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Aus Julius Mosens Jugendtagen

Von Erich Liesegang

In den Gedichten Julius Mosens begegnet uns eines mit der Überschrift: »Denkspruch«; eben dieses hat der Dichter späterhin zu seinem Wahlspruch erkoren und es unter sein Bildnis gesetzt, das den ersten Band der noch von ihm besorgten Ausgabe seiner Werke ziert. In aller Heimlichkeit hatten die Freunde und Verehrer des edlen Dulders, den ein schweres, stetig fortschreitendes Leiden seit langen Jahren an Sessel und Bett gefesselt hatte, den Plan betrieben, eine solche Gesamtausgabe zu veranstalten; an die führenden Männer des deutschen Schrifttums hatten sie sich ebenso gewandt wie an die Turn- und Sängervereine, denen der Dichter des Liedes vom »Trompeter an der Katzbach« und des »Andreas Hofer« unvergeßlich war. Alle stimmten freudig zu, und so konnte Julius Mosen, der gar nichts davon ahnte, am Weihnachtsabend 1862 die frohe Botschaft übermittelt werden, daß schon 3000 mal auf die zu erhoffende Ausgabe seiner gesammelten Werke subskribiert worden sei. Dergestalt mehrten sich in den letzten Jahren vor seinem Heimgang (1867) die Beweise der Liebe und die Ehrenbezeugungen seiner deutschen Mitbürger diesseits und jenseits des Ozeans für den von Natur so heiteren Kranken, der dann in den Stunden hochgestimmter Genugtuung der Schmerzen vergaß und voller Ergebung in sein Geschick Gott in Versen von wunderbarem Wohllaut nur noch um einen seligen Tod bat (1866):

Am Johannistag,
Wenn im Blumenduft
Zittert heiß die Luft,
Wenn die Rosen blühen,
Alle Sinne glühen,
Unter Nachtigallenschlag
Ich wohl selig sterben mag!

Unter dem Porträt aber im ersten Bande der Werke, das den Dichter als den schwarzlockigen, freundlichen und siegesbewußten Jüngling darstellt, dessen Erstlingswerke die Nation wie im Sturme erobert und sie zu den höchsten Erwartungen berechtigt hatten, steht in der zierlichen und klaren Handschrift Mosens jener im Eingang erwähnte Wahlspruch:

Der Dichter wurzle tief in seinem Volke
Und steig' empor frisch wie ein Tannenbaum,
Mag dann er brausen mit der Wetterwolke
Und auch sich wiegen in des Lenzes Traum
Denn mit dem Weltgeist eins in jeder Regung
Fühl er des Daseins leiseste Bewegung! –

Julius Mosen ist den Freunden unserer Volksbücher kein Fremder mehr; im dreißigsten Heft haben wir seine beste Novelle »Das Heimweh« abgedruckt und im Vorwort dazu hat E. Ries sein Leben in allgemeinen Umrissen geschildert. Nun wäre ja noch viel über seine Dichtungen zu sagen, die ihrer Tiefe und Bedeutung nach auch heute noch der größten Beachtung würdig sind. Indessen mag hierzu die von uns für die Volksbücher geplante Ausgabe seiner Balladen und Lieder einen willkommenen Anlaß geben; der Zweck der nachstehenden Zeilen ist ein bescheidenerer, sie wollen den Leser in des Dichters Heimat führen und ihm den Untergrund nachweisen, auf dem diese hochragende Edeltanne gewachsen ist. Von dem Vogtlande mit seinen stolzen Erinnerungen an des alten deutschen Reiches Macht und Herrlichkeit, von den wackren fränkischen Männern, die als Kolonisten vom Süden eingewandert waren, um in dem Dreieck zwischen Elbe und Saale tapfer die Grenzwacht gegen die Slavenwelt zu halten, von Mosens Vorfahren und Eltern, von seinem Vaterhaus und seinen Geschwistern soll hier erzählt werden. Einer seiner Brüder hat im späteren Alter mancherlei hierüber aus dem Gedächtnis niedergeschrieben; Vergl. Jul. Mosens Erinnerungen. Fortgeführt, erläutert und herausgegeben von Max Zschommler. Nebst einem Vorwort v. R. Mosen. Plauen 1893.hinzu kommen Briefe des Vaters, der bis zu seinem allzufrühen Tode seinen letzten Groschen mit Julius dem Ältesten, der in Jena studierte, und mit Eduard dem Zweiten, der als Alumnus die Thomasschule zu Leipzig besuchte, willig teilte. Diese schmucklosen Briefe des schlichten Dorfschulmeisters sind ein rührendes Denkmal väterlicher Liebe und verraten im Verkehr mit den Kindern eine Zartheit der Empfindung, die es begreiflich erscheinen läßt, daß gerade unser Juli, wie man ihn nach des Landes Brauch rief, in der Erzählung »Das Heimweh« das hohe Lied der Kindesliebe gesungen hat! Dann hat Mosen selbst, der seit Herbst 1844 an der Hofbühne in Oldenburg als Dramaturg wirkte, nach Abschluß des Novellenkranzes »Bilder im Moose« – dem auch »Das Heimweh« und der in diesem Hefte dargebotene »Ismael« einverleibt wurden – die Beschäftigung mit der Heimat wieder aufgenommen und damit begonnen, »Erinnerungen« niederzuschreiben.

