Gustav Meyrink
Walpurgisnacht
Gustav Meyrink

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Im Spiegel

Eine ganze Woche hindurch war der Herr kaiserliche Leibarzt Flugbeil nicht aus dem Ärger über sich selbst herausgekommen.

Der Besuch bei der "böhmischen Liesel" hatte ihn nachhaltig mißgestimmt, und das schlimmste dabei war, daß er die Erinnerung an seine ehemalige Liebe zu ihr nicht loswerden konnte.

Er gab der linden, süchtigen Luft des Mai die Schuld, der in diesem Jahr noch lockender blühte als sonst, und spähte jeden Morgen vergebens in den klaren Himmel, ob sich denn keine Wolke zeigen wolle, die den Johannistrieb seines alten Blutes zu kühlen versprach.

Vielleicht war das Gulasch beim "Schnell" zu pfefferig? – sagte er sich, wenn er abends im Bette lag und, ganz gegen seine Gewohnheit, nicht einschlafen konnte, so daß er oft die Kerze anzündete, nur um die Gardine am Fenster deutlicher zu sehen, die ihm sonst im Mondlicht noch weiter allerlei spukhafte Grimassen geschnitten hätte.

Um seine Gedanken abzulenken, war er schließlich auf die absonderliche Idee verfallen, sich eine Zeitung zu abonnieren, aber das machte die Sache noch schlimmer, denn kaum hatte er sich für irgendeinen Artikel zu interessieren begonnen, fiel sein Auge auf einen spaltenlangen leeren Fleck, der selbst dann nicht wich, wenn er außer seiner Brille noch den Zwicker aufsetzte.

Anfangs hielt er diese betrübliche Erscheinung zu seinem Schrecken für Sehstörungen, die am Ende gar in einer beginnenden Gehirnerkrankung ihre Ursache haben könnten, bis ihm seine Haushälterin feierlich versicherte, auch sie sähe genau dieselben Stellen unbedruckt, woraus er allmählich schloß, daß lediglich ein Eingriff seitens der Zensur, damit der Leser vor falschen Erkenntnissen geschützt werde, vorliegen müsse.

Trotzdem behielten solche weiße Flecke mitten in der karbolduftenden Druckerschwärze stets etwas Beunruhigendes für ihn. – Eben weil er sich innerlich genau bewußt war, daß er die Zeitung nur vornahm, um nicht an die "böhmische Liesel" von einstmals denken zu müssen, fürchtete er vor dem Umblättern jedesmal, es könnte die nächste Seite wieder leer sein und, statt der schwungvollen Rede eines Leitartikels, sich – sozusagen als Niederschlag der eigenen seelischen Besorgnisse – die greulichen Züge der "böhmischen Liesel" auf dem Papier bilden.

An sein Teleskop traute er sich schon gar nicht mehr heran; bei der bloßen Erinnerung, wie ihm die Alte durch die Linse entgegengegrinst hatte, sträubte sich ihm jetzt noch das Haar, und wenn er trotzdem hindurch guckte, um sich selbst seinen Mut zu beweisen, geschah es nur nach vorherigem mannhaften Zusammenbeißen seiner tadellosen weißen falschen Zähne.

Tagsüber bildete nach wie vor das Erlebnis mit dem Schauspieler Zrcadlo einen Hauptbestandteil seiner Erwägungen. Einfälle, den Mann nochmals in der "Neuen Welt" aufsuchen zu gehen, wies er aber begreiflicherweise weit von sich.

Einmal – beim "Schnell" – hatte er dem Edlen von Schirnding gegenüber, als dieser gerade in ein Schweinsohr mit Kren biß, das Gespräch auf den Mondsüchtigen gebracht und erfahren, daß Konstantin Elsenwanger seit jener Nacht wie ausgewechselt sei und keinen Besuch mehr empfange; er lebe beständig in Angst, das unsichtbare Dokument, das der somnambule Schauspieler in die Schublade gelegt habe, könne am Ende doch wirklich sein und eine nachträgliche Enterbung durch seinen verstorbenen Bruder Bogumil enthalten.

"Und warum auch nicht?" hatte der Edel von Schirnding gemeint und mißgelaunt von seinem Schweinsohr abgelassen – "wenn schon Wunder geschehen und es verlieren Menschen unter dem Einfluß des Mondes ihr Gesicht, warum sollten die Toten nicht die Lebendigen enterben können? – Der Baron hat ganz recht, wenn er die Schublade zuläßt und nicht erst nachschaut; besser, dumm sein, als unglücklich."

Der Herr Leibarzt hatte dieser Ansicht zwar zugestimmt, aber nur aus Höflichkeit. – Er konnte für seinen Teil die Gehirnschublade, in der der Zufall Zrcadlo aufgehoben lag, keineswegs in Ruhe lassen, kramte vielmehr bei jeder Gelegenheit darin herum.

"Ich muß einmal nachts in den 'Grünen Frosch' schauen, vielleicht treffe ich den Kerl dort" – nahm er sich vor, als ihm die Sache wieder durch den Kopf ging; "die Liesel – verdammte Hexe, daß man auch fortwährend an das Weibsbild denken muß! – hat doch gesagt, er wandere in den Wirtshäusern umher."

Noch am selben Abend, kurz vor dem Schlafengehen, beschloß er, seinen Plan zur Ausführung zu bringen, knöpfte die bereits gelockerten Hosenträger wieder fest, stellte auch im übrigen seine Toilette wieder her und begab sich, das Gesicht in abweisende Falten gelegt (damit entfernte Bekannte, denen er ebenfalls so spät noch begegnen könnte, nichts Ungebührliches von ihm dächten), hinab auf den Maltheserplatz, wo, umgeben von altehrwürdigen Palästen und Klöstern, der "Grüne Frosch" sein dem Bacchus geweihtes nächtliches Dasein führte.

Seit Kriegsausbruch hatten weder er noch seine Freunde das Lokal besucht, trotzdem stand das mittelste der Zimmer leer und für die Herren reserviert, als habe der Wirt – ein alter Herr mit goldener Brille und dem wohlwollend ernsten Gesicht eines Notars, der an nichts anderes denkt, als Mündelgelder rastlos zu verwalten – es nicht gewagt, anderweitig darüber zu verfügen.

