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III.

Mit Bruckner war ein »Original« dahingegangen, eine in der modernen Welt sonst kaum noch anzutreffende Erscheinung. Von ihm, dem starkknochigen, behäbigen Oberösterreicher, der in stetiger, niemals hastiger Arbeit ein hochbetagter Greis wurde und bis zuletzt ein unschuldiges Kind blieb, allem fremd, was außerhalb seines Arbeitsgebietes lag, werden auch seine glühendsten Bewunderer nicht behaupten wollen, er habe im Ganzen der Kultur gelebt oder sei ein »bedeutender Geist« gewesen. Aber ein Charakter war er (nicht bloß ein sogenannter »Charakterkopf«) und von einer jeden Hochmut entwaffnenden, jeden Spott beschämenden inneren Sicherheit und Wahrhaftigkeit, die mit seiner geringen Weitläufigkeit, seiner unmodernen »Ahnungslosigkeit« im tiefsten Grunde seines Wesens zusammenhing. Er ahnte nichts von moderner Zerrissenheit und nichts von modernem Größenwahn. Wie heiter und liebenswürdig – trotz allem, was wir die Tragik seines Künstlerschicksals nennen mußten – steht er vor uns da, wie vergnügt und zufrieden, wenn sein äußeres Leben sich freundlich anließ, wie arglos und aufrecht, wenn er nur seinen Gott im Herzen trug und sich selbst nicht zu verlieren brauchte, während seine allgemeine Bildung niemals merklich über den Gesichtskreis eines einfachen Lehrers hinausgekommen ist und seine glaubensfrohe Organistenseele von den Kulturproblemen und Gewissensfragen unserer Zeit nicht nur in der Jugend auf dem Lande, sondern auch im Alter in der Großstadt – am Ende des neunzehnten Jahrhunderts! – eben keine Ahnung hatte. Wieviel Weisheit und edle Güte erwuchs auf diesem reinen, jungfräulichen Grunde! Und wie witzig und anmutig vermochte er sich in seiner »Einfalt« auszudrücken, wie menschlich groß war er, wenn die Pharisäer ihm eine Falle stellen wollten und wenn dann beispielsweise die Langmut des Siebzigjährigen für das geistige Oberhaupt seiner schlimmsten Verfolger das köstlich milde, echt Lisztsche Wort fand: »Brahms! Allen Respekt! – Aber meine Sachen sind mir lieber.«

Bruckners Leben ist den letzten Sätzen seiner Symphonien vergleichbar. Es dauerte lang, es war reich an Hemmungen, doch Glaube und Hoffnung führten zum Siege: am Schlusse dieses Lebens ward die böseste Unbill durch glänzende Ehren gesühnt, und um dieselbe Zeit, als der Tondichter seine neunte Symphonie dem »lieben Gott« widmete, sprach ein berühmter Gelehrter, Adolf Exner, anläßlich der Verleihung der Doktorswürde an den greisen Künstler die denkwürdigen Worte: »Ich, der Rector magnificus der Universität Wien, beuge mich vor dem ehemaligen Unterlehrer von Windhag.« Uber alle Gelehrsamkeit, über allen »Fortschritt« triumphierte die Urgewalt menschlicher Empfindung, wie sie in den hehren Gebilden der Tonkunst am unwiderstehlichsten sich kundgibt; über alle Engherzigkeit der bürgerlichen Rangordnung, über alle Vorurteile der Zivilisation triumphierte der starkknochige, behäbige Oberösterreicher, der mit seiner hohen Künstlerschaft eine kulturgeschichtliche Rarität war, ein Überbleibsel aus jenen Tagen, da die Musiker nichts anderes zu wissen und zu können brauchten, als gute Musik zu machen, ein Nachfahre jener seligen Mönche, die unabhängig von Ort und Zeit, mit ihrem Schauen nur nach innen gewandt, an der Orgel oder vor der Leinwand » ad majorem dei gloriam« göttliche Werke schufen.