»Dicht vom rieselnden Nebelsaume der Nordseeküste, auf deren Sandfläche jetzt auch meine Hütte steht, und mehr noch von wechselnder Schwermut umhüllt, welche ja mit langjährigem Siechtum unzertrennlich ist ..., sucht weithinaus mein erquickungsdurstiges Auge eine grüne, sonnige Stelle und findet sie auch in der Erinnerung an meine Jugendtage und die erlendurchzogenen Täler meiner Heimat,« so beginnen diese Erinnerungen, die zu vollenden dem Dichter versagt war. Hier und im folgenden ist der Text des vorhin genannten Zschommler'schen Buches zu Grunde gelegt. Wie Mosens Sohn Herr Oberbibliothekar Reinhard Mosen zu Oldenburg im Vorwort dieser Schrift berichtet, verdient der in ihr enthaltene Abdruck den Vorzug vor dem der älteren Ausgaben. »Mit meinen Landsleuten,« so fährt er darauf fort, »habe ich immer die Anhänglichkeit an die heimatliche Erde des Vogtlands gemeinsam gehabt. Wie es Menschen gibt, von welchen man, hat man sie einmal lieb gewonnen, nie wieder lassen kann, so geht es uns auch mit Ortschaften und Gegenden. Es sind gewöhnlich solche, in welchen sich eine bestimmte Gemütsstimmung ausdrückt. Zu diesen gehört das vogtländische Hügelland an der Abdachung des sächsischen Erzgebirges mit seinen Waldeinsamkeiten, in welche gar schmale Wiesentäler oft nur wie grüne Streifen, mit hier und dort weit, gar weit auseinanderliegenden kleinen verirrten Häusern sich hineinverlieren und stundenweit den Blick nach sich ziehen, als müßte dort weit hinten in der Ferne unter den harztropfenden Tannen, dort, wo die Berge terrassenartig in dunkler Bläue emporsteigen, irgend ein Geheimnis verborgen sein, das uns an sich lockt und sich uns enthüllen möchte. Und wie klar und hell eilen aus dem dunklen Grunde die plätschernden Bäche hinunter, immer mit sich sprechend, wie Kinder, welche etwas in einem fremden Hause bestellen sollen und den Auftrag unterwegs sich oft laut vorsagen, um ihn nicht zu vergessen, bis sie ihn wirklich vergessen haben und nun zwecklos weinend am Wege stehen!

Obwohl den meisten Gegenden Vogtlands ein melancholisch träumender Charakter aufgeprägt ist, so wird seine Einförmigkeit doch durch den Wechsel in seinen drei Noten von Schwarzwald, Wiese und Ackerfläche überall gemildert, je nachdem, wie im unteren Vogtland Acker und Wiese, oder wie in den oberen Gegenden Berg und Wald vorherrschend sind, oder je nachdem die Straße den Wanderer quer durch über die Hügel und Täler führt, wobei von selbst jeden Augenblick sich die Szene verwandelt und Auge und Gemüt beschäftigt.«

Hier im Vogtland, nicht weit abseits von der Landstraße, die von Plauen nach Adorf geht, am Rande eines schönen, dichten Waldes, umkränzt von baumgeschmückten Höhen, liegt lang hingestreckt das Dorf Marienei mit seinem Herrenschloß, seinem schimmernden Kirchlein und seinem Schulhaus. In diesem damals alten Gebäude wurde am 8. Juli 1803 Mosen geboren als das erste Kind seiner Eltern, die schon drei Jahre verheiratet waren und den jungen Erdenbürger mit vieler Freude begrüßten.

