Karl Philipp Moritz
Andreas Hartknopf
Karl Philipp Moritz

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Der hohe Beruf eines Gastwirts

Während diesen Gesprächen waren sie wieder bis an den Gasthof zum Paradiese gekommen. Der Emeritus nahm Abschied und ging nach Hause, er wohnte aber nicht weit um die Ecke an der Kirche zu, in einem alten Schulhause, wo ein kleines Fenster in seiner Kammer auf den Kirchhof zu ging. An diesem Fenster hatte er den Abend vorher die dramatische Übung mit angesehen, und darauf hatte er Hartknopf mit seinem Vetter Knapp kommen sehen und war zu ihnen hinuntergeeilt.

Man wird sich wundern, daß Hartknopf nicht gleich bei seiner Ankunft nach dem Emeritus fragte – aber er war nicht von vielen Fragen, und der Emeritus war ihm in seinem Herzen sicher genug, er mochte nun leben oder tot sein.

Seinen Vetter Knapp aber fragte er jetzt, wie er denn gelebt hätte, und ob er auch den hohen Beruf eines Gastwirts nach all seinen Kräften zu erfüllen gesucht hätte. Knapp meinte, er hätte noch weit mehr tun können, er wollte aber das Versäumte noch so viel wie möglich wieder nachzuholen suchen. Weiter sagte er nichts. –

Da nun des guten Knapps Bescheidenheit ihn so stumm macht, so muß ich wohl das Wort für ihn nehmen, und etwas weniges von seiner Lebensweise beibringen, das ihn dem Leser bemerkenswerter macht, als er ihm bisher vielleicht geschienen hat.

Ich habe schon bemerkt, daß im Gasthof zum Paradiese die Zöllner und Sünder, die Niedrigsten aus dem Volke herbergten – wer zu Roß oder Wagen kam, der kehrte schwerlich im Paradiese ein, wenn nicht die drei Kronen oder der goldene Hirsch schon besetzt waren. Aber der ermüdete Wanderer fand hier eine sichere und wohlfeile Herberge – der Handwerksbursche, der mit seinem Felleisen belastet oft mit leerem Beutel und leerem Magen bloß wandert um zu wandern und den strengen Zunftgesetzen ein Genüge zu tun, die ihn aus seiner süßen Heimat, von seiner verlobten Braut und den Gespielen seiner Jugend auf eine Anzahl Jahre verbannt – damit er einst bei seiner Zurückkunft von der großen Glocke in Erfurt, von dem Münster in Straßburg und dem großen Faß zu Heidelberg zu erzählen wisse. –

Diese und höchstens einmal ein Fuhrmann oder irgendein in Fortunas Ungnade gefallener Erdensohn, dem vielleicht in besseren Tagen selbst der goldene Hirsch oder die drei Kronen eine zu schlechte Herberge gewesen wären, kehrten jetzt hier im Paradiese ein und nahmen willig mit einer Streue vorlieb, die ihnen der Gastwirt Knapp so gut und bequem wie irgendeiner machen ließ und ihnen, wenn der Schläfer nicht zu viele waren, gerne noch ein Kopfkissen dazu gab.

In welchem Lichte aber wird der Gastwirt Knapp erscheinen, wenn ich sage, daß von all denen, die je bei ihm herbergten, keiner war, der nicht besser wieder aus dem Paradiese ging, als er hereingekommen war – da war kein Bettler, kein Zigeuner, den Knapp nicht mit liebevollem Auge sah; keinen, den er als einen wildfremden Menschen nicht seiner Aufmerksamkeit wert geachtet hätte. –

Knapp hätte nicht dürfen ein Gastwirt werden, wenn er nicht gewollt hätte; es standen ihm in seiner Jugend tausend Wege offen. Auch fehlte es ihm nicht an Kopf – er hatte die Lateinschule besucht – der Emeritus, der jetzt Gevatter zu seinem Sohne war, war auch sein Lehrer gewesen, und mit dem hatte er überlegt, was für eine Lebensart er wählen sollte.

