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I.

Mit dem Tode Beethovens (1827) war eine große Zeit zum Abschlusse gelangt. Die letzten Möglichkeiten der sogenannten klassischen Formen schienen erschöpft zu sein. Über Beethoven hinaus ließ sich ein Fortschritt in der absoluten Musik, im freien, selbstherrlichen Spiele mit Tönen und Tonverbindungen nach den Stilgrundsätzen, die noch für Beethoven selbst maßgebend waren, nicht mehr denken.

Aber diese Vollendung war doch nur dadurch möglich geworden, daß Beethoven etwas Höheres als die bloße Formschönheit anstrebte, daß seine Musik eben ganz und gar kein Spiel, sondern stets voll Ausdruck sein wollte, daß die heftig nach außen drängenden Gewalten eines unendlich reichen Innern in tönenden Gestalten sich zu befreien suchten. Dieser unbezwingliche Drang, der nicht allein in der schöpferischen Begabung, sondern vornehmlich in den tiefsten Gemütskräften und in einer wundersamen idealistischen Gemütsstimmung seine Wurzel hatte, hieß den Tonsetzer, der also in Wahrheit ein Tondichter war, rastlos an der Erweiterung und Ausgestaltung des musikalischen Organismus arbeiten. Ja, er mußte sich überall dort einen lebendigen Organismus erst erschaffen, wo die überlieferten Formen ihm nur etwas Willkürlich-Konventionelles boten. Indem die schöpferische Begabung ihn in den Stand setzte, diesem Drange auch zu genügen, indem das musikalische Talent dieses Genies seinen Willensregungen gehorchte, wurde er – nicht ohne Schweiß und Mühe – zum erlauchten Spender jener Sonaten, Symphonien, Ouvertüren, Quartette und Konzerte, deren kunstvolles Gebäude bis in den kleinsten Winkel von einer Seele bewohnt, vom Herzschlage einer Persönlichkeit erfüllt ist und von denen Richard Wagner sagte: »hier gibt es keine Zutat, keine Einrahmung der Melodie mehr, sondern alles wird Melodie, jede Stimme der Begleitung, jede rhythmische Note, ja selbst die Pause«. Melodie, das ist nichts anderes als echte Musik, »unmittelbarer Erguß« in Tönen, nicht bloß harmonisch abgestuftes Geräusch, wie es noch in den Symphonien Haydns und den Opern Mozarts neben der Melodie sein – ästhetisch berechtigtes – Dasein führte.

Weil nun aber Beethoven sich durch die Form nicht leiten und nicht hemmen ließ, sondern sie einzig dazu benützte, um seinen Genius zu entfalten, so mußte auch der Augenblick kommen, in welchem die von ihm so meisterlich beherrschte und von ihm selbst so hoch gehaltene, historisch gewordene Form für die Größe seiner musikalischen Gedanken und seiner rein menschlichen Empfindungen nicht mehr ausreichte. Beethovens Meisterschaft war nicht so sehr Beherrschung, als vielmehr Überwindung der Form, Aufbau der Form aus dem Inhalte nach dessen eigenen Gesetzen, und die Bausteine, das Material, womit Beethoven arbeitete, waren Themen, Motive und melodische Eingebungen, die aus den Tiefen kamen, keineswegs aber für die Verarbeitung in einer bestimmten Form vorausberechnet waren. Da konnte und mußte sich also ein Widerspruch zwischen Form und Inhalt ergeben, sobald der Charakter dieser Themen oder der dichterische Grundzug des Tonstückes eigentlich eine andere Form erheischte als diejenige, an welcher Beethoven trotz allem noch festhielt. Denn Beethoven war kein Theoretiker, es fiel ihm nicht ein, die Freiheit der Form zu verkündigen oder nach bestimmten neuen Formen zu suchen, ganz naiv behielt er die alte Struktur auch in seinen letzten Werken noch bei. Nur daß das Gefäß jetzt gleichsam bis zum Rande gefüllt war und jeden Augenblick überzufließen drohte; daß hier eine Durchbildung des Einzelnen, eine gesättigte musikalische Sprache erreicht war, die den Zeitgenossen unerhört schien und dem Künstler zuletzt noch den Vorwurf der Formlosigkeit eintrug; daß hier also von dem Vollender der alten Form gerade auch das Bedingte und »Veraltete« dieser Form beinahe in jedem Takte schonungslos aufgedeckt wurde; daß schon durch das ungeheure Leben, das hier auf einmal die üblichen Zwischensätze und Verbindungsglieder gewonnen hatten, dem Nachdenkenden klar gezeigt wurde, die Tonkunst könne und dürfe sich auch in anderer Richtung weiter entwickeln als nur in der geraden klassischen Linie. Beethoven, den Vollender, zu erreichen und zu übertreffen – daran mußten die jüngeren Komponisten verzweifeln; aber Beethoven, der Neuerer, der Prophet, der unbewußte Revolutionär, gab das Beispiel und den Mut zur Selbständigkeit und zum originalen Schaffen. Er hatte der Melodie die Seele erobert, er hatte die Instrumente reden gelehrt. Dieses Erbe hinterließ er allen, auch jenen, die weder die Lust noch die Fähigkeit hatten, just die klassische Form beizubehalten; und dieses Erbe zu verwalten, wurde zur Pflicht jener, die sich auf Gebieten bewegten, welche Beethoven fern lagen oder überhaupt noch wenig bebaut waren. Was war von der romantischen Oper, vom einfachen Lied mit Klavierbegleitung in Hinkunft zu erwarten, wenn auch hier einmal der Geist und die Kühnheit Beethovens sich zur Geltung brachte! Auch diese Formen konnten dann klassisch werden. Mehr als ein halbes Jahrhundert hatte von Beethoven zu lernen und nimmer auszulernen.