Der Kunst dieses Mannes mußte naturgemäß ein Zug, der sonst die moderne Musik kennzeichnet, durchaus fehlen: der literarische Zug. Bruckner wäre nicht imstande gewesen, einem Dichter zu seinem Rechte zu verhelfen. Hugo Wolf meinte einmal, die Musik sei ein Vampyr, sie sauge den Dichtern das Herzblut aus. Nun, das hätte von Bruckner keiner zu befürchten gehabt. Aber etwas anderes: erdrücken, erwürgen konnte er die Poesie mit den Umschlingungen seiner sich selbstherrlich ausbreitenden, nur ihren eigenen Gesetzen gehorchenden Kompositionsweise. Seine Lieder und Chöre, an sich meisterlich gearbeitet, geben wohl ungefähr die Grundstimmung des Textes wieder, aber das Wort dient ihnen beinahe nur zur Artikulation der Singstimme. Auch seine großen kirchlichen Kompositionen (Messen, Psalm, Tedeum) wollen nichts anderes sein als die musikalische Abwandlung der religiösen Grundmotive, die in Bruckner selbst wirkend vorhanden waren und darum auch in seiner Musik nach Ausdruck und Betätigung verlangten. Der epische und dramatische Inhalt des Meßtextes kommt bei ihm nicht zu jener plastischen Entfaltung, die uns sonst kein moderner Meister schuldig bleiben möchte. Höchstens findet Bruckner in einzelnen Worten und Begriffen den willkommenen Vorwand, um seiner Inbrunst oder Glaubensseligkeit so recht die Zügel schießen zu lassen und uns durch »Episoden« voll Pracht und Lieblichkeit zu erfreuen, die aber deshalb, weil sie nicht aus einem strengen Plane hervorgehen, der logischen Anordnung und wirksamen Steigerung des Ganzen sogar gefährlich werden können. Bruckner war durch und durch absoluter Musiker und sein ureigenes Gebiet das der Symphonie, wo er, im Sinne Schopenhauers, die Saturnalien feiern konnte.

Betrachten wir seine neun Symphonien Das Streichquintett ist in Geist und Form den Symphonien nah verwandt., so sehen wir ihn beinahe alle musikalischen »Künste« vom Bachschen Kontrapunkt bis zum glühenden Kolorit Wagners mit gleicher Freude und Sicherheit beherrschen und sich für den übermächtigen Inhalt seiner Tonschöpfungen auch eine Form bauen, so riesenhaft-vielgestaltig, daß sie anfangs wie – Formlosigkeit erscheinen mußte. Auf dem Grunde dieser Form ruht noch immer die alte, Beethovensche. Aber wie einst Beethoven das von Haydn und Mozart aufgeführte Gebäude erweiterte und erhöhte, so durfte auch Bruckner den Bau fortsetzen. Der Grundplan ist derselbe geblieben; aber die Maße haben sich gewaltig verändert. Wo früher ein Thema für einen Abschnitt ausreichte, da steht jetzt eine Themengruppe; wo früher ein Abschnitt wiederholt wurde, da wird jetzt das thematische Material in ausgedehnter Weise weiterverarbeitet; statt weniger verbindender Takte schiebt sich jetzt ein freies Spiel überraschender Tonfolgen zwischen zwei zu trennende Abschnitte; oder eine jähe Pause unterbricht den Fluß des Stückes, und Klänge aus entfernten Regionen scheinen uns vom nahen Ziele hinwegzutragen. Was früher Hauptsatz, Seitensatz, Zwischensatz, Durchführung, Reprise, Koda hieß, das mag auch jetzt so heißen und ist tatsächlich vorhanden. Aber alles ist gewachsen: die Massen sind wuchtiger, die Gliederung im einzelnen ist dafür noch feiner und zierlicher, die Mittelstimmen haben an Zahl und Bedeutung zugenommen, und so wird der Unvorbereitete manchmal Mühe haben, sich sogleich zurecht zu finden. Da sind aber auch Themen, so stolz gewölbt und weit gestreckt, daß sie in dem engeren Rahmen der älteren Symphonien gar nicht Platz fänden. Themen, für die es weder bei Beethoven noch bei Wagner