Gustav Meyrink
Walpurgisnacht
Gustav Meyrink

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Hungerturm

In dem mauerumfriedeten stillen Hof des "Daliborka" – des grauen Hungerturms auf dem Hradschin – warfen die alten Linden bereits schräge Schatten, und das kleine Wärterhäuschen, darin der Veteran Vondrejc mit seiner gichtbrüchigen Gattin und seinem Adoptivsohn Ottokar, einem neunzehnjährigen Konservatoristen, wohnte, lag wohl schon eine Stunde in kühlem Nachmittagsdunkel.

Der Alte saß auf einer Bank und zählte und sortierte einen Haufen Kupfer- und Nickelmünzen neben sich hin auf das morsche Brett, die ihm der Tag als Trinkgeld von den Besuchern des Turms eingebracht hatte. Jedesmal, wenn er die Zahl zehn erreichte, machte er mit seinem Stelzbein einen Strich in den Sand.

"Zwei Gulden siebenundachtzig Kreizer", brummte er, als er fertig war, unzufrieden zu seinem Adoptivsohn hin, der, an einen Baum gelehnt, emsig damit beschäftigt war, die spiegelnden Flecken an den Knien seines schwarzen Anzuges rauhzubürsten, und rief es dann mit lautem, militärischem Meldeton durchs offene Fenster in die Stube hinein, damit es seine bettlägerige Frau hören könne.

Gleich darauf sank er, den bis in den Nacken haarlosen Kopf mit der hechtgrauen Feldwebelmütze bedeckt, in starrer, totenähnlicher Ruhe zusammen wie ein Hampelmann, in dem der Lebensfaden plötzlich gerissen ist, und hielt seine halbblinden Augen unbeweglich auf den mit libellenförmigen Baumblüten übersäten Boden geheftet.

Er achtete nicht einmal mit einem Wimpernzucken darauf, daß sein Adoptivsohn den Geigenkasten von der Bank nahm, sich seine Samtkappe aufsetzte und dem schwarz-gelb gestreiften, kasernenmäßigen Ausgangstor zuschritt. Er antwortete nicht auf den Abschiedsgruß. – – – Der Konservatorist schlug den Weg nach abwärts ein, der Thunschen Gasse zu, in der die Gräfin Zahradka ein schmales, finsteres Palais bewohnte, blieb aber nach wenigen Schritten, wie von einem Gedanken erfaßt, stehen, warf einen Blick auf seine abgeschabte Taschenuhr, kehrte hastig um und eilte, die Wiesenstege des "Hirschgrabens" abkürzend, wo immer es ging, zur "Neuen Welt" empor, wo er, ohne anzuklopfen, das Zimmer der "böhmischen Liesel" betrat. – –

Die Alte war so tief versponnen in ihre Jugenderinnerungen, daß sie lange nicht begriff, was er von ihr wollte.

"Zukunft? Was ist das: Zukunft?" murmelte sie geistesabwesend, immer nur die letzten Worte seiner Sätze verstehend, "Zukunft? – Es gibt doch gar keine Zukunft!" – sie musterte ihn langsam von oben bis unten – der verschnürte Studentenrock des jungen Mannes verwirrte sie offenbar. – "Warum nicht goldene Tressen heute? – Er ist doch Oberst-Hofmarschall!" fragte sie halblaut in die leere Luft hinein. – – "Aha, Pan Vondrejc mladsi – ah, der junge Herr Vondrejc will die Zukunft wissen! Ah so." – Jetzt erst erfaßte sie, wen sie vor sich hatte.

Ohne weiter ein Wort zu verlieren, ging sie zur Kommode, bückte sich, fischte unter den Möbeln ein mit rötlichem Modellierton überzogenes Brett hervor, stellte es auf den Tisch, reichte dem Konservatoristen einen hölzernen Griffel und sagte: "Da! Tupfen S', Pane Vondrejc! Von rechts nach links. – Aber ohne zu zählen! – Nur an das denken, was Sie wissen wollen! – Und sechzehn Reihen untereinander."