Und mehr als ein halbes Jahrhundert war vergangen. Mit dem Tode Wagners und Liszts (1883 und 1886) war abermals eine große Zeit zum Abschlusse gelangt. Die Musik hatte ein neues Gesicht bekommen. Die seelenvolle Beredsamkeit, die ihr Beethoven geschenkt hatte, war ihr geblieben. Aber formell, stilistisch, technisch war sie nun tatsächlich weit über Beethoven hinausgewachsen. Was für eine Verfeinerung und Vergeistigung des musikalischen Rohstoffes – wenn man so sagen darf – finden wir schon in den letzten Werken Beethovens! Wie war der Klang durch ihn menschlich geworden! Und doch möchten wir manchmal nur von Keimen reden, die erst in den genialsten Werken der beiden großen Meister der Folgezeit zur reichen Blüte gediehen. Durch Liszt und Wagner wurde der Musik eine solche Mannigfaltigkeit, Vielgestaltigkeit und Beweglichkeit des Ausdruckes verliehen, daß ihr nun gar nichts Menschliches mehr fremd blieb. Der furchtbarsten, erschütterndsten Gegensätze hatte sie sich bemächtigt und ebenso der zartesten Übergänge, der Wiedergabe der feinsten, seltensten Empfindungen; an »Differenzierung« und »Charakteristik« leistete sie jetzt das Unglaubliche. Gerade auch die Form, das äußerlich Faßbare, ging dabei ganz im Inhalt auf. So aufgeregt diese Musik war, so sehr sie bis in die unscheinbarsten Floskeln und Melismen hinein eben nur Inhalt, geistig sein wollte, so wenig brauchte sie darum eine fertige Struktur gewaltsam zu sprengen. Einen Zwiespalt zwischen Inhalt und Form gibt es nicht, wo der zum Ausdruck sich formende Inhalt die Gesetze des Ausdrucks allein befolgt und so die Form selber schafft. Nicht das alte Tanzschema, nicht mathematische Formeln waren jetzt die Grundlage der musikalischen Gestaltung, sondern die Ideen und Empfindungen, denen die Töne zu entsprechen hatten, bestimmten zugleich das Maß und die Gliederung der tönenden Erscheinung. Man könnte auch sagen: an Stelle der formalen Logik war die empirische Psychologie getreten; anstatt scholastischer Beispiele wurden Erfahrungen des Lebens hingestellt. So war es möglich, die klassische Symphonie durch die symphonische Dichtung abzulösen und im musikalischen Drama die Musik in unaufhörlichem Fluß zu erhalten, nicht mehr eingeengt durch willkürliche Abschnitte, nicht mehr aufgehalten durch künstliche Schranken, bloß dem natürlichen Verlaufe der Handlung folgend und mit ihr dahinströmend, getragen von innerer Notwendigkeit und äußerer Freiheit. Hatte die Musik demnach alles Künstliche abgestreift, so war sie dadurch nur um so kunstvoller geworden; so zeigte sie jetzt – formal-technisch genommen – eine Fülle von Ausdrucksformen, die der absolute Musiker sich nicht hatte träumen lassen und die doch gerade ihn, den Spielfreudigen, den Mann der Variationen und Kombinationen, des »tönenden Kaleidoskops«, mit Staunen und Entzücken erfüllen mußten. Das Höchste, Vollkommenste, was sich von Musik erdenken ließ, in dem Erhabensten und Unvergleichlichsten, was uns Richard Wagner geschenkt hat, schien es erreicht zu sein. Und wieder konnte die bange Frage aufgeworfen werden: Was soll nun weiter kommen? Wie wird uns ein Komponist nach »Tristan« und »Meistersinger« noch reizen, fesseln und überraschen können?