"Ex'lenz befehlen?" fragte der "Notar" mit menschenfreundlichem Aufleuchten in den grauen Augen, als sich der Herr kaiserliche Leibarzt gesetzt hatte, "oh? heute eine Flasche Melniker, rot? Ausstich 1914?"

Mit affenartiger Behendigkeit stellte der Pikkolo die Flasche Melniker 1914, die er auf den schon vorher geflüsterten Befehl des "Notars" geholt und hinterm Rücken verborgen gehalten hatte, auf den Tisch, worauf beide nach einer tiefen Verbeugung in den Labyrinthen des "Grünen Frosches" verschwanden.

Der Raum, in dem der Herr kaiserliche Leibarzt am Kopfende eines weiß gedeckten Tisches Platz genommen hatte, bestand aus einer langgestreckten Stube mit je links und rechts einem portierenbedeckten Durchlaß in die benachbarten Zimmer und einem großen Spiegel an der Eingangstür, in dem man beobachten konnte, was nebenan vorging.

Die große Anzahl von Ölgemälden an den Wänden, hohe Häupter aller Jahrgänge und Altersklassen darstellend, bekundete die über jeden Zweifel erhabene loyale Gesinnung des Wirtes, des Herrn Bzdinka – mit dem Tone auf "Bzd" – und strafte gleichzeitig die unverschämten Behauptungen gewisser Lästermäuler, er sei in seiner Jugend Seeräuber gewesen, Lügen.

Der "Grüne Frosch" hatte eine gewisse historische Vergangenheit, denn in ihm, hieß es, sei im Jahre 1848 die Revolution ausgebrochen – ob infolge des saueren Weines, den der damalige Wirt ausschenkte, oder aus anderen Gründen, bildete Abend für Abend den Gesprächsstoff an den verschiedenen Stammtischen.

Um so höher war das Verdienst des Herrn Wenzel Bzdinka anzuschlagen, der nicht nur durch seine vorzüglichen Getränke, sondern auch durch sein würdevolles Äußeres und den hohen sittlichen Ernst, von dem er selbst in den vorgerücktesten Nachtstunden niemals abließ, es verstanden hatte, den üblen Ruf des Lokals derartig gründlich zu beseitigen, daß sogar verheiratete Frauen – mit ihren Gatten natürlich – darin bisweilen zu speisen pflegten. – Wenigstens in den vorderen Räumen. – –

Der Herr kaiserliche Leibarzt saß gedankenverloren bei seiner Flasche Melniker, in deren Bauche ein rubinroter Funken glomm, hervorgerufen durch den Schein der elektrischen Stehlampe auf dem Tisch.

Sooft er aufblickte, sah er in dem Spiegel an der Türe einen zweiten kaiserlichen Leibarzt sitzen, und jedesmal, wenn er es tat, kam ihm der Einfall, wie höchst wunderbar es eigentlich sei, daß sein Spiegelbild mit der linken Hand trank, wenn er selber dazu die rechte gebrauchte, und daß jener Doppelgänger, würfe er ihm seinen Siegelring zu, diesen nur am rechten Goldfinger tragen könnte.

"Es geht da eine seltsame Umkehrung vor", sagte sich der Herr Leibarzt, "die wahrhaft schreckenerregend auf uns wirken müßte, wenn wir eben nicht von Jugend an gewöhnt wären, etwas Selbstverständliches in ihr zu sehen. – Hm. Wo im Raume mag nur diese Umkehrung stattfinden? – Ja, ja, natürlich: in einem einzigen mathematischen Punkt, genaugenommen. – Merkwürdig genug, daß in einem so winzigen Punkt so ungeheuer viel mehr geschehen kann als im ausgedehntesten Raume selbst!"

Ein unbestimmtes Bangigkeitsgefühl, er könne, wenn er der Sache weiter nachginge und das in ihr enthaltene Gesetz auch auf andere Fragen ausdehne, zu der peinlichen Schlußfolgerung kommen, der Mensch sei überhaupt unfähig, irgend etwas aus bewußtem Willen heraus zu unternehmen – sei vielmehr nur die hilflose Maschine eines rätselhaften Punktes in seinem Inneren –, ließ ihn von weiterem Grübeln abstehen.

Um jedoch nicht neuerdings in Versuchung zu kommen, drehte er kurz entschlossen die Lampe ab und machte dadurch sein Spiegelbild ein für allemal unsichtbar.

Sofort erschienen statt dessen auf der reflektierenden Fläche Teile der benachbarten Zimmer – bald das linke, bald das rechte, je nachdem der Herr kaiserliche Leibarzt sich zur Seite bog.

Beide waren leer. –

In dem einen stand eine reichgeschmückte Tafel mit vielen Stühlen herum, in dem andern, einem im Barockstil gehaltenen Stübchen, nichts als ein Diwan mit schwellenden Polstern und ein geschweiftes Tischchen davor.

Eine unsägliche Wehmut befiel den Herrn kaiserlichen Leibarzt, als er es erblickte:

In allen Einzelheiten stand eine süße Schäferstunde, die er einst darin vor vielen, vielen Jahren genossen und im Laufe der Zeit vollständig vergessen hatte, wieder vor ihm.

Er erinnerte sich, daß er das Erlebnis in sein Tagebuch eingetragen hatte – aber wie war es nur möglich, daß das in knappen, dürren Worten geschehen konnte? – "War ich damals wirklich ein so nüchterner Mensch?" fragte er sich traurig, "oder kommen wir unserer eigenen Seele erst näher, je weiter wir dem Grabe entgegengehen?"

Dort auf diesem Diwan war die junge Liesel mit den großen, sehnsüchtigen Rehaugen zum erstenmal seine Geliebte geworden . –

Unwillkürlich blickte er nach dem halbverdunkelten Spiegel, ob nicht ihr Bild noch darin stünde – –, aber nein, jetzt trug er den Spiegel, der jedes Bild bewahrt, doch in sich selbst; der an der Tür war ja nur ein treuloses, vergeßliches Glas.

Einen Strauß Teerosen hatte sie im Gürtel stecken gehabt – damals – – plötzlich roch er den Duft der Blumen, als seien sie dicht in seiner Nähe.