Der Student nahm den Stift, zog die Augenbrauen zusammen und zögerte eine Weile, dann wurde er plötzlich leichenblaß vor innerer Erregung und stach in fliegender Hast und mit zitternder Hand eine Anzahl Löcher in die weiche Masse.

Die "böhmische Liesel" zählte sie zusammen, schrieb sie in Kolonnen neben- und untereinander auf eine Tafel, während er ihr gespannt zusah, zeichnete die Resultate in geometrische Formen geordnet in ein mehrfach geteiltes Viereck und schwätzte dabei mechanisch vor sich hin:

"Das sind die Mütter, die Töchter, die Neffen, die Zeugen, der Rote, der Weiße und der Richter, Drachenschwanz und Drachenkopf. – Alles genau, wie's die alte böhmische Punktierkunst verlangt. – So haben wir's gelernt von den Sarazenen, eh' sie vernichtet wurden in den Kämpfen am weißen Berg, der ist getränkt von Menschenblut. – Böhmen ist der Herd aller Kriege. – Auch jetzt wieder war's der Herd und wird's immer bleiben. – Jan Zizka, unser Führer Zizka, der Blinde!"

"Was ist's mit Zizka?" fuhr der Student aufgeregt dazwischen, "steht da etwas von Zizka?"

Sie achtete nicht auf die Frage. – "Wenn die Moldau nicht so rasch flösse, heut' noch wäre sie rot von Blut." – Dann änderte sie mit einemmal den Ton wie in grimmiger Lustigkeit: "Weißt du Buberl, warum so viel Blutegel in der Moldau sind? Vom Ursprung bis zur Elbe – wo du am Ufer einen Stein aufhebst, immer sind kleine Blutegel darunter. Das kommt, weil früher der Fluß ganz aus Blut bestand. Und sie warten, weil sie wissen, daß sie eines Tags wieder neues Futter kriegen – – – Was ist das?" – sie ließ erstaunt die Kreide aus der Hand fallen und starrte abwechselnd den jungen Mann und die Figuren auf der Tafel an – "was ist das! – Willst du vielleicht gar Kaiser der Welt werden?"

– Sie sah ihm forschend in die dunklen, flackernden Augen.

Er gab keine Antwort, aber sie bemerkte, daß er sich am Tische krampfhaft festhielt, um nicht zu taumeln. "Am End' wegen der da?" – sie deutete auf eine der geometrischen Figuren. "Und ich hab' immer geglaubt, du hättst ein Gspusi mit der Božena vom Baron Elsenwanger?"

Ottokar Vondrejc schüttelte heftig den Kopf.

"So? Es ist also schon wieder aus, Buberl? – Na, was ein ächtes böhmisches Madel is, trägt nichts nach. Auch nicht, wenn's ein Kind kriegt. – Aber vor der da" – sie zeigte wieder auf die Figur – "nimm dich in acht. – Die saugt Blut. – Sie is auch eine Tschechin, aber von der alten gefährlichen Rass'."

"Das ist nicht wahr", sagte der Student heiser.

"So? Glaubst du? – Sie ist aus dem Stamme Boriwoj, sag' ich dir. Und du" – sie blickte den jungen Mann lang und nachdenklich in das schmale, braune Gesicht – "und du – du bist auch aus der Rasse Boriwoj. So zwei zieht's zueinander wie Eisen und Magnet. – Was braucht man da lang in den Zeichen zu lesen" – sie wischte mit dem Ärmel über die Tafel, ehe sie der Student daran hindern konnte. "Gib nur acht, daß du nicht das Eisen wirst und sie der Magnet, sonst bist du verloren, Buberl. – Im Stamme Boriwoj war Gattenmord, Blutschande und Brudermord an der Tagesordnung. – Denk an Wenzel, den Heiligen!"

