um mich gespielt, aber mit falschen Karten! – Wir haben Nichts weiter hier zu thun.«
»Nicht von der Stelle!« sagte Schellbach, indem er nach der Klingel faßte. »Mit Gewalt will ich Dich halten, wenn es so sein muß. Habe ich Recht, Medicinalrath, oder nicht?«
»Sie sind in vollem Rechte,« erwiederte der Arzt.
»Wie!« fragte Rudolf, »Sie wollen Johanna's Freiheit antasten?«
»Entfernen Sie sich von hier, und zwar sofort, oder ich lasse Sie entfernen!« rief Schellbach ihm energisch zu.
»Wie kann ein Mensch von nur einiger Ehre auf ein solches Verhältniß eingehen!« fiel die gnädige Frau ein, indem sie ihre Worte an Frau von Stern richtete.
»Obenein, wenn man eine Braut hat,« erwiederte diese.
»Eine alte Mutter, einen liebevollen Vormund und Verwandten,« sagte der Medicinalrath, die Augen wehmüthig erhebend. »So viele aufopfernde Liebe zu zerstören und jedes Vertrauen zu täuschen!«
»Ein Beispiel der schändlichsten Undankbarkeit!« rief Frau von Schellbach.
»Gut ausgedacht! sehr gut ausgedacht!« sagte Schellbach. »Ein armer Hauslehrer, eine reiche Erbin! – Du bleibst!« fuhr er fort, seine Schwester am Arm fassend, »und Sie … zum letzten Male befehle ich Ihnen …«
Frau von Schellbach stellte sich vor ihn hin und bat ihn, zu schweigen. Auf ihren Wink eilte Julie herbei, die sie unterstützte; Beide bemühten sich um Johanna, die ruhig sagte:
»Ihr führt einen schmählichen Auftritt herbei, er muß ein Ende nehmen.«
»Ja, er muß ein Ende nehmen, das fühlen wir Alle,« antwortete ihre Schwägerin. »Entfernen Sie sich, Herr Doctor Jachtmann, es ist unmöglich, daß Sie länger bleiben können.«
»Ich werde nicht gehen, Johanna selbst mußte es mir befehlen,« sagte Rudolf.
»So befiehl es ihm,« fuhr Frau von Schellbach fort; »daß in dieser Stunde Nichts entschieden werden kann, ist gewiß. Ein Ereigniß, das so unvorbereitet über uns kommt, muß reiflich erwogen werden. Du bist in der Obhut Deiner nächsten Verwandten, vermögen diese Nichts zu ändern, so folge Deinem Willen; aber ehe dieser letzte Schritt geschieht, müssen wir uns überzeugen, daß es so sein muß. Jetzt kannst, jetzt darfst Du uns nicht verlassen. Deine Ehre, unser aller Ehre erfordert es! Sie selbst, Herr Doctor, dürfen es nicht zugeben.«
»Soll ich Dich verlassen?« fragte er.
»Es ist etwas Wahres in dem, was sie sagen,« antwortete sie, »obwohl die Wahrheit nur ihre Falschheit bedeckt. Geh' und sei versichert, es ändert sich Nichts. Warte bis morgen, dann wird es sich zeigen.«
»Bis morgen also!« –
Er machte eine stumme Verbeugung, die Niemand beantwortete. Laxfeld, der während der ganzen Zeit mit verschränkten Armen an der Spiegel-Console gelehnt hatte, sah ihn vernichtend an, als er vorüber ging. –
»Endlich!« murmelte er seinem Freunde zu. »Schaffe ihn auf der Stelle aus Deinem Hause.«
»Dem Himmel sei Dank,« sagte Frau von Schellbach, tief athmend, »er ist fort! Gehen Sie mit ihr, Julie. Es muß Mittel geben, uns vor solcher Schande zu bewahren!«
4.
Es war Nachmittag geworden, die Frau Zoll-Inspectorin hatte ihren Kaffe bereitet und auf den Tisch gestellt, wo er fix und fertig in der sauberen Maschine von Porcellan durch die kleine Spiritusflamme warm gehalten wurde. Ein Damasttuch, das nur bei feierlichen Gelegenheiten zum Vorschein kam, weil es zu ihrer Ausstattung gehörte und weil, wie sie meinte, jetzt von solcher Güte und Schönheit gar Nichts mehr zu haben sei, war auf den Tisch gedeckt.
Sie hatte sich auch geputzt, so schön es immer anging. Das schwarze, schwere Seidenkleid hatte sie aus dem Schranke geholt, wo es seit mehreren Jahrzehnten hing, und eine schöne, weißgebänderte Haube, Lottchen's letztes Weihnachtsgeschenk, bedeckte ihre grauen Haare. –
Wie alle alten Leute zärtlich auf das, was mit ihnen alt geworden ist, halten, und wie der Arme eben am allerfestesten an seinem geringen Besitzthume klebt, so sah die Wittwe mit innigem Behagen in dem freundlichen Stübchen umher, musterte wohlgefällig jeden einzelnen Gegenstand und warf dann befriedigt den Blick in den breitrahmigen Spiegel mit seiner Mahagony-Einfassung, der ihr Bild getreulich wiedergab.
Alle diese Geräthe waren vor beinahe dreißig Jahren gekauft worden; der Spiegel wurde angeschafft, als Rudolf die heilige Taufe erhielt, und darüber war nun mehr als ein volles Viertel-Jahrhundert vergangen. Das Sopha, der Tisch mit den beiden Klappen, die Stühle, die Kommode, der Schrank mit seinen Säulen, Alles war, wie sie sich mit Stolz erinnerte, vom besten Holz, extra bestellt und von dem Zoll-Inspector, der ein Kenner war, sorgsam geprüft.
Was hatte es nicht damals für Lobsprüche erhalten und für Neid erregt! Jetzt war es dunkel geworden, beinahe schwarz, altmodisch sah es aus und schwerfällig, unbequem; aber keinen Sprung und kein Fleckchen konnte das schärfste Auge daran erkennen, und auf ein paar blinde kleine Stellen an der Kommode hauchte die alte Frau, was sie konnte, und wischte dann eifrig mit einem weichen Tuche nach.
Nein, sagte sie, mit sich selbst sprechend, hier bleibe ich wohnen, und verändern lasse ich Nichts, durchaus Nichts; höchstens ein Bischen Politur auf die Stühle, so sind sie wieder wie neu. – Ich möchte keine solchen Möbel haben, wie sie jetzt Mode sind, ich wäre unglücklich! Die Stühle bekommen jetzt Beine wie die Pfeifenstiele, wenn man sich setzt, knickt es und knackt es; die Tische halten Nichts aus, auf den Sophas wippt man hin und her und kann sich nicht ausstrecken. Ich möchte um keinen Preis eine neumodische Wirthschaft haben. –
Und wie gut es ist, wie gut es ist, fuhr sie dann mit erhöhter Stimme fort, daß auch mein einziges Kind sich nicht in solche Verlegenheiten und Ausgaben bringt! Muhme Jachtmann, sagte der Vetter heute früh, ich will Ihnen Etwas sagen. Das Haus hier ist groß genug, und eingerichtet ist es auch. Ich ziehe nach oben, das thue ich, ich ziehe nach oben. Im ersten Stock sollen die jungen Leute wohnen, kein unnützer Groschen soll ausgegeben werden, es ist Alles da, was nöthig ist. Ach, der Herzensvetter! er kann sich nicht von Lottchen trennen; es wäre auch grausam. Wie wird Rudolf sich freuen, wenn er das hört. Das Haus hat ihm so über die Maßen gefallen, und ich weiß noch, wie wir zuerst dort waren, daß er sagte, wenn es sein wäre, möchte er Nichts weiter in der ganzen Welt. Es wird aber sein werden, ja, es wird sein werden! flüsterte, sie lächelnd, Alles wird sein werden!
Doch ich werde bleiben, wo ich bin, hier in meinem Paradiese; denn es taugt Nichts, wenn so eine alte Schwiegermutter in die Wirthschaft mitgebracht wird. Lottchen ist herzensgut, aber eigensinnig ist sie doch, junge Frauen sind immer eigensinnig … und ich, ich bin auch gut, und allzu alt bin ich auch noch nicht, sagte sie, in den Spiegel sehend, aber es taugt Nichts, nein, es taugt Nichts, mag eine Schwiegermutter alt oder jung sein, es taugt Nichts. Ich komme zum Besuch, sitze mit dem Vetter zusammen, höre zu, rathe und helfe, und wenn dann die Wirthschaft sich vergrößert …
Ihre Augen schwammen in Freudenthränen …
Mein Gott! mein Gott! sagte sie, was kann dann eine Großmutter weiter thun, als mit den Enkeln spielen und sie hüten und lieben! …
Sie hielt inne, horchte und trocknete schnell die Augen.
Da kommen sie, jetzt kommen sie! Das ist der Vetter, ich höre es an seinem Stock auf der Treppe! schrie sie auf. Nun ist es geschehen, er bringt die Kinder wohl gar mit … ach, mein Herz, mein Herz! es wird noch einmal jung!
Helm war es wirklich. Er öffnete die Thür mit einem Ruck und hatte Lottchen am Arm – aber wie sah er aus, wie sah Lottchen aus! Die Frau Zoll-Inspectorin prallte zurück und ließ die Arme sinken, sie wußte auf der Stelle, daß etwas Entsetzliches geschehen sein mußte.
Helm ließ sie nicht zu Worte kommen, denn als sie den Mund aufmachte, sagte er, seinen Stock aufstoßend, mit feierlichem Ernst:
»Ist er hier?« – wobei er sich nach allen Seiten umsah.
»Wer denn? Mein Himmel, wer denn?« fragte die Wittwe.
»Der … der Narr! … der Mensch ohne Gewissen, der Verbrecher!« antwortete er ingrimmig.
»Ein Verbrecher? lieber Herr Vetter! ein Narr?«
Er nickte langsam und faßte in seine Halsbinde.
»Rede Du, Lottchen, rede Du!« rief die arme Frau, ihre Hand fassend.
Lottchen zog die Hand, wie voll Abscheu, zurück.
»Sagte ich es nicht immer,« flüsterte sie, »sagte ich es nicht gestern noch? Ich wußte es, eine Stimme sagte es mir!«
»Meinst Du denn Rudolf?« fragte die arme Mutter bebend, »meinst Du ihn, Lottchen?«
»Wen sonst … ihn!« fiel der Vetter rauh ein.
»O! – o!« sagte sie, ganz verwirrt, »was hat mein armes Kind gethan?«
»Weggejagt ist er!« schrie Helm.
»Wer?«
»Er! … weggejagt mit Schimpf und Schande!« schrie Helm noch einmal.
Das war zu viel. Sie hielt den Kopf mit beiden Händen und taumelte, denn die ganze Stube drehte sich mit ihr um.
Der Vetter streckte seinen langen Arm aus und hielt sie fest, bis sie auf einem Stuhle saß, dann ließ er sie los, nahm eine Prise und schien Mitleid zu empfinden, während Lottchen regungslos neben ihr stand und keinen Zug veränderte.
Plötzlich sprang die alte Frau auf, ein fürchterlicher Gedanke war durch ihren Kopf geflogen. Sie packte den Vetter am Arm und sah ihn verzweiflungsvoll an.
»Ein Verbrechen hat er begangen?« sagte sie mit erlöschender Stimme. »Ein Verbrecher ist er?«
»Ein schändlicher, grausamer Verbrecher!« antwortete Helm.
»O Gott! hat er … er ist arm … hat Satan ihn verlockt?« rief sie, ihre Hände ringend. »Aber nein, nein! ... das kann er nicht … mein Sohn ist kein Mörder, kein Dieb! Es ist Alles falsch, liebster Vetter, Alles falsch!«
»Muhme Jachtmann,« antwortete der alte Herr würdevoll, »das wäre noch nicht das Aergste. Aber beruhigen Sie sich, lassen Sie uns überlegen, ob und wie wir ihn retten können.«
»Wo ist er?« sagte sie, laut schluchzend, »wo ist er?! Er hat sich das Leben genommen! Er kann keine Schande ertragen, ich kenne ihn, das kann er nicht: Er ist stolz, wie sein Vater war! … Ach, Vetter, Vetter! ich möchte sterben!«
»Sterben, Mutter!« fiel Rudolf ein, der unerwartet ein Zuhörer ihrer letzten jammernden Ausrufungen gewesen war, »das darfst Du nicht wünschen.«
»O, mein Sohn, mein Sohn!« sprach die Wittwe zitternd und weinend und doch neuen Muth gewinnend, indem sie die Arme um seine Brust drückte, »rede Du! rede Du!«
»Ich will reden,« erwiederte er. »Sie wissen, Vetter Helm …«
»Weggejagt!« schrie der alte Herr ingrimmig.
»Sie nennen es so,« sagte der Doctor, »und ich kann es nicht läugnen. Herr von Schellbach hat mir befohlen, auf der Stelle sein Haus zu verlassen, wenn er nicht Gewalt brauchen solle.«
»Hinausgeworfen hat er Dich!« fiel Helm ein; »seine Leute hat er dazu fertig gehalten, weil Du Umstände machen wolltest! Dann hat er mich rufen lassen, hat mich mit Vorwürfen zugedeckt, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde!«
»Es thut mir weh, sehr weh!« bat Rudolf, »aber es lag nahe, daß die Brutalität sich gegen Sie wenden mußte.«
»Ach! ach!« sagte die Wittwe kläglich, »das ist schrecklich! Aber rede doch, sage doch, was Du ihnen gethan hast!«
Der Sohn erröthete, senkte den Kopf und schwieg. Es wollte nicht über seine Lippen.
»Er schämt sich!« rief Helm, »und hat Ursache dazu!«
»Nein, Mutter,« antwortete Rudolf, sich aufrichtend, »glaube es nicht. Was ich that, kann ich vertreten. Ich bin der Stimme meines Herzens gefolgt, ich habe …«
»Eine Liebschaft hat er angefangen mit dem schwachsinnigen, verdrehten Mädchen!« schrie der alte Herr; »überreden hat er sie wollen, ihn zu heirathen oder mit ihm durchzugehen!«
»Das ist nicht wahr!« sagte der junge Mann.
»Verrath, Lüge, Betrug!« fuhr Helm fort, »Alles durch einander hat er getrieben!«
»Wer sagt das?«
»Ich sage es, ich!« rief Helm, indem er den Finger auf seine Brust stellte und den Kopf mit der langen Nase weit vorstreckte. »Hast Du m uns nicht belogen? Hast Du uns nicht Alle betrogen? Deine Mutter, mich, den Medicinalrath, das ganze Schellbach'sche Haus, den Minister, den Baron und die da … die da zumeist!«
Er deutete auf Lottchen und ließ Stimme zu einem dumpfen Geflüster sinken.
»Das ist mein Tod! das ist mein Tod!« sagte die alte Frau, wie leblos in den Stuhl zurückfallend.
»O, liebe Frau Zoll-Inspectorin! liebe, gute Mutter:« lispelte Lottchen, die sich über sie hinbeugte, »habe ich es nicht immer gesagt? Ich wußte es, ich sah es!«
»Und Du kannst noch sagen, daß Du Dich nicht schämst?« fragte Helm. »Jeder Mensch, der Gefühl hat, muß sich schämen.
»Ich sah es kommen,« murmelte Rudolf, »jetzt schlägt es über mich zusammen mit aller Bitterkeit!«
»Wer hat es verschuldet?« fuhr Helm fort. »Du allein – Wem ist so viel baares Capital zum Anfang geboten worden, wie Dir? Es möchte Wenige geben, die durch solchen Credit unterstützt wurden. Er kommt hierher und findet den besten Platz. Die ganze reiche, achtbare Familie nimmt sich seiner an, er darf nur zufassen, so fallen die reifen Trauben ihm in den Schooß. Professor soll er werden. Geld soll er haben; überall stehen seine Geschäfte zum allerbesten, er darf die acceptirten Wechsel nur einstecken. Der Cours geht jeden Tag höher, der Abschluß ist gewiß. Da plagt ihn der böse Feind, verblendet ihn, reißt ihn in ein Schwindelgeschäft ohne Boden, in einen Wucher, wo er Alles verlieren muß, und wo er nackt und bloß endlich zum Tempel hinausgeworfen wird.«
»Ach, Rudolf! Rudolf!« rief die alte Frau bittend.