Es ist etwas Geisterhaftes um Erinnerungen, wenn sie wieder lebendig werden! Sie kommen heraus, wie aus einem winzigen Punkte, dehnen sich aus, stehen mit einemmal im Raum – schöner und gegenwärtiger noch, als sie gewesen sind.

Wo war das Spitzentaschentuch hin, in das sie, um nicht aufzuschreien unter der Glut seiner Umarmung, gebissen hatte! "L. K." – ihr Monogramm stand darin, – Liesel Kossut –; es gehörte zu dem Dutzend, das er ihr einst verehrt; plötzlich wußte er auch, wo er es gekauft und eigens für sie hatte sticken lassen – sah den Laden vor sich.

"Warum habe ich sie nicht gebeten, es mir zu schenken? – Zur Erinnerung. Jetzt ist nur mehr die Erinnerung daran übrig – oder" – er schauderte – "sie hat es als zerrissenen Fetzen unter ihren Lumpen liegen. Und ich – ich sitze hier im Dunkeln – allein mit der Vergangenheit."

Er blickte weg, um den Diwan nicht mehr zu sehen; "was ist die Erde doch für ein grausamer Spiegel – sie läßt die Bilder, die sie hervorbringt, langsam scheußlich und welk werden, eh sie verschwinden." –

Das Zimmer mit dem reichgedeckten Tisch erschien.

Der "Notar" ging geräuschlos von einem Sessel zum andern, um von verschiedenen Punkten aus wie ein Maler zu visieren, ob der Gesamteindruck auch ein befriedigender sei, und gab dem Pikkolo stumme Winke, wo noch Champagnerkühler aufzustellen waren.

Dann wurden draußen Stimmen und Gelächter laut, und ein Zug Herren trat ein, die meisten im Smoking, Nelken im Knopfloch. Fast lauter jüngere Leute – aus irgendwelchen Gründen kriegsunabkömmlich oder beurlaubt –, nur einer, offenbar der Gastgeber, von behäbig jovialem Aussehen, Sechziger mit gelindem Spitzbauch, Kanzleigehrock, goldener Berlocke-Uhrkette und ungebügelten Hosen, die übrigen: sogenannte Windhunde.

Der Pikkolo nahm die Hüte, Stöcke und Überzieher in Empfang, bis er, bepackt wie ein Maulesel, fast unter der Last verschwand.

Einer der Herren stülpte ihm zum Schluß seinen Zylinder über den Kopf.

Dann saß alles schweigend eine Weile vor den Speisekarten und studierte.

Der "Notar" rieb mit verbindlicher Miene die Hände ineinander, als poliere er seine ganze Zuvorkommenheit in eine unsichtbare Kugel hinein.

"Äh, Mockturtlesuppe", schnarrte einer der Herren und ließ sein Monokel fallen, "'Mock' heißt Schild und 'turtle' = Kröte. – Warum sagen Sie nicht gleich Schildkrötensuppe? – Gott strrrafe England. – Man reiche mir die treffliche Mockturtlesuppe."

"Das Walterscott – äh, mir auch", stimmte ein anderer bei, und die übrigen wieherten.

"Herrschaften, Herrschaften, böh", lispelte der joviale ältere Herr, stand auf, schloß die Augen und wollte mit gespitzten Lippen eine Rede beginnen, wobei er sich als Einleitung die angeknöpften Manschetten aus den Ärmeln zupfte; "Herrschaften, böh, böh" – aber er kam von dem "böh" nicht los und setzte sich schließlich wieder unverrichtetersache, aber mit allen Anzeichen der Genugtuung, daß ihm wenigstens die Anrede geglückt war.

Wohl eine halbe Stunde lang bekam der kaiserliche Leibarzt keinerlei Geistesblitze mehr zu hören: Die Herren waren zu sehr mit der Vertilgung aller möglichen Gerichte beschäftigt; er sah den Pikkolo unter Anleitung des "Notars" einen kleinen, vernickelten Tisch mit Rädern hereinschieben, auf dessen Rost eine Hammelkeule über Spiritusflammen schmorte, bemerkte, wie das Gigerl mit dem Monokel den Braten kunstgerecht zerlegte und seinen Freunden knurrend versicherte, sie seien erbärmliche Banausen, die nur deshalb aufrecht säßen und nicht auf allen vieren wie die Hunde, weil ihnen der Mut dazu wegen der hellen Beleuchtung fehle.

Der junge Herr schien überhaupt tonangebend in allem zu sein, was die Kunst des Genießens anbelangte; er bestellte die verrücktesten Speisen, die sich ausdenken ließen: gebackene Ananasspalten in Schweinefett, Erdbeeren mit Salz, Gurken in Honig – wild durcheinander, wie es ihm gerade einfiel, und die schnarrende, hingeworfene, keinen Widerspruch duldende Art, mit der er seine Wahl traf und in tiefstem Ernst diktatorisch begründete: "Schlag elf Uhrr hat ein Ehrrenmann harrte Eier zu essen" oder "Das leckere Schweineschmalz erhält das Gekrröse des Menschen lebendig" – wirkte so grotesk komisch, daß der kaiserliche Leibarzt manchmal ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte.

Die traditionell österreichische, unnachahmliche Selbstverständlichkeit, Nebensächliches mit tödlicher Würde, dagegen sogenannten Lebensernst kavaliermäßig als Schulmeisterei aufzufassen, wie er es im kleinen vor sich sah, zauberte ihm wieder Episoden aus der eigenen Jugend vor die Seele.

Wenn er selbst auch nie an dergleichen Gelagen teilgenommen hatte, so fühlte er doch, daß sich hier, trotz aller Gegensätze, etwas im innersten Wesen mit ihm Gemeinsames kundgab: zu prassen gleich einem Ostelbier und dennoch bis in die Fingerspitzen hinein österreichischer Aristokrat zu bleiben – Wissen und Kenntnisse wohl zu besitzen, aber sie lieber zu verbergen hinter scheinbaren Skurrilitäten, als sie am unrechten Ort plump zur Schau zu stellen wie durch die Erziehungslücke der Schule in seiner menschlichen Eigenart geschmacklos gewordener Dauergymnasiast. – – – –

Nach und nach nahm da Festmahl den Charakter einer seltsamen, aber überaus komischen, allgemeinen Betrunkenheit an. –

Keiner kümmerte sich mehr um den anderen – jeder lebte, sozusagen, ein Leben für sich.