Der Konservatorist versuchte zu lächeln. – "Wenzel der Heilige war ebensowenig aus dem Stamme Boriwoj, wie ich es bin. Ich heiß' doch bloß Vondrejc, Frau – Frau Lisinka."

"Sagen Sie mir nicht immer Frau Lisinka!" – wütend schlug die Alte mit der Faust auf den Tisch; "Ich bin keine Frau! – Ich bin eine Hur. – Ich bin ein Fräulein!"

"Ich hätt' nur noch gern gewußt – Lisinka –, was haben Sie da vorhin gemeint mit dem – 'Kaiser werden' und mit Jan Zizka?" fragte der Student eingeschüchtert.

Ein Knarren von der Wand her ließ ihn innehalten. –

Er drehte sich um und sah, daß im Rahmen der langsam sich öffnenden Tür ein Mann stand, eine große, schwarze Brille im Gesicht, den übermäßig langen Gehrock zwischen den Schultern ungeschickt ausgestopft, wie um einen Buckel vorzutäuschen – die Nasenlöcher weit aufgebläht von Wattepfropfen, die darin staken –, eine fuchsrote Perücke auf dem Schädel und einen ebensolchen Backenbart, dem man auf hundert Schritt ansehen konnte, daß er angeklebt war.

"Prosim! Milostpane! Gnädigste!" wandte sich der Fremde mit deutlich verstellter Stimme an die "böhmische Liesel". "Bittschän, Pardon, wann ich stäare, bittschän, war sich nicht vorhin der Herr kaiserliche Leibharz von Flugbeil hier?"

Die Alte verzog ihren Mund zu einem lautlosen Grinsen.

"Bittschän, man hat mir, här' ich, nämlich gesagt, daß er sich hier gewesen is."

Die Alte grinste weiter wie eine Leiche.

Der sonderbare Kerl wurde sichtlich betreten.

"Ich soll nämlich dem Herrn kaiserlichen Leibharz – – –"

"Ich kenn' keinen kaiserlichen Leibarzt!" schrie die "böhmische Liesel" jäh los – "Schauen Sie, daß Sie hinauskommen, Sie Rindvieh!"

Blitzartig schloß sich die Türe und der nasse Schwamm, den die Alte von der Schiefertafel abgerissen und nach dem Besuch geschleudert hatte, fiel klatschend zu Boden. – – –

"Es war nur der Stefan Brabetz", kam sie der Frage des Konservatoristen zuvor. "Er ist ein Privatspitzel. Er verkleidet sich jedesmal anders und glaubt, dann kennt man ihn nicht. – Wenn irgendwo etwas los ist, dann schnüffelt er's heraus. Er möcht dann immer was erpressen, aber er weiß nie, wie er's machen soll. – – – Er ist von unten. Aus Prag. – Da sind sie alle so ähnlich. – Ich glaub', das kommt von der geheimnisvollen Luft, die aus dem Boden steigt. – Alle werden sie im Lauf der Zeit so wie er. Einer früher, einer später, außer sie sterben vorher. – Wenn einer dem anderen begegnet, grinst er hämisch, bloß damit der andere glaubt, man weiß was über ihn. – Hast d' es noch nie bemerkt, Buberl" – sie wurde seltsam unruhig und begann ruhelos im Zimmer hin und her zu wandern – "daß in Prag alles wahnsinnig is? Vor lauter Heimlichkeit? - Du bist doch selbst verrückt, Buberl, und weißt es bloß nicht! – – Freilich, hier oben auf dem Hradschin, da is eine andere Art Wahnsinn. – Ganz anders als unten. – – So – so mehr ein versteinerter Wahnsinn. – Wie überhaupt hier oben alles zu Stein geworden ist. – – Aber wenn's einmal losbricht, dann is es, wie wenn steinerne Riesen plötzlich anfangen zu leben und die Stadt in Trümmer schlagen – – hab ich" – ihre Stimme sank zu leisem Gemurmel herab – "hab' ich mir als kleines Kind von meiner Großmutter sagen lassen. – – Ja, na ja, und der Stefan Brabetz, der riecht's wahrscheinlich, daß hier auf dem Hradschin irgend was in der Luft is. Irgendwas los."