Auch diesmal aber war die Antwort nicht so schwer. Eine Entwicklung in gerader Linie war freilich ausgeschlossen. Auch Liszt und Wagner waren Vollender; wer ihnen einfach folgen wollte, der mußte in ihre Fußstapfen treten, der mußte wiederholen und nachahmen. Aber sie waren, wie alle Vollender, zugleich in gewissem Sinne beschränkt und einseitig. Liszt war ein unsterblicher Künstler; doch die Persönlichkeit dieses Künstlers, die individuelle Färbung seiner Tonsprache, das Gebiet, in dem seine Gedanken und Empfindungen sich bewegten, die besonderen Ausdrucksformen, die er eben nur für seine Zwecke und zur Mitteilung seiner Persönlichkeit ausbildete und handhabte, waren durchaus subjektiv. Sein Stil war vorbildlich, seine Grundsätze sind allgemein gültig; doch das Gepräge seiner Eigenart ist in beinahe schroffer Weise allen seinen Schöpfungen aufgedrückt, und diese sind stets so unverkennbar Lisztisch, daß sie sich allerdings sklavisch nachahmen oder geschickt kopieren lassen, aber für den Fortschritt, die Weiterentwicklung ist damit nicht einmal scheinbar etwas getan, selbst das blässeste Epigonentum schminkt sich dabei keine Wangenröte an, bewußte Täuschung und naive Selbsttäuschung sind da in gleicher Weise unmöglich. Liszt wird überhaupt nur von dem verstanden, der sich durch ihn zur Selbständigkeit ermutigt fühlt und der es wagt, der eignen Art einen neuen, persönlichen Ausdruck zu geben, wenn auch immerhin nach Lisztschem Vorbilde. Liszt kann nur ganz allgemein, »rein künstlerisch« ein Führer und Lehrer sein. Den Inhalt dessen, was künstlerisch zu gestalten ist, hat er niemand vorweggenommen, die Individualität eines anderen nie beeinflußt. Er wollte dies gar nicht, und er hätte es auch nicht vermocht. Seine Subjektivität bewahrt die Musikgeschichte vor dem Lisztianismus. Wer sich als berufener Lisztschüler zeigen will, der muß bringen, was noch nicht da war. Wagner hinwiederum, der viel mehr noch, als durch Form und Stil, durch den allmenschlichen Inhalt seiner Schöpfungen gewirkt hat, der unsere geheimsten Leiden und Freuden, unser ganzes Sein laut werden ließ und zugleich in großen plastischen Werken vor uns hinstellte, der den Gesamtbereich des musikalischen Ausdrucks von einem Ende bis zum andern durchschritten hat und also auch den Begabtesten und Selbständigsten immer wieder verführen muß, wagnerianische Musik zu machen, Wagner war doch nur Dramatiker und auch da – dem Stile nach – vorwiegend heroisch-pathetisch. Aber gibt es denn nicht auch ein bürgerliches Drama rein menschlichen Inhalts? eine komische Oper? ein volkstümliches Singspiel? Gibt es nicht so viele musikalische Gattungen außerhalb der Bühne? Hat nicht diesen allen die gesteigerte Ausdruckskraft der modernen Musik irgendwie zugute zu kommen? Wird nicht beispielsweise das Lied aus der im Drama gewonnenen Beweglichkeit und Anschmiegsamkeit der Deklamation, der Rhythmik und Harmonik vollsaftige Nahrung ziehen? Und läßt sich nicht auch eine moderne absolute Musik denken, eine Musik, die nicht nur auf die Verbindung mit dem Worte, sondern auch auf jede leitende poetische Idee verzichtet, die bloß musikalische Architektur und Ornamentik geben will, die nun aber um so kühner bauen und um so feiner zeichnen kann, weil ihr eben die modernen Hilfsmittel und sozusagen ein ganz neues Material zur Verfügung stehen? Eine unabsehbare Reihe künstlerischer Aufgaben, von den schwierigsten und verwickeltsten Problemen bis zu den gemütlichsten musikalischen Unterhaltungen, war den jüngeren Komponisten gestellt; Aufgaben, die jene großen »Exklusiven« beiseite lassen mußten, wollten sie ihrer Aufgabe treu bleiben.