»Wenn ich einen Sohn hätte, einen eigenen Sohn,« sagte Helm, »ich hätte es niemals besser mit ihm meinen, niemals mehr für ihn thun können.« –
Er holte die Dose hervor, nahm eine große Prise und suchte seiner Stimme, die in ein gewisses Zittern gekommen Festigkeit zu verschaffen.
»Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, Muhme Jachtmann,« fuhr er dann fort, »aber es mag wohl sein, daß es davon kam, weil ich dem da … seinem Vater, es in die Hand versprochen hatte, für ihn zu sorgen, so viel ich immer vermöchte.«
»Das haben Sie gethan, theurer Vetter, und so lange ich lebe, werde ich dankbar sein,« unterbrach ihn Rudolf.
»Was hat er dagegen gethan?« begann der alte Herr in versöhnlicherem Tone. »Er hat Nichts gehalten, was er versprochen, hat alle unsere Sorgen und Mühen zu Schanden gemacht, alles Vertrauen gebrochen, Alle, die ihn lieb hatten getäuscht, und Lottchen … das kann er gar nicht verantworten, am allerwenigsten kann er das.«
»Nein, Onkel!« fiel Lottchen mit Sanftmuth ein, »von mir dürfen Sie nicht sprechen. Ich mache keine Ansprüche darauf, bedauert zu werden; ich habe dem Herrn Doctor immer sehr wenig gegolten und habe es gewußt.«
»Ich bin schuldig genug, Lottchen, und trage Kummer genug,« antwortete Rudolf bittend; »sei gerecht und gütig gegen mich und nimm Dich meiner an, so viel Du es vermagst. Ihr verdammt mich Alle, aber Ihr beachtet die Verhältnisse nicht. Die Täuschungen des Herzens sind Fehler, die nur der hart beurtheilt, der sie nicht kennt. Vergieb mir! Das ist Alles, was ich zu sagen vermag.«
Der weiche Ton seiner Stimme und die Trauer, welche sein Gesicht bedeckte, hatten etwas so Rührendes, daß der Vetter sowohl wie die Mutter davon ergriffen wurden.
Sein Gesicht war so blaß, seine Lippen so schmerzlich zusammengezogen, und er streckte seine Hand so flehend aus, daß die alte Frau von Thränen überströmt wurde und mit zitternder Gewalt Lottchen an sich zog, um ihres Sohnes Bitten zu verstärken.
»Nein, nein!« sagte Lottchen ausweichend, indem sie die blonden Locken schüttelte, »ich habe wirklich Nichts zu vergeben, liebe Frau Zoll-Inspectorin, ich habe gar Nichts dem Herrn Doctor zu vergeben, der thun und lassen kann, was ihm beliebt.«
»Hehe!« rief Helm mit einem Anflug seiner Laune, »die Umstände muß man freilich beachten, und mag ein Proceß noch so gut stehen, es ist immer besser, wenn es zum Vergleich kommt. Habe ich Recht, Muhme Jachtmann?«
»O ja, ja!« sagte die alte Frau, die neue Hoffnung schöpfte.
»Wenn somit der Schuldner kommt und spricht: vergieb mir! und auf Versöhnung anträgt, so ist es das Klügste, darauf einzugehen und den Vertrag abzuschließen. Das willst Du doch, Rudolf?«
»Ich will von ganzem Herzen Versöhnung und Vergebung,« war die Antwort.
»Von ganzem Herzen – so laß uns sehen,« fuhr der alte Herr fort. »Sieh ihn einmal an, Lottchen, er will es ja von ganzem Herzen. Es kommt zuweilen auch einem achtbaren Hause vor, daß es sich auf eine Speculation einläßt, die im Grunde einem Schwindel ähnelt. Das Geschäft steht jedoch so lockend aus, der Gewinn scheint so groß zu sein, daß die Versuchung über alle Bedenklichkeiten siegt. Ich will es nicht vertheidigen, ich will nicht sagen, daß ich selbst darein verfallen würde, aber man muß es von Seiten der menschlichen Schwäche fassen und nachsichtig sein. Wer dergleichen versucht, wird's nicht wieder thun, er hat die Schlappe fort. und wird künftig sich in Acht nehmen. Ist es nicht so, Rudolf, Du willst künftig besser speculiren?«
Der Doctor antwortete nicht, aber er sah den Vermittler sonderbar starr und scharf an.
»Die Sache ist die,« fuhr Helm fort, »daß der Bankerott noch nicht offen declarirt ist, und so lange das nicht geschah, läßt sich eine Zahlungs-Stockung immer wieder gut machen. Du brauchst also nicht den Kopf so verzweiflungsvoll auf einen Punkt zu richten – wir wollen sehen, was sich mit Hülfe wahrer Freunde thun läßt, um aus der Klemme zu kommen.«
»Ich fürchte, es läßt sich Nichts mehr thun,« sagte der junge Mann.
»Bah!« rief Helm, »ich habe mit Beiden gesprochen, mit der gnädigen Frau und dem Baron, und es läßt sich Alles herstellen, wie es war, sobald Du jetzt noch Deine Sinne zusammen nimmst. Die Anstellung ist Dir sicher, und wie es abgemacht war, bleibt es, sobald Du kommen und sagen willst, daß es Dir leid thut.«
»Was soll mir leid thun?« fragte der Doctor.
»Eh, die verunglückte Speculation!« schrie der alte Herr. »Es ist Nichts damit, Du wirst zum Einsehen gekommen sein. Sie leiden es nun und nimmermehr, und es ist ja doch nur ein verdrehtes, häßliches Mädchen, das nicht weiß, was es thut, nicht zurechnungsfähig ist. Es soll vergeben und vergessen sein, Rudolf, es soll Keiner mehr davon reden. Jeder weiß, daß sie sich angetragen hat, und wenn Eine kommt mit einer balben Million und mehr, so müßte man eigentlich ein Esel sein, wenn man nicht zugriffe. Hehe!« rief er lachend, »das muß ein Jeder bedenken, Lottchen und Alle. Es ist eine Speculation, sage ich, die fehlgeschlagen ist, weiter Nichts, und es läßt sich noch repariren, sobald Du hinausgehst und sagst: Ich sehe, es ist Nichts damit, ich ziehe mich vom Geschäft zurück.«
»Sie sind im Irrthum, lieber Vetter,« antwortete Rudolf gefaßt, »oder man hat Ihnen Falsches berichtet. Johanna hat mir gesagt, daß sie mich liebt, aber ich habe dasselbe gethan.«
»Ich weiß es, ich weiß es!« lachte Helm, der ihm einen Stoß mit der Dose versetzte.
»Und wir haben Beide dieses der Familie eröffnet.«
»Ja doch, ja doch! – Und sie haben Dich dafür hinausgeworfen und haben Johanna in ihr Zimmer eingesperrt, wo sie bewacht wird.«
»Schändlich!« rief der junge Mann.
»Und werden sie mit allem Recht als geistesschwach und unfähig, über sich zu disponiren, erklären lassen.«
»Bei Gott! ich glaube, sie sind dessen fähig,« sagte Rudolf erschüttert.
»Du kannst Dich darauf verlassen,« fiel der alte Herr ein. »Das einzige Mittel ist, daß Du Alles aufbietest, Deinen Fehler gut zu machen, und alle Ueberredung brauchst, damit sie den Baron heirathet. Der kann zusehen, wie er mit ihr fertig wird.«
»Eher möchte ich, daß sie wirklich wahnsinnig würde!« rief der Doctor mit tiefer grollender Stimme, seine Hand zusammenballend.
»Was?« sagte Helm, der ihn starr ansah. »Nimm Deine Sinne zusammen!«
»Ich habe sie beisammen, obwohl es mir Mühe macht.«
»Es ist Nichts ohne Mühe in der Welt,« sprach der alte Herr, dann stockte er, denn der Anblick seines Verwandten flößte ihm neues Mißtrauen ein.
Er steckte die Hand in sein Halstuch, und das ausgetrocknete Gesicht röthete sich, die grauen Augenbrauen zogen sich über der Nase zusammen und bildeten dort zwei tiefe Falten. So blieb er einen Augenblick schweigend stehen, während er sich gerade aufrichtete und den Kopf zurückzog. –
»Wir haben jetzt genug überlegt, begann er dann, es ist Zeit, den Strich zu machen. Willst Du die Herrschaften um Verzeihung bitten, so werden sie Dir gnädig vergeben.«
»Ich werde niemals um Verzeihung bitten,« antwortete der Doctor.
»Nicht?« sagte Helm, von dem ruhigen Tone getäuscht. »Wie sein Vater ist er, Muhme Jachtmann, accurat wie sein Vater. Alles, nur nicht bitten, mochte er noch so dumme Streiche machen. Es muß aber so sein, Du mußt in den sauren Apfel beißen. Willst Du oder nicht?«
»Nein,« war die Antwort.
»Nicht? Nein? – Warum nicht?«
»Weil ich Johanna liebe, weil ich sie um keinen Preis aufgeben will.«
Helm sah aus, als habe er Unbegreifliches gehört.
Dann schien es, als wollte er lachen, aber es kam nicht dazu; er wandte sich zu der Wittwe um und sagte wie betäubt:
»Haben Sie gehört, Muhme Jachtmann? Er liebt sie, er will sie um keinen Preis aufgeben!«
»Lassen Sie uns dieses peinliche Gespräch beenden,« fuhr Rudolf fort, »und wenn es sein kann, bester Vetter, zürnen Sie mir nicht so hart. Sie meinten es immer gut mit mir, Sie meinen es noch gut. Sie finden mein Benehmen unklug, verkehrt, unbesonnen, ich muß Ihr Urtheil ertragen, ich muß Alles ertragen, aber es wird die Zeit kommen, wo ich Sie ruhiger finde und versöhnen kann. Lassen Sie mich hoffen, daß es so sein wird. Ich kann nicht anders; ich weiß es, daß ich wie ein Undankbarer vor Ihnen stehe, aber ich bin es nicht. Du, Lottchen …«
»Reden Sie nicht von mir, nicht zu mir!« sagte Lottchen. – »Wir wollen gehen, Onkel.«
»Laß mich! laß mich!« rief Helm … Er machte seinen Arm frei. »Ist das Dein letztes Wort?«
»Ich handle, wie ich muß.«
»Dann bist Du nicht werth,« schrie der alte Herr, »daß …«
Er hielt inne und sah sich wild um.
»Muhme Jachtmann,« sagte er zitternd, indem er den Finger gegen den Hauslehrer ausstreckte, »ein Bettler wird er bleiben, so lange er lebt, elend, kein Mensch wird sich seiner annehmen. Lassen Sie ihn in's Unglück laufen und umkommen. Fort mit ihm! wir wollen Nichts mehr mit ihm zu schaffen haben.«
»Es ist unerhört!« schluchzte die Wittwe. »Kann das ein Sohn an seiner Mutter thun, kann er das Freunden thun, die ihn lieben? Du kannst es nicht, Rudolf! Du kannst es nicht!«
»Gott weiß es, daß es geschehen muß,« sagte er leise, aber fest.
»O, mein Vater im Himmel!« weinte die arme Frau, »er hat kein Herz für seine Mutter!«
»Solch ein Mensch ist kein Sohn!« fiel Helm ein. »Er ist schlimmer wie ein Fremder, schlimmer wie ein Heide! Ein Unkraut reißt man aus und wirft es fort. Ich will für Sie sorgen, Muhme Jachtmann, er thut es nicht. Lottchen wird sorgen, aber über Ihre Schwelle darf er nicht mehr.«
»Stoß mich von Dir, Mutter, ich werde gehen,« sagte Rudolf sanft, »aber sprich das Wort nicht aus. Laß mich Deine Hand küssen, die mich so oft gesegnet hat, dann laß mich scheiden, denn was Du forderst, kann ich nicht erfüllen.«
»Vetter Helm, lieber guter Vetter!« flehte die alte Frau. »Ach, Lottchen, steh mir bei!«
»O! ich habe mich nicht getäuscht,« sagte Lottchen, »ich wußte Alles.«
»Wir sind ja Alle schwache Menschen,« flüsterte die Wittwe, »die Vergebung nöthig haben. – Bitte Lottchen, Rudolf, bitte bei ihr.«
»Um keinen Preis!« rief Lottchen, ihre Hände zurückziehend, als käme eine Schlange. »Wie er sagt: um keinen Preis, so sage ich es auch. – Der Onkel hat Recht,« fuhr sie dann hart und bestimmt fort – »es kann keine Gemeinschaft mehr zwischen uns sein, unsere Ehre verlangt es, Frau Zoll-Inspectorin.«
»Entweder – oder!« fiel Helm ein. »Die Verbindung muß abgebrochen werden mit mir oder mit ihm. Keinen Fuß setze ich mehr über diese Schwelle. Was hat der Mensch an uns gethan, den wir mit Wohlthaten überschüttet haben! Wählen Sie, Muhme Jachtmann.«
Die alte Frau schlug die Hände über ihr Gesicht, so stand sie einen Augenblick, dann warf sie sich um den Hals ihres Kindes, und mit zitternder Stimme, aus der die Liebe überwältigend hervorbrach, rief sie halb erstickt:
»Mein Sohn, mein Sohn! Deine Mutter kann nicht von Dir lassen!«
»Nun, so hungert zusammen!« schrie Helm, und ohne ein Wort weiter zu sagen, drehte er sich um, nahm Lottchen am Arm und führte sie fort.
Rudolf kniete vor den Füßen seiner Mutter, sein Kopf lag in ihrem Schooß, ihre Hände ruhten auf ihm.
»Er kann nicht vergeben,« sprach sie bang und leise, »aber eine Mutter vergiebt, die muß es thun. Ach! es liegt Alles zertrümmert vor mir, aber ich habe Dich noch, Du bist das Beste. Gott wird uns helfen!«
5.
Nach einigen Stunden war sie ruhiger geworden; Rudolf hatte ihr Alles erzählt, was er für nöthig hielt, und seine Mittheilungen, wie sein Ernst und der Trost, den er zu geben wußte, brachten bei einer Mutter, die so gern geneigt ist, ihr Kind in Schutz zu nehmen, nach und nach die Ueberzeugung hervor, daß er im Grunde Recht habe und nur der Schein gegen ihn sei. Er schilderte Johannen, und was er sagte, klang ganz anders, als was sie seither über das verwahrloste, hochfahrende, verwirrte Mädchen gehört hatte, und als er alle ihre Einwürfe widerlegt, fühlte sie ein sonderbar stolzes und freundliches Gefühl für die, welche sie so oft mit schmähen geholfen.
