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Wie ich Andrée traf

Von Otto Sverdrup mündlich berichtet an Tryggve Gran

Die Begegnung, von der Otto Sverdrup, Kapitän der »Fram« von 1893-1896, hier berichtet, muß auf Andrée den tiefsten Eindruck gemacht haben. Brachte Otto Sverdrup dem kühnen Ballonfahrer doch die erste zuverlässige Kunde davon, wie es im Innern der bis dahin gänzlich unbekannten arktischen Eiskalotte wirklich aussieht, welche Witterungsverhältnisse dort vorherrschen und welche Winde man in den verschiedenen Jahreszeiten an den verschiedenen geographischen Positionen vorzugsweise antrifft. Das vorliegende Buch kann auf die Schilderung dieser Begegnung nicht verzichten; es würde sonst eine fühlbare Lücke klaffen. Daher bat ich, auf Veranlassung von Verlag und Herausgeber, den alten Eismeer-Veteranen, seine Begegnung mit Andrée in einem Kapitel dieses Buches zu erzählen.

Die Ungunst des Schicksales wollte es, daß diese Bitte einem schwerkranken Manne vorgetragen wurde: Otto Sverdrup, der wetterharte Eismeer-Kämpe, gestählt in Kampf und Sieg über Eis und Kälte und alle Schrecken der Polarnacht, muß der wachsenden Last der Jahre Tribut zollen und ist nicht mehr, wie früher, gefeit gegen allerlei Krankheit. Auch ihn hat es aufs Krankenlager geworfen. Die Bettlägerigkeit hinderte ihn, ein Manuskript zu verfassen. Sie hemmte jedoch nicht seinen Wunsch, mit dabei zu sein in einem Buche, das eines kühnen Pioniers der Polarforschung Andenken neu beleben und neu zu Ehren bringen solle. Deshalb lud er mich ein, mir mündlich berichten zu lassen, was er als Gesunder schriftlich erzählt haben würde, und ermächtigte mich, meine Wiedererzählung seiner Äußerungen als seinen eigenen Beitrag zu diesem Andrée-Buche zu bezeichnen.

Mein Weg zu ihm ist nicht weit. Norwegens Hauptstadt hat eine Anzahl westlicher Vororte, so wie Berlin seine Vororte längs der Wannseebahn hat – und wo bei Berlin etwa Schlachtensee liegt, so weit »draußen« von Oslo liegen mehrere Villenkolonien, die man zusammenfassend etwa die »Polarfahrer-Kante« nennen kann, denn dort hat sich ziemlich alles angesiedelt, was sich in jüngeren Jahren in Arktis und Antarktis umhergetrieben hat. Dort liegt Nansens fast majestätisch zu nennender Besitz, ein Stück weiter draußen wohnt Otto Sverdrup – und nicht weit davon liegt mein bescheidenes Waldhaus »Tyristua«. Gamle Sverdrup (der »alte« Sverdrup) ist sozusagen mein nächster Nachbar.

Er lag, als ich in sein Zimmer trat. Lag zu Bett. Still und friedlich wie immer. Spätsommersonne füllte das große Schlafzimmer bis in die hinteren Ecken. Schien herein durch das große, breite Fenster, durch das der alte Kämpe und Eismeerfahrer durch lichte Bäume hindurch die blaue See sehen kann, die ihm Lebenselement von Jugend auf gewesen – die blaue See, ohne die wir Nachfahren der Wikinger krank und lebensunlustig sind!

Er wußte ja, weshalb ich kam. So waren wir nach wenigen Worten mitten drin in der Sache.

»Das war im Juli achtzehnhundertsechsundneunzig, daß unsere ›Fram‹ vom Eise frei kam, wo sie ja zwei Polarsommer und zwei Polarwinter hindurch eingefroren und festgehalten gewesen war. Wenn man in diesem langsamen Tempo über das halbe Polarbecken hinweggetrieben worden ist, dann verlangt es einen natürlich wieder nach Menschen, nach Kultur und nach der Heimat. Es hätte also sehr nahegelegen, den Kurs geradeswegs nach Tromsö zu legen, sobald die ›Fram‹ nur wieder ihr Ruder rühren konnte.

