Octave Mirbeau
Der Herr Pfarrer und andere Geschichten
Octave Mirbeau

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Der Interviewer

Der Interviewer, fünfundzwanzig Jahre alt, etwas bleiches Gesicht, blonder Schnurrbart, eleganter Überzieher mit einer weißen Nelke im Knopfloch. Mischung von Geck und Ladenschwengel.

Der Interviewte, Gastwirt, dick und klein, fünfundvierzig Jahre alt.

*

Der Interviewer. Sind Sie Herr Chapuzot, bitte?

Der Interviewte. Ja, der bin ich, Herr.

Der Interviewer. Gut . . . (Betrachtet ihn mit prüfenden Blicken.) Ja, ja . . . das stimmt schon! . . . (Macht Notizen.)

Der Interviewte. Mit wem habe ich die Ehre zu . . .

Der Interviewer. Ich bin erster Interviewer der »Volksstimme«.

Der Interviewte. Erster In . . . was?

Der Interviewer . . . terviewer der »Volksstimme«! . . . Kennen Sie die »Volksstimme« nicht? (Achselzuckend.) . . . Aber Sie entschuldigen, ich habe Eile . . . Haben Sie die Freundlichkeit auf die Fragen zu antworten, die ich an Sie richten werde . . . Erst bringen Sie mir aber ein Glas Bier!

Der Interviewte. Bitte . . . hier! (Bringt ein Glas Bier.)

Der Interviewer (setzt sich an den Tisch und legt seinen Notizblock vor sich hin). Sie sind Gastwirt?

Der Interviewte (die Gäste und Kellner als Zeugen anrufend). Ja, freilich!

Der Interviewer. Ein ekelhaftes Geschäft das . . . Aber, das ist Ihre Sache . . . Sie leben in schlechtem Einvernehmen mit Ihrer Frau?

Der Interviewte (verblüfft). Mit meiner Frau? . . . Ich bin gar nicht verheiratet.

Der Interviewer. So, so . . . Also, Sie vertragen sich schlecht mit Ihrer Geliebten?

Der Interviewte. Aber, ich habe auch keine Geliebte.

Der Interviewer. Keine Frau . . . Keine Geliebte . . . und das wollen Sie mir weismachen, Herr? . . . Das kenne ich . . . ich kenne das alles! . . . Es ist vergeblich, mir gegenüber den Gescheiten spielen zu wollen . . . Also, betrügt Sie Ihre Frau? . . . Oder betrügen Sie Ihre Frau? . . . (Lachend.) Wer wird hier betrogen?

Der Interviewte. Aber, entschuldigen Sie . . . Ich habe schon gesagt, daß . . .

Der Interviewer. Ach ja! Sie wollen gar zu pfiffig sein. Das wird Ihnen bei der Presse nicht gelingen. Ich fordere Sie auf, nicht länger mit der Presse zu scherzen . . . Ich bin die Presse, Herr! Die Presse ist die erste Weltmacht . . . Sie klagt an, richtet und verurteilt . . . Noch ein Glas Bier!

Der Interviewte. Bitte, hier! (Bringt noch ein Glas Bier.)

Der Interviewer. Herr, die Presse allein ist für sich Gerechtigkeit und Weltgewissen. Sie ist alles! Antworten Sie. Warum haben Sie Ihrer Frau eine Sodawasserflasche an den Kopf geworfen?

Der Interviewte. Aber, mein Gott, mein Gott! Ich sagte Ihnen doch schon . . .

Der Interviewer (ohne die Beteuerungen Chapuzots anzuhören). Welchen Grund hatten Sie für diese rohe Handlungsweise? . . . War es eine gemeine Rache? Ein plötzlicher unüberlegter Zornesausbruch? Stehen wir vor einer Tat der Leidenschaft oder des Atavismus? Haben Sie viele Mörder in Ihrer Familie? Warum reden Sie nicht?

Der Interviewte (kratzt sich verlegen den Kopf). Aber, Herrgott, ich . . .

Der Interviewer. Weiter . . . War eine besondere Absicht in der Wahl der Sodawasserflasche? . . . Warum eine Syphonflasche . . . und warum nicht eine Gießhübler- oder Krondorferflasche? Nun, wenn ich Sie all das frage – hören Sie mich wohl an, Chapuzot, so geschieht das, um durch die genaue Anführung aller Einzelheiten Ihres Verbrechens, durch die präzise Untersuchung der besonderen Momente intimer, ehelicher und sozialer Natur die Hauptgründe zu finden, auf die ich die Psychologie Ihres Verbrechens aufbauen kann.

Der Interviewte. Aber, Himmel, Herrgott . . .

Der Interviewer. Sind Sie jähzornig, sind Sie leidenschaftlich, sind Sie degeneriert, neurasthenisch, dekadent? Verstehen Sie etwas Chirurgie?