Es ist daher kein Wunder und kein außerordentlicher Glücksfall, daß gleich, nachdem Wagner und Liszt die Augen geschlossen hatten, aus der Flut der Epigonen und Mittelmäßigkeiten einige wahre Künstler emportauchten, die ein originelles Gesicht zeigten und auf einzelnen Gebieten der Tonkunst wirklich einen Fortschritt brachten. Weder die noch immer fortlodernde Wagnerbegeisterung noch die langsam, aber stetig um sich greifende Verehrung Liszts konnte das Werden und Wachsen der neuen Künstler beeinträchtigen oder den Widerhall, den sie fanden, abschwächen. Im Gegenteil. Durch die allgemeine Erkenntnis des Modernen in der Kunst, wie es ja auch ihnen selbst aufgegangen war, sahen sie sich nach außen hin gefördert, ohne innerlich Schaden zu nehmen. Freilich, es bedurfte immerhin des Zusammentreffens günstiger Umstände, damit diese Künstler so rasch emportauchen und ihren Weg so sicher gehen konnten. Forschen wir diesen Umständen nach, suchen wir die Bedingungen, von denen die einzelnen Künstlerindividualitäten abhängig waren, so wird es uns auch nicht mehr als seltsame Fügung erscheinen, daß jenes Künstlerpaar, das zuerst in den Vordergrund rückte und dessen Lebenswerk nun auch schon abgeschlossen – und in mancher Richtung vorbildlich – vor uns liegt, just dem Lande Haydns, Mozarts und Schuberts entstammte; jenem Lande, dessen frisches Temperament, frohe Sinnlichkeit und warmes Naturgefühl immer wieder der Abstraktion, der Schulweisheit, der Pedanterie und dem Formalismus den Rang ablaufen. Anton Bruckner und Hugo Wolf sind Österreicher.

Doch diese Österreicher, durch Abstammung und Umgebung mannigfach bedingt, waren zugleich deutsche Künstler. Und jene bittere Tragik, die den deutschen Künstler so gern um sein Erdenlos betrügt, ist auch ihnen nicht erspart geblieben. Was, historisch betrachtet, ein neuer Beweis für den unerschöpflichen Reichtum der deutschen Musik ist und uns mit den freudigsten Hoffnungen auch für die Zukunft erfüllt, das war, biographisch genommen, trotzdem nur die alte Geschichte von dem genial veranlagten, ideal strebenden und redlich arbeitenden Deutschen, den materielle Not und moralische Pein – die Pein der Verkennung, Verleumdung und Verfolgung – zur Entsagung verurteilen und dessen Saat erst reift, wenn es für ihn selbst zu spät ist. Gewiß können wir von Erfolgen, von schönen und tief wirkenden Erfolgen Bruckners und Wolfs berichten; aber die beiden haben ihren Sieg schwer genug errungen, ja sie mußten ihn mit ihrem Herzblut zahlen.