ein vollkommenes Beispiel gibt und die eigentlich nur durch eine Synthese von Beethoven und Wagner zu konstruieren sind. Themen, deren »Verarbeitung« nur in der neuen Form denkbar ist, so wie anderseits auch diese Form nur mit solchen Themen einen Sinn hat. Beethoven formt seine Symphoniesätze oft nur aus ganz kurzen, einfachen Themen oder gar nur aus einem knappen Motiv, einem melodischen Aufschrei, einem harmonisierten Atemzuge – man denke an den ersten Satz der fünften Symphonie! – und erst durch die Verlängerung, Erweiterung, Wiederholung und Abwandlung dieser Themen und Motive entstehen die beseligenden Melodien, die den prangenden Tempel eines solchen Symphoniesatzes wie mit einer schimmernden Kuppel krönen. Bruckner macht es eigentlich umgekehrt: seine Themen sind meistens schon fertige, großzügige Melodien – das »Thema« des ersten Satzes der zweiten Symphonie hat vierundzwanzig Takte – und eine »Entwicklung« ist da nur möglich, wenn die Themen gekürzt, verkleinert, zerlegt, in ihre Teile aufgelöst werden. Beethoven verfährt synthetisch, Bruckner analytisch: seine »Durchführungen« sind manchmal wie Kommentare und Randglossen zu den Themen. Daher die Enttäuschung, die der mit Bruckner noch nicht vertraute Hörer empfindet, wenn auf den unendlich spannenden Anfang, der jeden unmittelbar ergreifen muß, eine Reihe von Kombinationen und Komplikationen folgt, die sich beim ersten Male etwas trocken und erklügelt ausnehmen. Sogar ein Liszt hat sich dadurch abschrecken lassen. Bruckner selbst scheint dieser Abschwächung des Eindruckes entgegenwirken und die rechte Steigerung in der »Durchführung« gleichsam erzwingen zu wollen, indem er in der Mitte des Satzes nicht selten ein völlig neues, sonst nicht verwertetes Thema, am liebsten einen Choral bringt. Die sogenannte »Reprise« aber wirkt nach den scheinbaren Ablenkungen und Unterbrechungen des Durchführungsteiles um so natürlicher und ergreifender. Nicht bloß eine schematische Wiederkehr des Anfanges, sondern die endlich errungene Größe und Reinheit des Hauptthemas in seiner ursprünglichen Gestalt berührt uns da wie erlösend, und die majestätische Koda bekräftigt unser Wissen um die innere Notwendigkeit der aus dem Lichten ins Dunkle führenden und dann um so sehnsüchtiger und hoffnungsfroher zum Licht emportauchenden symphonischen Entwicklung. Diese Einheit von Form und Inhalt, diese Gesetzmäßigkeit der Brucknerschen Kompositionsweise tritt namentlich in den ehern gefügten Anfangssätzen seiner Symphonien deutlich in die Erscheinung. Die langsamen Sätze sind formell gewöhnlich leichter zu fassen und wirken hauptsächlich durch die unsägliche Innigkeit und den grandiosen Schwung ihrer Tonsprache, für die nur die berühmtesten Adagios von Beethoven und gewisse pathetische Sätze Wagners zum Vergleiche herangezogen werden können. Wo die überirdische Beredsamkeit des Adagio-Komponisten Bruckner auch noch durch die hinreißende Wirkung eines besonders zwingenden formalen Aufbaues unterstützt wird, wie beispielsweise in der siebenten und achten, da glänzt der Genius dieses Mannes in einem Feuer, das die Augen blendet und die Seele verzehrt. Nach solchen weltentrückenden Offenbarungen sind die Brucknerschen Scherzi auch wieder eine logische und moralische Notwendigkeit, diese irdisch-frohen Scherzi mit den romantisch-träumerischen Trios, in der Form Me so einfach und regelmäßig, beinahe altväterisch, daß wohl nur der einzige Hanslick das Kunststück fertig brachte, einem solchen Scherzo gegenüber »völlig ratlos« zu