Octave Mirbeau
Der Herr Pfarrer und andere Geschichten
Octave Mirbeau

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Letzte Reise

Nachdem ich in einem noch leeren Coupé einen Platz gefunden und als Zeichen der Besitzergreifung Koffer und Reiseplaid darauf gelegt hatte, stieg ich wieder auf den Perron hinab, bummelte längs des ganzen Zuges hin und her und wartete auf den Augenblick der Abfahrt.

Ich empfand die trostlose Traurigkeit, die quälende Angst der Abreisen. Selbst wenn ich in mir bekannte und liebe Gegenden fahre, mit der Hoffnung auf Erholung oder mit der Freude auf eine erwünschte Begegnung, fühle ich es immer im Herzen wie Frost. Nichts bringt mir den Gedanken an den Tod so nahe, wie das Abreisen. Die Koffer, die wie offene Särge daliegen, die Hast, die ich in den Augen der mir behilflichen Leute sehe, die feierliche Großartigkeit, die auf allen Dingen liegt, die zu verlassen ich im Begriffe bin, kurz all das, was mich so heftig aus mir herausrüttelt, bedrückt mich und stimmt mich unendlich traurig. Um diese düsteren Bilder zu verscheuchen, betrachtete ich auf dem Bahnhofe während des Umherschlenderns alles, was da kam und ging, all die hastende Ungeschicklichkeit, die den Bahnhöfen das Aussehen ungeheurer Narrenhäuser verleiht. Ich trachtete mich zu unterhalten beim Anblick der verschiedenartigen drolligen Figuren der Menschengattung mit englischen Reisemützen, die nicht weiß, wohin sie gehen soll und atemlos keuchend sich in Gänge und Waggons stürzt, sich hier vergräbt und verbirgt, um sich gleich darauf anderswo hinzudrängen, wie Flüchtlinge einer geschlagenen Armee, die einen sicheren Rückzug gefunden zu haben glauben. Bei Scenen dieser Art bemühe ich mich meinen Sinn für die Karikatur zu verfeinern, um nicht zu merken, daß der Kern Langeweile und schreckliche Eiseskälte birgt . . .

So bummelte ich umher, bis ich auf eine Gruppe von drei Personen stieß, die vor einem Waggon dritter Klasse stand. Da war zuerst eine alte Dame, ganz schwarz gekleidet. Ein dürftiges Kaschmirtuch hüllte ihren schmalen Rücken ein, welcher von Zeit zu Zeit von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. Ein Mann und eine Frau begleiteten sie. Der Mann hatte ein gemeines Aussehen. Die Frau war dürr und ausgetrocknet, und in ihren Augen lag es wie ein weißlicher Schein von Registern und Comptoirbüchern. Ihr aschfarbenes Gesicht hatte vorspringende Kiefer und war vor der Zeit gerunzelt.

»Ach, meine armen Kinder!« seufzte die alte Dame. »Mir ist sehr schlecht . . . mir ist gar nicht gut! . . .«

»Aber ich bitte Sie!« tröstete der Mann. »Das sind ja alles Einbildungen . . . Es geht Ihnen sehr gut . . . es geht Ihnen viel besser.«

»So ist es,« fügte die Frau hinzu. »Aber natürlich, du mußt immer lamentieren.«

»Es wäre gar nicht notwendig gewesen, daß ich schon heute abreise . . .« unterbrach sie die alte Dame mit einem Seufzer, den ein Hustenanfall jählings zerriß. »Ach, mein Gott! Ich fühle, daß mir etwas zustoßen wird.«

»Was kann dir denn zustoßen? Bei einer so unbedeutenden Erkältung. Es ist ja doch nichts anderes!«

»Nein, nein . . . es wäre gar nicht notwendig gewesen, daß ich fahre . . . aber ich war euch beschwerlich . . . ich war eine Last für euch . . .«

»Aber nein . . .«

»Sie brauchen Aufenthalt auf dem Lande und gute Luft,« unterbrach sie der Mann. »Wenn das nicht gewesen wäre, so hätten Sie ja bei uns bleiben können.«

»Ach, wenn ich nur wenigstens früher eine Bouillon getrunken hätte – ich fühle mich so schwach.«

Die Frau antwortete spitzig:

»Das ist nur deine eigene Schuld. Du warst nicht fertig, du hättest den Zug versäumt.«

»Allerdings,« sagte der Mann. »Es war keine Zeit mehr.«

Die alte Dame seufzte. Eine Träne sickerte aus den rotgeschwollenen Lidern.

»Du mein Gott, du mein Gott! Ich weiß nicht, was es mit meinem Kopfe ist . . . Alles dreht sich in meinem Kopfe . . .«

»Sie haben Grillen, Schwiegermutter,« sagte der Mann ermunternd. »Das sind nur Grillen, die Sie im Kopfe haben.«

Die alte Dame seufzte wieder.

