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Meines Großvaters Brautwerbung

Mein Großvater väterlicher Seite war Schullehrer in Arnoldsgrün, einem Dorfe, welches eine Stunde von meinem Geburtsorte gegen Mitternacht hinter dem Walde liegt. So lange ich mich seiner erinnere, war er immer unverändert ein rüstiger alter Mann mit spärlichem, weißem Haar, welches sich unter einer Pelzmütze hervorstahl, angetan mit einem grauen, altmodisch bequemen Überrock, kurzen, schwarztuchenen Beinkleidern und derben, rindsledernen Jagdstiefeln; wenn er ausging, hing gewöhnlich die Jagdflinte von der Schulter – denn er war ein Jäger mit Leidenschaft – und die Jagdtasche an seiner Seite. Da zu seiner Zeit die Dorfjugend noch ihre Schulferien von Ostern bis Michaelis – ich fürchte manchmal noch länger – zugemessen erhielt, so hatte mein Großvater Zeit genug, in den vogtländischen Waldungen mit seinen Freunden, den Förstern und Jägern, weit und breit, oder auch nach Gelegenheit ohne sie, herumzuschweifen. Ob er alle Hasen und Rehe, welche seine Flinte erreichte, an die Revierherren abgeliefert hat, ist mir unbekannt; ich weiß nur, daß man bei ihm oft Hammelbraten aß, der fast wie Wildbret schmeckte, und daß er sehr böse auf seine Magd wurde, als einst hinter seiner Wohnung der unvorsichtige Wind Federn von einem Auerhahn herumjagte, welchen der Gutsherr nur für einen adeligen Vogel angesehen wissen wollte ...

Wie er noch in seinem Alter das rüstige Jagdleben gern hatte, so war seine Jugend um so reicher an wilden Abenteuern. Zu Anfang des Siebenjährigen Krieges war er Erzieher der beiden Brüder von Jößnitz auf Freiberg bei Adorf, welche er zur Aufnahme im Kadettenhaus in Dresden vorzubereiten hatte. Beide wurden tüchtige Offiziere in der sächsischen Armee, der eine Major, der andere Hauptmann und lebten noch in meine Jugendzeit herein, einsam glücklich als Hagestolze brüderlich nebeneinander und als tägliche Stammgäste im Adorfer Gesellschaftsklub, mit einander wetteifernd, wer von beiden die schönsten Ringe vom Rauche aus dem Meerschaumkopfe in die Luft blasen konnte. Im übrigen schien ihr Leben still zu stehen, wie das zweier nebeneinander im Waldgrund grünender Tannen, welche tief verborgen unter der bemoosten Rinde im weichen Holz ihre Jahresringe machen. Sie blieben immer gute Freunde unserer Familie und voran ihres alten Lehrers, dessen Ruhm sie abwechselnd zu verkünden nicht müde wurden ...