bleiben. Die letzten Sätze Brucknerscher Symphonien pflegen am ehesten Ratlosigkeit zu erzeugen. Und doch sind auch sie unschwer zu verstehen, wenn man nicht nur mit dem Auge des Ohres, das die gewohnte Architektur vermißt, sondern auch mit dem Ohre des Herzens und mit dem Bewußtsein zuhört, daß in allem Tonspiel eine Idee lebt, ohne daß der Komponist sie bewußt auszudrücken braucht. Diese schmerzlich aufzuckenden oder trotzig sich emporbäumenden, gleichsam ächzenden und keuchenden Themen, denen – anscheinend unvermittelt – ein frommer, choralartiger Gesang wie mahnend, tröstend, verheißend gegenüber gestellt ist, und dieses immer wieder von neuem ansetzende, gleichsam stufenweise sich emporringende Nebeneinander und Miteinander beider Elemente, bis endlich, nach den unerhörtesten Anstrengungen der verschiedenen Themen, in freier und in Fugenform, sich zu behaupten und die Herrschaft zu gewinnen, auf einmal die Pforten des Jenseits sich öffnen wollen und wie unter den Donnern des jüngsten Gerichts der Choral sich ausbreitet oder das Hauptthema des ersten Satzes strahlend den Sieg verkündet, das gibt eine musikalische Darstellung des »per aspera ad astra«, »durch Nacht zum Licht«, wie sie mit gleicher dramatischer Wucht nur in Beethovens Fünfter und Neunter vorkommt.

Die Tonarten dieser Werke Beethovens sind zugleich die Lieblingstonarten Bruckners: seine erste, zweite und achte Symphonie stehen in c-moll, seine dritte und neunte Symphonie und die erste Messe in d-moll. Wer an die Charakteristik der Tonarten glaubt, mag schon aus diesen äußeren Kennzeichen den ernsten, feierlichen und zuweilen grüblerisch-tiefsinnigen Charakter seiner Tonschöpfungen entnehmen.

Doch man hüte sich, einer Brucknerschen Tonschöpfung ein Programm unterzulegen. Es ist immer nur ein Reden in Gleichnissen, wenn man den Eindruck, den man von dieser Musik empfangen hat, hinterher in poetischen Bildern festzuhalten sucht. Das bezaubernd Stimmungsvolle Brucknerscher Gestaltung mag dieses Verfahren rechtfertigen; und der Meister selbst hat gelegentlich einen humoristischen Fingerzeig zur »Erklärung« dieser oder jener Stelle gegeben. Dafür aber, daß er doch nur absoluter Musiker war, gibt es ein untrügliches Kennzeichen: die zahlreichen thematischen »Umkehrungen« in seinen Werken. Man weiß, daß die symbolische Kraft einer Melodie durch die Umkehrung vollständig aufgehoben wird. Nur das Auge des Ohres erkennt noch dasselbe Thema in der Umkehrung wieder; das Herz des Ohres, der Sinn für »Ausdruck« nimmt ein neues Thema, einen veränderten Ausdruck wahr. In seltenen Ausnahmefällen (und namentlich auch in parodistischer Musik) können auch in der Umkehrung poetische Beziehungen zutage treten. Wer sich aber dieses kontrapunktischen Mittels so häufig, ja regelmäßig bedient wie Bruckner, der tut es ganz ersichtlich eben nur als Kontrapunktiker und reiner Symphoniker. Will man die geistige Färbung seines Schaffens, sein Himmelssehnen, sein Naturgefühl, seine Freude an ritterlichem Glanze und an bäurischer Derbheit, sein christlich-deutsches und dabei so naiv-kindliches Empfinden mit einem Worte kennzeichnen, so muß man sagen: er war durch und durch Romantikerund hat mehr als bloß eine »romantische« Symphonie geschrieben. Aber er hat sich mit Gott und Welt, Natur und Menschheit stets rein musikalisch auseinandergesetzt. So durfte er es wagen und konnte es ihm gelingen, sein Lebenswerk mit einer neunten Symphonie ohne Chor zu krönen. Es ist uns beim Anhören dieses Wunderwerkes an manchen Stellen, als