Uns aber bewegten andere Gedanken. Wir hatten eigentlich nur den einen Gedanken bei Tag und bei Nacht: Was war aus unserem Führer, unserem tapferen Fridthjof Nansen geworden und aus seinem Begleiter, unserem Freunde Johansen? Hatten sie den Nordpol mit Hunden und Schlitten erreicht? Und hatten sie sich zu Menschen retten können? Über ihr Schicksal Beruhigendes zu hören, war unser stärkstes Verlangen. Von drahtloser Telegraphie war ja damals keine Rede. Also mußten wir zusehen, ein Schiff anzutreffen. Vielleicht wußte man dort etwas von unseren Kameraden.

Nach einigem Kreuzen fanden wir eine Fangschute, einen Seehundsjäger. Wir steuerten ihn an. Es gab eine kleine Enttäuschung: Man wußte dort nichts von Nansen und Johansen. Aber sie berichteten uns von Andrée und dessen bevorstehender Ballonfahrt.

Dies veranlaßte mich, nach der Dansköya zu gehen, wo Andrées Start ja erfolgen sollte. Selbstverständlich trieb mich nicht etwa die Neugier oder das Verlangen, den Ballon zu sehen. Aber ich sagte mir: Es ist erst Wochen her, daß Andrée in Tromsö war – vielleicht wußte er etwas von Nansen. So lief ich also die Bucht an, die man nachher Andrée-Bucht genannt hat. Dort traf ich die ganze Expedition an. Aber leider hatten auch diese Leute nichts von unseren Kameraden gehört. Das war für uns alle wirklich eine herbe Enttäuschung.«

»Und da bekam Andrée nun Einblick in die Wetterbeobachtungen, die die ›Fram‹ im Polarbecken gemacht hatte?«

»Einen Einblick – nun ja. Einen Überblick in großen Zügen. Viel Zeit dazu konnte ich ihm ja nicht lassen, denn uns selber trieb es nach Norwegen zurück, immer in Sorge um Nansens und Johansens Schicksal und immer in der Hoffnung, von ihnen zu hören, wenn wir erst wieder in Norwegen waren. Diese Hoffnung hat ja auch nicht getrogen. Kaum waren wir in Tromsö, so fanden sich ja auch Nansen und Johansen dort ein. Um auf Andrée zurückzukommen: Ja, einen Überblick über Wind und Wetter draußen im Polarmeer habe ich ihm gegeben.«

»Und was sagte Andrée da?«

»Was er sagte? Ja, nicht viel. Viel reden war überhaupt nicht seine Sache. Andrée behielt seine Gedanken wohl lieber für sich. Er war mehr ein Mann der Tat.«

»Nun ist eben jetzt in den Zeitungen behauptet worden, Sie, Kapitän, sollen Andrée beschworen haben, die Ballonfahrt nicht anzutreten!«

Sverdrup sah mich böse an und erwiderte:

»Was die Zeitungen geschrieben haben, davon ist kein Wort wahr! Ich habe nicht zu Andrée gesagt, er solle nicht starten, sondern ich habe ihm erklärt, ich könne mir nicht denken, daß die Ballonfahrt glücklich ausgehen könne. Das ist doch, weiß Gott, etwas ganz anderes!«

»Und zu dieser Erklärung wurden Sie durch Andrées Frage veranlaßt?«

»Selbstverständlich! Er fragte mich, ob ich nach unseren auf der ›Fram‹ gemachten Erfahrungen glaubte, daß ein Überfliegen des Packeises im Freiballon möglich sei, und diese Frage habe ich verneint.«

»Und was sagte Andrée da?«

»So genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls aber hat er herzlich wenig erwidert.«

»Nun glaubte Andrée doch, ein nordwärts gehender Luftstrom würde seinen Ballon über das ganze Polarbecken hinweg bis nach Alaska oder Nord-Sibirien tragen. Wie steht es wohl hiermit?«