»O, was sagen die Leute nicht, wenn sie schelten und verdammen wollen!« rief sie endlich aus, »und wie wenig ist meist davon wahr! Es kommt nur darauf an, wie man über Etwas denkt, so kann man Alles in der Welt anpreisen oder schlecht machen. Einen Buckel hat sie gar nicht, und schief ist sie auch nicht, wenigstens ist sie nicht schiefer wie sehr viele Andere, die, wer weiß, wie gerade zu sein glauben. Klein ist sie, das ist wahr, aber, mein Gott! müssen wir denn alle Riesen sein? und ist es denn etwa eine Schönheit, vier Ellen Zeug zu einem Rock mehr zu gebrauchen? –
Fünfundzwanzig ist sie alt; Du bist beinahe ein Jahr älter, überhaupt aber ist das Alter gar kein Gegenstand. Ich habe mehr wie Eine Frau gekannt, da war zum Beispiel die Frau Finanz-Räthin Schimmel, die war sechs Jahre älter wie ihr Mann, und was war da für Glück im Hause! Auf die Einigkeit kommt es an und auf die Liebe, und wenn Johanna Dich wirklich liebt und Du sie, so daß es keine Andere sein kann, so sehe ich nicht ein, was sie denn eigentlich wollen! –
Freilich, Lottchen,« fügte sie leiser und nachdenklicher mit einem Seufzer hinzu – »es war mein Wunsch, der Vetter hatte es sich auch fest eingebildet, und Lottchen selbst erst recht; aber gesagt hast Du Nichts, und Dein Wort gebrochen hast Du auch nicht. Es ist Nichts vorgefallen, was einen rechtschaffenen Mann binden könnte; wenn es aber anders kommt, wie der Mensch denkt – der Mensch denkt, und Gott lenkt! – so muß man darum doch nicht fluchen und schwören und alle Freundschaft aufheben und einer Mutter zumuthen wollen, sie sollte ihren Sohn von sich stoßen.«
»Liebe Mutter,« antwortete Rudolf, »ich will gern bekennen, was meine Schuld ist. Als ich Lottchen sah, that mir ihre Freundlichkeit und ihr häusliches Walten wohl. Ich merkte es auch bald, worauf es abgesehen war, scherzte und lachte und dachte selbst, es könnten meine Wünsche mit den Euren zusammentreffen. Bald aber fand ich, daß dies nicht der Fall sei. Ich fand auf sonderbare, unerklärliche Weise, daß eine innere Unruhe meine Gedanken zu Johanna jagte, und wenn ich allein war, stellten sich die beiden Gestalten vor mich hin und zwangen mich zu Vergleichen. Vergebens trieb ich diese Vorstellungen von mir, vergebens sagte ich mir, es sei Thorheit, – sie kamen immer wieder. Beim öfteren Besuch fand ich, daß Lottchen's Charakter mir manche Bedenken bot. Sie war gewohnt, den Onkel zu leiten, gewohnt, durch Schmollen und hartnäckiges Beharren ihren Willen zu behalten; ich fand ihr Denken beschränkt, ihre Tugenden und Vorzüge nur im Wirthschaftsfache anwendbar; ein inneres Widerstreben, ein Grauen ergriff mich. Nun kam es Schlag auf Schlag. Es fügte sich, liebste Mutter, daß Johanna zum ersten Male mich mit ihren großen braunen Augen voll Güte ansah, daß sie den Schleier fallen ließ, der ihr edles, treues, verdüstertes Herz umhüllte; da war es geschehen. Aus meinen Zweifeln und Sorgen kam ich zur Gewißheit. Ich sah, wie man sie verkaufen wollte, wie Alle um sie her heuchelten, eigennützige, schmachvolle Plane ersannen. Mir allein vertraute sie, mich liebte sie, und auch ich … ich sollte sie verhandeln helfen!«
»Hättest Du nur eher gesprochen!« fiel die alte Frau leise ein.
»Konnte ich es? durfte ich es?! Gestern wollte ich Dich in mein Vertrauen ziehen. Johanna hatte es mir geboten, es ging nicht an. Lottchen war hier, dann kam er …«
Der Frau Zoll-Inspectorin fiel ein, was sie in ihrer Kommode verwahrte, aber sie sah auch, wie das Gesicht ihres Sohnes sich verfinsterte, und wie seine Augen den ingrimmigen Ausdruck erhielten, den sie an seinem Vater kannte. In solchen Stunden war mit dem seligen Zoll-Inspector gar Nichts anzufangen gewesen; sie sagte daher begütigend:
»Sei nur ruhig, mein Kind, das Recht ist auf Deiner Seite. Warte den morgenden Tag ab, wie es Johanna will; über Nacht kommt guter Rath. Was aber den jungen Baron betrifft …«
Er ließ sie nicht enden.
»Nenne ihn nicht!« fiel er heftig ein. »In den Pfuhl seiner Gemeinheit wollte er mich hineinziehen; frech, wie er ist, behandelte er mich als Gauner, gleich den anderen Gaunern. Er soll mich kennen lernen! Bei Gott! er soll …«
Die Mutter schwieg und wandte andere gute Mittel an. Es wurde Allerlei besprochen und beschlossen. Rudolf setzte einen langen Brief an den Vetter auf, in welchem er ihm sein ganzes Verhalten beschrieb, in schonendster Weise auch von Lottchen sprach und endlich den Vetter anrief, ihn nicht so, wie er es gethan, für immer aufzugeben. Der Brief war so rührend, daß die alte Frau, als sie ihn vorlesen hörte, laut weinte und betheuerte, das müsse den sonst so guten Mann umstimmen. Ein Herz habe er doch immer gehabt, und lange dauere es nie, wenn er sich ärgere.
Rudolf schwieg, denn er erwartete weniger. Er fürchtete, daß Lottchen jede mildere Stimmung hindern werde, und hatte sich nicht darin getäuscht; denn nach kurzer Zeit brachte der Bote den Brief zurück. Er war nicht angenommen worden.
»Ich dachte es beinahe,« sagte der Doctor, zum Trost seiner Mutter lächelnd; »aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Helm wird versöhnt werden, sobald der Herr Principal und die ganze noble Sippschaft gute Miene zum bösen Spiel machen. Ehe es dahin kommt, ist Nichts zu erwarten.«
»Wird es denn aber dahin kommen?« flüsterte die Mutter kleinlaut.
»Es muß!« rief er zuversichtlich. »Sie haben jetzt die letzten Bolzen abgeschossen, was wollen sie noch thun? Johanna ist unbeugsam, und ich bin es auch.«
In seinem Herzen war er aber dennoch unruhig genug. Die Drohungen, welche er von dem Vetter gehört, bestätigten die Worte, welche Schellbach und seine Gattin gebraucht hatten. Er hörte, wenn er nachdachte, immer wieder ihre Ausrufungen, daß Johanna wahnsinnig, eine Närrin, geistesschwach sei, und eine Angst ergriff ihn, daß die reiche, angesehene Familie wohl auch die Macht haben könne, ihre bösen Absichten auszuführen. Es fielen ihm allerlei schreckende Geschichten von gewissenlosen Verwandten ein, und er machte sich Vorwürfe, daß er Johannen verlassen habe; aber sein guter Muth behielt doch endlich die Oberhand.
Ich will den Weg zu ihr schon finden, sagte er sich, und am Ende sind Verbrecher immer feige, wenn sie sehen, man dringt furchtlos auf sie ein.
Am Abend wurden seine Koffer und Bücher gebracht. Herr von Schellbach schickte sie ihm mit einem Billet, in welchem der Betrag eines halbjährlichen Honorars lag.
Der Brief enthielt, kurz ausgesprochen, das Bedauern, daß das Verhältniß so rasch aufgelöst sei, inzwischen werde es nur von des Herrn Doctors Benehmen abhängen, um die Familie zu jedem Danke zu verpflichten.
»Du siehst, lieb Mütterchen, sie wollen mich haben, und sie sollen mich haben,« sagte Rudolf lachend. »Sei nur ohne Sorge. Morgen rücke ich ihnen in's Haus und kehre mit Johanna zurück. Nicht zum zweiten Male werde ich allein abziehen.«
So kam der nächste Morgen nach einer unruhig verträumten Nacht. Rudolf kleidete sich früh an und überdachte sorgfältig sein Benehmen, wenn er vor Frau von Schellbach erscheinen würde. Von Stunde zu Stunde erwartete er, Etwas aus dem Landhause im Park zu hören, eine Botschaft Johanna's durch den alten Paul, eine Einladung Schellbach's oder eine Mittheilung des Medicinalraths; allein Nichts von Allem traf ein.
Je näher die Mittagszeit kam, desto unruhiger wurde er. Er war gewiß gewesen, daß Etwas geschehen müsse; jetzt drängten sich ihm die bängsten Vermuthungen auf, denn was konnte Johannen abgehalten haben als Zwang und Gewalt? Oder wurde sie erweicht von Bitten und Bestürmungen oder von Drohungen und Gefahren?!
Die Frau Zoll-Inspectorin ging ab und zu und verschloß ihre Gedanken und Sorgen in sich. Sie erinnerte ihren Sohn nicht an seine stolzen Verheißungen, sie hatte überhaupt nicht gefragt und gesprochen; still verrichtete sie die Geschäfte des kleinen Haushalts, und nur dann und wann kam sie und machte sich in der Stube Etwas zu thun, um Rudolf anzusehen, wie er auf und abging, nachdenkend aufhorchte und verdüstert auf die Straße, auf die Uhr und auf das Wetter sah. –
Als es Zwölf schlug, konnte er es nicht länger aushalten. Er nahm seinen Hut und reichte der alten Frau die Hand, die ihm zunickte und lächelte, ohne eine Frage zu thun.
Ihr war so bang zu Muthe, sie drückte die Hand auf ihre Brust und hörte seine Schritte verhallen. Da ging er hin, um ihr eine Schwiegertochter zu bringen. War das ein Bräutigam, der zu seiner wartenden Braut eilt? War das ein hochzeitlich Haus, das ein Ort, um ein stolzes, reiches, verwöhntes Fräulein zu empfangen? –
Ach Lottchen! wie war es doch ganz anders mit ihr, als mit jener da, die sie nicht kannte, die ihr so fern in einer fremden Welt stand, und um derentwillen sie so Vieles missen und leiden mußte! – Und dabei endlich doch wohl Alles umsonst, Alles umsonst!
Sie sah wie in einem dunklen Spiegel das blasse, vergrämte Gesicht ihres Lieblings, wie er verzweifelnd heimkehrte, wie er getäuscht und verlacht war, wie er alles Glück und Wohlergehen, die Gunst hoher Beschützer, Freunde und Gönner, den Vetter und Lottchen umsonst geopfert hatte, und sie brach in Thränen aus und deckte ihr Gesicht mit beiden Händen zu.
Während dessen erreichte Rudolf den Park und kreuzte eben den großen Weg, als ein Wagen bei ihm vorüber rollte. Der Weg war naß, Wasser und Schmutz spritzten zu ihm auf, als er stehen blieb, und das that er. Seine Augen hingen an den beiden im Wagen sitzenden Personen, die ein Gespräch führten und plötzlich auf ihn herabblickten, ohne ihn zu beachten. Die raschen Pferde rissen den Wagen vorüber, so wie er die Hand zum Gruß aufgehoben hatte, aber er hatte doch Zeit gehabt, eine Bemerkung zu machen, die tief einschneidend seine Aufregung vermehrte.
In dem Wagen saß der Vetter Helm neben Lottchen. Die Equipage gehörte Herrn von Schellbach. Der Vetter hatte Lottchen abgeholt, er führte sie in das Landhaus. Wozu?! – Ohne Zweifel sollte die Verlassene verhört und als Zeugin benutzt werden. Man wollte sie benutzen, um ihn zu verleumden, man wollte Johannen hören und sehen lassen, mit welchem ruchlosen Leichtsinn er gehandelt habe.
Es war ihm Alles mit Einem Schlage klar, und er verglich damit den kalten, verächtlichen Blick, den Lottchen ihm zuschleuderte, während der Vetter nach der anderen Seite sah.
Auch das soll mich nicht schrecken! Sie sollen nicht lügen! rief er sich zu, indem er seine Schritte verdoppelte. Es ist gut, daß ich vorbereitet bin, vorbereitet auf jeden Fall.
Es zeigte sich aber sogleich, daß er nicht auf jeden Fall vorbereitet war, obgleich dieser nahe genug gelegen hatte.
Als er das eiserne Umfassungs-Gitter erreichte, fand er es geschlossen, dahinter aber lehnte der Bediente des Herrn von Schellbach, und in einiger Entfernung zeigten sich noch zwei andere Dienstleute, die dort warteten. Der Bediente rührte sich nicht, sein Gesicht drückte ein Gemisch von Uebermuth und Trotz aus, als er dem Doctor ankündigte, Herr von Schellbach wäre nicht zu sprechen.
»Ist er nicht zu Hause?« fragte Rudolf.
»O ja, er ist zu Hause, aber er ist nicht zu sprechen,« sagte der Diener.
»So doch Frau von Schellbach? Melden Sie mich!«
»Es ist Niemand zu sprechen!« rief der Mensch ungebührlich laut.
»So wünsche ich Fräulein Schellbach zu sehen.«
»Sie werden das Fräulein eben so wenig zu sehen bekommen,« lachte der Bediente.
Rudolf bezwang sich.
»Ist das Fräulein krank?« fragte er geduldig.
»Sehr munter und wohl. Spielt, lacht und singt.«
»Wie können Sie mir den Eingang verweigern, Friedrich?« begann er dann nach einigen Augenblicken, in welchen der Bediente sich bemühte, ernsthaft zu bleiben.
»Weil ich Befehl dazu habe, Herr Doctor,« war die Antwort.
»Aber ich muß hinein! Ich muß das Fräulein sehen!«
»Machen Sie kein Aufsehen vor einem fremden Hause,« sagte Friedrich drohend. »Sie haben hier Nichts mehr zu suchen. Herein kommen Sie nicht, kein Mensch will noch Etwas von Ihnen wissen; gehen Sie also und kommen Sie nicht wieder, wenn ich Ihnen rathen soll, Herr Doctor, denn es hilft doch Nichts.«
Eine dunkle Gluth bedeckte das Gesicht des jungen Mannes. Scham und Stolz rangen mit der Angst, die ihn verzehrte.
»Lieber Friedrich,« sagte er demüthig, »wollen Sie nicht …«
»Bestechen wollen Sie mich?!« schrie der Bediente. »Ich thue meine Pflicht und kümmere mich um Nichts. Wollen Sie jetzt gehen oder nicht?«
Rudolf ging, es blieb Nichts übrig; das hatte er nicht erwartet. Er sah jetzt erst ein, daß man ihn zum Hause hinausgeschafft, um ihm jede Verbindung abzuschneiden, wieder hinein zu kommen, und wie war es möglich, Nachricht zu erhalten?! Er zweifelte nicht länger daran, daß Johanna eine Gefangene sei, und daß sie demnach behandelt werde. Vergebens überlegte er, was er thun könne.
Was ihm einfiel, verwarf er eben so schnell wieder, denn es bot keinen Halt. Wohin er sich wenden mochte, nirgends fand er eine Hoffnung, überall neue Zweifel, und so lief er durch die Gänge des Parkes und stand, ohne ein bestimmtes Ziel, eben wieder auf dem Apolloplatz, als eine Hand ihm grüßend zuwinkte und ein Kopf aus einem Wagenfenster freundlich nickte, ein Kopf, der Niemandem anders gehörte, als dem Medicinalrath Neidler. Gleich darauf hielt der Wagen still, der Medicinalrath stieg aus und kam auf ihn zu.
»Sehr erwünscht, mein lieber Doctor, daß ich Sie treffe,« sagte er. »Ihre Abhandlung ist noch gestern von dem Verleger an einige der bedeutendsten wissenschaftlichen Capacitäten geschickt worden, heute sind schon Erkundigungen eingezogen, wer der Verfasser sein könnte. Vor der Hand natürlich strenge Verschwiegenheit, bis Sie sich gesichert haben; denn danach müssen Sie zunächst trachten, wie sich von selbst versteht, jetzt zumal.«
»Sie kommen von dorther?« fragte Rudolf, nach dem Landhause blickend.
»Allerdings,« erwiederte Neidler lächelnd; »ich möchte nicht davon sprechen. Sie haben jetzt den Bann gebrochen. Doctor, Sie sind ein Opfer Ihrer Kurzsichtigkeit! Was denken Sie zu thun?«
»Wie das? Was meinen Sie?« fragte der junge Mann bestürzt.
»Sie thun mir leid, herzlich leid,« fuhr der Medicinalrath fort, »denn ich achte Sie, und obwohl Sie es eigentlich wirklich nicht verdienen, bin ich nach wie vor Ihr Freund.«
»Bemühen Sie sich nicht,« sagte Rudolf, der stolz die Augen auf ihn richtete.
»Nur jetzt nicht mehr hochfahrend und unbesonnen,« sagte der Arzt mit seinem sardonischen Lächeln, »wir sind in der letzten Stunde. Fräulein Johanna weiß Alles. Sie hat Lottchen zu sprechen gewünscht, diese hat ihr umständlich mitgetheilt, wie Sie um ihre Hand geworben, welche Verabredungen getroffen wurden, und wie weit die nahende Veröffentlichung des Verhältnisses gediehen war – so weit, daß Lottchen schon das Bräutigams-Geschenk nähte, das von Ihnen auch noch vorgestern Abend angenommen wurde.«
»Das ist nicht wahr!« sagte Rudolf.
Neidler zuckte die Achseln.