Der fürstliche Zentralgüterdirektor Dr. Hyacinth Braunschild (als solcher hatte sich der joviale ältere Herr, schwer bezecht, alsbald dem Pikkolo vorgestellt) war auf einen Stuhl gestiegen und hielt dort unter zahlreichen Bücklingen eine, zumeist aus "Böhs" bestehende Huldigungsanrede an "Seine Durchlaucht, seinen allergnädigsten Gönner und Brotherren", wobei ihm nach jedem längeren Satz das Gigerl mit dem Monokel allemal einen Zigarrenring als Orden verlieh.

Daß der Herr fürstliche Zentralgüterdirektor bei solchen Anlässen nicht infolge Gleichgewichtsverlustes vom Sessel herabstürzte, hatte er lediglich der Umsicht des "Notars" zu verdanken, der – wie weiland Siegfried mit der Tarnkappe bei König Gunther – hinter ihm stand und achtgab, daß die Anziehungskraft der Erde ihre Amtsgewalt nicht ungebührlich mißbrauchte.

Ein anderer der Herren saß auf dem Boden, die Beine gekreuzt wie ein Fakir, den Blick starr auf die Nase gerichtet und einen Champagnerpfropfen auf dem Scheitel balancierend, und bildete sich offenbar ein, er sei ein indischer Büßer, während ein zweiter – vordem sein Tischnachbar – den Inhalt einer Schaumrolle ums Kinn gestrichen hatte und bemüht war, sich vor einem Taschenspiegel vermittelst eines Obstmessers zu rasieren.

Ein dritter hatte eine lange Reihe Schnapsgläser, gefüllt mit verschiedenfarbigen Likören, ausgestellt und gab sich, wie er laut behauptete, kabbalistischen Berechnungen hin, in welcher Aufeinanderfolge er sie zu trinken habe.

Wieder ein anderer stand, ohne es im geringsten zu bemerken, mit dem linken seiner belackschuhten Füße in einem eisgefüllten Sektkühler, jonglierte alle Porzellanteller, deren er in der Geschwindigkeit habhaft werden konnte, und stimmte, als der letzte zerschellt auf dem Boden lag, mit krächzender Stimme das alte Studentenlied an:

"Der Zie–higel–stein
ist selten allein;
er folget geselligen Trie–ieben,
und ist er allein,
so ist er wahrschein–
lich irgendwo liegen geblie–ben."

Und dann mußten alle, auch der Pikkolo – oder sollten es wenigstens – den Refrain singen:

"Stumpfsinn,
Stumpfsinn,
du mein Vergnügen!
Stumpfsinn,
Stumpfsinn,
du mei–ne Lust! – – –"

Wie es hatte geschehen könnte, daß plötzlich mitten in diesem besoffenen Durcheinander der Schauspieler Zrcadlo stand wie aus dem Boden gewachsen, war dem Herrn kaiserlichen Leibarzt ein Rätsel.

Auch der "Notar" hatte anfangs seine Anwesenheit nicht bemerkt, und daher kamen seine unwirschen Zeichen, er möge sich auf der Stelle entfernen, zu spät, oder sie blieben unbeachtet, und den Mann gewaltsam zu entfernen, schien gewagt, den sonst wäre der Zentralgüterdirektor inzwischen sicherlich vom Stengel gefallen und hätte sich infolgedessen noch vor Bezahlen der Rechnung den Hals brechen können.

Von den Gästen war der "Fakir" der erste, der des seltsamen Eindringlings ansichtig wurde.

Entsetzt sprang er auf und starrte ihn an, felsenfest überzeugt, eine Astralgestalt aus dem Jenseits habe sich infolge seiner Andachtsübungen materialisiert und beabsichtige, ihm den Kragen umzudrehen.

Das Aussehen des Schauspielers hatte in der Tat etwas geradezu Abschreckendes; er war diesmal nicht geschminkt, so daß die gelbe Pergamentrolle seiner Haut noch wächserner hervortrat und sich die eingesunkenen Augen wie welkgewordene schwarze Kirschen daraus abhoben.

Die meisten der Herren waren zu schwer bezecht, um sogleich das Sonderbare des Vorfalls zu erfassen, und insbesondere dem Herrn Zentralgüterdirektor war die Fähigkeit, sich zu wundern, derart abhandengekommen, daß er nur holdselig lächelte und, im Glauben, ein neuer Freund gedenke durch seine Anwesenheit die Tafelrunde zu verschönen, vom Stuhl herabkletterte, um den gespenstischen Eindringling mit einem Bruderkuß zu begrüßen.

Zrcadlo ließ ihn, ohne die Miene zu verziehen, ruhig herankommen.

Er schien, wie damals im Palais des Baron Elsenwanger, sich in tiefem Schlaf zu befinden.

Erst, als der Herr Zentralgüterdirektor bis dicht vor ihn hingeschwankt war und, sein gewohntes Böh, Böh lispelnd, die Arme ausbreitete, um ihn an die Brust zu ziehen, hob er mit einem Ruck den Kopf und blickte ihn feindselig an.

Was sich gleich darauf abspielte, geschah so blitzartig schnell und kam so überraschend, daß der kaiserliche Leibarzt Flugbeil im ersten Moment annahm, das Bild im Spiegel habe ihn getäuscht:

Der Herr Zentralgüterdirektor hatte bis dahin die Augen in seiner Trunkenheit geschlossen gehabt, kaum schlug er sie – nur noch einen Schritt von dem Schauspieler entfernt – auf, da hatte sich dessen Gesicht auch schon in eine Totenmaske verwandelt, so grauenhaft im Ausdruck, daß unwillkürlich auch der Herr kaiserliche Leibarzt in seinem verdunkelten Zimmer aufsprang und in den Spiegel starrte.

Den Zentralgüterdirektor traf der Anblick des leichenhaft verzerrten Antlitzes wie ein Schlag zwischen die Augen.

Im Nu war sein Rausch verflogen, aber es schien mehr als bloßer Schrecken zu sein, was sich in seinen Zügen malte, seine Nasenflügel wurden mit einemmal scharf und dünn, wie bei jemand, der unversehens betäubenden Äther eingeatmet hat, der Unterkiefer fiel ihm gelähmt herab, die emporgekrampfte Lippe wurde farblos und ließ die Zähne sehen, und seine Wangen, aschgrau und wie nach innen gesogen, bekamen blaurote, runde Flecken; sogar die Hand, die er zur Abwehr vorgestreckt hatte, zeigte deutlich das Stocken des Blutes und war schneeweiß.