Eine engbegrenzte und trotzdem in mancher Hinsicht interessante Welt, die den Lesern der Schriften Julius Mosens bald lieb und vertraut wird, tritt uns in dem ehedem vielbesuchten Wallfahrtsort entgegen. Da lernen wir ehrwürdige Pfarrherren und gelehrte Magister, Gutsbesitzer, Förster u. s. f. aus dem Dorf selbst und aus der Nachbarschaft kennen. Invaliden aus den Freiheitskriegen, deren Ereignisse auch diesen stillen Erdenfleck mit in ihren wilden Trubel zogen, und endlich Veteranen aus noch älteren Kriegsläuften überliefern der aufmerksam hinhorchenden Jugend Erzählungen über die Türkenfeldzüge, über den großen Soldatenkaiser und über den sieghaften Preußenkönig, den man in dem altprotestantischen Lande trotz allen durch ihn herbeigeführten Ungemachs ebenso verehrte und bewunderte, wie man von Haß und doch auch wohl Neid erfüllt war gegen das Geschlecht von Emporkömmlingen in der benachbarten Mark Brandenburg, die dem alten Kurstaat mit seiner so viel älteren und feineren Kultur in politischer Hinsicht so ganz den Rang abgelaufen hatte!

In den Wäldern ringsherum schweifen Zigeunerbanden umher, deren wildes Treiben Mosen in der romantischsten seiner Erzählungen (»Die blaue Blume«) auf Grund besonderer persönlicher Knabenerlebnisse farbenprächtig geschildert hat. Am gewaltigsten haust aber als Nimrod in den weiten Forsten des Bereichs Mosens eigener Großvater, die mächtigste und eindruckvollste Gestalt in seinen »Erinnerungen«. Die Entschlossenheit dieses Mannes, der unter der Bezeichnung »der alte Schulmeister« Menschenalter hindurch im Munde der ganzen Umgegend fortlebte, zeigt sich auch bei seiner Brautwerbung. Dieses Ereignis, das den Hauptbestandteil des Bruchstücks der »Erinnerungen« ausmacht, liest sich wie eine in sich abgeschlossene kunstreiche Erzählung. Deswegen haben wir sie aus dem Werke herausgehoben, einige Stellen, die den Zusammenhang unterbrechen, ausgeschaltet, um sie nunmehr unter der Flagge einer eigenen Überschrift den Lesern der Volksbücher zugänglich zu machen. –

Aber auch tüchtige Hausfrauen, liebliche Mädchen und wilde Knaben, die Gespielen des feurigen Juli und seines etwa zwei Jahre jüngeren Bruders Eduard, beleben den Schauplatz seiner frohen Jugendtage. Festlichkeiten mancher Art werden als willkommene Unterbrechung des Einerlei des gewöhnlichen Laufes der Dinge freudig begrüßt. So sind wir Zeugen von Hochzeiten, Kindtaufen, Leichenbegängnissen und Begräbnismahlzeiten. Glänzend aber heben sich von allen anderen Veranstaltungen die beiden Kirmesse ab, von denen die eine am alten Wallfahrtstage im Frühling stattfindet, während die andere im Herbst dem Andenken der Einführung der Reformation geweiht ist. Wie wir in dieser Einleitung möglichst viel festhalten möchten von den lebensfrischen Schilderungen Mosens, so soll auch hier die Beschreibung einer solchen Kirchweih in ihrem Glanzteil mit seinen Worten wiedergegeben werden.