» Relata refero!« antwortete er. »Lottchen hat es dem Fräulein versichert, und Helm, dem sie nur Wahrheit zutraut, hat ihr zugeschworen, daß Sie für seine Pflegetochter die größte Zärtlichkeit gezeigt, so daß er unter gewissen Bedingungen seine Zustimmung ertheilt habe, die Sie dankbar angenommen.«
»Auch das ist, mindestens gesagt, ein grober Irrthum.«
»Ich glaube es Ihnen,« sagte der Medicinalrath, »es ändert jedoch an der Sache Nichts. Fräulein Schellbach hat sich überzeugt und …«
»Eine neue Lüge!« fiel Rudolf ein. »Sie wird mich nicht verdammen, ohne mich gehört zu haben. Warum weist man mich von ihrer Thür? Warum stellt man mich nicht meinen Anklägern gegenüber?«
»Glauben Sie mir,« sagte Neidler, »mir, Ihrem Freunde, daß Nichts für Sie mehr übrig bleibt, als eine rasche und geschickte Operation. Hier bleibt die Thür Ihnen verschlossen, Niemand wünscht, daß Sie eintreten; hören Sie also meinen gut gemeinten Rath. – Der einzige Weg, der Ihnen bleibt, ist der Minister. Gehen Sie zu der Excellenz, wünschen Sie ihm Glück zu der Verlobung seines Neffen und drücken Sie Ihre Freude aus, seinem hohen Haufe einige geringe Dienste geleistet zu haben. Alles Uebrige wird sich dann finden.«
»Ja, ich werde den Minister aufsuchen,« murmelte Rudolf, dessen Stirn sich röthete.
»Wirklich, mein lieber Doctor, wirklich,« antwortete Neidler zärtlich süß, »Sie können nichts Bessere thun. Herzlich soll es mich freuen, wenn Sie noch jetzt einlenken. Ich will Sie unterstützen, rechnen Sie fest darauf, daß ich will.«
»Herr Medicinalrath,« sagte der Doctor, seine Hand zurückziehend, »ich bin unfähig, zu heucheln, selbst Ihnen gegenüber. Ich will dem Minister die Augen öffnen, sowohl über seinen Neffen, wie über Alle, die zur Erreichung der gemeinen Absichten des Barons Dienste leisten und dafür an dem Raube Theil nehmen wollen. Ich will seinen Edelmuth, sein Rechtsgefühl, sein Christenthum für die Verfolgte anrufen, mich selbst unter seinen Schutz stellen, und ich traue ihm zu, er wird mich nicht zurückweisen.«
»Das wollen Sie?« erwiederte der Medicinalrath, indem er seinen goldenen Stockknopf in den Mundwinkel drückte. »Sehr recht, sehr gut, lieber Doctor! Da wünsche ich Ihnen die allerbeste Verrichtung und den freundlichsten guten Morgen.«
Mit seinem süßen Lächeln, das von einem langen, stechenden Blicke begleitet wurde, drehte er sich um und setzte sich in seinen Wagen, der mit ihm davon fuhr; der Doctor aber sah ihm, von einer neuen Hoffnung ergriffen, lebhaft nach. –
Jetzt habe ich es! flüsterte er, ich habe den Weg, wie ich es anfangen muß, er selbst hat mich darauf gebracht! Zum Minister muß ich, ihm will ich mich anvertrauen. Er steht über den Leidenschaften, und welche Interessen auch dadurch berührt werden, meine wahrhafte Darstellung muß Eingang finden; seine Ehre, seine Würde können nicht zugeben, daß sein Neffe ihn bloßstellt. Er muß wenigstens meine Anschuldigungen hören und kann nicht dazu schweigen.
Von einem raschen Entschlusse ergriffen, begab er sich sogleich nach dem Hotel des Ministers, das ihm wohl bekannt war; aber er kannte die Förmlichkeiten nicht, die beobachtet werden mußten, um bis zur geheiligten Person des großen Würdenträgers vorzudringen.
Der dicke Portier sah ihn vom Wirbel bis zur Zehe an, als er fragte, ob er Se. Excellenz sprechen könne, und sagte dann, indem er sich gleichgültig umdrehte und nach dem Tische hinsah, der ihm so eben gedeckt wurde:
»Unsere Sprechstunde ist wöchentlich zweimal; kommen Sie Freitag wieder, da ist die nächste.«
»Ich habe den Herrn Minister sehr dringend zu sprechen,« fuhr der Doctor in bittendem Tone fort.
Der Portier sah ihn wieder musternd an.
»Alle Vorstellungen, Bitten und persönlichen Gesuche,« erwiederte er, »werden bei uns Dienstags und Freitags abgemacht.«
»Aber meine Angelegenheit betrifft etwas Anderes.«
»Kommen Sie schriftlich ein,« antwortete der Portier und blickte auf die rauchende Schüssel, die seine Frau eben auftrug. »Es riecht ja branstig,« sagte er ärgerlich, »Du hast doch nicht das Fleisch anbrennen lassen? Riechen Sie Nichts?«
»Nein,« erwiederte Rudolf, »es riecht ganz vortrefflich.«
Der Portier lächelte.
»Meine Frau versteht ihre Sache,« meinte er. »Sie ist Köchin gewesen bei unserem gnädigen Herrn.«
»Der Herr Minister ist sehr glücklich, eine so geschickte Frau im Hause zu haben.«
Der Portier lächelte noch stärker.
»Also es ist wichtig?« fragte er dann, indem er nach der Uhr sah. »In der Kanzlei ist Keiner mehr. Wir haben heute Vortrag gehabt, da machen sie nachher Alle, daß sie fortkommen. Unsere Geheimräthe haben schrecklich zu arbeiten. Ich möchte kein Geheimrath sein. Um keinen Preis möchte ich einer sein!«
»Es ist besser, das Vertrauen des Herrn Ministers zu besitzen,« flüsterte Rudolf.
Der Portier lächelte zum dritten Male; er sah sehr vergnügt aus.
»Ja, ja!« rief er, den Kopf kratzend, »wir haben aber auch unsere Noth. Allen kann man nicht helfen, und dabei kann man nicht einmal ruhig essen.« –
Er warf einen besorglichen Blick auf die Schüssel, die schon viel weniger rauchte und seiner schmerzlichen Klage Gewicht gab.
»Wissen Sie was,« begann er dann, »schreiben Sie Ihren Namen hier auf den Bogen und kommen Sie um sechs Uhr wieder. Wenn der Kanzleirath um vier Uhr kommt, gebe ich ihm den Bogen mit hinauf.«
»Es wird doch gewiß nicht vergessen?« bat der Doctor demüthig.
»Bei uns wird Nichts vergessen!« erwiederte der Portier mit beleidigter Würde. »Was durch meine Hände geht, kommt richtig an. Schreiben Sie bloß den Namen und ›wünscht wegen wichtiger Angelegenheit gehört zu werden.‹ So! Punctum. Wenn Sie um sechs Uhr wieder kommen, sollen Sie erfahren, ob Sie vorgelassen werden.«
»Ich werde Ihnen sehr dankbar sein,« sagte Rudolf, seinem Beschützer die Hand drückend.
Der Portier besah seine leere Hand und öffnete die Thür.
»Nu,« brummte er dann, »der will sicher gehen bei seiner Dankbarkeit! Ich muß dem Kanzleirath die Sache eilig machen. – Jetzt aber wollen wir uns den Schweinebraten näher betrachten. Ruck heran, Guste, und komm mir Keiner mehr in die Quere! Da schimpfen sie über Regierung und Staat und wissen nicht, was man für Sorgen hat. Es ist ein prächtiger Braten, von dem läßt sich was abschneiden, aber jeden Bissen muß man sich sauer verdienen.«
6.
Der Doctor ging leichter fort, als er gekommen war.
So muß man es machen, murmelte er, vor sich hin lachend, wenn man durch die Welt will. Schmeicheln und Heucheln gegen den Geringsten und den Höchsten, das nennt man, wie der Vetter sagt, coulant sein, das ist die Kunst, sich Freunde zu erwerben und, als umsichtiger Klugheit voll, gepriesen zu werden.
Er eilte nach Hause, denn er konnte wohl denken, mit welcher Bangigkeit ihn die alte Mutter erwarten würde, und er hatte sich vorgenommen, sie zu trösten und zu beruhigen, alle seine Zweifel und Sorgen aber dicht in sich zu verschließen, und über alle Erwartung glückte es ihm damit.
Die Frau Zoll-Inspectorin empfing ihn mit Augen, die so von Freude strahlten, als sei gar Nichts vorgefallen. Ihre Haube mit den weißen Bandstreifen trug sie auch heute, als sei es ein Festtag, und das muthwillige Lächeln, das ihr so gut stand, saß ihr wieder in den Mundwinkeln. Ohne zu fragen, welchen Erfolg er gehabt oder nicht gehabt, nahm sie ihm den Hut ab und drängte ihn in den Stuhl.
»Nun, geschwind,« sagte sie, »geschwind, ehe die Suppe kalt wird! sie hat schon lange auf Dich gewartet.«
Rudolf dachte an seinen Freund, den dicken Portier, und seine Behaglichkeit vermehrte sich, je länger er saß und aß. Mit emsiger Geschäftigkeit brachte die gute Frau herein, was sie hatte, that ein paar Fragen über das Wetter und über das Frühjahr, und wie Alles so herrlich wüchse, und endlich kam sie darauf, was es doch für ein Glück sei, wenn man reisen könnte, um alles Schöne in der Welt zu betrachten.
»Ach, was das für eine Lust sein muß!« rief sie aus, »eine wahre Himmelslust muß es sein, jung sein und Geld haben und von einem Ort in den anderen, aus einem Lande in's andere fahren.«
Rudolf merkte Anfangs die besondere Absicht nicht heraus, welche seine Mutter zu solchen Bemerkungen haben konnte; er antwortete mit seinen eigenen Betrachtungen, denen er nachhing.
»Wer weiß,« sagte er, »was geschehen kann! Wenn ich einmal reich bin, reise ich auch und …«
»Nach Paris kannst Du gehen!« rief die alte Frau dazwischen. »Hast Du nicht immer schon gesagt, wenn Du nur nach Paris gehen und da leben und noch studiren könntest, das wäre Deine größte Sehnsucht?«
»Ei ja,« antwortete der Doctor; »aber wie kommst Du darauf, Mutter?«
»Still, still! Du mußt nicht so auffahren, mein Sohn!« antwortete sie, sich zu ihm lehnend. »Ich habe einen Besuch gehabt, einen schönen, angenehmen, liebevollen Besuch, der hat mit mir gesprochen und will auch wieder kommen. Da ist er schon, wirklich, da ist er schon!«
Die Thür öffnete sich, und der gewaltige Kopf eines Hundes kam zum Vorschein.
»Johanna!« rief Rudolf, aber im nächsten Augenblicke verschwand die Röthe aus seinem Gesicht, er verbeugte sich langsam. Frau von Stern trat herein.
»Ich suche Sie auf,« sagte die schöne Frau, die so glänzend und fein gekleidet war, daß die Frau Zoll-Inspectorin bewundernde Blicke auf das Sammtmäntelchen und die prächtigen Besätze und Kanten richtete. »Ja, ich komme selbst,« fuhr Julie fort, indem sie den angebotenen Stuhl einnahm, »weil meine Theilnahme mich treibt, und weil ich gern mich in Ihre Zukunft mischen und diese günstig gestalten möchte.«
Der Hund hatte inzwischen mit vielen Freudenbezeugungen sich an Rudolf gedrängt, der seines Ungestüms sich kaum erwehren konnte. –
»Gnädige Frau,« erwiederte er, »ich danke Ihnen für diese Theilnahme. Sie kommen von Johanna, sagen Sie mir, wie es ihr geht. Welche Nachrichten haben Sie für mich?«
»Johanna befindet sich in getreuer Obhut,« war ihre Antwort, »und ich betheure Ihnen, daß sie mit dem einverstanden ist, was ich Ihnen zu sagen habe.«
»Was haben Sie mir zu sagen?« fragte er leiser.
»Lieber Doctor,« sagte sie lächelnd, »Sie sind kein roher Naturmensch, der ungestüm seinen Eingebungen folgt und daran eigensinnig festhält. Sie sind durch die Schule des Lebens gegangen und wissen, wie dieses sich nicht uns, sondern wie wir uns ihm anpassen müssen. Das ganze Leben ist ein Traum, sagen unsere Weisen – sollen wir nicht suchen, angenehm zu träumen? Und wenn wir fürchten müssen, in rauher Weise aufgeweckt zu werden, ist es dann nicht das Beste, wenn wir uns selbst ermuntern und nie kalte Hand von uns abstreifen?«
»Die kalte Hand!« murmelte er. »Welche Hand?«
»Johannas Hand,« sagte sie. »Was wollen Sie damit? Was giebt sie Ihnen im besten Falle? – Hoffen Sie auf dauerndes Glück? Ist das Ihr Ideal? Reizbar, bizarr und unzufrieden! Armuth macht abhängig! aber wollen Sie reich sein durch eine Frau, der Sie Alles danken? Ist das nicht sehr oft die schlimmste Art von Abhängigkeit? Kann ein solches Leben Ihnen genügen? Streben Sie nicht höher? Hat Ihr Geist keine anderen Flügel?«
Während sie sprach, richtete er seine Augen auf sie; ihre Blicke ruhten auf seinem Gesicht, das mit Traurigkeit gefüllt war, und auf seinen Lippen, die er schmerzhaft zusammenpreßte.
»Sie haben geträumt,« fuhr sie sanft fort, »hören Sie, was eine Stimme spricht, die gern die Stimme Ihres guten Engels sein möchte. Wir haben schon einmal unsere Gedanken ausgetauscht; Sie wissen, wovor ich Sie warnte, ich warne Sie wiederum. Gebrauchen Sie Ihre edlen Kräfte, Ihr Leben darf nicht das Spielwerk eines halb kindischen Wesens sein, das sich in plötzlicher Laune an Ihre Fersen hängt. Wie Jene Ihren Geist in dem gewöhnlichen Sumpfe der Hausväterlichkeit ersticken würde, so würde Diese Sie mit ihren Einfällen und eigensinnigen Thorheiten verbittern und erdrücken. Kann ein stolz denkender Mann es ertragen, wenn man von ihm sagt: ›Das Geld hat ihm zu solcher Frau verholfen!‹ Kann er es ertragen, wenn man über ihn und seine Erwählte spottet, die so jämmerlich neben ihm steht?«
Rudolf legte seine Hand auf den Kopf des großen Hundes, der neben ihm saß und aufmerksam zuhörte. Sein Gesicht schien sich aufzuhellen. –
»Raffen Sie sich auf,« sagte Julie, »ich bringe Ihnen einen Vorschlag, der ehrenvoll alle Verwicklung löst. Reisen Sie, gehen Sie nach Paris, vervollständigen Sie dort Ihre Studien. Herr von Schellbach wird es nicht an den nöthigen Summen fehlen lassen. Ihr Vetter Helm ist ganz damit einverstanden, auch Lottchen, fügte sie lächelnd hinzu, und Ihre liebe treffliche Mutter stimmt uns bei. Bleiben Sie ein Jahr dort und kehren Sie dann zu uns zurück.«
»Und Sie?« fragte Rudolf leise.
»Ich bleibe Ihre Freundin,« antwortete sie. »Wir werden uns nicht trennen. Ich werde Sie erwarten, für Sie thätig sein und … an Sie glauben.«
Ein holdes Lächeln schwebte auf ihren Lippen, und ihre strahlenden Augen thaten sich weit auf. Ein verlockendes Geheimniß lag darin und drängte sich in das sanft erröthende Gesicht, das sich erwartungsvoll zu ihm neigte.
»Schlagen Sie ein,« flüsterte sie ihm zu.
Die Frau Zoll-Inspectorin hatte sich entfernt, sie horchte in der Kammer.
»Wird Ihnen die Wahl noch schwer?« fuhr sie fort, als er, den Kopf halb abgewandt, in die großen, braunen treuen Augen des Hundes sah.
»Nein!« rief er, sich rasch zu ihr kehrend. »Durchaus nicht schwer. Ich bekenne, Sie sind sehr gütig, gnädige Frau! Wie schade, daß ich ein Undankbarer bin!«
Julie von Stern schwieg, ohne Ueberraschung zu zeigen.