Ein paarmal schlug er mit den Armen wild um sich, dann brach er, ein erstickendes Gurgeln in der Kehle, zusammen. – – – –

Der Herr kaiserliche Leibarzt begriff auf der Stelle, daß es hier keine Hilfe mehr gab, dennoch wäre er dem Verunglückten gern beigesprungen, wenn es nicht der allgemeine Tumult verhindert hätte.

Nach wenigen Sekunden war der Tote von seinen laut durcheinanderschreienden Freunden und dem Wirt hinausgetragen; Tisch und Sessel lagen umgestürzt umher, aus zerbrochenen Flaschen ergoß sich roter und schäumender Saft in Lachen auf den Boden. – – – –

Einen Augenblick lang unschlüssig, was er tun solle, und ganz betäubt von dem Begebnis, das sich in grausiger Greifbarkeit und dennoch schemenhaft und unwirklich, da er es nur im Spiegel mit angesehen, vor ihm abgespielt hatte, war sein erster klarer Gedanke:

"Wo ist der Zrcadlo?" – –

Er drehte das elektrische Licht auf und prallte zurück:

Der Schauspieler stand dicht vor ihm. – Wie ein Stück übriggebliebene Dunkelheit in seinem schwarzen Talar, regungslos, scheinbar wieder in tiefstem Schlaf, so wie vorhin, als der Betrunkene auf ihn zugetaumelt war.

Der kaiserliche Leibarzt faßte ihn scharf ins Auge, jeden Moment mit kaltem Blut gewärtig, ihn eine neue schreckhafte Absonderlichkeit begehen zu sehen – aber nichts geschah: Der Mann rührte sich nicht – gleich einer aufrechtstehenden Leiche.

"Was suchen Sie hier?" fragte er kurz und befehlend und blickte mit gespannter Aufmerksamkeit nach den Adern am Hals des Schauspielers; aber nicht die leiseste Spur eines Pulsschlages ließ sich in ihnen wahrnehmen: "Wer sind Sie?"

Keine Antwort.

"Wie heißen Sie?"

Keine Antwort.

Der kaiserliche Leibarzt dachte nach; dann zündete er ein Streichholz an und leuchtete dem Somnambulen in die Augen.

Die Pupillen, kaum zu unterscheiden von der tiefdunklen Iris, blieben weit offenstehen und reagierten nicht im geringsten auf den grellen Lichtschein.

Er faßte den schlaff herabhängenden Arm am Handgelenk: – ein Klopfen – wenn es sich überhaupt fühlen ließ und nicht Einbildung war – so zart und langsam, als sei es ein fernes Echo des zögernden Pendelschlages der Uhr an der Wand und nicht eigenes Leben. Eins – z–zwei – d–drei – v–vie–r –. Höchstens 15 Schläge in der Minute.

Angestrengt zählte der kaiserliche Leibarzt weiter, fragte wieder laut und scharf:

"Wer sind Sie? – Antworten Sie!"

Da, mit einemmal, fing der Puls des Schauspielers an zu rasen, sprang von fünfzehn auf hundertundzwanzig. – Dann ein zischender Laut, so heftig wurde der Atem durch die Nasenlöcher angesogen.

Als sei eine unsichtbare Wesenheit aus der Atmosphäre in ihn eingeströmt, glänzten plötzlich die Augen des Schauspielers und lächelten den kaiserlichen Leibarzt unschuldig an. Seine Haltung bekam etwas Weiches, Nachgiebiges, und durch den starren Ausdruck der Miene schmolz ein fast kindliches Gebärdenspiel hindurch.

Der kaiserliche Leibarzt glaubte zuerst, der wahre Mensch sei in dem Somnambulen erwacht, und fragte freundlich:

"Nun sagen Sie mir doch, wer sind Sie eigent– – –" aber das Wort erstarb ihm im Mund: – Dieser Zug um die Lippen des andern! – (jetzt, jetzt wurde es deutlicher und deutlicher) – und dieses Gesicht! Dieses Gesicht! – Wieder ergriff es ihn, wie damals bei Elsenwanger, nur viel klarer und bestimmter noch: Dieses Gesicht kannte er – hatte es oft und oft gesehen. – Jeder Zweifel war ausgeschlossen.

Und langsam, ganz langsam, als ob sich Schalen von seinem Gedächtnis lösten, erinnerte er sich, daß er es einst – vielleicht zum erstenmal in seinem Leben – in einem blitzenden Gegenstand, einem silbernen Teller vielleicht, erblickt hatte, bis er schließlich mit voller Sicherheit wußte: So und nicht anders mußte er selbst als Kind ausgesehen haben.

Wohl war die Haut, aus der es hervorschaute, alt und runzlig und das Haar ergraut, aber der Ausdruck der Jugend strahlte hindurch wie Licht – jenes unbegreifliche Etwas, das kein Maler der Welt festhalten kann.

"Wer bin ich?" kam es aus dem Mund des Schauspielers; der kaiserliche Leibarzt glaubte, seine eigene Stimme von einstmals zu hören; sie war die eines Knaben zwar, aber doch zugleich die eines Greises; ein seltsamer Doppelklang tönte aus ihr, als sprächen zwei Kehlen: die eine – aus der Vergangenheit – kam von weit her, die andere – aus der Gegenwart – war wie der Nachhall eines Schallbodens, der die erste laut und hörbar machte.