Schon am Tage vorher in den Morgenstunden wird die Kirche von den Schulmädchen mit Kränzen und Guirlanden geschmückt, wobei Juli, als heranwachsender Ältester des Kantors, eine Art von Aufsicht führt. Am Nachmittag begleitet er den Vater, der ein leidenschaftlicher und geschickter Angler ist, zum Bach im langen Wiesengrund hinter dem Bergrücken, um den stattlichen Haufen der gefangenen Forellen in einem großen Fischkrug zum Festmahl am Kirmeßsonntag nach Hause zu tragen.

Der Anbruch des festlichen Tages findet die ganze Kinderschar des Schulmeisters in freudigster Erwartung. Kein Ende will diesmal die Predigt nehmen, als aber doch das Amen von der Kanzel verklungen, zieht die Jugend vor Jubel fast tanzend zur Kirche hinaus. Und schon beginnen die Vorbereitungen für die nachmittägliche Feier auf dem grünen Dorfplatz: »Da wurden Sägeböcke und ausgehobene Türen herbeigeschafft, welche darauf gelegt wurden, um mit Pfefferkuchen befrachtet zu werden; ja! es fehlte auch nicht an Glücksbuden, wo um Kleinigkeiten gewürfelt wurde und wo man im glücklichsten Falle etwas Unnützes gewinnen, auf jeden Fall seinen Kupferdreier los werden konnte. Aber welches Schauspiel entwickelte sich in der großen Bretterbude seitwärts vom Wirtshause am Staketenzaune, welche der Mann mit dem Stelzfuß und dem Haarzopf aufgebaut hatte! Wie verlockend blitzte nicht der hölzerne, buntangestrichene, ungarische Husar auf dem galoppierenden Pferdchen und der französische Grenadier oder das Schäfermädchen mit dem baumwollenen Lämmchen! Doch wer könnte diese Herrlichkeiten alle schildern, war ja alles bunte Farbe, Silber und Gold!

Der Wundermann hatte uns fortwährend zum schaulustigen Publikum; glücklich diejenigen, welche schon ihr Kirmeßgeld in der Tasche hatten und es schon jetzt glänzend verwerten konnten; für mich und meinen Bruder schlug die glückliche Stunde erst Nachmittag, wo mir der Vater eine Trommel und für Eduard eine hölzerne Trompete kaufte, um den Marktlärm vor der Türe möglichst zu steigern, da wir mit unseren Instrumenten nicht in das Zimmer durften.

Unterdessen waren auch aus den benachbarten Ortschaften unsere Kirmeßgäste eingezogen, voran unser Großvater aus Arnoldsgrün, welcher sich Mühe gab, mich einen Marsch auf der Trommel schlagen zu lehren; dann die Großmutter mütterlicher Seite, aus Ölsnitz, welche seit langen Jahren verwitwet war. Den angenehmsten Gespielen brachte uns jedoch der Feldscheer Glaser aus Adorf mit, seine kleine Tochter Natalie, mit welcher ich abends nach dem Klavier tanzen konnte.

Was gab es an diesem Tage zu lärmen und zu schreien, zu hüpfen und zu springen! – Die Eltern gaben uns Freiheit vollauf; die große Schulstube war ausgeräumt; alles sauber gescheuert, die Fenster spiegelblank, die Wände mit Laubgewinden verziert und in der Mitte stand eine Tafel mit dem besten Weißzeug belegt und darauf standen die sich immer erneuernden Kuchenpyramiden, der große Stolz meiner Mutter und das Ergötzen der Gäste; das Werk mochte der Mutter außerordentlich gelungen sein, denn die Großmutter, welche sie sonst nur »meine Lene« hieß, nannte sie heute nicht anders, als »meine Frau Tochter«, ja sogar die Frau Feldscheerin, welche ein armes, adeliges Fräulein gewesen war, ließ sich in ihrer Begeisterung soweit hinreißen, daß sie einmal ausrief: »Deliciös, meine Gnädige!«, was lange zum lustigen Stichwort in unserer Familie gebraucht wurde. Aber noch hatte die Mutter ihr Haupttreffen nicht geliefert; bei guter Zeit hatte sie sich bei der Gesellschaft entschuldigt, um dem Mädchen in der Küche beizustehen; denn bestand auch das Kirmeßmahl aus wenigen Gängen, so mußten doch gerade diese um so sorgfältiger zugerichtet sein.