Den endgültigen Sieg brachte erst das Jahr 1903. Am 22. Februar dieses Jahres starb Hugo Wolf, der gefeierte Liederkomponist. Geistig war er allerdings schon vierundeinhalb Jahre früher gestorben, und diesem geistigen Tode hatte er es ja hauptsächlich zu verdanken, daß er erst so recht »unter die Leute kam«, daß die kleine Wolf-Gemeinde, die schon dem Rüstigen und Schaffensfrohen gehuldigt hatte, sich zu einem großen Kreise aufrichtiger Verehrer aus allen »Lagern« erweiterte. Aber nun starb er – wirklich und vollständig –; und erst jetzt, nach seinem körperlichen Tode verstummten die Feinde, und der unzweifelhafte, durch nichts mehr zu hemmende Verlust ließ die Welt erst ganz inne werden, wer dieser Mann eigentlich gewesen war und was er uns fortan sein wird. Fast gleichzeitig ist auch Anton Bruckner, der Symphoniker, erst völlig unser geworden. Es war eine unvergeßliche Weihestunde, als am 10. Februar 1903 seine letzte, unvollendete und dennoch keiner Ergänzung bedürfende Symphonie, die neunte unter ihren Schwestern, in Wien unter der Leitung Ferdinand Löwes zur allersten Aufführung kam. In dieser Uraufführung eines so monumentalen Werkes, das sich zudem in manchem wesentlichen Zuge von den früheren Kundgebungen seines Schöpfers unterscheidet, trat erst der ganze, vollkommene Bruckner vor uns hin, sechsundeinhalb Jahre nach seinem Tode. Jetzt erst wußten wir auch von ihm alles, was er uns zu sagen hatte. Und wieder machten wir einen bedeutsamen Abschnitt in der Musikgeschichte, wieder blickten wir zurück und voraus.

Wolf lebte von 1860 bis 1903 oder eigentlich nur bis 1898; seine letzten Jahre kann man ja nicht Leben nennen. Bruckner von 1824 bis 1896. Das erste Werk, das er veröffentlichte, eine Messe, schuf er 1864, seine letzte »Neuheit«, die neunte Symphonie, kam erst nach seinem Tode (1903) heraus. So umfaßt ein Zeitraum von rund vierzig Jahren und, beiläufig gerechnet, das letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts das Schaffen und Wirken Anton Bruckners und zugleich die meteorhafte Entwicklung und den vorzeitigen Verfall Hugo Wolfs. Ein Zeitraum, der ungefähr in dem Augenblick beginnt, in welchem die durch Liszt und Wagner vertretene moderne Richtung der Tonkunst unwiderruflich festgelegt erscheint: 1865 der »Tristan« in München, 1876 Bayreuth. Wolf und Bruckner hatten gleichsam zu beweisen, daß diese moderne Richtung für alle Gebiete der Tonkunst fruchtbar werden sollte. Sie hatten sofort einige jener Aufgaben zu übernehmen, welche Liszt und Wagner übrig ließen. Als Wagner die Augen schloß, da schickte sich der tolle Jüngling Hugo Wolf soeben zu den ernstesten Taten an, und nach dem Tode Liszts begann jener kurze, überaus fruchtbare Zeitraum, in dem der größte Teil seines Gesamtwerkes entstanden ist. Um dieselbe Zeit aber waren auch die Hauptwerke Bruckners bereits geschaffen. Die »romantische« Symphonie und die fünfte, die man die tragische nennen könnte, fallen ungefähr in die Zeit der ersten Bühnenfestspiele, das Streichquintett und die sechste in die Zeit des »Parsifal«; die siebente fällt mit dem Tode Wagners, die achte mit dem Ende Liszts zusammen. Und merkwürdiger- (oder auch nicht merkwürdiger-) weise finden wir denn auch die meisten Wagnerschen Spuren bei Bruckner in seiner siebenten und gar manches von der Art Liszts in seiner achten. So sehen wir den Geist der Verstorbenen tatsächlich weiterwirken und neue Formen annehmen, und nachdem die historische Bedeutung Wagners und Liszts widerspruchslos anerkannt war, wendete sich der Streit der Meinungen – etwas weniger leidenschaftlich – den beiden Österreichern zu, die zu dem modernen Ton in der Musik außer ihrer persönlichen Eigenart auch noch die Besonderheit ihres Volksstammes mit hinzu brachten und über die Schule von Weimar und Bayreuth hinweg geradezu an eine heimische Überlieferung, an Franz Schubert anknüpften.