Der Student verfärbte sich und blickte unwillkürlich scheu nach der Tür. "Wieso? Was soll los sein?"

Die "böhmische Liesel" redete an ihm vorbei: "Ja, glaub mir, Buberl, du bist jetzt schon verrückt. – Vielleicht willst du wirklich Kaiser der Welt werden." – Sie machte eine Pause. "Freilich, warum soll's nicht möglich sein? – Wenn's in Böhmen nicht so viele Wahnsinnige gäb', wie hätt's sonst immer der Herd der Krieg sein können! – Ja, sei nur verrückt, Buberl! Dem Verrückten gehört am Schluß doch die Welt. – – Ich bin ja auch die Geliebte vom König Milan Obrenowitsch gewesen, bloß weil ich geglaubt hab', daß ich's werden kann. – Und wieviel hat gefehlt, wär' ich Königin von Serbien geworden!" – – Es war, als erwache sie plötzlich – "Warum bist du eigentlich nicht im Krieg, Buberl? – – So? Einen Herzfehler? - Noja. – Hm. – Und warum meinst du, bist du kein Boriwoj?" – Sie ließ es nicht zur Antwort kommen – "Und wohn gehst du jetzt, Buberl, da mit der Geige?"

"Zur Frau Gräfin Zahradka. Ich soll ihr vorspielen."

Die Alte sah überrascht auf, studierte wieder lang und aufmerksam den Gesichtsausschnitt des jungen Mannes und nickte dann, wie jemand, der seiner Sache gewiß ist. "Ja. Hm. Boriwoj. – – No, und hat sie dich gern, die Zahradka?"

– "Sie ist meine Patin."

Die "böhmische Liesel" lachte laut auf: – "Patin, hähä, Patin!"

Der Student wußte nicht, wie er sich das Gelächter deuten solle. Er hätte seine Frage nach Jan Zizka gern wiederholt, aber er sah ein, daß es vergeblich wäre.

Er kannte die Alte zu lange, um nicht aus ihrer plötzlich ungeduldig gewordenen Miene zu entnehmen, daß sie wünschte, die Audienz beendet zu sehen. – – – –

Mit einem verlegen gemurmelten Dank drückte er sich zur Tür hinaus.

Er war kaum des alten im Abendrot träumenden Kapuzinerklosters, an dem er auf seinem Wege zum Palais der Gräfin Zahradka vorbei mußte, ansichtig geworden, da erklang dicht nebenan, als wolle es ihn begrüßen, gleich einem zauberhaften Orchester von Äolsharfen, das ehrwürdige Glockenspiel der St.-Loretto-Kapelle und zog ihn in seinen magischen Bann.

Eingehüllt von melodisch schwingenden Luftwellen, die ihn umfingen – getränkt von Blütenhauch aus den verborgenen nahen Gärten – wie der unendlich weiche liebkosende Schleier einer unsichtbaren Himmelswelt, blieb er ergriffen stehen und lauschte, bis es ihm schien, als mischten sich die Töne eines alten Kirchenliedes darein, gesungen von tausend fernen Stimmen. Und wie er horchte, da war es, als käme aus seinem Innern – dann wieder, als schwebten die Klänge ihm zu Häupten, um echogleich in den Wolken zu ersterben – bald so nahe, daß er glaubte, die lateinischen Worte der Psalmodie zu verstehen, bald – verschlungen vom hallenden Dröhnen aus dem erzenen Munde der Glocken – nur noch in leisen Akkorden, wie aus unterirdischen Kreuzgängen herauf.