Kaum neigte sich die Sonne zum Untergange, so wurden die Fensterläden geschlossen, die Lichter angezündet und die Gedecke zurechtgelegt. Welche Mühe kostete es aber, die allerwärts zerstreuten Gäste zusammenzubringen und welche unendliche Reihe von Komplimenten entspann sich, ehe sie ihre Sessel eingenommen hatten, während die Mutter in Todesangst in der Küche auf die Entscheidung harrte!

Nun konnte sie die treffliche Weinsuppe, dann die blauen Forellen mit grüner Petersilie in den Mäulern und endlich das Meisterstück, den sanft gebräunten, fettträufenden Nierenbraten, auf die Tafel bringen lassen und die Gäste der Reihe nach zum Weiteressen nötigen, welche auch ihr Mögliches an diesem Abend zu leisten versuchten. Doch sollte erst beim Nachtisch, wo die Punschbowle kam, der rechte Jubel beginnen; der Großvater und die Großmutter aus Ölsnitz, welche den Vorsitz bei Tafel führten, übernahmen das Mundschenkenamt. Als zum erstenmal die Gläser gefüllt waren, erhob sich der Großvater mit dem Trinkspruch: »Unsre Kirmeßmutter hoch!« Die Dorfmusikanten, welche auf seine Bestellung vor der Türe heimlich erschienen waren, bliesen dazu den Tusch, woran sich der Choral schloß »Nun danket alle Gott«, welchen die ganze Tischgesellschaft andächtig mitsang. Dies war für uns Kinder das Signal, den Tisch zu verlassen und hinüber in das Pfarrhaus zu springen, wohin wir zu einem Kindertanz eingeladen waren.« –

Für wie viele der Erzählungen und sonstigen Dichtungen Mosens sind nicht seine Jugenderlebnisse in diesem abgeschiedenen Winkel die ersten Anregungen geworden! In Bezug auf den »Ismael«, der in dem vorliegenden Hefte der »Wiesbadener Volksbücher« abgedruckt ist, wird dieser Ursprung ausdrücklich bezeugt. Den wertvollsten Besitz des elterlichen Hauses, die Kühe, hatte Juli gar oft auf die Weide zu treiben. Dann lag er, wie der Held unserer Erzählung, mit den Gefährten in der Sonne, Märchen und wunderbare Geschichten wurden ausgetauscht, darunter die wohl an einen wirklichen Vorgang anknüpfende merkwürdige Sage von der Herzenshärtigkeit eines Vaters, der nichtiger Gründe wegen seinen Sohn verstieß und ihn zwang, nach dem Orient zu ziehen. Hinzu kam der mächtige Eindruck der Geschichten des alten Testaments, die in ihrer einfachen Großheit sich der Phantasie des Knaben bemächtigten. Er selbst bekundet, daß er die Daseinsbedingungen jener Hirten und Ackersleute in seiner unmittelbaren Umgebung wiederzufinden und darstellen zu sollen glaubte.

Aber noch einer anderen Gestalt, die Mosens Kinderjahren Glanz und Licht verlieh, sei hier gedacht, des jungen Edelfräuleins auf dem Schloß zu Marienei, das neben dem Pfarrer des Orts und seinem späteren Lehrer, dem Herrn Rektor des Gymnasiums zu Plauen, unseren Juli aus der Taufe gehoben hatte. Dieses holdselige Mädchen, das kaum erwachsen die Patenschaft übernommen hatte, die Blume seines Lebens, wie Mosen, der Vater, sie oftmals nannte, trat einstmals an einem Spätmittag in das niedere Wohnzimmer des Schulhauses und spielte und sang vor dem Patenkinde, das vielleicht fünf Jahre zählen mochte, Goethes Verse:

Ein Veilchen auf der Wiese stand
Gebückt in sich und unbekannt,
Es war ein herziges Veilchen.

Zum erstenmale leuchtete so Goethes Dichtergenius in das Leben des Knaben in dem einsamen Walddorf. Eben Goethe aber war es dann, der ein halbes Menschenalter später das Festgedicht des jungen Jenenser Studenten auf das fünfzigjährige Regierungsjubiläum des Weimarer Herzogs mit dem ersten Preise belohnte.