»Fahren Sie fort,« sagte sie dann, indem sie sich zurücklehnte.
»Mein Geschmack ist ohne Zweifel schlecht, aber wer kann für seinen Geschmack?« begann er lächelnd. »Wissen Sie, gnädige Frau, worüber ich die ganze Zeit gedacht habe, während ich die Ehre hatte, Sie sprechen zu hören?«
»Ich bin neugierig genug,« erwiederte sie.
»Ich dachte darüber nach,« begann er, »welche elende Wissenschaft oder vielmehr, welche trostlose Spielerei die Physiognomik ist. Ich habe einmal Lavater's physiognomische Fragmente gelesen, und wenn ich auch kein Gläubiger dadurch wurde, so prägten sich mir doch gewisse Vorstellungen ein, daß ein menschliches Antlitz wohl im Stande sei, die Grundzüge des Charakters und das Seelenleben dessen, dem es angehört, zurückzuspiegeln. Es kam mir vor, als könne die innere Gemeinheit des Denkens und Trachtens unmöglich sich unter einem unschuldig lächelnden Munde verbergen; ich glaubte bestimmt daran, daß die Lüge keine große freie Stirn haben könnte, und ich konnte mir nicht einbilden, daß Verleumdung und gieriger Neid aus klaren schönen Augen zu blicken vermöchte. – Friedrich der Große wurde einmal gefragt, als er mitten in seinem Zimmer auf dem Fußboden zwischen seinen Hunden saß, mit denen er sprach und die ihn liebkos'ten, wie es möglich sei, daß ein so großer, so berühmter und weiser Herrscher unvernünftigen Geschöpfen so viel Liebe und Freundschaft zuwende. Der König aber lächelte bitter den Frager an und sagte dann nur: Die betrügen mich wenigstens nicht! Wenn ein so gewaltiger, scharfblickender Fürst, ein solcher Menschenkenner, dahin kam, daß er keines Menschen Antlitz und Geberden traute, alle für Betrüger und Elende hielt und sich zu den Thieren flüchtete, um Wahrheit zu finden, was sollen wir thun, wenn wir unter der Hülle der Schönheit, der Freundschaft und der tröstenden Theilnahme Nichts als Entsittlichung und trostlose Herzensverödung entdecken?
Bleiben Sie, gnädige Frau,« fuhr er fort, als sie eine Bewegung machte, »bleiben Sie noch einen Augenblick.
Ich habe Ihnen einst gesagt, daß das Göttliche im Menschen die sittliche Macht des Guten und der Wahrheit sei, und ich glaube noch daran. Das höchste menschlich Gute und göttlich Wahre ist die Liebe! Sie fragen mich, was mich zu Johanna ziehen konnte, welches Glück ich bei ihr suche? Ich will es Ihnen mit drei Worten sagen: Ich liebe sie! – Lachen Sie nicht darüber, fuhr er in stolzem Tone fort; doch ja, lachen Sie, denn Sie verstehen mich nicht. Sie haben nie geliebt und werden die Liebe niemals kennen lernen. Die Liebe duldet keine Selbstsucht. Sie werden nie erfahren, welchen Lebensmuth sie giebt, wie sie erhebt und beglückt.«
Frau von Stern stand auf, und ohne ein Wort der Erwiederung entfernte sie sich. An der Thür blieb sie stehen, der große Hund hatte sich aufgerichtet und schien unschlüssig, ob er ihr folgen sollte.
»Komm,« sagte sie, »wir haben zu starke Nerven für dieses Paradies. Träumen Sie weiter, wie Adam unter dem Feigenbaume, die Frucht der Erkenntniß wird Sie aufwecken.«
Rudolf blieb noch lange sitzen; endlich kam die Frau Zoll-Inspectorin wieder herein; doch ohne ihn anzureden, ging sie mit betrübtem Gesichte hin und her, warf ihm von der Seite ängstlich betrachtende Blicke zu und drückte im Geheimen ihre Hände flehend zusammen.
Nach langer Zeit sah er auf die Uhr, es war beinahe um die sechste Stunde – eine heitere Festigkeit belebte ihn.
»Was habe ich denn verloren?« rief er laut. »Geht nicht aus allen ihren Mühen hervor, daß Johanna mich liebt? – Nur ruhig, Mutter, ich gehe jetzt zum Minister, er soll die Wahrheit hören, alle Fäden ihrer Künste werden davor zerreißen.«
Halb getröstet, halb ängstlich blickte die alte Frau zu ihm auf.
»Wenn er nur hilft!« flüsterte sie. »Ach Gott! so ein großer Herr!«
»Weil er hoch steht, muß er mich hören,« antwortete er, »und weil es ihn mitbetrifft, wird er um so gerechter sein.«
Er verließ sie rasch, um allen weiteren Bedenken zu entgehen, und vergebens rief die Frau Zoll-Inspectorin ihm nach, doch erst den Rock abzubürsten und ein anderes Halstuch umzubinden.
Wenn er so unordentlich hinkommt, so wird es gar nichts Gescheidtes! rief sie in größter Angst. Mein Seliger machte gewiß nicht viele Umstände, aber wenn er zu einem hohen Vorgesetzten ging, zog er weiße Handschuhe an und putzte sich, weil er sagte, die meisten wären im Kleinen groß und im Großen klein; überall witterten sie Mangel an Respect, wie es auch der Vetter predigt. Ach Gott, ach Gott! wenn es sich nur zum Guten wendet! – Aber ich glaube es, ich glaube es! murmelte sie muthiger. Rudolf setzt es durch; wenn ihn der Minister ansieht, muß er ja wissen, daß es eine gerechte Sache ist.
Während die gläubige Mutter sich mit solchen Hoffnungen tröstete, hatte Rudolf das Hotel des Ministers erreicht, und er fand seinen Freund, den dicken Portier, an der Thür stehen.
»Na, Sie sind pünktlich,« sagte dieser; »das ist bei uns auch gut angewandt, denn wir haben jede Minute Geschäfte.«
»Haben Sie die Güte gehabt?« fragte der Doctor.
»Versteht sich,« fiel der Portier ein. »Der Herr hat herunter sagen lassen, so wie Sie kämen, sollten Sie sich beim Kanzleirath melden. – So ist es doch recht, nicht wahr?« fuhr er fort, als er den freudigen Eindruck seiner Nachricht in Rudolf's Gesicht bemerkte.
»Ich sage Ihnen herzlichen Dank,« erwiederte der junge Gelehrte. »Wo finde ich den Herrn Kanzleirath?«
Der Portier wies ihn zurecht, die Treppe hinauf in die geheime Kanzlei, dann blieb er stehen und zog eine Falte über den Augen zusammen.
Der muß aus einem Lande kommen, murmelte er, wo sie vom Danken fett werden. Aber laß ihn nur wieder herunter spazieren, so will ich ihm schon begreiflich machen, daß wir hier anders darüber denken.
In der geheimen Kanzlei arbeitete an einem hohen Stehpult ein ältlicher Herr in langem grauem Rock. Er hatte eine schwarze Hornbrille mit großen Gläsern auf der Nase, ein Büschel grauer Haare fiel auf seine Stirn; sein Gesicht war ausgetrocknet, farblos und so voll Falten und Kniffe, wie die Actenstöße in den Repositorien, die alle Wände umgaben. An einem Tische schrieben ein paar Copisten, deren Federn über die Bogen kritzelten, und dies war einige Minuten lang der einzige Ton, der in dieser geheimnißvollen Werkstatt zu hören war. Die Schreiber kümmerten sich um den Eintretenden nicht, welcher an der Thür wartend stehen blieb, weil er nicht unbescheiden sein wollte, die Masse Papiere ansah und dabei dachte, was wohl Alles darin stecken mochte, wie viele vergebliche Hoffnungen, wie so mancherlei Kummer und Noth und Freude und Leid. –
Endlich sah der Herr mit der Hornbrille auf und wandte den Kopf nach ihm hin, ohne eine Frage zu thun. – Rudolf nannte seinen Namen und seinen Wunsch, die der Kanzleirath, ohne eine Miene zu verändern, anhörte, dann nach der Uhr sah und wieder zu schreiben anfing, bis er nach einigen Minuten die Feder fort legte, Sand auf den Bogen streute, auf einen Stuhl deutete und mit den Worten: »Setzen Sie sich!« hinaus ging.
Eine ängstliche Unbehaglichkeit kam über den jungen Mann, seine Zweifel erwachten, ob er auch wirklich bis zu dem Minister vordringen werde, oder was man sonst mit ihm vorhabe. Der alte Kanzleirath sah aus wie ein Richter der Unterwelt, von ihm hatte er kein Erbarmen zu hoffen.
Wahrend Rudolf noch darüber nachdachte, wie der Ausspruch lauten würde, stand einer der Copisten leise auf, ging an das Pult, stöberte unter den Papieren des Kanzleiraths umher, las da und dort, lächelte jetzt und schüttelte dann wieder den Kopf. –
»Abgeschlagen!« flüsterte er seinem Gefährten zu, »abgesetzt ohne Gnade; sie können ihm das Buch nicht verzeihen und wissen bestimmt, daß er der Verfasser ist.«
Ein Schauer durchrieselte den Doctor. Er wußte nicht recht, warum, aber er dachte plötzlich an seine Abhandlung. In dem Augenblick öffnete sich die Thür, der Kanzleirath ging auf ihn los und sah ihn unter der Hornbrille starr an.
»Was suchen Sie?« fragte er.
»Die Schere,« sagte der Copist.
»Da liegt sie neben Ihrem Platz. Was Sie Nichts angeht, davon lassen Sie Ihre Finger; unbesonnene Menschen giebt es genug, wir brauchen deren nicht noch mehre.«
Dem Doctor kam es vor, als sähe er dabei nach ihm hin. Der Beamte sprach nicht weiter, packte aber seine Papiere zusammen, schloß diese in ein kleines Spind über dem Pulte ein und sagte dann:
»Folgen Sie mir!«
Sie gingen durch einen langen Gang in das Hauptgebäude. Der Kanzleirath schritt voran, ohne ein Wort von sich zu geben; endlich öffnete er einen Saal, in welchem sich keine anderen Mobilien befanden, als ein großer, mit einer grünen Decke behangener Tisch in der Mitte, auf welchem Dintenfässer standen. Darüber schwebte die Schnur einer Klingel, und um den Tisch standen Stühle, an einem Ende ein Sessel. –
Es war der Sitzungssaal, auf den das Dämmerlicht des nahenden Abends fiel, und so ein Raths- und Richtsaal in seiner Oede hat immer etwas Schauerliches für die Einbildung. Der graue Kanzleirath schlüpfte wie auf den Zehen durch diesen geheiligten Raum, als säßen die hohen Räthe noch um die leere Tafel. Dann legte er die Hand auf den Drücker einer Flügelthür, winkte dem Nachfolgenden und flüsterte ihm zu:
»Treten Sie ein!« –
Rudolf befolgte den Befehl und stand vor dem Minister.
Es war das Arbeits-Cabinet des mächtigen Beamten. Grüne Seidengardinen beschatteten das einzige breite Fenster; vor einem großen, dunkel glänzenden offenen Bureau stand ein Lehnstuhl. Der Minister hatte sich aus diesem erhoben; die Hände auf den Rücken gelegt, blieb er in dieser Stellung, als der Doctor sich tief verbeugte.
»Sie haben mich sprechen wollen?« fragte er.
»Ich wagte es, Excellenz,« erwiederte der junge Mann, »um Gehör zu bitten, da meine Lage gegenwärtig von der Art ist, daß die gnädige Zusicherung Ihres Schutzes mir allein Hoffnung giebt, betrübende Verhältnisse günstig zu wenden. Diese sind freilich von der Art, daß ich fürchten muß …«
Er hielt inne, denn das Gesicht des Ministers, das er jetzt zuerst genau anschaute, war nicht das gnädige, herablassende, wie er es in dem Landhause sah, es war vielmehr so hart und die Augen so erstarrt darin, daß ihm der Muth zum Sprechen versagte.
»Fahren Sie fort,« sagte der Minister, »aber fassen Sie sich kurz. Was fürchten Sie?«
»Ihren Unwillen zu erregen,« antwortete Rudolf, »oder vielleicht diesen schon erregt zu haben; denn wie ich erwarten muß, verfehlte man wahrscheinlich nicht, mein Benehmen in übelster Weise darzustellen.«
»Man hat Sie mir, wie ich denke, nie anders als der Wahrheit gemäß geschildert,« versetzte der Minister. »Meine Nichte, mein Neffe haben mir das Beste von Ihnen gesagt und eben so wohl Ihr Wissen wie Ihre Dankbarkeit gepriesen.««
»Excellenz,« sagte Rudolf erröthend, »um so weher thut es mir, ein Undankbarer zu scheinen. Ich besitze leider nicht mehr die Gunst, welche mir zu Theil wurde, obwohl ich unverschuldet büße. Nicht ich, sondern der, der die Herzen der Menschen lenkt, hat es so gewollt.«
»Wovon sprechen Sie?« fragte der Minister, ihn unterbrechend.
»Ich spreche davon,« erwiederte der Doctor, alle Stärke sammelnd, »daß Fräulein Johanna Schellbach mir ihr Herz zugewandt hat.«
»O!« rief der Minister, den Kopf zurückwerfend, »ich habe davon gehört, aber ich glaubte, das sei abgemacht. Die junge Dame ist excentrisch. Sie müssen das einsehen.«
»Wenigstens hat man Alles gethan, mich zu diesem Einsehen zu bringen. Ich weiß sehr wohl, welche Hoffnungen Johanna's Wahl vereitelt, allein dies kann unmöglich mich bestimmen, auf mein Glück zu verzichten.«
»Was wollen Sie denn?« fragte der Minister, als er schwieg.
»Johanna's Herz ist mein,« erwiederte er, von dem verächtlichen Tone gereizt; »ich will ihre Hand, die sie mir bestimmt hat.«
»Und Sie glauben, daß die Verwandten einwilligen werden?«
»Die Macht der Verwandten reicht nach unseren Gesetzen schwerlich so weit, um eine mündige junge Dame von einer Heirath nach ihrer Wahl abzuhalten.«
»Das wäre die Frage,« sagte der Minister kalt. »Sie sollten vernünftiger darüber urtheilen, maßvoller denken, die Verhältnisse erwägen, kindische Gefühlserregtheit nicht benutzen wollen. – Schweigen Sie,« fuhr er fort, »hören Sie mich an. Sie drängen sich in eine Familie, die Sie nicht aufnehmen will; ich sage das, ohne den Umstand zu bedenken, daß ich selbst mit dieser Familie verwandt bin, und daß mein Neffe, wenn ich so sagen soll, Ihr Nebenbuhler ist.«
»Ihr Neffe, Excellenz, ist es eben, den ich anklagen muß,« fiel Rudolf ein.
»Sie klagen ihn an?« fragte der Minister, der sich stolz aufrichtete, ohne die Hände vom Rücken zu nehmen.
»Ich muß es thun,« erwiederte Rudolf. »Er wußte von Anfang an, daß er keine Neigung zu erwarten hatte, durch ein Gewebe von Versprechungen und Bestechungen beabsichtigt er dennoch, noch jetzt …«
Der Minister ließ ihn nicht enden.
»Das wagen Sie mir in's Gesicht zu sagen?!« rief er. »Wen hat er bestechen wollen?«
»Ich könnte Andere nennen, aber ich nenne mich selbst,« fuhr Rudolf, ohne eingeschüchtert zu sein, fort. »Er bot mir nicht allein seinen ganzen Einfluß für meine Versorgung an, sondern auch eine bedeutende Geldsumme – das Geld der Braut, die ich ihm erobern helfen sollte.«
»Beweise!« sagte der Minister gewaltsam ruhig; »das wäre empörend! Liefern Sie die Beweise!«
»Beweise?« erwiederte der junge Mann bestürzt.