Der Interviewte (mehr und mehr erschrocken). Aber, du lieber Himmel, ich bin Gastwirt . . . ich bin unverheiratet . . . und weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen!

Der Interviewer (streng). Sie beharren also dabei, alles zu leugnen. Sie wollen sich offenbar über die Presse lustig machen! Schon gut! Ich werde Sie eines Bessern belehren. (Zieht die »Kleine Zeitung« aus der Tasche seines Überziehers.) Noch ein Glas Bier!

Der Interviewte. Bitte, hier. (Bringt ein drittes Glas Bier.)

Der Interviewer. Sehen Sie her – ich lese aus der »Kleinen Zeitung«. (Liest.) »Infolge eines Streites, dessen Ursache unbekannt blieb, hat ein gewisser Chapuzot, Gastwirt in Montrouge . . .«

Der Interviewte (lebhaft). Aber, Herr, ich bin ja nicht in Montrouge, ich bin ja in Montmartre!

Der Interviewer. Heißen Sie Chapuzot – ja oder nein?

Der Interviewte. Ja.

Der Interviewer. Sind Sie Gastwirt?

Der Interviewte. Ja.

Der Interviewer. Also . . . ob von Montrouge oder Montmartre, was hat das zu sagen? Das ist ganz ohne Belang!

Der Interviewte. Aber, das bin ja nicht ich.

Der Interviewer. Sie weigern sich also meine Fragen zu beantworten? Schon gut! . . . Wir werden ja sehen, was Ihnen das einbringen wird, sich über die Presse zu moquieren, über die bedeutende Stimme der Presse lustig zu machen. Ich werde Sie zugrunde richten. Ich werde Sie entehren. Ich werde sagen, daß Sie ein Verhältnis mit Ihrer Tochter haben, daß diese eine Kindesmörderin ist, daß . . . daß . . . daß . . .

Der Interviewte (zu Tode erschrocken, weiß nicht mehr, was er sagen soll). Aber, in drei Teufels Namen . . . das ist denn doch zu stark . . . Wenn ich schon sage . . .

Der Interviewer. Wo ist Ihre Frau? Kann ich Ihre Frau sprechen?

Der Interviewte. Aber, bitte schön! . . . Nachdem ich doch keine Frau habe . . .

Der Interviewer. Sie haben keine Frau . . . und werfen ihr Sodawasserflaschen an den Kopf? Trachten Sie doch wenigstens logisch zu bleiben, wenn Sie schon durchaus leugnen wollen . . .

Der Interviewte (verzweifelt). Aber . . . Himmeldonnerwetter!

Der Interviewer (gebieterisch). Vorwärts! . . . Bringen Sie mir Ihre Frau . . . ich muß sie sehen, sie fragen . . . ich muß ihre Psyche studieren, ich muß die Ursache ihres Atavismus erforschen. Wie sieht sie aus, Ihre Frau? Ist sie von schöner Gestalt? Üppig? Ist sie blond? . . . (Schweigen.) . . . hat sie geheime Leidenschaften? Ist sie lasterhaft? Pervers? Wie oft hat sie schon abortiert? . . . Es ist klar, Sie weigern sich, mir in meinen Erhebungen behilflich zu sein . . . Schon gut! (Macht Notizen.) Noch eine Frage! . . . Wie denken Sie über die Humbertaffaire? Welches ist Ihre persönliche Ansicht über die Korruption? Welcher Ursache schreiben Sie die zunehmende Entvölkerung Frankreichs zu? Wie denken Sie über Staat und Sozialismus? Sind Sie mit dem Vorschlag des Professors Alglave einverstanden, der Staat soll die Gastwirtschaften in eigener Regie führen? Sind Sie ein Gegner der industriellen Kartelle? Halten Sie die Staatsmonopole für schädlich? Sind Sie mit der neuesten Richtung unserer Literatur eines Sinnes? . . . Schon gut! Sie haben sich in den Kopf gesetzt, jede Antwort zu verweigern. Das ist eine mutwillige Herausforderung der Presse! Sie werden das büßen, Herr, das sage ich Ihnen! . . . (Steht auf.) Noch ein Glas Bier!

Der Interviewte. Bitte, hier.

Der Interviewer (nachdem er das Bier getrunken hat). Ich gehe nun . . . Ich werde Ihre Nachbarn fragen, und die Nachbarn Ihrer Nachbarn! (Drohend.) Denn die Nachbarn unserer Nachbarn sind unsere Nachbarn, wie Sie wissen! Adieu! (Er geht zur Türe.)

Der Interviewte (ruft ihn zurück). Sie, Herr . . . Herr!

Der Interviewer. Zu spät! . . . Es ist Ihr Schade! . . . Sie hätten reden sollen, als ich Sie fragte . . .

Der Interviewte. Das ist es nicht . . . Die vier Glas Bier sind Sie mir noch schuldig.

Der Interviewer (würdevoll und erhaben). Herr, die Presse ist niemand etwas schuldig! (Geht.)


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