Als aber beide Brüder zu Ende des Siebenjährigen Kriegs stattliche Junker zu werden sich anschickten, lesen, schreiben und rechnen, vielleicht auch ein wenig Französisch radebrechen, vor allem aber tüchtig reiten und mit der Pistole auf vierzig Schritt ins Schwarze treffen konnten, brachte sie mein Großvater nach Dresden in das Kadettenhaus, wo sie sich auf einige Zeit als Kadetten verpuppen sollten, um als Leutnants bei der Armee ihre Schmetterlingsflügel zu entfalten. Der Präzeptor dachte noch im spätesten Alter mit Entzücken an jene Dresdener Tage. Er hatte auch alle Ursache dazu, hatte er doch dort den sonderbarsten Traum seines ganzen Lebens. Im alten Hotel de Saxe in der Pirnaischen Gasse, welches sich später in das Justizamtshaus und seine hin- und herlaufenden Marqueurs in stillsitzende Aktuars, seine Stallknechte in Amtsdiener, seine dampfenden Braten in dumpfige Aktenstöße, seine roten und weißen Weine in große Tintenflaschen und kleine Tintenfässer, ja auch sogar seine Höflichkeit bei Bewillkommnung der freiwilligen Gäste in grobe Vorladungen bei Vermeidung von fünf Talern Strafe oder auch der Herbeiholung durch den bewaffneten Amtsdiener verwandelt, jedoch die Fertigkeit, hohe Zeche zu machen, keineswegs vergessen hat, dort war mein Großvater damals eingekehrt, wo diese schaurige Verwandlung noch nicht eingetreten war. Nachdem er seine Zöglinge glücklich untergebracht hatte, beschloß er noch einige Tage auf die Sehenswürdigkeiten der Residenz zu verwenden. Müde vom vielen Herumwandern hatte er sich gegen Abend auf sein Zimmer zurückgezogen, um, in einen Armstuhl hingestreckt, eine Weile zu schlummern. Der gesuchte Schlaf aber verwandelte sich in ein wirres Träumen. Ihm kam es vor, als irrte er durch eine Wildnis in dunkler Nacht, aus welcher in der Ferne eine weinende Mädchenstimme ihn zu rufen schien. Eine unwiderstehliche Macht trieb ihn vorwärts über die Wurzeln der Bäume, die, wie harte Schlangen, über seinen Pfad krochen, durch die dornigen Brombeerstauden, welche wie bissige Tiere ihre Stacheln in sein Blut tauchten und wieder über endlose Steppen und in Bergschluchten hinein immer der weinenden Stimme nach. Je weiter er vorwärts kam, desto ferner erschallte sie, so daß er sich vergebens abrang, sie zu erreichen. Da fiel es ihm ein, denselben Klagelaut, den er vernahm, mit seiner Stimme nachzuahmen. Kaum hatte er das getan, so kam es ihm vor, als nähere sich der weinende Laut und käme immer näher, nicht aber von oben, sondern unten in der Erde, bis er wie vor seinen Füßen klang. Wie er, halb im Übermut, halb in der Angst, den Laut nochmals wiederholte, senkte sich plötzlich der Boden unter ihm, so daß er wie in einen Schacht fuhr, tief und tiefer hinein in die Finsternis, aber doch einem lichten Schein entgegen, welcher, wie er bald entdeckte, von einer Bergmannslampe herrührte. Diese stand auf dem Boden, welchen jetzt sein Fuß berührte, einige Schritte davon stürzte sich der Schacht wieder in die Tiefe der wehklagenden Stimme nach, und eine Leiter stieg in ihn zugleich hinein, als wollte auch sie zu Hilfe kommen. Unwillkürlich ergriff er die Lampe, setzte sie auf den Kopf in den Schnabel seines dreieckigen Hutes und stieg weiter hinein in die Grube, beherzt und vorsichtig, von Sprosse zu Sprosse. Ihn bekümmerte nicht die Musik der an den erzglitzernden Wänden herunterfallenden Tropfen, nicht das dumpfe Brausen der unterirdischen Ströme, nicht die Salamanderaugen der Kobolde aus den Wandritzen umher, nicht das unheimliche Picken, Schnarren und Pfeifen unsichtbarer Ursache aus heranstreifenden Nebengängen, er mußte weiter und weiter. Ihn kümmerten auch nicht die roten Flammenrosen, welche vor seinen Augen zu tanzen begannen, nicht die Frostschauer, welche mit Spinnenbeinen ihm über den Rücken liefen, mutig stieg er der weinenden Stimme nach, bis er plötzlich im Grünen Gewölbe stand, das er vormittags mit allen seinen königlichen und kurfürstlichen Kostbarkeiten und Raritäten besehen und angestaunt Gemeint ist das meist kleinere Kunstwerke vornehmlich aus der Spätrenaissance und der Zeit des Rokoko enthaltende »Grüne Gewölbe«, eine der Hauptsehenswürdigkeiten Dresdens. . Aber alle dort vorhandenen Figürchen, verfertigt aus verkrüppelten Riesenperlen, Gold und Email, liefen auf den Rändern der goldenen Becher und Gefäße umher und schrieen: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Der Großmogul will seine Prinzessin ermorden!« Selbst der künstliche Kirschkern mit seinen hundert Gesichtern rief aus hundert Mäulern zugleich: »Zu Hilfe! Zu Hilfe!« Bereits schleppten auch die Tataren aus dem hinteren Zimmer das große Kurschwert herbei, dessen Griff von leuchtenden Diamanten funkelte. Geblendet von der flammenden Goldpracht, dem wimmelnden Leben der Zwerge und dem Hilfegeschrei umher, stand der Träumer einen Augenblick lang erstaunt, aber im zweiten, als er im Nebenzimmer wieder die klagende Mädchenstimme vernahm, flog er hin nach der scheinbar offenen Tür, rannte jedoch mit der Stirn an eine kristallene, durchsichtige Wand an. Wie geschah ihm aber, als er bei dem ersten Blick in dieses so seltsam verschlossene Zimmer darin die schöne Obersteigerstochter aus Freiberg, welche er vormittags im Grünen Gewölbe getroffen, die ihm so sehr gefallen und an der Wirtstafel ihm gegenüber gesessen, jetzt dort händeringend und schluchzend vor dem gräßlichen Großmogul knieen sah, der schon mit dem ausgeholten Schwerte nach ihrem Nacken zielte!

»Halt!« rief der Träumer im Todesschrecken und wachte auf. Aber der bunte Traum schien sich im Wachen fortsehen zu wollen, denn jetzt hörte er deutlich im anstoßenden Zimmer die jammernde Stimme der schönen Obersteigerstochter aus Freiberg sprechen: »Und sollte ich auf der Landstraße barfuß betteln gehen müssen, den alten Finanzrat nehme ich doch nicht!«

»Das will ich doch sehen,« versetzte grimmig der Obersteiger, »wie Sie sich bei der Sünde gegen das vierte Gebot anstellen wird! Kurz und gut, der Finanzrat ist Finanzrat, und morgen ist Ihre Verlobung mit ihm, und ich bin Ihr Vater! Für heute Abend, wo Sie sich in seinem Hause zur Suppe einfinden sollte, will ich Sie entschuldigen; Sie ungezogenes Wesen hat sich das Gesicht ganz abscheulich verweint, bleib' Sie zu Hause und halte Sie die Türe verschlossen; vor Mitternacht bin ich wieder da! Glück auf!«

Mit diesen Worten entfernte sich der Obersteiger mit gravitätischen Schritten und ging die Hausflur vor und die Treppe hinunter.

Der Präzeptor eilte an das Fenster, um sich zu vergewissern, daß der Tyrann wirklich sich entferne, und sah auch bald seine grüne Cylindermütze und dann das bekannte Bergmannsleder im Scheine der Straßenlaterne steif und unerbittlich vorübertrotzen.

Kehre lieber wieder um, guter Obersteiger aus Freiberg; es würde dein Herz schneller als deine Taschenuhr picken, fiel' dir jetzt plötzlich ein, deine silberne Schnupftabaksdose im Gasthofe stehen gelassen zu haben. Was würdest du zurückeilen, die Vergessene im voraus mit den Augen suchen, und sie, händigte sie der Wirt dir wieder ein, tief in deine Brusttasche versenken und mit vergnügtem Gesicht noch einmal daran fühlen, ob sie auch sicher genug darin steckt, und jetzt hast du doch dein kostbarstes Gut, das schon manchem Diebe in das Auge geleuchtet hat, dein schönes Kind, mit gekränktem, Trost und Hilfe suchendem Herzen allein und unbehütet zurückgelassen; du weißt es auch, aber doch setztest du deinen Weg ruhig fort mit der silbernen Dose in der einen und der pickenden Uhr mit dem ängstlich vibrierenden Minutenzeiger in der andern Tasche. Geh' du ruhig weiter, guter Obersteiger aus Freiberg, denn deinem Geschick: mein Urgroßvater weiblicher Linie zu werden, kannst du doch nicht entgehen. Glück auf!