»Stellen Sie mich ihm gegenüber, er wird es nicht zu läugnen wagen.«
»Schamlos, mehr als schamlos!« rief der Minister. »Man hat sehr recht gethan, Sie aus dem Hause zu entfernen, das Sie entweihten; man hat in jeder Weise Recht, wenn man sich vor Ihnen schützt und ein verleitetes Mädchen vor den kläglichen Folgen Ihrer Verlockungen schirmt. Mein Neffe steht zu hoch, um von Ihren Verleumdungen zu leiden; aber nehmen Sie sich in Acht, Herr Doctor Jachtmann, Ihr verwegenes Spiel nicht zu weit zu treiben. Sie haben alle Ihre Wohlthäter getäuscht und bethört, glücklicher Weise jedoch ist Ihr wahrer Charakter früh genug zum Vorschein gekommen.«
»Excellenz,« antwortete Rudolf, so gefaßt er konnte, »ich muß bitten, jetzt selbst den Beweis für diese entehrenden Vorwürfe zu geben.«
Der Minister faßte nach seinem Bureau und nahm ein gedrucktes Heft, das dort lag.
»Haben Sie dies geschrieben oder nicht?« fragte er.
Es war der Aufsatz des jungen Gelehrten – er verstummte einen Augenblick.
»Ich habe es allerdings geschrieben,« sagte er dann, »allein …«
»Genug!« rief der Minister, »genug und hinreichend! Ein Mensch, der solche Verhöhnung der heiligsten Wahrheiten drucken läßt, der alles Positive angreift und negirt, der systematisch abläugnet und durch seine zersetzende Dialektik die Gemüther verwirrt und elend macht, der ist zu Allem fähig! Hoffen Sie niemals auf irgend eine Unterstützung, irgend eine Anstellung. Die Pestbeulen unserer Zeit haben von mir Nichts zu erwarten; wo ich sie finde, sie zu vernichten, wo ich sie erreichen kann, sie unschädlich zu machen, das ist mir Gewissenspflicht! – Verlassen Sie mich, ich habe Nichts mehr zu sagen.«
»Excellenz werden mir eine Vertheidigung erlauben, eine Rechtfertigung.«
»Verlassen Sie mich!« rief der Minister noch einmal, indem er gebieterisch die Hand nach der Thür ausstreckte, »ich will kein Wort mehr hören!«
Verstummend entfernte sich der junge Mann. –
Im Sitzungssaale stand der Kanzleirath am Fenster, der einen Blick aus dem steinernen Gesicht auf ihn warf und mit der knarrenden eintönigen Stimme sagte:
»Rechts ab geht es aus dem Hause.«
Unten kam ihm der dicke Portier entgegen, ganz Freundlichkeit und Behagen.
»Na,« sagte er, »das hat lange gedauert, wir geben selten so lange Audienzen. Es ist doch Alles gut ausgefallen? Mühe hat es genug gekostet, wir haben hier Nichts umsonst.«
»Es ist Alles umsonst!« erwiederte der Doctor.
Dabei ging er an seinem wohlwollenden Freunde vorüber und zum Hause hinaus.
»Alles umsonst?« lächelte der Portier ingrimmig. »Aha! ich merke schon, der ist oben schlecht fortgekommen; aber ist das ein Grund, seinen Mitmenschen leiden zu lassen und sich einzubilden, es sei Alles umsonst?« –
Er sah dem Davoneilenden lange nach und sagte dann energisch:
»Man muß nicht mitleidig sein, es taugt Nichts. Alles in der Welt kann man sein, nur nicht mitleidig, denn man hat nur Undank davon; der soll mir wiederkommen, dem will ich es gedenken!«
In dem Augenblicke kam der junge, Baron Laxfeld die Straße herauf; tief unterthänig empfing ihn des Hauses redlicher Hüter. –
»Guten Abend, Linzmann,« sagte der junge Herr; »ist mein Oheim allein?«
»Ja wohl, mein gnädigster Herr Baron, ganz allein.«
»Und wie geht es Dir?« fragte Laxfeld.
»Schlechte Zeiten!« seufzte der Portier, die Achseln zuckend, »man wird alle Tage magerer.«
Der Baron lachte, griff in die Tasche, drückte dem Klagenden Etwas in die Hand und sagte:
»Laß Niemanden hinauf, der uns stören könnte, ich bleibe nicht lange.«
»Keine Maus, mein gnädigster Herr Baron,« flüsterte der Portier, und dann steckte er den blanken Thaler triumphirend ein und sprach mit tiefem Gefühl: »Was so ein Herr doch für eine andere Art hat! Ein ganz anderes Wesen ist er, ganz anderes Blut hat er, wie solch ordinärer Mensch, der Nichts von Manieren weiß, und bei dem Alles umsonst ist.«
Rudolf war eine Zeit lang umher geirrt, er war erschöpft, gebeugt, und wie ein Schiff, das zwischen Klippen seinen letzten Anker verlor, sah er Verderben um sich her, ohne noch ein Mittel zu erkennen, ihm zu entgehen. Mit verwilderten Blicken trat er endlich bei seiner Mutter ein, die eben ihr Stübchen lampenhell gemacht hatte. Wie schnell starb der erwartungs- und hoffnungsvolle Blick, mit welchem sie ihn empfing! Sie las in seinem Gesichte das Unglück.
Er war so bleich, so niedergedrückt, so muthlos, und als sie ihn bei der Hand faßte und angstvoll die Frage that, antwortete er ganz dasselbe, was er seinem Gönner im Minister-Hotel geantwortet hatte:
»Es ist Alles umsonst!«
Die Frau Zoll-Inspectorin ließ den Kopf sinken und seine kalten Finger los, um mit dem Schürzenzipfel über ihre Augen zu fahren; gleich darauf aber faßte sie lebhaft wieder danach, ein Heldenmuth kam über sie. Der Kummer ihres Kindes weckte diesen auf – sie mußte den armen kranken Sohn trösten, sie mußte! Die Kraft dazu floß in ihr banges Herz. Sie streichelte sein Haar und sagte zornig:
»So sind sie, ja, so sind sie! Dein armer Vater wußte es am besten. Traue vornehmen Herren nicht! hat er oft ausgerufen, und hoffe Nichts von ihnen und ihrer Gerechtigkeit. Auf sich selbst muß man bauen, fest muß man stehen, mag es kommen, wie es will. Ach! liebster Sohn, laß es Dir nicht so zu Herzen gehen, schütte Deine ganze Qual Deiner Mutter in den Schooß, ich will Dir tragen helfen und wenn sie auch Alle von Dir lassen – ich nicht, nein, ich nicht!«
Die Liebe, welche über ihn ausströmte, war unbeschreiblich wohlthuend. Er setzte sich zu ihr und erzählte, wie er beschimpft und endlich fortgewiesen worden sei, ohne sich rechtfertigen zu können. –
»So!« rief sie endlich hitzig, »Beweise will er haben? Ist denn sein Brief kein Beweis? Und der Herr Baron, der den Schein ausgestellt hat, ist das etwa Nichts?«
»Welcher Brief? welcher Schein?« fragte Rudolf.
»Hier, hier!« fuhr sie fort, lief nach der Kommode und holte Beides, indem sie zugleich den Hergang mittheilte.
»Da steht es ja,« schrie sie, »Schwarz auf Weiß steht es geschrieben, was er Dir bietet und wozu! Ist das etwa kein Beweis für den sauberen Herrn? ist das keiner?!«
Seine Augen strahlten auf, als er las, es kam Leben in seine Ruhe.
»Bei Gott,« rief er,»das ist seine Hand, er kann es nicht läugnen!«
»In's Gesicht will ich es ihm behaupten, vor die ganze Welt will ich hintreten!« rief die Wittwe.
Ein heftiger Schlag an die Thür unterbrach den Eifer der Frau Zoll-Inspectorin.
»Was ist denn das?« fragte sie erschrocken. Das Geräusch wiederholte sich, sie ging hin, öffnete und that einen Schrei, denn langsam trat der große schwarze Hund herein und blieb vor dem Doctor stehen.
Es war Niemand weiter da, das Thier schien allein gekommen. Die Frau Zoll-Inspectorin hatte keine besondere Freude daran, sie sagte ärgerlich:
»Was will denn der? Was hat der hier zu suchen?«
»Er sucht mich,« antwortete Rudolf, von einem Gedanken ergriffen, »er fordert mich zum Beistande auf; ja, er zeigt mir den Weg, der mein Weg jetzt sein muß. Ich muß zu ihr, zu Johanna! Amigo, Du treuer Freund, Du kommst, mich zu holen!«
Bei seinen letzten Worten wandte der Hund sich rasch um, kehrte dann noch einmal zurück und faßte mit den Zähnen ihn sanft an.
»Mutter!« rief Rudolf, »es droht ihr Gefahr, dieser Bote weiß mehr davon, als Du glaubst. Ja, auch die Thiere haben eine Seele, sie haben mehr Nachdenken, als der menschliche Stolz ihnen zuspricht. Jetzt muß ich bei ihr sein, oder Alles ist verloren!«
7.
Es war dunkel geworden, als Rudolf den Park erreichte; er hatte seinen Plan gemacht. Was auch geschehen mochte, er wollte durch keinerlei Rücksicht sich abhalten lassen, bis zu der Geliebten zu dringen. Und sollte es gewaltsam geschehen müssen, sagte er zu sich selbst, so mag es geschehen. –
Daß er auf dem geraden Wege Nichts erreichen würde, war freilich vorauszusehen; es kam also darauf an, unbemerkt so weit zu gelangen wie möglich, und sein kluger Begleiter schien ganz derselben Meinung zu sein; denn an dem Platze, der die vordere Seite des Landhauses begränzte, blieb er stehen, sah aufmerksam hinüber und drängte dann schmeichelnd und warnend sich an Rudolf, als wollte er ihn zurückhalten.
Du hast ganz Recht, sagte dieser, hier dürfen wir nicht hinein, wir müssen es an der Wasserseite versuchen. Der Hund verstand diese Worte augenblicklich. Er ließ von seinem Widerstande ab, sprang voraus und, nach einiger Zeit in einen schmalen Gang, der zwischen Hecken und Zaunwänden hinlief. –
Der große Garten, welcher zu Schellbach's Besitzung gehörte, wurde durch eine Mauer geschlossen, jenseits welcher ein Arm des Flusses vorüber strömte. Ein Fußpfad führte dort entlang bis zu einer Brücke, und diesen Steg kannte der Doctor sehr gut; er hatte ihn oft bei seinen Spaziergängen benutzt. Die Mauer war hoch und besaß eine gute verschlossene Pforte, aber man hatte ihm einen Schlüssel dazu gegeben, den er noch in seiner Tasche trug, und als er auf sein Abenteuer auszog, hatte er dies nicht vergessen. –
Er zog den Schlüssel heraus und stand unter den hohen, stillen Bäumen. In der Ferne sah er Licht, es kam aus dem Balconzimmer; auch das Nebengemach war erleuchtet. Der Schein lief hin und her, selbst die Mansarden-Wohnung, die er inne gehabt, war hell – sein Herz klopfte laut, als er sich näherte.
Nun stand er wieder unter der großen Kastanie; aber keine Hand streckte sich nach ihm aus, kein Gewand rauschte. Leise schlich er aus dem Fliedergang und hielt den Hund am Halsbande fest, besorgt, dieser könnte ihn verrathen. Unnöthige Furcht! Das Thier stand lautlos neben ihm; den Kopf hoch in die Luft gestreckt, schien es seine Wachsamkeit und Vorsicht zu verdoppeln. –
Plötzlich rasselte das Eisengitter am Haupteingange – Laternen funkelten, ein Wagen fuhr den Kiesgang herauf und hielt vor der Seitenthür des Hauses. Wer ausstieg, war nicht zu erkennen, doch schienen es mehrere Personen zu sein; dann bog der Wagen hinter dem Hause um und machte seine Wendung nicht weit von den letzten Büschen, bis zu welchen Rudolf vorgegangen war.
Der Kutscher hielt an und löschte die beiden Laternen aus. Es war ein fremder Mann und ein fremdes Fuhrwerk, ein mächtiger, tiefhangender, dunkler Kasten, auf dessen Bock neben dem Rosselenker noch eine zweite Gestalt saß. Der Wagen fuhr nicht fort, sondern blieb in einiger Entfernung von der Thür halten, wo der Kutscher und sein Begleiter abstiegen und mit einigen Personen aus dem Hause sprachen, die zu ihnen traten.
Rudolf glaubte Schellbach's Bedienten zu hören, und seine Unruhe wie sein Mißtrauen verdoppelten sich, als er in dem Balconzimmer die Schatten mehrerer Personen bemerkte. Die Vorhänge wurden niedergelassen, er meinte, es sei Laxfeld, der dicht herantrat und hinter der Draperie verschwand.
Ein Zittern lief ihm durch Arme und Brust; ohne ein Wort zu sagen, ging er auf das Haus zu und erreichte den Eingang zu der Ecktreppe, die zu seiner ehemaligen Wohnung führte. Sie war dunkel und still; er stieg aufwärts, der Hund folgte ihm nach. Ohne Zögern öffnete er die Thür – da saß Emil, seinen Kopf in beide Hände gestützt, und der alte Paul schien ihn beruhigen und trösten zu wollen.
Das Kind fuhr mit einem Freudengeschrei auf; der alte Mann ließ es los und suchte es dann wieder fest zu halten. Er war sehr erschrocken.
»Bist Du wieder bei mir!« rief der Knabe. »Ich habe immer nach Dir verlangt, wie sehr sie auch schalten. O, wie gut, daß ich Dich wieder habe!«
»Ach, Herr Doctor! Herr Doctor!« sprach der Alte dazwischen. »Was hab' ich gesagt? Gott mag sich erbarmen?«
»Was ist es? Was geht vor?« fragte Rudolf.
»Sie wollen sie fortbringen! ich weiß nicht wohin,« flüsterte Paul, »aber Gutes ist es nicht, mit ihrem Willen geschieht es nicht.«
»Du sollst nicht wieder fort!« schrie das Kind voller Heftigkeit, sich an ihn klammernd. »Sie haben mich hier eingesperrt, ich will nicht bleiben, ich will den Paul nicht haben! Du sollst bleiben!«
Der Doctor legte seine Hand auf ihn.
»Du hast mich lieb,« sagte er, »willst Du thun, was ich von Dir wünsche?«
»Was Du sagst, will ich thun,« antwortete der Knabe bezwungen.
»So bleib hier, bis ich zurückkomme, dann wollen wir weiter sprechen. Aber ganz still mußt Du sein.«
»Ich will still sein,« sagte Emil. »Bleib Du bei mir, Amigo.«
Er schlang seine Arme um den großen Hund, der sich zu ihm setzte, legte seinen Kopf auf die schwarze Stirn und sprach mit ihm, während Rudolf mit Paul heimlich flüsterte.
»Ich habe sie heute gar nicht mehr gesehen,« sagte der alte Diener. »Den ganzen Tag war die gnädige Frau bei ihr, oder der Herr, oder der Medicinalrath und der Baron, und Alle setzten ihr zu, und dann brachten sie den alten Helm und seine Nichte, und was geschah, ich weiß es nicht, ich sah bloß, daß sie immer böser wurden. Und heute Nachmittag sagte der Herr, wie sie beisammen beim Kaffee saßen, und die Frau von Stern war gekommen: der Narr! der elende Schelm! – das müssen Sie gewesen sein, Herr Doctor, nehmen Sie es nicht übel – er will also nicht? Und dann that er einen Fluch und schrie auf: Es geht nicht anders, vor Schande muß man sich bewahren; wenn's nicht anders sein kann, so muß es geschehen, ich habe alle Hoffnung aufgegeben. – Und wie er das sagte, lachte der Herr Baron und rief: Dahin soll es nicht kommen, ich werde auch schon zur rechten Zeit dabei sein. – Da bemerkten sie mich und schickten mich fort.«
»Und Sie haben Nichts thun können?«
»Ich armer alter Mann, was kann ich denn thun!« seufzte Paul. »Heraus ließen sie sie nicht, und zu ihr kann ja Keiner; selbst den Hund, den Amigo, haben sie ihr genommen.«
»Was war das?« rief Rudolf.
»Ein Schrei … sie schreit!« murmelte Paul, die Hände zusammen schlagend. »Ach Gott! ach Gott!«
Rudolf eilte an's Fenster und riß es auf.