Und sein Hang floß über von Mitleid gegen den armen verachteten Wanderer; gegen den herumziehenden Erdensohn, um den sich niemand bekümmert; dem niemand mit Rat und Trost zu Hilfe eilt; gegen den Bettler am Wege, dem der mitleidige Vorübergehende eine Gabe in den Hut wirft, aber ihn seines Zuspruchs nicht würdigt oder nicht Zeit hat sich aufzuhalten, weil seine Geschäfte ihn zu etwas anderem rufen, als der im Elend versunkenen Menschheit wieder aufzuhelfen. –

Mögen andere für die Glücklichen sorgen, sagte Knapp zu sich selber, daß sie noch glücklicher werden, durch schöne Gemälde, schöne Statuen und schöne Gedichte, wenn ich nur etwas dazu beitragen kann, daß die Unglücklichen nach ihrer Art ein wenig glücklicher werden, durch Gesundheit, Zufriedenheit und Arbeit. – Das große Gebäude der menschlichen Glückseligkeit müssen doch auch einige von unten angreifen, wenn es nicht einmal plötzlich zertrümmern soll.

Gesundheit, Arbeit und Zufriedenheit sind doch die große feste Basis, worauf alle die leichteren Zierrate von schönen Gemälden, Statuen und Gedichten ruhen müssen, wenn wir uns ihrer mit gutem Gewissen freuen sollen.

So dachte Knapp oft in einsamen Stunden, und so hatte ihn der Emeritus denken gelehrt. – Nun faßte er bald seinen Entschluß, kaufte sich den Gasthof zum Paradiese, dessen voriger Eigentümer gestorben war und mit dem sich keiner gern befassen wollte, weil er gemeinhin die Bettelherberge genannt wurde, und hier stellte er sich nun freudig auf seinen Posten, fing das große Geschäft seines irdischen Lebens an und wartete den täglichen Zufluß der verworfensten und verachtetsten Menschenklasse mit der Treue und der Gewissenhaftigkeit eines vom Himmel bestellten Wärters der menschlichen Glückseligkeit ab. –

Wo er noch einen Funken nicht ganz erstorbenen Menschengefühls entdeckte, den suchte er wieder anzublasen – und durch Übung brachte er es in dieser Kunst gewiß sehr weit. Ob er gleich noch kein Adept war, wie Hartknopf und der Emeritus, und die andere Hälfte des großen Wortes nicht deutlich hatte buchstabieren können, und obgleich seine Rede ja! ja! nein! nein! war, sobald er nicht mehr Worte nötig fand – das Wort war ihm so heilig, wie es Hartknopf nur immer sein konnte, ob er es gleich nicht als die vierte Person in der Gottheit verehrte. Darum war er so sparsam mit seinen Worten, um sich gleichsam alle Kraft und allen Nachdruck der Rede zu dem Augenblick aufzusparen, wo er in der Seele eines Menschen gleichsam eine neue Schöpfung bewirkte und das Licht von der Finsternis scheiden wollte. –

Wie es bei einem Meisterwerke, wenn es vollkommen sein soll, fast mehr darauf ankommt, daß der Künstler die wenigen Flecken, die etwa noch darin sind, auszutilgen wisse, als daß er immer mehr neue Schönheit hinzufügt, wodurch vielleicht das Ganze mehr verliert, als gewinnt – so scheint derjenige auch den sichersten Weg gewählt zu haben, dessen Bemühung in seinem Leben dahin geht, in dem großen Meisterwerke des größten Künstlers mehr dem entgegen zu arbeiten, wodurch das Ganze entstellt zu werden scheint, als neue künstliche Verzierungen zu demselben hinzuzufügen. – Denn was ist Pracht und Zierrat gegen Reinlichkeit? Heißt doch Mundus nicht umsonst die Welt. –

Wer auf die Weise bloß negativ zu Werke geht, wird freilich nicht den Ruf eines Weltreformators davontragen – aber ihn wird das selige Gefühl beglücken, daß er mit seinen Bestrebungen in den Plan der ewigwirkenden Liebe harmonisch einstimmt. – Er fühlt es, daß jeder Stein des Anstoßes, den er wegräumt, Gewinn für das Ganze ist, und weiß es, daß ein einziger ausgetilgter Fleck aus diesem großen Gemälde es der Vollkommenheit näher bringt als der zierlichste Rahmen, worin es eingefaßt wird.