Kaum hatte sich der Präzeptor überzeugt, daß die Luft rein war, so lag er auch schon, bald mit dem Ohr, bald mit dem Auge am Schlüsselloch jenes Zimmers. Die schöne, unglückliche Nachbarin befand sich dort allein. Als jetzt der Lauscher den Ausruf zu vernehmen glaubte: »Mein Gott, ist denn für mich keine Hilfe mehr in der Welt?« klopfte er leise an, es folgte ein leichter Ruf der Überraschung und des Schrecks, dann eine kurze Unterhandlung durch das Schlüsselloch, endlich knarrte von drüben ein Riegel, welcher an der Tür zurückgeschoben wurde, diese tat sich auf, und die Nachbarin, von dem Lichte der Lampe, welche sie in der Hand hielt, hell beleuchtet, erschien mit ihrem weichen, tränenfeuchten Gesicht, wie eine hinter dem Gewitter her aufblühende Rose. Die Bekanntschaft, welche beide bereits gemacht, das Wohlgefallen, welches sie aneinander gefunden hatten, und nun jetzt dazu die Lage, in welcher sie sich befanden, alles zusammen ließ plötzlich in ihnen die gegenseitige Liebe aufflammen und mit Tränen und Küssen besiegeln. Doch der Drang der Umstände brachte die beiden Liebenden bald zur Besinnung. Ihr Vater war mit ihr in Amtsgeschäften hierher nach Dresden gekommen, wo einer seiner höheren Vorgesetzten, ein alter, abgelebter Finanzrat, sie kennen gelernt, sich in sie verliebt und um sie angehalten hatte. Ihr Vater, geblendet von Stand und Reichtum, hatte zugesagt, und morgen Vormittag sollte die Verlobung schon stattfinden, da vielleicht der alte Finanzrat nicht viele Zeit zu verlieren haben mochte. In jenen Tagen hatten die Liebhaber trotz dem Zopfe noch den romantischen Mut im Herzen, etwas für ihre Liebe zu wagen; sie waren noch nicht polizeilich mürbe gerieben, um mit Anstand auf die versagte Hand der Geliebten Verzicht zu leisten. Der Präzeptor war auch gar nicht der Mann dazu, einem schönen, wilden Abenteuer auszuweichen. Es wäre ihm die Gelegenheit dazu längst willkommen gewesen, nun stand sie da vor ihm, und er griff mit beiden Händen zu. Er versicherte mich einst bei Gelegenheit, daß er dabei so wenig Gewissensregungen wie ein Junge, welcher in einen Apfel aus Nachbars Garten beißt, empfunden hätte. Ihm schien bei diesen drängenden Umständen nichts natürlicher, als daß sich Friederike, so hieß sie, entführen ließe und zwar ohne Zeitverlust. Sie ließ sich dazu bereden, die Gelegenheit war günstig, der Plan bald entworfen. Der Präzeptor hatte auf seinem Beuteschecken seine Zöglinge hierher begleitet, von welchen sich auch noch ein Teil ihrer Garderobe in seinem Zimmer befand. Aus dieser wählte er einen vollständigen Anzug, mit welchem sich Friederike, nachdem er ihr aus ihren aufgelösten Haaren einen stattlichen, preußischen Zopf geflochten hatte, in einen Junker verwandeln sollte. Während sie sich umkleidete und dann ihre Sachen in den Mantelsack des Präzeptors packte, schrieb dieser einige nötige Worte an die beiden Kadetten und dann auch einige Zeilen zur versuchten Rechtfertigung an seinen künftigen Schwiegervater, worin er um seine Verzeihung und seinen Segen bat. Kaum waren die Briefe gesiegelt und überschrieben, so stand auch schon der neugeschaffene Junker Friedrich vor ihm, der netteste Junge von der Welt trotz dem verkehrt auf dem glatten Köpfchen sitzenden Hut. Nachdem der Präzeptor den niedlichen Pagen mit ungezählten Küssen in seine Dienste genommen hatte, warf er ihm seinen Mantel um die Schulter und hieß ihn zur größeren Sicherheit vorausgehen und vor dem Gasthof warten. Da schleicht das verkleidete Mädchen, welches einst meine Großmutter werden sollte, mit klopfendem Herzen dieselbe steinerne Treppe hinunter, auf welcher noch in späterer Zeit, vielleicht zur Sühnung ihrer Schuld, ihr Enkel als Advokat acht Jahre lang zur Amtsstube wandern sollte Julius Mosen war vor seiner oben (S. 6) erwähnten Berufung nach Oldenburglängere Zeit (von 1834 bis 1844) Rechtsanwalt in Dresden.. Wie tröstlich wäre es, diesen Sinn dem Unsinn meines Schicksals unterlegen zu können!