Auch was sie sprachen, war ein Gemisch aus kindlicher Unschuld und dem drohenden Ernst eines alten Mannes:

"Wer ich bin? Hat es je, seit die Erde steht, einen Menschen gegeben, der auf diese Frage die richtige Antwort wüßte? – Ich bin die unsichtbare Nachtigall, die in dem Käfig sitzt und singt. Aber nicht jedes Käfigs Stäbe schwingen mit, wenn sie singt. Wie oft habe ich in dir ein Lied angestimmt, daß du mich hören möchtest, aber du warst taub dein Leben lang. Nichts im ganzen Weltenraum war dir stets so nah und eigen wie ich, und jetzt frägst du mich, wer ich bin? Manchem Menschen ist die eigene Seele so fremd geworden, daß er tot zusammenbricht, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, daß er sie erblickt. Er erkennt sie dann nicht mehr, und sie erscheint ihn zum Medusenhaupt verzerrt; sie trägt das Antlitz der üblen Taten, die er vollbracht hat und von denen er heimlich fürchtet, sie könnten seine Seele befleckt haben. Mein Lied kannst du nur hören, wenn du es mitsingst. Ein Missetäter ist der, der das Lied seiner Seele nicht hört – ein Missetäter am Leben, an andern und an sich selbst. Wer taub ist, der ist auch stumm. Schuldlos ist, wer immerwährend das Licht der Nachtigall hört, und ob er gleich Vater und Mutter erschlüge."

"Was soll ich hören? Wie soll ich es hören?" fragte der kaiserliche Leibarzt, in seinem Erstaunen völlig vergessend, daß er einen Unzurechnungsfähigen, vielleicht sogar Wahnsinnigen, vor sich hatte. Der Schauspieler beachtete ihn nicht und redete weiter mit seinen beiden Stimmen, die einander so seltsam durchdrangen und ergänzten:

"Mein Lied ist eine ewige Melodie der Freude. Wer die Freude nicht kennt – die reine grundlose freudige Gewißheit, die ursachlose: Ich bin, der ich bin, der ich war und immer sein werde –, der ist ein Sünder am Heiligen Geist. Vor dem Glanz der Freude, die in der Brust strahlt wie eine Sonne am inneren Himmel, weichen die Gespenster der Dunkelheit, die den Menschen als die Schemen begangener und vergessener Verbrechen früherer Leben begleiten und die Fäden seines Schicksals verstricken. Wer dies Lied der Freude hört und singt, der vernichtet die Folgen jeglicher Schuld und häuft nie mehr Schuld darauf.

Wer sich nicht freuen kann, in dem ist die Sonne gestorben, wie könnte ein solcher Licht verbreiten?

Sogar die unreine Freude steht näher dem Licht als der finstere trübselige Ernst. – –

Du frägst, wer ich bin?: Die Freude und das Ich sind dasselbe. Wer die Freude nicht kennt, der kennt auch sein Ich nicht.

Das innerste Ich ist der Urquell der Freude, wer es nicht anbetet, der dient der Hölle. Steht denn nicht geschrieben: 'Ich' bin der Herr, dein Gott; du sollst nicht andere Götter haben neben mir? –

Wer das Lied der Nachtigall nicht hört und singt, der hat kein Ich; er ist ein toter Spiegel geworden, in dem fremde Dämonen kommen und gehen – ein wandelnder Leichnam wie der Mond am Himmel mit seinem erloschenen Feuer. –

Versuch's nur und freue dich! –

So mancher, der's versucht, frägt: Worüber soll ich mich freuen? Die Freude braucht keinen Grund, sie wächst aus sich selbst wie Gott; Freude, die einen Anlaß braucht, ist nicht Freude, sondern Vergnügen. –

So mancher will Freude empfinden und kann nicht – dann gibt er der Welt und dem Schicksal die Schuld. Er bedenkt nicht: Eine Sonne, die das Leuchten fast vergessen hat, wie könnte die mit ihrem ersten schwachen Dämmerschein schon die Gespensterschar einer tausendjährigen Nacht verjagen? Was einer sein ganzes Leben hindurch an sich selber verbrochen hat, läßt sich nicht gutmachen in einem einzigen kurzen Augenblick!

Doch in wen einmal die ursachlose Freude eingezogen ist, der hat hinfort das ewige Leben, denn er ist vereint mit dem 'Ich', das den Tod nicht kennt – der ist immerdar Freude, und wäre er auch blind und als Krüppel geboren. – Aber die Freude will gelernt sein – sie will ersehnt sein, aber was die Menschen ersehnen, ist nicht die Freude, sondern – – der Anlaß zur Freude.

Nach ihm gieren sie und nicht nach der Freude."

"Wie sonderbar!" überlegte der kaiserliche Leibarzt, "da spricht aus einem wildfremden Menschen, von dem ich nicht einmal weiß, wer und was er ist, mein eigenes Ich zu mir! – Hat es mich denn verlassen, und ist es jetzt sein Ich geworden? – Wenn es so wäre, könnte ich selbst doch nicht mehr denken! – Kann man denn leben, ohne ein Ich zu besitzen? – – Es ist alles dummes Zeug", fuhr er ärgerlich in seine Gedankenfolge hinein – "der starke Wein ist mir zu Kopf gestiegen."

"Sonderbar finden Sie das, Exzellenz?" fragte der Schauspieler spöttisch mit plötzlich veränderter Stimme.

"Jetzt hab' ich ihn!" dachte der Leibarzt grimmig bei sich und übersah dabei den merkwürdigen Umstand, daß der andere in seinem Hirn gelesen hatte – "jetzt endlich wirft der Komödiant die Maske ab." – Aber wiederum hatte er sich geirrt.

Zrcadlo richtete sich hoch auf, blickte ihm fest in die Augen und fuhr sich mit der Hand über die glattrasierte Oberlippe, als wüchse dort ein langer Schnurrbart, zwirbelte ihn und zog ihn an den Mundwinkeln herab.

Es war eine ungekünstelte, einfache Bewegung – so wie eine alte Gewohnheit –, aber sie wirkte so drastisch, daß der Herr kaiserliche Leibarzt ganz verblüfft war und einen Moment wirklich einen Schnurrbart zu sehen glaubte.

"Sonderbar finden Sie das, Exzellenz? Glauben Sie im Ernst, daß die Menschen, die da so für gewöhnlich in den Gassen herumlaufen, ein Ich besitzen? – Sie besitzen gar nichts, sind vielmehr jeden Augenblick von einem anderen Gespenst besessen, das in ihnen die Rolle des Ichs spielt. – Und erleben Exzellenz denn nicht jeden Tag, daß sich Ihr 'Ich' auf andere Menschen überträgt? – Haben Exzellenz noch nie beobachtet, daß Leute unfreundlich gegen Sie sind, wenn Sie von ihnen unfreundlich denken?"