O ihr Menschenfreunde, die ihr den Willen und Kraft habt, außer euch zu wirken, stellt euch doch wie Knapp und Hartknopf und der Emeritus, und wie der gute Pestalozzi in der Schweiz, unten an, wenn ihr wirken wollt – das sinkende Gebäude braucht Stützen, und nicht Statuen. – Wollt ihr anders wirken, so ist es um den wahren Frieden eurer Seele, um den schönen Takt eures Lebens, wodurch ihr allein in das große Ganze eingreift, es ist um eure echten inneren Werte geschehen! –

Knapp hatte sich in der Welt unten angestellt, und es wird ihn in jener Welt gewiß nicht gereuen. Er hat hier unten im Paradiese manchen Hungrigen umsonst gespeist, manchen Durstigen umsonst getränkt, und manchen Bekümmerten getröstet und aufgerichtet; dafür wird er einst in jenem Paradiese dort oben wieder getröstet werden. –

Durch die tägliche Übung hatte sich Knapp eine solche Fertigkeit in der Beurteilung der Menschen erworben, daß er immer nach wenigen Minuten mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit schließen konnte, ob an einem Menschen noch etwas zu tun sei oder nicht – aber wie ungern gab er dennoch alle Hoffnung zur Besserung auf! Mußte er sie aufgeben, so machte ihn das auf viele Tage traurig und niedergeschlagen; er schob die Schuld immer mehr auf den Arzt als auf die Krankheit. Er verzweifelte nicht daran, selbst für den Seelenschaden, der am unheilbarsten schien, ein Heilmittel zu finden. –

Darauf ging sein Dichten und Trachten sein ganzes Leben lang – denn er fühlte es nur allzuwohl, daß nicht Hunger und Durst, nicht Lahmheit und Blindheit die wahren Übel des Lebens ausmachen; sondern daß ein eingewurzelter Neid, eingewurzelter Eigennutz die eigentlichen Flecken sind, welche diese schöne Schöpfung Gottes entstellten. –

Diese Flecken, wo er nur konnte, auszutilgen, das war ihm mehr wert, als große Schätze zu gewinnen – und unter Tausenden ist es ihm bei zwei Menschen gelungen, wovon der eine taub und der andere ein verarmter holländischer Seelenverkäufer war, der in seinem Alter in Deutschland sein Brot erbetteln mußte und nun auch nach Gellenhausen kam, wo er im Paradiese einkehrte und der Gastwirt Knapp seine Seele vom Verderben rettete.

An diesen beiden Menschen machte aber auch Knapp sein Meisterstück –denn er hielt selbst ihre Krankheit für unheilbar –; den Tauben und Stummen, weil er nicht durch die Sprache auf ihn wirken konnte, und den ehemaligen Seelenverkäufer, weil er schon ein Greis war, und in seinem Alter die schwere Hand des Schicksals, die ihn darnieder drückte, sein hartes Herz nicht hatte erweichen können.

Knapps unaufhörlichen Bemühungen gelang es, den Seelenverkäufer so weit zu bringen, daß er sich nicht freute, da dem Nachbar ein Haus abbrannte; über einen Dachdecker, der den Tag vor seiner Hochzeit vom Dach herunterstürzte und sich den Kopf zerschmetterte, sogar eine mitleidige Träne weinte; und anfing, ein Vergnügen daran zu finden, mit Knapps einäugigem und lahmen Pudel zuweilen sein Brot zu teilen.

Der Taube und Stumme war sehr verhärtet. Ungeachtet nie in sein Ohr die Sprache des Verführers dringen konnte, so hatte doch Neid und Eigennutz so tiefe Wurzeln in ihm geschlagen, daß er der Blume den Sonnenschein, der Herde, die sich unter einem Baum gelagert hatte, den Schatten mißgönnte; alle seine Mienen und Bewegungen waren widerwärtig und liefen auf Zerstörung und Verderben hinaus. –

Es war rührend anzusehen, wie Knapp sich oft stundenlang mit einer eisernen Geduld damit beschäftigen konnte, dem Taubstummen durch die Zeichensprache nur erst einige schwache Begriffe von Sanftmut und Menschenliebe beizubringen, die sein Herz bis jetzt noch gar nicht gekannt hatte.