Der Präzeptor aber ging damals hinunter in die Wirtsstube, berichtigte die Rechnung, machte seine Bestellungen und hieß sein Pferd packen, satteln und vorführen. Obschon er sobald als möglich das Wirtszimmer verlassen und sich, spähend, doch dem Anscheine nach auf sein Pferd wartend, unter das Haustor gestellt hatte, so konnte er doch auf der freilich sehr nachtdunkeln Straße die harrende Friederike nicht entdecken. Das Pferd wurde ihm jetzt herbeigeführt, er schwang sich hinauf und ritt langsam und um sich schauend aus den Neumarkt zu, aber niemand folgte, niemand rief ihn an, Friederike war nicht da. An der Mündung der Gasse hielt er still und stieg ab, indem er sich den Anschein gab, als müßte er den Sattelgurt fester schnallen. Der Sattel wollte und wollte nicht sitzen und Friederike nicht kommen. Welch ein angstvoller Augenblick! Welcher Zufall mochte sie am Stelldichein verhindern? War sie in zu großer Eilfertigkeit auf eine falsche Straße geraten? oder hatte sie den Schritt, den sie tun wollte, plötzlich bereut und war sie zurückgeblieben? oder hatte sie ihn an einer dunkeln Gassenecke erwartet und doch verpaßt? Oder war sie auf der Gasse erkannt und zurückgehalten worden? – Wie viele Möglichkeiten der Verhinderung konnte es geben, und aus jeder konnte, wie aus einer Vexierdose, ein Teufel mit roter Zunge, verdrehten Augen und einem Zettel, worauf »Verloren!« zu lesen, hervorspringen! Alle aber fuhren als Nägel in sein Herz, als wollte das Schicksal daraus das Wahrzeichen auf dem Schild eines Nagelschmiedes machen. Schon war er im Begriff, das Pferd unter irgend einem Vorwand in den Gasthof zurückzuführen, als er seinen Namen flüstern hörte und Friederike auf ihn zueilte. Auf die Frage der Besorgnis um die Ursache der Verzögerung entschuldigte sie sich damit, daß sie ihrem Vater abends immer über den Stuhl vor seinem Bette den Schlafrock und die Nachtmütze darauf legen, die Pantoffeln zwischen die Stuhlbeine und die gestopfte Tabakspfeife zur Hand stellen müßte, das wäre ihr, als sie aus dem Hause gekommen, auf das Herz gefallen und sie deshalb wieder hinaufgegangen und hätte ihre Pflicht getan, das und das viele Weinen und ein Gebet zum Abschiede hätte sie so lange verhalten.

Der Präzeptor bekämpfte in sich die Neigung zu einem zärtlichen Vorhalt und wanderte, um Aufsehen zu vermeiden, mit dem verkleideten Junker Arm in Arm, das Pferd am Zügel hinter sich herführend, zu dem Tore hinaus und endlich durch die Vorstadt hinaus in das Freie. Hier hob er den geliebten Flüchtling zu sich auf das Pferd, welches vor Freude, als wüßte es, daß es zwei liebende Herzen trüge, der frischen Aprilnacht entgegenwieherte und den frischesten Trab einschlug. Als vor ihnen die dunkeln, steilen Granitwände des Plauenschen Grundes aufstiegen, aus welchem, den langen Nebelschleier hinter sich herziehend, die Weiseritz herunterstrudelte und mit jedem Stein in ihrem Wege zankte, rief Friederike ängstlich aus: »Das ist ja der Weg nach Freiberg!« »Auf dem Wege nach deiner Vaterstadt,« entgegnete der Präzeptor, »werden wir wohl schwerlich gesucht, wenn wir verfolgt werden sollten, und ehe der Morgen graut, reiten wir um Freiberg herum und lassen die Stadt hinter uns; reut es dich, daß du bei mir bist und von nun an dein Leben lang?« Friederike drückte ihr tränennasses Gesicht an sein Herz. So ging die Flucht weiter. Sie hatten die ganze Nacht lang keinen andern Reisegefährten als den hellen Mond, welcher sich neckend erst hinter die Berge, dann hinter den Blütenschnee der Kirschbäume versteckte, oder auch hinter ein einsames, dunkles Bauernhaus sich verkroch, gewiß um dort einem andern Liebespaar zuzulauschen oder vielleicht nur den heulenden Kettenhund zu ärgern, bis er plötzlich wieder an die beiden Flüchtlinge auf der Straße dachte und nun lange am Himmel ehrbar einherging in einem durchsichtigen Wolkenhäubchen, mit welchem er sich kokett in jedem Brunnen spiegelte.

Wollte hier einer von den vielen Tausenden meiner liebenswürdigen Landsleute, welche keine andere Wahrheit als die der platten Wirklichkeit gelten lassen wollen, den Verfasser dieser Erinnerungen mit zweifelsüchtigem Gesicht fragen: erstens, woher er wisse, daß an jenem Abend wirklich der Mond geschienen? und zweitens: ob der alte Tändler wirklich alle diese Narrenspossen getrieben habe? so könnte er darauf getrost seinen Großvater als Gewährsmann nennen; er bedarf dessen aber nicht einmal, da er nur die Pflicht anerkennt, diese Geschichten, wie sie sich aus seiner Erinnerung gestaltet haben, mit den Farbentönen, welche sie darin tragen, hier in möglichster Treue wiederzugeben.