»Bleibt, Alle hier,« sagte er zurückblickend, und sein Gesicht hatte einen versteinenden Ausdruck – »kein Wort, kein Laut!«
Im nächsten Augenblicke war er verschwunden. Mit Einem Satze stand er draußen auf dem Mauervorsprunge, und in der Finsterniß ging er darauf hin, bis an den Punkt, wo die Mitte des Gebäudes, weit vorspringend, sich an den Balcon anschloß. Als er das Geländer ergriff, hörte er hinter sich Etwas an der Mauer hinstreifen. Es war der treue Amigo, der ihm nachgekommen war und leise über die Brüstung kletterte.
»Schweige! schweige!« flüsterte der junge Mann, als er sah, daß er Nichts zu ändern vermochte, und rasch beugte er sich vor dem Fenster der großen Thür, wo er zur Seite neben dem Vorhang hin das ganze Zimmer übersehen konnte. Alle seine Besonnenheit war nöthig, um nicht auf der Stelle vorzuspringen und die Thür zu zertrümmern.
Auf dem Tische in der Mitte brannten eine große Lampe sammt mehreren Kerzen, die ein helles Licht verbreiteten, und um diesen Mittelpunkt gruppirt standen Frau von Schellbach, ihr Mann und Julie, ihnen zur Seite der Medicinalrath und ein großer, blasser Mann mit schwarzem, dünnem Haar, das eckig auf seine hohe Stirn fiel. Ein abschreckender Ernst lag auf seinem Gesichte, und seine Augen hefteten sich unheimlich fest auf die einzelne Person, welche diesem Kreise gegenüber, wie auf der Flucht vor ihm, dem Fenster und der Wandecke nahe stand, als sei sie auf Widerstand bedacht. Es war Johanna.
Ihr Gesicht war erhitzt, sie schien auf's Heftigste aufgeregt, dabei waren ihre Kleider in Unordnung; ihr Gürtelband hatte sich gelöst, und eine der Seitenflechten ihres Haares hing tief herunter. In dieser Verfassung und mit ihren lebhaft rollenden Augen, den zuckenden Lippen, ihrer fieberhaft raschen Beweglichkeit und den kurz und rücksichtslos hervorgestoßenen Worten, war es nicht eben schwer, an ihre geistige Zerrüttung zu glauben. –
»Wenn Sie sich nur beruhigen wollten, mein liebes Fräulein,« sagte der Medicinalrath, der dem fremden Herrn Etwas zugeflüstert hatte. »Geben Sie nur die eine Vorstellung auf, daß Ihre nächsten Verwandten, die Sie so innig lieben, Ihnen Böses zufügen könnten. Sie sind krank, mein liebes Fräulein; Sie bedürfen der Pflege, der sorgsamsten, treuesten Pflege.«
»Sie sind ein Heuchler!« rief Johanna, »schweigen Sie, ich kenne Sie genugsam! Ihr Alle heuchelt, lügt und seid übereingekommen, mich zu verderben. Was wollt Ihr von mir? Ihr wollt mich verkaufen, als Sclavin verhandeln, und da Euch das nicht glückt, wollt Ihr mich berauben! Mein Geld wollt Ihr haben, ich sehe die Gier danach in Euren Gesichtern! Aber auch das soll Euch nicht gelingen. Ich will mich nicht bestehlen lassen, keinen Pfennig sollt Ihr bekommen!«
»Sie sehen, mein lieber Director, wie es steht,« sagte der Medicinalrath seufzend.
»Ist die Dame schon lange in diesem Zustande?« sagte der Angeredete, indem er sich zu Frau von Schellbach beugte.
»Sie war immer sehr erregt und gab sich plötzlichen, seltsamen Launen hin,« antwortete die gnädige Frau.
»Seltsamen Launen!« rief Johanna. »Sie nennen es seltsame Launen, weil ich mich ihren Absichten widersetzte, mich vor ihnen zurückzog, weil ich einen tiefen Ekel vor ihrer Falschheit und ihrer Rechenkunst empfand.«
»Es ist traurig, das hören und sehen zu müssen!« sagte Frau von Schellbach, die Achseln zuckend.
»Sie können denken, Herr Director, was wir dabei empfinden,« fügte Herr von Schellbach hinzu.
»Arme Johanna!« flüsterte Julie.
»Du!« antwortete Johanna, die es hörte, »Du hast den elendesten Verrath an mir geübt! Du, vor allen Anderen, bist die vollendetste Heuchlerin! Ganz würdig der Rolle, die Du spielst, ganz würdig Deines Leichtsinnes und Deiner Verderbtheit!«
»Sie hält Jeden für ihren Feind und Verderber,« flüsterte Neidler.
»Eine der gewöhnlichsten Formen,« erwiederte der fremde Herr. – »Wollen Sie mich ganz ruhig anhören, Fräulein Schellbach?« fragte er dann laut.
»Reden Sie,« versetzte Johanna.
»Aber Sie dürfen mich nicht unterbrechen. Ich bin zu Ihrem Beistande hier und will Ihnen helfen. Ich glaube, was Sie sagen, ich glaube, daß Sie mißverstanden, beleidigt und verfolgt werden. Ich will Sie dagegen schützen, und unter Gottes gnädigem Beistande wird es mir gelingen, Sie von allen Ihren Feinden zu befreien. Geben Sie mir Ihren Arm, ich führe Sie an einen Ort, wo wir in Ruhe und frei vor jeder Befürchtung uns verständigen können.«
»Bleiben Sie fort von mir!« schrie Johanna auf, und als er stehen blieb, faßte sie an ihren Kopf und sagte langsam: »In dieser Weise kann man wirklich zum Wahnsinn gebracht werden! – Sie täuschen mich nicht,« fuhr sie dann fort, »ich weiß zu gut, daß Sie mit denen da im Einverständniß sind. Ich habe Sie auch irgendwo einmal gesehen und erinnere mich, daß Sie Arzt und Vorsteher einer Privat-Irren-Anstalt sind. Läugnen Sie nicht, ich weiß es!«
»Der Scharfsinn des Wahnsinnes,« murmelte der Herr, »ist erstaunenswürdig. Ich bin Arzt, Fräulein Schellbach, Sie haben ganz Recht, ich heiße Polenz; aber lassen Sie sich dadurch nicht abschrecken, ich meine es zum Besten mit Ihnen.«
»Sie sollen ein sehr frommer, ein sehr gläubiger Mann sein,« fiel sie ein, »so schenken Sie mir denn Glauben. Meine Verwandten haben Sie in's Vertrauen gezogen, doch schwerlich haben sie Ihnen die Wahrheit gesagt. Es ist ein abscheulicher, doppelseitiger Plan, der mich verderben soll und den ich durchschaue: Entweder soll ich nach ihrem Willen eine Heirath eingehen, die ich nicht mag, oder aber sie wollen mich unter Curatel bringen, um mich wie eine Schwachsinnige behandeln zu können. Mein Vermögen wollen sie, wenn ich ihnen entgehe, und dazu sollen Sie helfen.«
»Elendes Gewäsch!« rief Herr von Schellbach, dunkelroth.
Der Director winkte ihm zu und sagte dann:
»Ich werde nicht dazu helfen, doch folgen Sie mir, damit ich mich überzeugen kann, wie es steht.«
»Ihnen folgen? nein!« erwiederte sie mit Bestimmtheit; »Ihnen folgen, hieße mich wirklich dem Irrsinn überliefern. Ich bin vernünftig, vollkommen vernünftig! Mein Gott, diese Versicherung ist entsetzlich! ich fühle es, wie mein Gehirn dabei bebt. Wollen Sie sich wirklich meiner annehmen, so rufen Sie den Mann, den ich liebe, sprechen Sie mit ihm, führen Sie mich zu ihm, aber nein … nicht von der Stelle. In Ihre Gewalt will ich mich nicht geben!«
»Da haben Sie die Ursache des ganzen Leidens,« flüsterte der Medicinalrath, »Sie kennen das Factische; die unglückliche fixe Idee, den Hauslehrer zu heirathen.«
»Wir müssen auf Gottes Hülfe vertrauen!« sagte der Director Polenz.
»Gottes Hülfe! Sie heucheln, wie diese Alle!« fiel Johanna ein. »Eine ganze Rotte überfällt mich. Wo ist Gottes Hülfe?«
»Bei mir!« sprach der Director, indem er seinen Ton änderte und mit strenger, fester Stimme fortfuhr: »Sie müssen mir folgen, ich will es so! Machen Sie keine Umstände mehr, oder Sie sollen mich kennen lernen! Den Hut auf, den Mantel um, oder ich brauche Gewalt!« –
Er nahm diese beiden Gegenstände von dem Stuhle, auf welchem sie bereit lagen.
»Gewalt! Gewalt!« schrie Johanna, und in dem Augenblicke, wo Rudolf draußen sich aufrichtete und den Drücker der großen Glasthür faßte, trat drinnen aus dem Seitenzimmer Laxfeld herein, dessen lauter Ruf den Angriff unterbrach.
»Was geht hier vor?« rief der Baron, indem er vor das bedrängte Mädchen trat.
»Auf mein Wort, das ist zu viel! Man soll Ihnen keine Gewalt thun, Johanna, so lange ich es hindern kann; das darf nicht geschehen. Schellbach, beste Cousine Henriette – wer wagt es, daran zu glauben, daß Johanna, meine edle, süße Johanna, ärztliche Hülfe nöthig habe? Geben Sie mir Ihre Hand, Fräulein Schellbach, erklären Sie diesen Herren, daß sie uns verlassen können, und vergeben Sie – auf mein Wort, Sie haben viel zu vergeben!«
»Ich danke Ihnen, Herr Baron,« antwortete sie; »Sie glauben also wenigstens nicht, daß ich wahnsinnig bin?«
»Unmöglich!« rief er umherblickend. »Wer will von meiner Braut dergleichen glauben?«
»Ihre Braut bin ich nicht,« sagte sie, »das kann ich niemals sein. Sie sind nicht der Mann, den ich liebe.«
»Nicht?« fragte er zurücktretend, und sein Gesicht wurde finster. »Wer denn??
»Die unglückliche fixe Idee!« seufzte Neidler.
In dem Augenblicke sprang die Glasthür des Balcons von einem gewaltigen Stoße aus dem Schlosse, und Rudolf rief hereintretend:
»Ich bin es, ich!«
Die Ueberraschung war so bezwingend, daß eine unwillkürliche Flucht erfolgte. Der gewaltige Hund tanzte heulend um seine Herrin, die, beide Arme um Rudolf geschlungen, das Gesicht zu dem Geliebten aufhob und ihn mit beseelten Blicken anschaute.
»Du bist bei mir!« rief sie; »alle meine Freunde sind bei mir, jetzt versucht, was Ihr wollt!«
»Ich denke, man wird Nichts weiter versuchen,« antwortete Rudolf, »denn noch eine einzige Handlung, welche es auch sein möge, wird den Arm der Gerechtigkeit in Bewegung setzen.«
»Wie unterstehen Sie sich, hier einzudringen!« schrie Herr von Schellbach.
»Seien Sie ruhig, daß uns Niemand hört,« sagte der Hauslehrer, »und danken Sie es Ihrem verwandtschaftlichen Verhältnisse zu meiner Braut, zu Johanna, wenn ich schweige. Ihr Spiel ist aus, gänzlich verloren, machen Sie es nicht schlimmer, als es ist. Sie werden Ihre Schwester eben so wenig einem Irrenarzte überliefern, als der Herr Baron Laxfeld sie jemals heirathen wird.«
»Schaffe uns Hülfe, schaffe Polizei herbei.« rief die gnädige Frau.
»Das wäre wünschenswerth, allein ich rathe nicht dazu,« fiel Rudolf ein. »Ich besitze Dokumente, die, wenn sie an die Oeffentlichkeit kommen, helles Licht auf die Vorgänge in diesem Hause werfen werden.«
»Lüge und Bosheit!« schrie Schellbach.
»Dann wagen Sie es, aber besinnen Sie sich wohl!«
»Eine enorme Frechheit, auf mein Wort!« sagte Laxfeld.
»Die Frechheit auf Sie zurück!« erwiederte der Hauslehrer, und indem er einen Schritt vortrat, zog er ein Papier heraus und hielt es in seiner Hand empor. »Soll ich Ihnen vorlesen, was Sie auf diesen Schein geschrieben?« fragte er. »Gewissenlos und abgehärtet, wie Sie sind, würde es dennoch seine Wirkung thun, und wenn ich gezwungen bin, meine Anklage und meine Vertheidigung damit zu unterstützen, dann fragen Sie sich, welche Folgen es haben muß.«
Laxfeld machte eine Bewegung, als wäre er Willens, auf seinen Gegner einzudringen, aber ein Blick auf dessen kräftige Gestalt nahm ihm den Muth dazu. Rudolf steckte das Papier ein, reichte Johanna den Mantel und den Hut und fuhr dabei fort:
»Ich verlasse dieses Haus mit meiner Braut, um sie in Sicherheit zu bringen. Niemand hat das Recht, sie davon abzuhalten, Jeder hüte sich davor! Noch ist es Zeit, die Stimme der Klugheit zu hören; ich warne Sie, mir in den Weg zu treten. Gewalt vertreibe ich mit Gewalt, und jeder Prozeß würde ein Kriminalprozeß werden. Ich würde zeigen, durch welche Mittel ein theurer Cousin zu einer reichen Frau kommen sollte, was ein Bruder gegen seine Schwester versuchte, welche bestochene Helfershelfer dabei thätig waren, welche Rollen Hausärzte zuweilen spielen, und welche Gefahren private Irren-Anstalten mit frommen Directoren bringen. Hüten Sie sich, die Decke selbst fortzuziehen, unter der, was noch geheim ist, verborgen liegt. Ich glaube, auch der Herr Minister wird dies wünschen, und somit sage ich Ihnen guten Abend.«
Er reichte Johanna seinen Arm und führte sie am Tische vorbei der Thüre zu. Niemand hielt sie auf. Herr von Schellbach allein schien einen Augenblick geneigt, ihnen nachzueilen; aber die gnädige Frau hielt ihn fest, und von der anderen Seite blieb Amigo stehen und zeigte ihm seine langen glänzenden Zähne.
»Verachte sie, das ist das Einzige, was wir jetzt noch thun können!« rief Frau von Schellbach.
»Verachten Sie uns, so viel Sie es für gut halten,« antwortete Rudolf, »was aber Johanna's Vermögen betrifft, das so große Anziehungskraft für Sie und diese ganze werthe Gesellschaft besitzt, so schließen Sie es bis zum letzten Pfennig in diese Verachtung ein.«
»Mein Bruder soll inne werden, daß er eine Schwester hat,« sagte das kleine Fräulein; »was aber die Zeugen dort betrifft, so vermache ich ihnen das Bild im Salon, die drei Spieler. Sie mögen es unter sich dem Meistbietenden überlassen und die Uebrigen damit abfinden.«
»Wo ist der Elende hergekommen?« schrie Herr von Schellbach, als sie allein waren. »Er soll nicht aus dem Hause! Ich lasse ihn festhalten!«
Es war ihm jedoch kein Ernst damit, so wenig, wie einem der anderen Anwesenden, die verwirrte und abmahnende Aeußerungen thaten.
»Alles, was wir wollten und beabsichtigten,« sagte Frau von Schellbach endlich, »war nur darauf bedacht, diese Unglückliche vor den Folgen ihrer Ueberspanntheit zu schützen, sie geehrt, zufrieden und glücklich zu machen.«
»Wir haben unsere Schuldigkeit gethan, wir haben uns Nichts vorzuwerfen,« fiel ihr Gemahl ein.
»O, still!« rief die gnädige Frau lebhafter; »Du hättest von Anfang an energischer ihre unerträglichen Launen zügeln müssen. Aber ihre Geisteskräfte sind verwirrt, ich bin davon noch immer überzeugt; auch Sie, Herr Director, sind derselben Meinung.«
Der Irrenarzt verbeugte sich und sagte vorsichtig:
»Ich hätte dies nach wenigen Tagen genauer Beobachtung feststellen können, jetzt muß ich mich darauf beschränken, das Fräulein in sehr aufgeregtem Zustande gefunden zu haben. Wie die Sache liegt, so würde ich rathen, ruhig abzuwarten, was Gottes Wille thut.«
»Ich glaube, mein lieber College, daß Sie Recht haben,« lächelte der Medicinalrath. – »Man muß der Natur niemals vorgreifen,« fügte er mit seinem sanftmüthigen Blicke hinzu, »und dem höchsten Herrn den Ausgang überlassen.«
Frau von Schellbach schickte ihm einen zornigen Blick zu.