An jene Verse Goethes aber klingt wiederum das Lied an, das Julius Mosen kurz vor seinem Tode (1866) für das Friederiken-Album bestimmte:

Du blühtest nur ein Weilchen,
Du herzig süßes Veilchen,
         Friederike!

Du Herz- und Augenweide,
»Du Röslein auf der Heide«,
         Friederike.

Du strahltest deinem Goethe
Voran als Morgenröte,
         Friederike.

Von diesem Besuch Wilhelminens von Thoß, so hieß seine Patin, berichtet der Dichter weiter, daß sie ihm in jenem Augenblick zuerst als etwas Besonderes vorgekommen wäre, als ein Strahl der untergehenden Sonne auf die hohe schlanke Gestalt gefallen sei und das helle Gesicht der Musizierenden in rosige Glut getaucht habe: »Sie hatte ein weißes Kleid mit kurzen Ärmeln an und trug eine rote Schleife im dunkelblonden Haar. Ich hing stumm mit starren Blicken an der schönen Erscheinung, als sie aber bei einer Stelle des Liedes ihre blauen Augen aufschlug, fing ich plötzlich an zu weinen. Sie nahm mich auf und herzte mich; aber vergeblich suchte sie mich zu beschwichtigen, ich weinte nur um so heftiger an ihrem Halse. Erst nach langem Zureden, ihr doch zu sagen, warum ich so weine, soll ich geantwortet haben: sie wäre so schön geworden, daß ich mich gefürchtet hätte.«

Sehr viel bittere Tränen flossen nun aber, als Juli als vierzehnjähriger Knabe aus der Zucht und Lehre des Vaters entlassen wurde, um in der funkelnagelneuen, von den Eltern mit Opfern besorgten Ausstattung, eine prächtige, grüne Tuchmütze auf dem Kopfe, das von seinem gestrengen Herrn Paten geleitete Gymnasium zu Plauen zu beziehen. Am Tage zuvor besuchte der Junge zum letzten Male den Unterricht der heimatlichen Dorfschule. Auf des Vaters Geheiß dichtete er im Fluge der Stunde Abschiedsverse an die anwesenden Kameraden. Flammenden Blicks mit wallendem Haar und nackter Brust stand er, als er mit dieser Aufgabe fertig geworden war, da und trug das Gedicht den Mitschülern vor, die weinend an ihn herantraten mit dem Zuruf: »Leb' wohl, Juli!« Noch nach vielen Jahrzehnten wußte, wie Bruder Eduard berichtet, ein alter Bauer und Schulkamerad den Wortlaut des Liedes, mit dem Mosen aus ihrer Mitte schied, auswendig. –

Der fünfjährige Aufenthalt in der Kreisstadt Plauen mag als ein Nachklingen der frohen Kindertage gelten, die also abgeschlossen wurden; wie in Marienei umgab den Knaben eine liebliche Landschaft: nur großartiger und viel reicher an Monumenten historischer Erinnerung. Auch der Kreis der Menschen, mit denen Juli jetzt in Berührung kommt, erweitert sich; in nicht wenigen angesehenen Familien findet der Schüler, um dessen Mittel es gar kläglich aussah, gastliche Aufnahme und mannigfache Unterstützung. Tüchtige Pädagogen fördern ihn und suchen sein gar zu selbständiges Wesen einzuschränken, während mit und ohne Lehrer die gleichgesinnten Jünglinge sich in der Dichtkunst üben. Aus der Zeit des Abschlusses der Gymnasiallaufbahn und des Überganges zur Universität rührt ein Lied, das auch später vor den Augen des strengen Richters Gnade fand und der Sammlung der Werke eingereiht wurde. Es führt die Überschrift »Gott und Vaterland« und ist, wie jener uns schon bekannte »Denkspruch«, ein Glaubensbekenntnis und zugleich ein Beweis, daß der junge Student den Boden gefunden hatte, in dem er sich gründen und wachsen sollte, bis das körperliche Leiden über ihn hereinbrach und ihn und sein Volk um einen guten Teil der Ernte brachte!