ob wir tief, tief in einen Wald schritten, aus dem uns kein Pfad mehr ins Freie führt, oder als ob der Blick in den verdämmernden Hallen eines ungeheuren Domes sich ins Grenzenlose verlieren sollte, und doch werden wir nicht müde oder unruhig, doch befällt uns kein Schwindel, fest und sicher führt uns der Meister und deutet uns sein eigenes Leben: in dem ersten Satze, der von den Taten und Leiden eines künstlerischen Genius erzählt, in dem hier, wie in der achten, an zweiter Stelle stehenden und diesmal ganz ätherisch-duftigen Scherzo, in dem alle holden Geister aus Flur und Flut ihren menschlichen Künder eine letzte Huldigung darbringen, und in dem aus Entsagung und Versöhnung gewobenen Adagio als Schlußsatz, dem ergreifendsten Lebewohl, das je gesungen wurde. Den Chor, der in Beethovens Neunter das letzte Wort spricht, den stimmten für Bruckner die himmlischen Heerscharen selber an, als sie ihn droben empfingen. Bei der Uraufführung in Wien folgte auf den Brucknerschen Schwanengesang – einzig möglich – das Brucknersche Tedeum.

Hätten wir das Neue und Besondere an Bruckners symphonischer Kunst für die Musikwissenschaft zu definieren, so dürften wir das Eine am wenigsten außer acht lassen, daß der Künstler niemals knapp, niemals aphoristisch arbeitete, sondern alle Empfindungen, die ihm zuströmten, alle Gestalten, die vor ihm auftauchten, stets so ausgiebig und umfassend gab, als nur irgend möglich. Er ist – auf den von ihm beherrschten Gebieten – geradezu der Künstler der Erweiterung und Vervielfältigung der musikalischen Formen, im Gegensätze zu seinem Zeitgenossen Hugo Wolf, dem Künstler der Verdichtung und Vereinfachung. Bruckner hatte sich die wundersame Fähigkeit der modernen Musik angeeignet, die einfachste Empfindung ins Unermeßliche zu steigern und einem der musikalischen Darstellung überhaupt würdigen Gegenstände im endlosen Wechsel aller rhythmischen und harmonischen »Möglichkeiten« unendlich viele Seiten abzugewinnen. Diese Art war vorgebildet bei demselben Klassiker, der sich, als Liederkomponist, in Hugo Wolf fortsetzte. Auch Bruckner war ein Erbe und Nachfolger Schuberts. Der einzige Symphoniker, der zwischen Beethoven und Bruckner in Betracht kommt, ist und bleibt ja doch eben Schubert; und jene Symphonien, die da ins Gewicht fallen, überhaupt viele Schubertsche Werke, sind schon ganz erfüllt von jenen »himmlischen Längen«, wie Schumann sagte, von jenem schwelgerischen Entzücken im Austönenlassen der Klänge und Stimmungen, von jener üppigen Mannigfaltigkeit und jenen geheimnisvollen Reizen, von jenen Kühnheiten und Überraschungen, die wir später bei Bruckner finden. Wenn aber Schubert – nicht aus einem Mangel seiner Begabung, sondern nur durch die Mängel seiner Zeit – den Flug doch manchmal senkte und die von ihm selbst gesteckten weiten Grenzen nicht immer gänzlich auszufüllen vermochte, so war Bruckner ihm gegenüber eben durch die moderne Schule und das moderne Rüstzeug im Vorteil, die es erst ermöglichten, Schuberts Absichten völlig zu verwirklichen und so auch künstlerisch durchaus zu rechtfertigen. Schubert selbst hatte übrigens ein köstliches Mittel, um sich und den Hörer frisch zu erhalten: wenn ihm sozusagen der Atem ausging, stimmte er eine Volksweise an, eine Wiener Weise, aus der sich Blut und Leben in den Organismus des Tonstückes ergoß. Beim Namen Schubert, der zusammen mit jenem Beethovens und Lanners genannt wird, denken wir lächelnd an den eben so großen als naiven Tondichter, der das hie und da schon etwas kahle