Nacht und Mond waren aber noch nicht verschwunden, als die beiden Flüchtlinge bereits Freiberg hinter sich liegen und die große Landstraße auf einem zufälligen Seitenwege, welcher höher in das Gebirge führte, verlassen hatten. Noch war der Morgen nicht angebrochen, als sie auch diesen Weg verloren hatten und sich mitten in dem dunkeln, wüsten Walde befanden. Sie hatten schon längst vom Pferde absteigen müssen, da der Wald immer dichter und die Baumwurzeln auf dem Boden immer knorriger und unsicherer geworden waren. Friederike hatte vor Müdigkeit schon lange kein Wort mehr gesprochen, der Präzeptor beinahe seine Laune verloren, und das Pferd trollte mit hängenden Ohren hinterdrein und fuhr nur zuweilen wie aus einem Traume in die Höhe, wenn es mit dem Hufe anstieß. Plötzlich schrie Friederike laut auf und zitterte an allen Gliedern, denn vor ihnen stand ein feuriger Riesenmann mit lang herabwallenden Haaren, der sich jedoch, wie mancher Held dieser Tage, bei näherer Untersuchung als faules Holz auswies. Doch hatte der kurze Schrecken das Gute, die Irrfahrer aus ihrem dumpfen Hinträumen zu erwecken. Sie hielten still. Friederike klagte über Frost und Müdigkeit, und der Präzeptor fühlte Hunger und Durst. Sie beschlossen daher, hier Rast zu halten und den Anbruch des Morgens abzuwarten. Sie befanden sich jetzt in einem Föhrenwalde, dessen hohe, schlanke Baumstämme auf einem sanften, sachten Bergabhang standen. Der Boden war mit kurzem, trockenem Moos gepolstert und unter dem Überwinde zur Waldruhe einladend. Zum guten Glück hatte der Präzeptor ein Feuerzeug bei sich. In kurzer Frist loderte aus dem dürren Reisige, welches bald gefunden war, die gesellige Flamme und wirbelte der phantastische Rauch mit spielenden, roten Feuerfunken in die dunkeln Baumwipfel empor, die mürrisch einander, wie alte Tabaksraucher, sich die Dampfwolken weiter unter die Nasen bliesen. Friederike war bald wieder glücklich wie ein Kind, zumal der fürsichtige Präzeptor jetzt triumphierend aus den Pistolenhalftern zwei riesige Semmelzeilen mit Schinkenschnitten und eine Flasche Wein hervorzog. Gelagert an das wärmende Feuer, hielten beide im tiefen Walde zusammen ihr erstes Mahl, jung und schön, frei und glücklich, wie die ewigen Götter, und wäre Friederike nicht gar so müde gewesen, und, in den Reitermantel gewickelt, bald eingeschlafen, so hätte der Präzeptor gern den Morgen herbeigeküßt. So jedoch mußte er sich die Zeit dadurch vertreiben, daß er Semmeln mit Wein begoß und sie dem Schecken zwischen die Zähne schob, und daß er dann und wann einen dürren Ast abbrach und in das Feuer warf. Tausend Gedanken, heitere und leichte, aber auch trübe und schwere gingen ihm dabei durch den Sinn; fiel sein Blick auf das im Scheine des Feuers leuchtende Gesicht seiner schönen, so verwegen gewonnenen Braut, welche hier, das Haupt zurückgelehnt an einen Föhrenstamm, auf dem Moose zwischen Anemonen und blühendem Heidelbeerkraut, seiner Ehre vertrauend, sicher und ruhig schlummerte, so schlug ihm sein Herz schneller vor Freude über sein Glück, sich von diesem reizenden Mädchen so ganz geliebt zu wissen und sie sein eigen zu nennen; aber wie die Flamme des Feuers schwächer wurde und der Schatten der Nacht wieder seine Schleier über das Gesicht der Schläferin deckte, wachte ein Heer mißfarbiger Gedanken in ihm auf und flüsterte ihm odembeklemmende Fragen in die Seele: »Leichtsinniger! Meinst du wirklich dem Zorn ihres schwergekränkten Vaters zu entrinnen? Wie, wenn er den Arm der Justiz und ihre Häscher gegen euch aufbietet, werden sie euch nicht finden?« und ein Chor von Kobolden, so kam es ihm vor, schnarrte aus den bewegten Wipfeln des Waldes die Antwort: »Finden und binden!« Das waren die Stimmen der Furcht, welche er, tapfer wie er war, bald zum Schweigen brachte, indem er bei sich ausrief: »Sie bleibt am Ende seine Tochter!« Er hatte sich zu ihr, zwischen sie aber vorher das Gespenst der Sorge gesetzt, welches seine kalte Hand ihm in die Brust steckte und das Herz mit der Frage zusammenpreßte: »Hast du ein Obdach, welches du ihr bieten kannst?« »Ich habe und ich weiß keins!« mußte er kleinlaut antworten, und es fragte ihn wieder: »Womit willst du sie ernähren, der du nun nichts weiter als ein verabschiedeter Präzeptor bist?« Er schnippte darauf zur Antwort mit den Fingern, denn er entsann sich, daß er im Geldbeutel noch das ungeheure Vermögen von ungefähr zwölf Kronentalern hatte und obendrein noch ein Paar silberne Schuhschnallen und sogar noch das Pferd besaß, welches er ohnedies verkaufen mußte, da er für dasselbe weder Stall noch Futter mehr hatte. »Ja! es muß auch fort!« sagte er betrübt zu sich, und dann zum Pferde, welches seinen Kopf hängen ließ: »Ja, du mußt auch fort!« Er wurde bei diesem Gedanken immer trauriger, denn er sah im Geiste schon den Engel die Flammenrute binden, womit dieser ihn mit Eva aus dem Paradiese der Freiheit austreiben würde. »Wohin soll ich aber mich mit ihr zunächst wenden?« Diese Frage stellte er an sich selbst und stemmte dabei nachsinnend die Ellenbogen auf die Kniee und verbarg das Gesicht in die flachen Hände. Indem er so seinen Gedanken Gehör gab, trat das Bild eines Jugendgespielen, welcher, irre ich nicht, Merz hieß und nunmehr Pfarrer im Bergstädtchen Schöneck war, ihm vor die Seele. Sie hatten früher, als dieser noch Student war, manches lustige Abenteuer zusammen in den vogtländischen Landstädtchen bestanden. Merz hatte ihm jeden Freundschaftsdienst aus alle Fälle der Not zugesagt, Merz hatte auch, als er den lustigen Studentenrock aus und den Priesterrock angezogen, sein Benehmen zu dem früheren Genossen nicht geändert, und zu seinem Freunde Merz beschloß er jetzt zunächst seine Zuflucht zu nehmen. Kaum war er so mit sich einig geworden, als er in der Ferne einen Hahn krähen hörte, dem er wieder so lustig antwortete, daß Friederike vom Schlafe ausfuhr und noch halb im Traum ausrief: »Gleich, Vater, gleich!« Lachend fing der Präzeptor die Schlaftrunkene in seinen Armen auf, welche sich jetzt auf sich besann, um, bitterlich weinend, sich wieder in den Mantel zu verhüllen. Vergebens suchte er die Ursache ihres Kummers zu erfragen, – keine Antwort als Tränen, – vergebens machte er sie auf die krähenden Hähne aufmerksam, welche die Nähe menschlicher Wohnungen verrieten, – keine Antwort als Schluchzen und Seufzen, vergebens suchte er sie mit der heiligsten Versicherung seiner Liebe und Treue zu trösten, – keine Antwort als Stöhnen und neue Tränenfluten. Allmählich ermüdete der Präzeptor in seinem Zureden, ein langes Schweigen trat ein, und hätten beide jetzt einander in die Herzen blicken gekonnt, so würden beide sich mitten in der Neue über den getanen Schritt ertappt haben, nur mit einigen wesentlichen Verschiedenheiten in der Art und Weise; der Präzeptor grollte einfach über die geringe Anerkennung, welche das ungeheuere Opfer seiner schönen Freiheit bei Friederike zu finden schien, was er nur aus einem Mangel wahrer Liebe sich zu erklären vermaß, während sie nur dem weiblichen Instinkt folgte und ein Tränenbad nahm, in welchem sie sich von aller Schuld rein wusch und dabei die Einleitung zu einem klugen, spröden Schmollen traf, in welchem allmählich ihr jungfräulicher Stolz sich gegen ihn geltend machte. So waren beide mit einem Ruck in die Liebesquälereien des Brautstandes geraten, welche immer einer glücklichen Ehe vorausgehen; denn die starre Individualität in den Flammen des Schmerzes und Entzückens zu zerschmelzen, um sie in neue Formen zu gießen, ist die Aufgabe der echten Liebe. Man hat sich daher nicht zu wundern, wenn sich Liebende einander mit den wunderbarsten Grillen von der Welt grämen, sie arbeiten nur, freilich unbewußt, in ihrem Berufe. Es würde vielleicht auch den Männern in der Liebe und Ehe den Frauen gegenüber zu leicht gemacht, deshalb sind die Launen der letzteren gewiß zum Gleichgewichte des Daseins nötig. Wie dem auch sein mag, so schauerte damals der Morgen herein über ein junges Paar, welches zu glücklich war, um sich nicht gar sehr unglücklich zu fühlen. Schon brodelte der Hexentanz des Nebels in wunderlichen, phantastischen Gestalten über den Rücken des Berges irr und wirr durcheinander, schon ging der Specht schreiend an seine Arbeit, als sich beide entschlossen, vom Lager aufzubrechen, um einen Weg in die Welt oder wenigstens zu einem Dorfe zu suchen. Es gelang ihnen auch bald, auf einen Pfad und aus dem Walde hinauszukommen, wo ihnen die aufgehende Sonne in das Gesicht lachte und auch aus ihren Herzen Wolken und Nebel vertrieb. Wie aber vor ihnen die erste Lerche im endlosen Wirbel emporstieg, begann auch der Präzeptor ein lustiges Lied zu singen, in welches Friederike erst schüchtern, dann immer lauter mit einfiel. Als aber jetzt bei der Wendung des Weges dicht vor ihnen ein Dorf da lag, jubelten sie so laut durch die Gasse hinein, daß die Kinder zum Teil in Hemden, alle aber barfuß aus den Haustüren stürzten und ihnen hinterdrein liefen, so seltsam kam ihnen diese Erscheinung vor. Freilich mag ihr Aufzug, beide mit Tannenreisern auf den Hüten, singend am frühen Morgen den Waldweg in das Dorf durch die blühenden Bäume auf dem Schecken einherreitend, wie ein schönes, lebendiges Märchen ausgesehen haben.