In rührenden Worten, noch etwas ungelenk in der Form, erzählt also der Sohn, wie der Vater beim Abschied im heiligen Waldesgrund, wo die Mulde entspringe, ihm warnend eingeschärft habe:

Wer abtrünnig seinem Gotte
Und dem alten Vaterland,
Dem verdorrt das Herz im Leibe,
Aus dem Grab wächst ihm die Hand.

Mit diesem Reisesegen sei er vertrauensselig in die ferne Welt gezogen, wo immer er aber nach diesen beiden Dingen fragt, überall begegnet er Spott und Hohn; gekreuzigt ist der Heiland, tot aber ist das Vaterland. Kriegsleute hallen unverdrossen und drohend am Grabe Wacht, die Jünger hingegen stehen abseits: und zweifelnd und von Zagen erfüllt ist damals wohl auch noch Mosen selbst gewesen.

Aber allzulange hat der Kleinmut, für den es keine Zukunft mehr gibt, über den Jüngling mit dem freien Antlitz, auf welchem die freudigste Gesundheit des Leibes und des Geistes aufleuchtete, jedenfalls keine Macht gehabt. Im Jahre 1831 läßt er seinen »Georg Venlot«, eine Novelle, deren Arabesken sich gar zierlich und kraus um seine eigene Erlebnisse und Gedanken schlingen, herauskommen. Der Held der tiefsinnigen, wahrhaft bedeutenden Erzählung dringt nach rastlosen Fahrten endlich zur Felsenburg am ächzenden Nordpol vor, wo die hohe, alte Frau, die Erdenmutter selbst, ihre Wohnstätte hat. Da erschallt donnernde Musik von ferne und mit einem ungeheuren Waldhorn umgürtet, ein Bärenfell leicht um die Schultern geworfen, tritt der Greisin ungeschlachter Lieblingssohn, der blondlockige Nordmann, die Verkörperung des Nordwindes, in die Behausung. Er setzt sich zu Georg Venlot, erfährt, welchen Volkes Angehöriger er sei, schenkt ihm ein und ruft begeistert: »Das herrliche Kleinod Europas, der Brunnen, aus welchem sich die Zeit verjüngt hat, das Heldenland, das Land der Deutschen, das immer hochherzig und tapfer, immer unglücklich durch innere Zerspaltung, mit Ruhm und Blut bedeckt, nun dort liegt, hingeworfen, wie ein edles, aber zerbrochenes Gefäß, dieses Land eines Volkes, mit dem ich in so manche Schlacht gezogen bin, mit dem ich einst die Welt erstürmt habe, soll von neuem leben!«

Und dann hat Venlot-Mosen dem Nordlandsrecken zu berichten, was denn eigentlich die Leute von der Nordsee bis zum Rheine dazu sagten, daß der Deutschen Herrlichkeit also dahingeschwunden sei. Darauf besinnt sich der Dichter und vor seinem geistigen Auge taucht die Gestalt des Vaters auf, des edlen, hochsinnigen Mannes, der ihm entrissen wurde, noch bevor Goethe selbst dem jugendlichen Dichter-Studenten den Lorbeerkranz aufs Haupt drückte. Nicht aber so wie er die Erde verlassen mußte, auf der Höhe des Lebens, sondern als blinden, ehemals kriegsgewaltigen, ritterlichen Greis, dessen Sterbestunde herannaht und der noch einmal mit seinen beiden heranwachsenden, jugendmutigen Söhnen Zwiesprache pflegen will, so schildert der Dichter den Vater. Den Alten bekümmert des deutschen Reiches Niedergang und er heischt ehrliche Antwort auf die Frage, ob denn gar keine Hoffnung mehr sei auf eine Wendung zum Guten. Zunächst richtet er sich an Eduard, den jüngeren Bruder, von dem er rühmt, daß er sanft ist wie eine Taube und unschuldig wie ein Lamm: ihm wünscht er Gottes vollen Segen. Dann aber neigt er sich Uli zu, wie der Name des Erstgeborenen hier mit kleiner Abänderung lautet; von ihm, dem Feurigen, Tapferen, erwartet er große Dinge: frohe Hoffnung auf des Deutschen Reiches junge Herrlichkeit erfüllt ihn im Gedanken an den jugendlichen Helden und in freudiger Zuversicht wünscht er seinem »viel kecken Herzensknaben« das höchste irdische Glück:

»Gott geb' dir sein größtes Heil –
Auf dem Blachfeld jungen Tod!«

Nicht an dem Sohne des wackeren Schulmeisters von Marienei, sondern erst an dem Enkel, an Mosens eigenem Sohne Erich, hat sich die stolze Prophezeiung aus dem Jahre 1831 vollendet. Als das Jahr 1866 hereinbrach und als in Bismarck der Mann erstanden war, der mit Blut und Eisen das neue Reich zu fügen gedachte, litt es den Jüngling nicht daheim, freiwillig zog er mit den Oldenburger Truppen ins Feld, und der Vater konnte ihn bei der Heimkehr voller Stolz in die Arme nehmen. Erst nach Julius Mosens Tod, als in dem zweiten größeren Einheitskriege der Sohn abermals die Waffen ergriff, ging am 16. August auf dem Schlachtfeld von Mars-la-Tour des Großvaters »Segensspruch« in Erfüllung. –

Wenn es nun auch unserem Dichter nicht vergönnt war, selbst mit starker Hand das Schwert zu führen, so ist er doch stets den Idealen der Jugend treu gewesen, indem er nicht müde wurde, mit dem Rüstzeug des Geistes die großen Tage der nationalen Erhebung vorzubereiten. Reichte die Kraft des Kranken auch nicht mehr für umfänglichere Dichtungen aus, so schallte doch sein Wort laut und vernehmlich bei den großen und sinnvollen Feiern und Erinnerungstagen, und fast immer glückte es ihm, die Gedanken der Besten seines Volkes in eine volkstümliche, gemeinverständliche Form zu fassen. So wurde er des stolzesten Dichtertriumphes seines Lebens teilhaftig, als ihm anläßlich der Schillerfeier des Jahres 1859 der große Wurf gelang, die Nation bis ins Innerste zu erschüttern und sie mit dem Geiste zu erfüllen, aus dem die großen welthistorischen Taten geboren werden. In einer Zeit wie der heutigen, die sich vorübergehend falschen Göttern zugewandt und nunmehr nach langem Abirren reumütig wieder zu Schiller zurückkehrt und sich rüstet, seinen hundertjährigen Todestag würdig zu begehen, werden auch die Verse zum 10. November 1859 neu gewürdigt werden, die Julius Mosen stürmische Huldigungen und die Freundschaft der Tochter Friedrich Schillers eintrugen.

Wie ein Frühlingsahnen ging es damals durch die Herzen aller deutschen Patrioten; deswegen mag Mosens Festgedicht, als eine Erinnerung zugleich an jene Zeit und an unseren Dichter, dem vollen Wortlaut nach hier eine Stelle finden:

Wir begrüßen dich, König der Geister,
Dich, den Schirmherrn deutscher Nation,
Dich, des Gesanges gewaltigen Meister,
Dich, des Volkes geliebtesten Sohn!

Wir begrüßen dich an dem Tage,
Wo das Herz voll Jubel schlägt,
Wo empor im Flügelschlage
Dich ein neu Jahrhundert trägt:

Reiß entzwei die Wetterwolke
Und erscheine deinem Volke.

Wie ein Gott mit Speer und Schild
Steht vor uns dein Flammenbild,
Wie ein Gott in seiner Kraft
Stehst du vor uns riesenhaft.

Ende deines Volkes Irrung,
Der Gemüter Qual und Not,
In den Ängsten der Verwirrung
Laß uns hören dein Gebot.

Laß in einer großen Stunde
Deinen Zauberruf erschallen,
Daß einander wir zum Bunde
In die Bruderarme fallen.

Brich' entzwei des Todes Ketten
Und des Schicksals Tyrannei,
Eil' dein Vaterland zu retten
Und mach' unsre Herzen frei!

Friedrich Schiller, uns voran!
Dioskure, brich die Bahn!

Wir begrüßen dich, König der Geister,
Dich, den Schirmherrn deutscher Nation,
Dich, des Gesanges gewaltigen Meister,
Dich, des Volkes geliebtesten Sohn!

Dioskure, brich die Bahn,
Friedrich Schiller, hoch voran!


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