"Das mag daher kommen", widersprach der Leibarzt, "weil am Gesicht abzulesen ist, ob man unfreundlich denkt oder nicht."

"Soso." – Das Phantom mit dem Schnurrbart lächelte boshaft. – "Und bei einem Blinden? Wie steht's mit dem? Sieht der es auch am Mienenspiel?"

"Der merkt's eben am Ton der Rede", wollte der Herr kaiserliche Leibarzt erwidern, aber er unterdrückte den Einwurf, denn im Herzen fühlte er, daß der andere recht hatte.

"Mit dem Verstand, Exzellenz, kann man sich alles zurechtmachen. Gar mit einem, der nicht besonders scharf ist und Ursache und Wirkung verwechselt. – Stecken Sie doch gefälligst den Kopf nicht in den Sand, Exzellenz! Die Politik des Vogel Strauß ziemt sich nicht für einen – Pinguin."

"Sind Sie aber ein unverschämter Kerl!" brauste der kaiserliche Leibarzt auf, jedoch das Phantom ließ sich nicht beirren:

"Besser, ich bin unverschämt, als Sie sind's, Exzellenz. – Glauben Sie, es war keine Unverschämtheit von Ihnen, mit der Brille der Wissenschaft das verborgene Leben eines 'Mondsüchtigen' durchschauen zu wollen? – Wenn's Ihnen nicht paßt, Exzellenz, bitte hauen Sie mir ruhig eine herunter, falls Sie das erleichtern sollte, aber bedenken Sie vorher gefälligst: Mich treffen Sie doch nicht! – Höchstens den armen Zrcadlo. – – Und, sehen Sie, so ähnlich verhält sich die Sache mit dem 'Ich'. – Wenn Sie die elektrische Lampe dort zertrümmern, glauben Sie, daß dadurch die Elektrizität beschädigt wird? – Sie haben sich gedacht: 'Hat mich mein Ich denn verlassen und sich auf den Schauspieler übertragen'? – Ich antworte Ihnen darauf: Das wahre Ich ist nur an der Wirkung zu erkennen. Es hat keine Ausdehnung; und eben, weil es keine hat, ist es – überall. Verstehen Sie wohl: über–all! – Es steht 'über' dem 'all' – ist überall gegenwärtig. –

Es darf Sie nicht wundern, daß Ihr sogenanntes 'eigenes' Ich aus einem anderen deutlicher spricht als aus Ihnen selbst. – Sie sind leider, wie fast alle Menschen, von Kindesbeinen an in dem Irrtum befangen gewesen, unter 'Ich' Ihren Körper, Ihre Stimme, Ihr Denkvermögen oder, weiß Gott, was sonst noch, zu verstehen – und deshalb haben Sie keine blasse Ahnung mehr, was eigentlich Ihr 'Ich' ist. – – – Das Ich fließt durch den Menschen hindurch, deshalb ist ein Umlernen im Denken nötig, um sich selbst im eigenen Ich wiederfinden zu können. – – Sind Sie Freimaurer, Exzellenz? Nein? Schade. – Wenn Sie's wären, wüßten Sie, daß in gewissen Logen der 'Geselle', wenn er 'Meister' werden soll, rückwärts schreitend in das Heiligtum des Meisters eintreten muß. – Und wen findet er darin? Niemand! – Wenn er jemand darin fände, wär's doch ein 'Du' und nicht das 'Ich'. Das Ich ist der Meister! – – – 'Ist denn der Mensch hier vor mir ein unsichtbarer Oberlehrer' – könnten Sie jetzt mit einer gewissen Berechtigung fragen, Exzellenz –, 'daß er mich unterrichtet, ohne von mir dazu aufgefordert zu sein?!' Beruhigen Sie sich, Exzellenz; ich bin hier, weil in Ihrem Leben der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Für manche kommt er überhaupt nie. – Übrigens bin ich kein Oberlehrer. Das sei ferne. Ich bin ein Mandschu."

"Was sind Sie?" platzte der kaiserliche Leibarzt heraus.

"Ein Mandschu. Aus dem Hochland Chinas. Aus dem 'Reich der Mitte'. Wie Sie aus meinem langen Schnurrbart leicht hätten entnehmen können. Das 'Reich der Mitte' liegt östlich vom Hradschin. – Selbst wenn Sie sich je entschließen könnten, über die Moldau hinüber nach Prag zu gehen, hätten Sie von dort immer noch ein erkleckliches Stück nach der – 'Mandschurei'. – –

Ich bin nun keineswegs ein Toter, wie Sie vielleicht aus dem Umstand schließen könnten, daß ich mich des Körpers des Herrn Zrcadlo bediene wie eines Spiegels, um Ihnen zu erscheinen – im Gegenteil: Ich bin sogar ein – Lebendiger. Im innersten Osten gibt es außer mir noch mehrere – Lebendige. Aber lassen Sie sich nicht etwa verleiten, mit Ihrer Droschke und dem Isabellhengst 'Karlitschek' ins Reich der Mitte reisen zu wollen, um dort meine 'nähere' Bekanntschaft zu machen! Das Reich der Mitte, in dem wir wohnen, ist das Reich der 'wirklichen' Mitte. Es ist der Mittelpunkt der Welt, der überall ist. – Im unendlichen Raum ist jeder Punkt ein Mittelpunkt. – Sie verstehen, was ich meine?"

"Will er mich frozzeln?" dachte der Herr kaiserliche Leibarzt mißtrauisch. "Wenn er ein Weiser ist, warum redet er so burschikos?"

Das Gesicht des Schauspielers lächelte unmerklich.