Ihre Landsleute brauchen deshalb nicht allzu stolz zu sein. Denn gerade sie waren es, die jenen das Leben am meisten verbitterten und sich ihnen eine Zeitlang feindselig gegenüberstellten. Man überblicke den Lebenslauf beider nur in großen Zügen, und man wird sehen, daß es der deutsche Künstler in Österreich schier am allerschwersten hat. Was Wolf betrifft, so gab es noch Erklärungs- und Entschuldigungsgründe. Persönlich hat er zwar viel schwerer gelitten als Bruckner. Aber die Ursache seiner Leiden war vielfach in ihm selbst zu suchen. Auch hatte er bei seiner großen Jugend, in der er schon so gebieterisch auftrat, von vornherein geringeren Anspruch auf Vertrauen und Achtung. Und die Erneuerung des deutschen Liedes, die Tat seines Lebens, mochte, so lange sie nicht getan war, just nicht als etwas Notwendiges erscheinen. Bruckner hingegen, dem menschlich nur Liebe und Verehrung gebührte und den schon sein reiferes Alter, in dem er sich zum ersten Male in die Öffentlichkeit wagte, vor den bösesten Erfahrungen hätte schützen sollen – Bruckner war künstlerisch eine Notwendigkeit, eine Erfüllung. Daß die absolute Musik, die reine Instrumentalmusik des Erneuerers harrte, das war keine Frage mehr. Daß die neuen Ausdrucksmittel und die wunderbare Technik, die Liszt und Wagner aus der Befruchtung ihrer Musik durch die Poesie gewonnen hatten, auch der Musik im allgemeinen, auch der »gedankenlosen« Musik zugute kommen mußten, daß sie nur dann einen wirklichen musikalischen Fortschritt zu bedeuten hatten, das war jedermann klar. Es ging nicht an, fort und fort »klassische« Symphonien zu schreiben, während zugleich die »moderne« Musik (als »Programm«-Musik und im musikalischen Drama) rings alles in Bann schlug. Oder sollte die Gattung der Symphonie, die einst als die höchste gepriesen wurde, in der Tat dem Untergange geweiht sein, wie Wagner zuweilen andeutete? Das mochten nicht einmal die schroffsten Wagnerianer in dürren Worten zugeben. Da kam nun einer, der diese Zweifel löste. Für ihn hatten sie gar nicht bestanden. Mit der natürlichsten Unbefangenheit erfüllte er seine Aufgabe. Als Musiker konnte er nur die Sprache seiner Zeit sprechen; aber daß nun diese Sprache auch immer etwas Geistvolles, etwas Tiefsinniges ausdrücken müsse, daß die Musik »Ideen« brauche, das vermochte er nicht einzusehen, davor bewahrte ihn seine »geringe Intelligenz« und seine mangelhafte Bildung. Nicht den Geist, sondern die Seele suchte er in der Musik. Und aus seiner eigenen schöpferischen Seele holte er das Tiefste und Unsäglichste, das nach Liszt und Wagner in der modernen Musik erklungen ist und das nur mit den freien melodischen Wendungen, den kühnen harmonischen Biegungen, den zarten rhythmischen Brechungen, den instrumentalen Zauberkünsten und dem Farbenglanze der modernen Musik klar und überzeugend mitzuteilen war, so klar und überzeugend, daß es keiner poetischen Deutung und keiner philosophischen Auslegung bedurfte, als reine und absolute Musik. Diese Brucknerschen Symphonien, sie waren beides: klassisch und modern; sie waren berufen, den Wagnerianer wie den Anhänger des »Musikalisch-Schönen« zu überzeugen. Und mit welcher Bescheidenheit wurden diese Gaben dargebracht! Wie wenig vermaß sich dieser Künstler, ein Klassiker oder ein Bahnbrecher zu sein! Doch siehe, die Welt erkannte weder seine Tat noch verstand sie sein Wesen. Geringschätzung ward dem Menschen, Verfolgung seiner Kunst. Und sein Vaterland ließ ihn schmählich im Stiche.


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