Auf ihre Anfrage zurechtgewiesen, kamen sie an das Wirtshaus, wo sie einkehrten und sich einige Stunden lang pflegten, so gut es geschehen konnte. Nachdem auch das Pferd Krippe und Tränkeimer geleert hatte, setzten sie ihren Weg, zuweilen geleitet von einem Boten, fort und gelangten ohne weitere Abenteuer Tags darauf in später Nachmittagsstunde aus der Höhe von Schöneck an.

Um Aufsehen im Städtchen zu vermeiden, beschlossen sie hier am Fuße eines Felsens den Abend abzuwarten, indem zugleich der Präzeptor die Zeit benutzte, seiner Braut die nötigsten Mitteilungen zu machen. Nachdem er ihr seine Verhältnisse, welche darin bestanden, daß er eben keine hatte, und seine Aussichten, welche diesen gleich waren, weitläufig mitgeteilt und was an ihrem Gewichte fehlte, mit Liebesschwüren zu ersetzen gesucht, machte freilich Friederike anfangs große Augen, denn er war ihr wie ein junger Kavalier vorgekommen und ihr Glaube, daß wer ein schönes, eigenes Reitpferd halte, dazu auch einen Stall bei dem Hause, mithin dieses selbst haben müsse, war gewiß verzeihlich. Wohl mochte ihr unterwegs durch den Kopf gegangen sein, wie nett und sauber sie als junge Frau ihr Stübchen ganz so, wie sie es in Freiberg hatte, bis auf das blauseidene Spiegelband und die niedlichen Porzellanfigürchen auf dem dachsbeinigen Tischchen bei dem Ofen wieder einrichten wollte, und vielleicht mochte sie daran gedacht haben, ob es ihrem Stande nicht geziemen werde, Sonntags Pantöffelchen von rotem und Werkeltags von grünem Saffian, immer aber weiße Zwickelstrümpfe zu tragen? Und nun jetzt? Da lagen die Trümmer ihrer Träume; lange saß sie da und sah der Abendsonne nach, welche wie eine schwere Rose am Horizonte stand und immer mehr abblühte, bis sie endlich ganz verschwunden war und im Glutenschauer unzählige Purpurwölkchen, wie ihre abgefallenen Blätter, über den Himmel flogen.