»Ja, das mit dem nordwärts gehenden Luftstrom – das hatte sich Andrée in den Kopf gesetzt, weil Nordenskiöld in der Wiide-Bay (auf Spitzbergen) einen solchen nördlich gehenden Luftstrom mehrfach und auf längere Zeit beobachtet hatte. Aber jeder Eismeerfahrer hätte Andrée erzählen können, daß es anhaltenden Südwind auf Spitzbergen und an dessen Küsten nicht gibt. Wenigstens nicht im Sommer. Wie es damit im Winter bestellt ist, das wissen wir noch nicht. Das wäre auch unerheblich gewesen, weil Andrée ja eben im Sommer starten wollte. Und im Sommer gibt es um Spitzbergen herum Hunderte von verschiedenen, um nicht zu sagen: gegensätzlichen Windrichtungen. Die Windrichtung wird nämlich in neunundneunzig von hundert Fällen von der Richtung des Fjordes bestimmt, in dem man sich aufhält. Weiter draußen, über dem freien Eise, bläst der Wind dann ganz anders. Dies hat sich ja auch bestätigt, als Andrée im folgenden Jahre wirklich aufstieg. Der Südwind, mit dem er von Dansköya aufstieg, hat weiter draußen sehr bald mehr aus Westen geblasen.«

»Haben Sie Andrées Start achtzehnhundertsiebenundneunzig miterlebt?«

»Nein, mitangesehen habe ich den Start nicht. Allerdings war ich achtzehnhundertsiebenundneunzig wieder an der Dansköya. Mit einem Touristenschiff, das ich führte. Wir fanden die Andrée-Expedition wieder vor, fast fertig zum Start, und meine Touristen haben damals einige festliche Stunden mit den Teilnehmern verlebt. Doch auf den Start selber konnten wir nicht warten. Unser Schiff hatte ja einen festen Reiseplan, der eingehalten werden mußte, und so mußten wir weiter. Später erfuhren wir dann, daß der Start am Tage nach unserer Abreise erfolgte.«

»Als Andrée nun verschollen blieb, als man annehmen mußte, daß er verunglückt war, und eine Rettungsexpedition auszusenden beschloß, hieß es da nicht, daß Sie, Kapitän, die Suche nach den Verschollenen übernehmen sollten?«

»Ja, doch nahmen die Schweden die Sache selber in die Hand. Sie wissen ja, daß Professor Nathorst achtzehnhundertachtundneunzig auf die Suche ging.«

»Aber Sie kannten Nathorst?«

»Gekannt habe ich ihn und habe ihm auch mit Rat und Tat bei der Beschaffung seiner Polarausrüstung beigestanden.«

»Nun war die Nathorst-Expedition doch auf der Hvitöya. Ist es nicht eigentümlich, daß sie von Andrée nichts sah, trotzdem Andrée mit seinen Gefährten doch dort umgekommen ist?«

»Hierzu ist schwer etwas zu sagen. Gesucht worden ist ja genug nach Andrée. Grade östlich von Spitzbergen, auf Franz-Josephs-Land wie auch zwischen beiden Inselgruppen, denn alle, die das Nördliche Eismeer aus eigener Erfahrung kennen, sind von jeher überzeugt gewesen, daß Andrées Ballon in jene Gegenden verschlagen worden ist. Aber gefunden hat man die ganzen dreiunddreißig Jahre eben nichts von den Schweden.«

»Und was sagen Sie, Kapitän, nun zu der Auffindung der Expedition?«

»Gewißheit über das Schicksal von Verschollenen zu erhalten, ist immer erwünscht. Dann ist wenigstens Schluß mit allen Phantastereien und Gerüchten. Aber die Auffindung der drei tapferen schwedischen Toten hätte die Welt zum Teil mit etwas mehr Würde aufnehmen sollen. Solche Dinge sind zu ernst, um Sensationen aus ihnen zu machen.«

(Deutsch von Dr. A. Mohr.)


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