Sinnend schritt er über den mit hellen Birkenzweigen festlich geschmückten Hradschinplatz an der königlichen Burg vorüber, an deren steinerner Resonanz sich die Wogen der Töne brachen, daß er seine Geige in dem hölzernen Kasten vibrieren fühlte, als sei sie in ihrem Sarge lebendig geworden.

Dann stand er auf der Plattform der neuen Schloßstiege und sah die breite Flucht der zweihundert balustradenumsäumten Granitstufen auf ein sonnenbeglänztes Dächermeer hinab, aus dessen Tiefe, einer ungeheuren schwarzen Raupe gleich, eine Prozession langsam heraufkroch.

Tastend schien sie ihren silbernen Kopf mit den purpurgefleckten Fühlern in die Höhe zu heben, wie unter dem weißen Baldachin, den vier Geistliche in Alba und Stola trugen, der Fürsterzbischof mit rotem Scheitelbarett und die Füße in rotseidenen Schuhen, das goldgestickte Pluvial um die Schultern, der singenden Menge voran Stufe um Stufe emporschritt.

In der warmen, unbeweglichen Abendluft schwebten die Flammen über den Kerzen der Ministranten kaum wahrnehmbar als durchsichtige Ovale und zogen dünne schwarze Qualmfäden durch die bläulichen Schwaden der feierlich geschwungenen Weihrauchgefäße hinter sich drein.

Das Abendrot lag auf der Stadt, glomm in Purpurstreifen über die langen Brücken, strömte – in Blut verwandeltes Gold – im Flusse unter ihren Pfeilern dahin.

Loderte in tausend Fenstern, als stünden die Häuser in Brand.

Der Student starrte in das Bild hinein; die Worte der alten Frau und was sie von der Moldau gesagt und daß ihre Wellen einstens rot gewesen, klangen ihm in den Ohren; das Schaugepränge, das die Schloßstiege herauf immer näher und näher ihm entgegenzog: Einen Augenblick ergriff es ihn wie Betäubung; ja so müßte es ein, wenn sein wahnwitziger Traum, gekrönt zu werden, dereinst Erfüllung gefunden haben würde.

Er schloß keine Minute die Augen, um nicht zu sehen, daß sich Leute neben ihn gestellt hatten, die das Kommen der Prozession erwarteten – eine kurze Spanne Zeit nur noch wollte er sich gegen das Gefühl einer nüchternen Gegenwart wehren.

Dann wandte er sich um und durchquerte die Schloßhöfe der Burg, um auf andern menschenleeren Wegen noch rechtzeitig in die Thunsche Gasse zu gelangen. –

Als er um das Landtagsgebäude bog, sah er von weitem zu seiner Verwunderung das breite Tor des Waldsteinpalais weit offenstehen.

Er eilte darauf zu, um einen Blick in den düsteren Garten mit seinen armdicken Efeuranken an den Mauern und die wundervolle Renaissancehalle und die historische Badegrotte dahinter zu erhaschen, die aus seinen Kinderjahren her, als er einmal all diese Pracht einer längst versunkenen Zeit hatte in nächster Nähe besichtigen dürfen, tief wie ein erschütterndes Erlebnis aus Märchenlanden als unauslöschliche Erinnerung in seine Seele eingegraben standen. Lakaien in silberbordürten Livreen und kurzgeschnittenen Wangenbärten, die Oberlippe glattrasiert, zogen schweigend das ausgestopfte Pferd, das einst Wallenstein geritten, heraus auf die Straße.

Er erkannte es an der scharlachfarbenen Decke und den stieren gelben Glasaugen, die ihn, wie er sich plötzlich entsann, schon als Knaben lange bis in den Schlaf so mancher Nacht hinein als rätselvolles Vorzeichen, das er sich niemals deuten konnte, verfolgt hatten.