»Willst Du mit uns speisen, Hermann?« fragte Schellbach kleinmüthig.
»Auf mein Wort, nein!« rief der Baron auffahrend. »Ich will überhaupt Nichts mehr …«
Er verschluckte, was er weiter sagen wollte, machte eine seiner steifen ruckenden Kopfbewegungen und war der Erste, der sich entfernte.
»Meine liebe Julie,« sagte Frau von Schellbach, die den Arm ihres Mannes nahm, »ich hoffe, wir sehen uns morgen, um zu überlegen, was für das verlorene Mädchen noch geschehen kann. Sie und der Medicinalrath nahmen ein so inniges Interesse an Johanna's Wohl und Wehe, Sie werden sich gemeinsam zu trösten haben.«
Ein unverkennbarer Hohn begleitete diese letzte Aeußerung, mit der sie sich entfernte. Der Medicinalrath bot Frau von Stern den Arm, die ihm lächelnd zuflüsterte:
»Wie es scheint, heißt es hier: Rette sich, wer kann! Gut, mein Freund, retten wir uns auch und beweisen wir an uns selbst unsere Uneigennützigkeit.«
Der Medicinalrath antwortete darauf gar Nichts. Er führte aber Frau von Stern an den Wagen des Irrenarztes und bat diesen, die schöne Dame unter seinen Schutz zu nehmen, da es ihm leider ganz unmöglich sei, ihre bezaubernde Nähe länger zu genießen.
»Wie schade, theuerster Medicinalrath!« rief Julie von Stern, »allein ich rechnete auf diesen Ausgang. Morgen fahre ich für einige Zeit aufs Land. Besuchen Sie meine Freundin Lottchen recht fleißig, und gute Geschäfte, lieber Freund, gute Geschäfte!«
Rudolf hatte mit seiner glücklich Befreiten den Weg durch den Park zurückgelegt, dann einen Wagen genommen und fuhr der Wohnung seiner Mutter zu. Er hielt die Geliebte in seinen Armen, und wenn der Schein einer Laterne durch den engen Wagenraum flog, hafteten ihre Augen innig auf seinem Gesichte. Dann und wann zuckte aber mitten durch ihr seliges Liebesträumen ein Schauder über sie hin, unter welchem sie sich fester an ihn schmiegte und dankbarer ihren Kopf an seine Brust barg. –
»Ohne Dich,« rief sie zärtlich, »wäre ich jetzt ganz in ihrer Gewalt, und eine Nacht so verlebt, hätte mich wahrscheinlich wirklich toll gemacht! Es ist ein grauenhafter Gedanke, vernünftig unter Wahnsinnigen zu sein, als Wahnsinnige behandelt zu werden. Wie Mancher schon mag mein Schicksal erlebt haben und noch erleben, trotz aller Vorsicht und Aufsicht! Doch Du, mein theurer Freund, der Du mich männlich schirmtest, Du sollst wissen, daß ich nicht ohne alle Schuld bin. Mein Wesen war dazu geeignet, den Verdacht zu begünstigen; ich selbst trug bei, ihre Plane zu erleichtern. Alles tritt lebhaft vor mich hin, doch die Angst und Noth dieses Tages wird mich bessern. – Ja,« rief sie mit leuchtenden Blicken, »sie sollen sehen, daß ich vernünftig bin, Du sollst niemals klagen, niemals bereuen!«
»Liebe mich,« erwiederte er, »ich will es immer zu verdienen suchen. Deine Liebe wird Dich sanft und mild machen, sie wird mein unermeßliches Glück sein.«
Sie gingen leise die Treppen hinauf, er öffnete das Zimmer. Da saß die Frau Zoll-Inspectorin, die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt, trübselig anzuschauen in ihrem Kummer. Plötzlich hörte sie seine Stimme, und es schwindelte ihr vor den Augen, denn da standen zwei Gestalten.
Rudolf führte seine Begleiterin rasch zu ihr hin und rief, daß der frohe Ton an den Wänden wiederklang:
»Da ist Johanna! Mutter, da hast Du sie, sie ist mein!«
Die Frau Zoll-Inspectorin wollte aufspringen, wollte einen Knix machen, wollte schreien und ihre Hände nach ihrem Sohne ausstrecken, aber sie war wie gelähmt. Das reiche vornehme Fräulein kniete neben ihrem Rudolf, ihre Arme umfaßten sie, und sie sah so gut und lieb und sanft aus; die harte rauhe Stimme klang so süß, und als sie sagte: »Da bin ich, beste Mutter, nehmen Sie mich an Ihr mütterliches Herz, ich will eine gute Tochter sein!« – da sank ein ganzer Himmel voll Liebe in die Brust der alten Frau. Sie faßte die Köpfe der beiden beglückten Wesen, sie sah sie an und begriff es kaum. Die alten Finger zitterten, vor Bewegung konnte sie kaum sprechen; nur gebrochen rangen sich die Worte hervor:
»Meine Kinder, meine Herzenskinder! Segen, Segen über Euch!«
8.
Der Herbst traf das junge Paar am Genfer-See. In der Nähe von Montreux bewohnte der deutsche Doctor mit seiner kleinen Frau eines der lieblichen Landhäuser, die dort, von Granaten und Myrthen beschattet, zerstreut an den Abhängen und Buchten des Jorat und des herrlichsten aller Seen liegen. Es war im October, als einstmals der Abendschein auf die schimmernde, mit zauberischen Lichtreflexen übergossene Wasserfläche fiel. Die Diablerets stiegen mit ihren kühnen, schneeigen Spitzen in den klaren Himmel, und rund umher schüttelte ein warmer Lufthauch Bäume und Blumen.
Ueber den See kam von dem savoyischen duftig blauen Ufer ein Nachen daher und zog durch die amaranthenen und rosigen Streifen immer näher heran, bis er dicht an der grünen Bucht lag. Der junge Mann, welcher die Ruder kräftig geführt hatte, sprang heraus, und über Steine und Steinstufen eilte eine kleine behende Frau ihm entgegen, die schon von Weitem ihm zurief:
»Es ist ein Brief gekommen, Rudolf, ein dicker Brief voll Wunder und Neuigkeiten! Geschwind, geschwind, Du mußt ihn lesen!«
Er nahm sie in seine Arme, und sie gingen durch das Weingehege voll großer, reifer Trauben, bis zu der Bogenlaube an der Thür, wo von der Matte sich ein großer Hund aufrichtete, der ein paar Sprünge machte und seine mächtige Stimme hören ließ.
Amigo drängte sich zwischen Rudolf und Johanna, und sie wehrten es ihm nicht, durch die offene Thür mit ihnen in den Salon des artigen Häuschens zu treten, wo der grauhaarige Paul so eben die Lampe auf den Tisch stellte.
»Neuigkeiten von Haus, alter Paul, ganz frische Neuigkeiten, Du mußt zuhören,« sagte die kleine Frau, und sie drängte ihren Mann in den Sessel, steckte ihm den aufgeschlagenen Brief in die Hand, setzte sich auf sein Knie und legte den Arm um seinen Hals.
»Von Helm!« rief Rudolf, als er einen Blick auf das Blatt gethan – »und von meiner Mutter!« fügte er hinzu, als ein anderer Zettel heraus fiel.
»Lies nur,« nickte Johanna, und er las:
»Mein lieber Rudolf!
Weil es Deine Mutter so will, schreibe ich an Dich ohne eine besondere Einleitung, und weil Dein Werthes vom 3. d. M., welches sie mir vorwies, noch immer mit Anhänglichkeit von mir spricht, glaube ich Dir eingestehen zu können, daß ich schon seit längerer Zeit den Wunsch hege, unsere Verbindung zu erneuern, die einige bedauerliche Störungen erlitten hat.
Ich biete also dazu die Hand und bitte Dich, mir und Lottchen ein neues Conto in Deiner freundschaftlichen Gesinnung zu eröffnen, wie wir dies ebenfalls zusichern. Fehlgeschlagene Speculationen trennen zuweilen die besten Compagnons, allein im Verlaufe der Zeit verliert sich die Empfindlichkeit, und bei dem ersten guten Kassenabschluß denkt man daran, sich mit Leuten zu versöhnen, denen man sonst Vertrauen schenkte. Ich habe daher auch Deine Mutter besucht, habe ihr meine Hand geboten, und wir sind im alten guten Vernehmen. Auch Lottchen hat die gehörigen Einleitungen getroffen und – doch ich greife nicht vor, sondern gebe Dir zuvörderst einen Bericht über die Lage der Angelegenheiten, welche Dich zunächst betreffen.
Die Geschäfte des Hauses haben den erfreulichsten Fortgang. Die Conjuncturen sind in jeder Beziehung gut zu nennen, und lege ich meinem Briefe einen übersichtlichen Nachweis bei, der einen höchst vortheilhaften Jahresschluß verspricht. Dieselbe Ansicht theilt mit mir Herr M. F. von Schellbach, welchen ich gestern die Ehre hatte zu sehen. Ich verhehlte demselben nicht, daß ich die Absicht hätte, an Dich und Deine Frau Gemahlin Bericht zu erstatten, und fand ihn damit einsichtig einverstanden. Er war überhaupt sehr bewegt, drückte meine Hand, und nachdem wir noch Einiges gesprochen, sagte er: Was ich von Ihnen über das Wohlsein und Glück meiner Schwester höre (ich hatte ihm respectvoll berichtet, was ich von Deiner Mutter wußte), freut mich sehr. Mein Schwager scheint ein Mann zu sein, den man achten muß, wenn man ihn näher kennt; es thut mir sehr leid, daß wir in solchen Unfrieden geriethen. Sagen Sie ihm … doch nein, unterbrach er sich, sagen Sie Nichts, aber legen Sie Ihrem Briefe diese Karte bei. Damit gab er mir die einliegende Karte.««
»Hier ist sie,« rief Johanna, indem sie ihrem Manne eine mit silbernen und goldenen Arabesken umränderte Karte hinhielt. Auf derselben stand:
Als ehelich Verbundene empfehlen sich Hermann Freiherr von Laxfeld – Julie von Laxfeld, verwittwete von Stern.
Rudolf ließ das Blatt voll Verwunderung fallen, dann lachte er laut auf.
»Eine höchst treffliche, höchst paßliche Wahl!« rief er aus. »Viel Glück und Segen dazu.«
»Nur weiter, nur weiter!« sagte Johanna ungeduldig.
»Im Vertrauen kann ich hinzufügen,« fuhr er lesend fort, »daß diese Heirath den Herrn Baron von dem Hause meines verehrten Principals so ziemlich getrennt hat. Die gnädige Frau ist sehr böse darüber, auch der Herr Onkel wollte Nichts davon hören, indeß macht das junge Paar inzwischen eine Reise nach Paris, und soll der Herr Baron nach seiner Rückkehr nun wirklich einen Posten annehmen wollen, da seine Fonds gänzlich erschöpft sind. – Mag er thun, was er will, sagte der gnädige Herr, ich will Nichts mehr mit ihm zu schaffen haben, auch mit dieser intriganten Frau nicht, überhaupt mit Keinem, der mich damals von meiner Schwester trennen half.
Der Herr Medicinalrath Neidler ist ebenfalls nicht mehr Hausarzt, und aus Allem geht hervor, daß eine höchst angenehme Stimmung bei unserem verehrten Herrn M. F. von Schellbach vorwaltet, der gewiß zu einer erfreulichen Wiedervereinigung mit seiner Frau Schwester, Deiner Frau Gemahlin, geneigt ist, wozu, wie ich glaube, die großmüthige Art, wie von ihrer Seite die Geldfrage behandelt, keinerlei Rechnungslegung verlangt und keinerlei Zinsnachzahlung begehrt wurde, nicht wenig beigetragen hat. – Ich weiß es wohl, sagte M. F. von Schellbach wehmüthig zu mir, daß wir in kein inniges Familien-Verhältniß jemals werden treten können, denn es liegt zu viel dazwischen; allein wir können doch das äußere Verhältniß herstellen, und mein Emil spricht noch immer mit großer Liebe von seinem Doctor, der nun sein Onkel ist. Wenn meine Schwester und mein Schwager (er sagte immer: mein Schwager) zurückkehren, so will ich ihnen den Knaben schicken.
Aus diesem allen ersiehst Du, mein lieber Rudolf, daß Herr M. F. von Schellbach die besten Absichten hat, ein freundschaftliches Verhältniß herzustellen. Was den Herrn Medicinalrath Neidler betrifft, so hat derselbe uns sehr oft besucht und sich Lottchen mit unverkennbaren Absichten zugewendet, diese jedoch war anderer Meinung und hat es vorgezogen, das Geschäft nicht mit ihm zu machen, sondern mit …«
Hier ließ Rudolf den Brief sinken, Freude verbreitete sich über sein Gesicht, und diese drang in den Ton, mit welchem er rief:
»Ist es möglich, auch sie heirathet!«
»Sie heirathet,« fiel Johanna ein, »und ist ganz glücklich und versöhnt. Da lies, was Deine Mutter darüber schreibt.«
Sie reichte ihm den eingelegten Brief hin und deutete auf die bestimmte Stelle:
»… Gestern kam der Vetter, und wen brachte er mit? – Lottchen am Arme eines jungen Herrn! Hehe! rief er, so laut und lustig wie damals, wo wir bei Lottchen zum Kaffee waren, da sind wir, Muhme Jachtmann, Lottchen und ihr Bräutigam. Kassirer auf dem Comptoir, Muhme Jachtmann, Silberkorn heißt er; aber für den stehe ich ein, der ist Silber durch und durch, klingt lieblich, wo man anklopft, nichts Falsches daran, prompt, pünktlich auf dem Fleck, vernachlässigt Nichts und weiß Lottchen zu schätzen.
Liebe Frau Zoll-Inspectorin, sagte das Kind bittend, können Sie mir verzeihen?
I du mein Gott! schrie ich, Lottchen, Herzens-Lottchen, ich freue mich gar zu sehr und wünsche Ihnen das allerschönste Glück!
O, meine theuerste Frau Zoll-Inspectorin, flüsterte Lottchen verschämt, wie sie immer ist, ich bin sehr glücklich, wir passen so ganz zusammen, was ich will, will er auch. Silberkorn ist der beste, liebevollste Mensch.
Der Herr Bräutigam ist nicht mehr ganz jung und hat etwas hohle Backen, als wäre er geizig; das schadet aber Nichts, Lottchen ist auch genau; im Uebrigen ist er ganz hübsch. – O, sagte ich, er ist gewiß besser, wie … Da ließ sie mich den Namen nicht aussprechen.
Bitte, bitte, liebe Frau Zoll-Inspectorin, rief sie, wenn Sie an den Herrn Doctor schreiben, melden Sie unsere ergebensten Grüße.
Und wenn er zur Hochzeit kommen will, so soll er sich sputen; schrie Helm dazwischen. Heute sind wir beim Prediger gewesen, am Sonntag ist das erste Aufgebot. Es wäre aber unsere größte Freude, wenn er kommen wollte.«
Als Rudolf zu lesen aufhörte, flüsterte ihm Johanna lächelnd zu:
»Du kommst doch?«
»Wir kommen, wir reisen!« rief er, das Papier fortlegend, indem er die kleine Frau umarmte. »Sind wir nicht stolz und froh genug, um vergeben und uns versöhnen zu können?
An Lottchen's Hochzeitstage tanzte Rudolf mit der Braut in den langen blonden Locken den ersten Tanz. Helm nickte zärtlich und rieb seine Hände, faßte in seine Halsbinde und griff die Frau Zoll-Inspectorin unter den Arm.
»Muhme Jachtmann,« flüsterte er, »Lottchen ist ein Schatz, und es ist schade …« er nahm eine mächtige Prise … »aber richtig speculirt hat er doch, und jetzt sehen Sie dahin, die Firma ist wieder einig. Herr M. F. von Schellbach, seine Schwester und Rudolf reichen sich die Hände. Victoria! es soll Alles vergeben und vergessen sein!«