Jeder Mensch hat einen Augenblick, wo er den höchsten Punkt des ihm beschiedenen Lebensglücks erreicht und nun wieder bergab wandern muß, wie in tiefe, dunkle Schluchten hinein. Mag ihn auch noch dann und wann ein heiterer Sonnenstrahl treffen, so ist es doch nur vorübergehend und sein Schatten dehnt sich vor ihm aus; mag noch hie und da eine Blume an seinem Wege blühen, so blüht sie doch nicht auf ihm, sondern vielmehr hinter eisernen Staketen, der Wanderer zieht vorüber und gedenkt der Zeit, wo auch seine Lebensblume einmal blühte.

Dieser Augenblick war dem Präzeptor bei jenem Sonnenuntergang beschert, als ihm Friederike mit feuchtem Blick in die Augen sah und treuherzig sagte: »Ich bin dein!« Mit diesen Worten war die romantische Poesie ihres Lebens abgeschlossen, das gemeine, strenge Leben machte von nun an sein Recht über sie geltend.

Es war Nacht geworden, als sie auf dem treuen Pferde, das sie knietief durch den fensteranspritzenden Kot des Städtchens einhertrug, in den Gasthof »Zum roten Ochsen« gelangten ...

Der kluge Ochsenwirt hatte nicht nur ein Unterhaus für das Volk, sondern auch ein Oberhaus für die Honoratioren, zu welchen voran der Pfarrer Merz, dann der Stadtschreiber, der Bürgermeister, der Stadtchirurg, der Königliche Förster und alle ausgezeichneten Personen des Ortes gehörten, die berechtigt waren, Haarbeutel oder Zopf zu tragen, aus langen, irdenen Pfeifen zu rauchen und mit »Sie« angeredet zu werden, während jeder andere ein »Er« war. Wie ist jene goldene Zeit so ganz verschwunden, wo der dicke Visitator von Schöneck die schönsten Buttermädchen von der Straße auf sein Zimmer zur Spezialuntersuchung kommen lassen, dagegen der Stadtschreiber unter irgend einem beliebigen Vorwand die Reichen in Geldbuße nehmen und die Armen in das »Loch« schmeißen, der Pfarrer hoch und niedrig von der Kanzel herab namentlich ausschimpfen, der Förster aber gar jeden, der mit einer Flinte im Felde oder im Walde sich treffen ließ, über den Haufen schießen konnte. Damals war noch Gottesfurcht und Gehorsam unter dem gemeinen Volke, dem man dafür gern seine Trägheit, Dummheit und Völlerei nachsehen mochte; denn die rohe Gewalt übt sich leicht an Tieren und ihresgleichen. Wenigstens hatten die herrschenden Kasten es damals bequem und kaum ist ihren blasierten Nachkommen das romantische Gelüst nach dem Regiment mit dem gemütlichen Stocke zu verdenken. Jene Zeit war für die sogenannte vornehme Welt das polizeilich umhegte Paradies, freilich nur eben so langweilig; doch schon ringelte sich die bunte Schlange der Literatur um den Baum der Erkenntnis und bot ihre Früchte an, doch eben noch nicht in Schöneck, wo man in der Honoratioren-Stube mit Karten um Kupferdreier harmlos Tarock spielte. Wie ehrwürdig da die alten Knaben in ihrem Kursachsentum an ihrem Spieltische saßen, jeder ein Prachtexemplar seiner Gattung! Der Pfarrer Merz, welcher ein klarer Freigeist unter seinen Kollegen war, mochte eben sein Spiel gemacht haben, als er in das Nebenzimmer herausgerufen wurde, wo ihn der Präzeptor erwartete. Friederike hatte sich bereits auf das Stübchen zurückgezogen, welches ihr der Wirt eingeräumt hatte. Sie hatte sich kaum wieder in ihrer Mädchentracht zurecht gefunden, als der Präzeptor an die Tür klopfte und durch das Schlüsselloch anfragte, ob er mit seinem Freunde, dem Pfarrer Merz, Eintritt erhalten könne? Die Türe öffnete sich und dem Pfarrer fiel vor Überraschung die irdene Pfeife aus der Hand, als er Friederike erblickte, indem er ausrief: »Nun begreif' ich alles!« Er reichte ihr freundlich die Hand und sagte: »Mein Freund hat mir alles mitgeteilt, was ich zu wissen brauchte; von heut' an seid ihr bis auf weiteres meine Gäste, kommt nur gleich mit hinüber auf die Pfarre, wo sich das weitere finden wird.«

So geschah es denn, daß die Flüchtlinge noch an diesem Abende unter gastfreundlichem Dache geborgen waren, wo Friederike mit der ihr eigenen Anmut gar bald die junge Frau Pfarrerin für sich so zu gewinnen wußte, daß beide schon am nächsten Morgen mit weißen Schürzen in der Küche am Herde standen.