"Feierlich, Exzellenz, ist bekanntlich nur ein Tropf. Wer im Humor nicht fähig ist, den Ernst zu fühlen, der ist auch nicht fähig, den falschen 'Ernst', den ein Mucker für das Um und Auf der Männlichkeit hält, humoristisch zu finden, und ein solcher wird ein Opfer der verlogenen Begeisterungen, der fälschlich sogenannten 'Lebensideale.' – Die allerhöchste Weisheit wandelt im Narrenkleid! – Warum? Weil alles, was einmal als Kleid – und nur als 'Kleid' – erkannt und durchschaut ist – auch der Leib – notgedrungen nur ein Narrenkleid sein kann. – – Für jeden, der das wahre 'Ich' sein eigen nennt, ist der eigene Leib, so wie auch der der andern: ein Narrenkleid, nichts weiter. – Glauben Sie, das 'Ich' könnte es in der Welt aushalten, wenn die Welt wirklich so wäre, wie sie der Menschheit auszuschauen scheint? –

Gut, Sie können einwenden: ringsum, wohin man blickt, ist Blut und Entsetzen. – Aber, woher kommt das? – Ich will es Ihnen sagen: Alles in der äußeren Welt beruht auf dem merkwürdigen Gesetz der 'Plus'- und 'Minus'-Zeichen. – Der 'liebe Gott', scheint es, hätte die Welt erschaffen. Haben Sie sich je gefragt, ob es nicht das Spiel des 'Ichs' war? – Seit die Menschheit denken kann, hat es wohl in jedem Jahr Tausende gegeben, die in dem Gefühl der sogenannten – der falschen! – 'Demut' schwelgten. Was ist das anderes als 'Masochismus', mit dem Mäntelchen einer selbstbelügerischen Frömmelei bekleidet? – Das nenne ich in meiner Sprache das 'Minus'-Zeichen. Und solche 'Minuszeichen', aufgehäuft im Laufe der Zeit, wirken wie ein saugendes Vakuum ins Reich des Unsichtbaren hinein. Das ruft dann ein blutdürstiges, schmerzschaffendes sadistisches Pluszeichen hervor – einen Wirbelstrom von Dämonen, die sich der Gehirne der Menschen bedienen, um Kriege zu entfesseln, Mord und Totschlag zu erzeugen –, so, wie ich mich hier des Mundes eines bewußten Schauspielers bediene, um Ihnen, Exzellenz, einen Vortrag zu halten.

Jeder ist Werkzeug, bloß weiß er's nicht. – Nur das 'Ich' allein ist nicht Werkzeug: es steht im Reich der Mitte, fern von Plus- und Minuszeichen. Alles übrige ist Werkzeug – eines das Werkzeug des andern; das Unsichtbare ist das Werkzeug des 'Ich'.

In jedem Jahr einmal, am 30. April, ist Walpurgisnacht. Da, heißt es im Volksmund, wird die Welt des Spukes frei. – Es gibt auch kosmische Walpurgisnächte, Exzellenz! Sie liegen in der Zeit zu weit auseinander, als daß die Menschheit sich ihrer erinnern könnte, darum gelten sie jedesmal aufs neue, noch nie dagewesene Erscheinung.

Jetzt ist der Anbruch einer solch kosmischen Walpurgisnacht.

Da kehrt sich das Oberste zu unterst und das Unterste zu oberst. Da platzen Geschehnisse beinahe ohne Ursache aufeinander – da ist nichts mehr 'psychologisch' begründet wie in den gewissen Romanen, die das 'Unterleibsproblem' der Li–iebe, sinnig verhüllt, damit es um so schamloser leuchte, als Kernpunkt des Daseins hinstellen und das Heiraten eines Bürgertöchterchens, das keine Mitgift hat, als erlösendes Moment im Dichtwerk erblicken. –

Die Zeit ist wieder da, wo die Hunde des wilden Jägers ihre Ketten zerreißen dürfen, aber auch für uns ist etwas entzweigebrochen: das oberste Gesetz des Schweigens! Der Satz: 'Völker Asiens, hütet eure heiligsten Güter' hat keine Gültigkeit mehr für uns. – Wir geben ihn preis zum Wohl derer, die reif zum 'Fliegen' sind:

Wir dürfen reden.

Das allein ist der Grund, weshalb ich zu Euer Exzellenz spreche. Es ist das Gebot der Stunde, nicht etwa Dero privates Verdienst. – Die Zeit ist da, in der das 'Ich' zu vielen reden soll.

Mancher wird meine Sprache nicht verstehen; über den mag es wie die Unruhe im Innern kommen, die einen Tauben befällt, wenn er ahnt: 'Jemand redet zu mir, aber ich weiß nicht, was er will, das ich tun solle'. – Ein solcher wird dem Wahnwitz verfallen, irgend etwas vollbringen zu müssen, was in Wahrheit nicht der Wille des 'Ichs' ist, sondern der Befehl der teuflischen 'Pluszeichen' am Bluthimmel der kosmischen Walpurgisnacht.

Was ich Euer Exzellenz gesagt habe, geschah für diesmal von einem magischen Bild ausgehend, das sich im Zrcadlo nur spiegelte – die Worte selbst kamen aus dem Reich der Mitte; Sie wissen: aus dem 'Ich', das über – allem ist!

Euer Exzellenz hochwohlgeborene Altvordern haben über ein Jahrtausend dem Ehrgeiz, Leibärzte zu sein, gefrönt, wie wäre es, wenn Exzellenz nunmehr in Erwägung zögen, sich ein wenig um dero Seelen wertes Befinden zu kümmern?

Bisher haben Exzellenz – ich kann es zu meinem Leidwesen nicht verhehlen – Dero Flug nicht hoch genug genommen. Der 'Schnell' mit seinen Paprikas grenzt nicht so unmittelbar, wie es wünschenswert wäre, an das zu erstrebende Reich der Mitte. – Flügelansätze haben ja Exzellenz, daran ist kein Zweifel (wie es jenen ergeht, die gar keine haben, konnten Sie vorhin an dem Herrn Zentralgüterdirektor bemerken, sonst hätte ich mich gar nicht erst herbemüht – Flügel zwar noch nicht, wie gesagt, aber Flügelansätze, etwa so wie ein – wie ein – Pinguin." – – – –

Ein Schlag auf die Klinke unterbrach den Vortrag des beschnurrbarteten Gespenstes; der Spiegel an der langsam sich öffnenden Tür ließ das Zimmer mit allem, was darin war, quer über seine Fläche wandern, daß es aussah, als habe jeder Gegenstand den Halt verloren, und herein trat ein Schutzmann:

"Bitte schän, meine Herren, es is zwälf Uhr! Das Lakal gilt sich heite als gäsperrt!" – – – –

Noch ehe der Herr kaiserliche Leibarzt zu einer der vielen Fragen ausholen konnte, die seine Brust erfüllten, war der Schauspieler bereits schweigend hinausgeschritten.


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