Gerüst der »klassischen Form« so gern mit den bunten Abzeichen heimischer Feste schmückte und als ein echter und gesunder Sohn seines Volkes den Urquell in sich sprudeln fühlte, der den absterbenden Zweigen einer Kunst einzig neue Säfte zuzuführen vermag. Just dieses Mittel hat auch Bruckner angewendet. Auch der oberösterreichische Meister wurzelte im Volke und wußte sich vor dem Übermaß des Pathetisch-Heroischen und vor der Nebelhaftigkeit transzendentaler Stimmungen, so hoch er auch fliegen mochte, dennoch glücklich zu bewahren. Die Lieder und Tänze seiner Heimat hatten es ihm nicht minder angetan, als wie die Polyphonie der Alten und die Chromatik der Modernen, und nicht nur in seinen Scherzi, sondern auch mitten in seinen ernsten Sätzen erklingt oft, mit dem treuherzigsten Humor und einem von Anmut gebändigten Temperament, ein idealisierter Ländler, der uns gar rührend daran erinnert, daß dieser »musikalische Wundermann« vordem ein armseliger Dorfschullehrer war, der am Sonntag vormittags an der Orgel saß und nachmittags zum Tanz aufspielen mußte.

Diese untrennbare Verbindung, diese einheitliche Verschmelzung des Volkstümlichen mit dem Erhabenen wie auch des Schulmeisterlichen mit dem Genialen verleiht den Werken Bruckners ihr eigentümliches Gepräge. Keiner hat fröhlicher singen, lustiger springen können als er; aber keiner auch inbrünstiger gebetet, keiner großartigere Gemälde göttlichen Glanzes und himmlischer Herrlichkeit erschaut; und keiner sich mehr als »Tonsetzer« gefühlt oder größeren Ernst an die musikalische »Arbeit« gewendet. Man spürt oft seine Freude an der Technik, die er sich ausgebildet, merkt manchmal auch die Mühe, die sie ihm bereitete, und wird dann wie auf Flügeln emporgetragen, wenn die große Entrückung und Erleuchtung über ihn kommt und er nun anhebt, die tiefsten Offenbarungen in einer Tonsprache, für die es keine Hemmungen mehr gibt, mit einer nachtwandlerischen Sicherheit des technischen Könnens flammend zu verkünden. Mehr noch als in formalen Ähnlichkeiten und melodischen Zusammenhängen liegt in dieser Überwindung und Aufhebung alles Technischen durch die Ekstase das Beethovensche, das Wagnersche, das Moderne bei Bruckner; und das Brucknersche liegt wieder darin, daß sich seine Ekstase nie an einem Wort oder einer Idee, einem geschriebenen oder auch nur gedachten »Programm« entzündete, sondern stets aus einem dunklen, rätselhaften Drange seines Innern hervorging, der sich ganz unmittelbar in die Helle Klarheit seiner Musik ergoß. Bruckner war als »Tonsetzer« so naiv und »spielfreudig« wie die Meister vor Beethoven; sein Verfahrenist das »konservativste«, das man sich denken kann; aber der Gehalt seiner Werke ist beethovenisch, ist wagnerisch, ist modern. Er drückt nur aus und stellt nie dar; aber was er ausdrückt und wie ers ausdrückt, das sagt uns deutlich, in welcher Zeit der Mann lebte. Ein Tonsetzer also, der ein Tondichter war! Aber einer, der wirklich nur in Tönen dichtete, dem die Gedanken fern standen, der nicht einen Augenblick der philosophischen Schwere oder gar der journalistischen Leichtigkeit nahe kam, in die die moderne darstellende Musik so leicht abirrt; der so die modernen Mittel seiner Kunst aus ihrem literarischen Frondienst erlöste, ihnen zum ersten Male die volle Selbständigkeit gewann, sie für die freie, »spielerische« Musik tauglich machte, der Tonkunst selbst dadurch neue Kräfte zuführte und neue Ziele wies.

Ein »Musikant«, der ein Genie war.



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