Dies waren denn die beiden unheilbar Scheinenden, an deren Herzen Knapp gleichsam eine Art von Wunderkur verrichtet hatte. – – Die Art nun, wie er mit ihnen zu Werke gegangen ist, verdiente freilich wohl allgemein bekannt zu werden – allein die Beschreibung davon würde ein eigenes Buch erfordern, und doch vielleicht unvollkommen und unverständlich bleiben; denn wer kann Knapps Mienen, Knapps Auge und jede seiner Bewegungen beschreiben, und den sanften liebevollen Händedruck, womit er seine Reden begleitete? –

Wenn in einer besseren Welt dereinst des Taubstummen Zunge gelöst sein wird, mit welch lautem Jubelgeschrei wird er da noch seinem Erretter danken; und der Seelenverkäufer, dessen Seele durch Knapp vor dem Verderben gerettet wurde, wo wird er Worte hernehmen, um seinen Dank zu stammeln!

Und alle die getrösteten Betrübten, die traurig und niedergeschlagen in dem Gasthaus zum Paradiese einkehrten, und vergnügt und fröhlich wieder von dannen gingen; wenn sie einst antreten und sagen werden: dieser hat unsere Tränen auf Erden abgetrocknet; – mit welchen gekrönten Häuptern würde der Gastwirt Knapp wohl dann tauschen? Wenn die gekrönten Häupter nun dastehen werden, beschämt und niedergeschlagen, und Millionen um sie her, die auf Erden von ihnen mit eisernem Szepter beherrscht und um alle die unschuldigen natürlichen Freuden des Lebens, um die Rechte der Menschheit gebracht wurden; und wie eine in ihren einzelnen Teilen unbedeutende Masse, in ein Ganzes umgeformt, wie etwa Holz und Steine behauen und beschnitten werden, um zusammen ein Gebäude auszumachen wodurch jedes einzelne erst brauchbar wird?

Weh euch dann, die ihr die Menschen ihres einzelnen echten Wertes beraubt, um Lücken mit ihnen auszustopfen; wenn ihr es nötig fandet, Moraste mit ihnen auszudämmen, damit dem stampfenden Roß ein Weg zum Feinde gebahnt sei – die ihr um einer Chimäre, um eines allgemeinen abstrakten Begriffes willen, den ihr Staatskörper nennt, den Menschen nicht mehr um seiner selbst, sondern um dieser Chimäre, um dieses abstrakten Dinges willen wollt existieren lassen!

Also damit es einen Staat gebe, müssen so viele Tausende auf alle Ansprüche Verzicht tun, wozu sie ihre angestammte Menschenwürde berechtigt?

Sie müssen sich von Jugend auf gewöhnen zu denken, daß sie nur um anderer willen, keiner aber um ihretwillen da ist, und daß sie keinen eigenen für sich bestehenden Wert haben. O wenn einst alle diese willkürlich angenommenen Unterschiede verschwunden sind und nun wieder jene allgemeine natürliche Gleichheit herrscht, wodurch ein jeder in seinem wahren Lichte erscheint, nachdem aller Flitterstaat von Titeln und Ordensbändern hinweggenommen ist; wie wird alsdann der Gastwirt Knapp unter vielen Tausenden hervorleuchten!

Wer wird dann wohl zweifeln, daß dieser getreue Knecht über vieles wird gesetzt werden, nachdem er hier über weniges getreu gewesen ist.

Dazu war Knapp ein Pädagoge, wie es nur wenige gibt. Ohne den Emile und Basedows Elementarwerk gelesen zu haben, war er auf gewisse Geheimnisse in der Erziehungskunst gefallen, welche dicke Bände von Erziehungstheorien unnötig machen würden, wenn sie bekannt wären – aber sie lassen sich ebensowenig vollkommen beschreiben als seine Methode, einen eingewurzelten Schaden der Seele zu heilen. Knapps zehnjähriger Sohn aber wird einmal aufstehen und wirken, und alle Philanthropine beschämen, wenn er anfangen wird, das im Großen auszuüben, was sein Vater im Kleinen tat. Knapps Sohn wird einst seines Vaters Andenken durch seine Taten auf die Nachwelt fortpflanzen, wenn es schon längst in Gellenhausen erloschen ist.


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