»Ach, wenn ich nur eine Bouillon vor der Abreise getrunken hätte.«

»Da ist aber viel dabei! Du wirst sie eben in Versailles trinken.«

»Mein Gott, mein Gott! Ich ahne es. Es wird mir etwas zustoßen . . . Wenn ich sterben müßte auf der Fahrt, ganz allein! . . .«

»Aber . . . So sprich doch keine Dummheiten, Mutter! Steig ein, Adieu!«

»Lebe wohl, meine Tochter!«

Der Schaffner schob die alte Dame in den Waggon und legte sie in eine Ecke wie ein Paket.

»Adieu, Schwiegermutter!«

»Lebt wohl . . . Behüt euch Gott, meine Kinder!«

Als die Türe geschlossen wurde, brach sie in Tränen aus.

Man läutete die Reisenden in die Coupés, ich bemächtigte mich meines Platzes und richtete mich so behaglich ein, als ich nur konnte.

Diese Scene hatte mich erschüttert; sie fügte ein neues düsteres Bild zu allen jenen, welche das Abreisen ohnedies immer in mir auftauchen läßt. Ich wollte nicht mehr daran denken und nahm ein Buch aus meinem Koffer, mit der Hoffnung, mich von mir selber loslösen und den traurigen Auftritt aus dem Kopfe schlagen zu können. Aber es war mir unmöglich zu lesen . . . Zwischen den Zeilen des Buches und meinen Augen tauchte immer wieder das totenbleiche Antlitz der alten Dame und das fühllose Gesicht der anderen auf. Die blassen Züge verfolgten mich . . . Und dann sah ich wieder ununterbrochen die beiden fortgehen . . . Ich sah ihre Mörderrücken . . .

In Versailles, wo wir eine Viertelstunde Aufenthalt hatten, stieg ich aus, und das Mitleid führte mich vor den Waggon der alten Dame. Sie war gerade in eine Ohnmacht verfallen; man bemühte sich um sie. Jemand gab ihr ein paar Tropfen Bouillon zu trinken, die man in aller Eile aus der Küche der Bahnhofgastwirtschaft hatte holen lassen. Sie kam wieder zu sich und sagte: »Dank, Dank! Jetzt geht es mir schon besser, jetzt geht es mir schon gut!«

Und wirklich schien es mir, als ob ihre Wangen Farbe bekommen hätten, als ob das Blut in rascherem Umlaufe sei. Auch ihr Blick war weniger starr, weniger fern . . .

Ich stieg wieder in mein Coupé. Sie war doch wohl nicht so krank, als ich gedacht hatte. Eine Schwäche, das war alles! Jetzt wird sie einschlafen – und – du lieber Himmel – schließlich, diese Schwiegermütter! . . .

Es war dunkel geworden. Ich dachte nicht mehr an die alte Dame und schlief auf den Polstern während der ganzen Nacht, gewiegt von dem einschläfernden Rhythmus des in voller Schnelligkeit dahinbrausenden Zuges.

Ich wachte erst in Rennes auf, wo ich ausstieg. Noch ganz schlaftrunken folgte ich dem Träger, ohne auf all das zu achten, was neben mir geschah . . . Ich sah Schatten eilen, Schatten sich sammeln, wie Traumgestalten, aus fernen, dämmernden Ländern. Plötzlich blieb der Träger vor einer Gruppe stehen. Einige Personen schrien mit lebhaften Gebärden: »Was gibt's? Was ist geschehen? Was ist geschehen?«

»Einen Arzt! Rasch einen Arzt!« schrie ein Reisender.

»Ist ein Unglück geschehen?« fragte ich den Träger.

»Nein,« entgegnete der brave Mann. »Es ist nur wegen einer Frau, die im Zuge gestorben ist . . . wegen einer alten Frau.«

Ich eilte zu dem Waggon, vor dem ein Haufen von dreißig Neugierigen die Köpfe zusammen steckte, insgesamt von dem Wunsche beseelt, die Tote zu sehen.

»Bitte, machen Sie Platz, machen Sie Platz!«

Und ich sah, wie zwei Bahnbedienstete die Leiche, der eine an den Achselhöhlen, der andere an den Beinen, hielten und an mir vorübertrugen. Ich erkannte das dürftige Kaschmirtuch der alten Dame und ihr wachsbleiches Gesicht wieder. Sie war schon ganz steif und kalt.

»Ist das ein plötzlicher Tod oder ein Verbrechen?« fragten neben mir zwei Reisende.

»Es ist ein Verbrechen,« sagte ich. »Ein Mord . . . Ein wirklicher Mord. Ich weiß es.«

Und während meine Zähne vor Schauder klapperten, sprach ich mit einem Tone, der die Zuschauer dieser Scene sehr zu verblüffen schien:

»Was sollte dir denn zustoßen? Bei einer so unbedeutenden Erkältung. Es ist ja doch nichts anderes! . . .«


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