Unterdessen saßen die beiden Freunde in der Studierstube zwischen bestaubten Kirchenvätern und Schweinsleder bei der Kaffeeschale und Morgenpfeife und hielten Rat. Auf der Flucht durch das Gebirge hatte Friederike dem Präzeptor mitgeteilt, daß der Pfarrer Zöphel in Arnoldsgrün, eine Stunde weit von Schöneck entfernt, ihr naher Anverwandter sei. »Da du die Geistlichkeit zum guten Freunde hast,« meinte lachend Pfarrer Merz bei dieser Eröffnung, »so kann es dir nicht fehlen. Wenn es dir recht ist, so gehen wir noch diesen Vormittag zu meinem Amtsbruder hinüber und suchen ihn zum Fürsprecher bei deinem künftigen Schwiegervater zu gewinnen; vielleicht fällt auch ihm etwas ein, wie euch ein Unterkommen zu verschaffen ist; wie schwer dies vielleicht im Augenblick halten wird, weißt du am besten.«

Doch die Hilfe war näher, als sie beide glaubten. In der Kirche zu Schöneck war das Hammerwerk Zwota eingepfarrt, dessen Besitzer im Städtchen wohnte. Dieses Hammerwerk liegt eine Meile von der Pfarrkirche entfernt, tief im unwegsamen Gebirge. Im harten Winter, welcher dort oft sechs Monate dauert, war nicht nur die Verbindung dorthin, sondern auch das Christentum ganz eingefroren; beide tauten nur erst im Frühjahr ganz wieder auf, wo auch erst die Kinder, welche sich nicht gescheut hatten, den Winter über auf die Welt zu kommen, zur Taufe nach Schöneck zum Pfarrer durch die Bergschlucht herausgebracht wurden.

So schlimm es auch mit dem Christentum dort bestellt war, so hatten doch die Hammerschmiede zuweilen heftige Anfälle davon, welche zwar selten, aber dem Pfarrer Merz immer zur unrechten Zeit kamen. So erinnere ich mich aus meiner Jugend an einen Vorfall, welcher den Pfarrer, war er für seine Herde zuweilen etwas harthörig, einigermaßen entschuldigen kann. Der Pfarrer Merz und mein Großvater waren zu uns zur Kirmeß geladen. Die Gäste saßen in der wilden Herbstnacht, welche mit Schnee und Graupeln an die Fenster warf und im Schornstein wie ein mutwilliges Kind heulte, bei einer Bowle Punsch und Tarockspiel beisammen. Punsch und Spiel machten das Stübchen und das Zusammensein so traulich, daß Merz in lustiger Begeisterung die Zitronenpresse emporhielt und die Gesellschaft aufforderte, bei diesem heiligen Zeichen zu schwören, bis zum Morgen beisammen zu bleiben. Schon hatten alle die Hände zum Schwur erhoben, als das Maß des Frevels voll war und die Rache mit einer Hammerschmiedsfaust an die Haustüre klopfte. Die Gesellschaft verstummte, mein Vater eilte hinaus, öffnete und kam bald mit einem Zwotaer Waldmenschen zurück. Der Bote meldete, daß sein Vetter, ein Hammerschmied, im Sterben liege und nach dem heiligen Abendmahl verlange. Der Pfarrer sah sich daher genötigt, trotz Sturm und Wetter aufzubrechen und der Stalllaterne des Boten zu folgen. Die Nacht war aber so wüst, daß sich beide hinter Schöneck im Gebirge verirrten und unter lebensgefährlichen Abenteuern erst am andern Morgen in Zwota anlangten. Erwägt man, welche Opfer der Pfarrer seiner Amtspflicht gebracht hatte, so kann man leicht ermessen, wie es ihn befremdete, als er an die Hütte des Kranken kam, diesen auf dem Dach sitzen zu sehen, im Begriff den Schaden auszubessern, welchen der Sturm in der vorigen Nacht verursacht hatte. Desto gemütsruhiger war der Hammerschmied, welcher von oben herunter rief: »Gott sei Dank, Ew. Hochehrwürden, daß ich mein Leibschneiden wieder los bin, sein Sie nur so gut und heben Sie mir Ihren Zuspruch noch recht lange aus!« – Was der Pfarrer darauf geantwortet, ist mir nicht bekannt geworden. –

Doch jetzt sollte ein Waldmann aus Zwota dem Pfarrer und meinem Großvater unmittelbar aus der Verlegenheit helfen. Während sie Rat pflegend zusammensaßen, kam ein alter Hammerschmied herein und bat den Pfarrer, ihm sein Söhnchen zu taufen, welches gleich mitgekommen sei.

Auf die Frage des Pfarrers, wo das Kind sei, bat der Schmied um die Erlaubnis, es hereinkommen zu lassen, und öffnete die Türe, in welcher ein junger, sechzehnjähriger Riese erschien mit einem großmächtigen Rehbock über den Schultern, welcher den Pfarrer wegen der so lange versäumten Taufe versöhnen sollte. Der Seelsorger war aber außer sich über dieses nachträgliche Christentum der Hammerschmiede. Als er die Taufe in aller Stille auf der Stube vollbracht und der angehende St. Christoph sich mit seinen Paten verabschiedet hatte, schlug Freund Merz mit der flachen Hand auf den Tisch und rief: »Nun weiß ich einen Posten für dich, Mosen! Du gehst als Hammer-Präzeptor und Heidenbekehrer nach Zwota; dein Gehalt wird gering sein, doch für den Anfang wenigstens annehmbar!«

So mußte denn das junge Paar, nachdem es der Pfarrer Zöphel in Arnoldsgrün mit seinem Vetter, dem Obersteiger in Freiberg, versöhnt und es auch getraut hatte, in die Wildnis hineinpilgern, wo es lange büßen und die Jahre der Verbannung nach den Kindern zählen mußte, welche sich beeilten, die Waldeinsamkeit zu beleben. Da sich aber mit dem Kindersegen weder das Diensteinkommen noch das Wild im Walde vermehrte, welches dem Präzeptor Fleisch in die Pfanne liefern mußte, so verließ er Zwota, als er an die bessere Lehrerstelle in Arnoldsgrün berufen wurde, wo er bis zu seinem späten Lebensende blieb.


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