Jetzt stand das Roß vor ihm in den rotgoldenen Strahlen der scheidenden Sonne, die Füße auf ein dunkelgrünes Brett geschraubt, wie ein riesenhaftes Spielzeug aus einer Traumwelt herübergeholt und mitten hineingestellt in eine phantasiearme Zeit, die den furchtbarsten aller Kriege – den Krieg der Maschinendämonen gegen die Menschen, an dem gemessen die Schlachten Wallensteins anmuteten wie alberne Wirtshausraufereien – mit stumpf gewordenen Sinnen hinnahm.

Wieder – wie vorhin beim Anblick der Prozession – lief es ihm kalt über den Rücken, als er das Pferd ohne Reiter, das nur darauf zu warten schien, daß sich ein Entschlossener, ein neuer Gebieter, in seinen Sattel schwinge, vor sich sah.

Er hörte nicht, daß jemand geringschätzig hinwarf, das Fell sei von Motten zerfressen; – die Frage eines grinsenden Lakaien, der ihn spöttisch aufforderte: "Wollen der Herr Marschall vielleicht geruhen, aufzusteigen?", wühlte sein Innerstes auf und sträubte ihm das Haar, als habe er die Stimme des Herrn des Schicksals aus der Tiefe des Urgrundes vernommen. Der Hohn, der in den Worten des Bedienten lag, glitt an ihm ab. – "Du bist jetzt schon verrückt, Buberl, nur weißt du es nicht", hatte vor einer Stunde die Alte gesagt – aber hatte sie nicht noch im selben Atem hinzugefügt: "Am Ende gehört dem Verrückten doch die Welt!?"

Er fühlte vor wilder Erregung das Herz bis hinauf zum Halse klopfen, riß sich los von seinen Hirngespinsten und floh hinüber zur Thunschen Gasse.

Die alte Gräfin Zahradka pflegte beim Kommen des Frühlings das kleine finstere Palais ihrer Schwester, der verstorbenen Gräfin Morzin, zu beziehen, in dessen Zimmer nie ein heller Lichtstrahl fiel, denn sie haßte die Sonne und den Mai mit seinem lauen brünstigen Atem und den festlich geputzten, fröhlichen Menschen. – Ihr eigenes Haus in der Nähe der Strahower Prämonstratenserklosters auf dem höchsten Punkte der Stadt lag zu solcher Zeit mit geschlossenen Fensterläden im tiefsten Schlaf. – Der Student stieg die schmale, ziegelsteingepflasterte Treppe hinauf, die, ohne einen Vorraum zu berühren, in einen kalten, nüchternen Gang mit Marmorfliesen auslief, in den die Türen der einzelnen Zimmer mündeten.

Gott weiß, woher die Sage, es sei in dem kahlen, amtsgerichtsähnlichen Hause ein ungeheurer Schatz verborgen, und es spuke darin, stammen mochte; fast hätte man vermuten können, ein Witzbold habe sie erfunden, um den Widerspruch gegen alles Romantische, der von jedem Stein des Gebäudes ausging, noch greller hervorzuheben.

Im Nu war jede Spur phantastischer Grübelei bei dem Studenten verflogen; er fühlte sich mit einemmal so deutlich als der mittellose, unbekannte Niemand, der er war, daß er unwillkürlich einen Kratzfuß schon vor der Tür machte, ehe er anklopfte und eintrat.

Das Zimmer, im dem die Gräfin Zahradka ihn, in einem ganz in grauen Rupfen eingenähten Lehnstuhl sitzend, erwartete, war das unbehaglichste, das sich denken ließ; der alte Meißner Kamin, die Sofas, Kommoden, Sessel, der wohl hundertflammige venezianische Kerzenluster, bronzene Büsten, eine Ritterrüstung – – alles war mit Tüchern umhüllt wie vor einer Versteigerung; sogar über den zahllosen Miniaturporträts, die die Wände von oben bis unten bedeckten, hingen Gazeschleier – "zum Schutz gegen die Fliegen", glaubte der Student sich zu erinnern, daß es ihm einmal die Gräfin gesagt hatte, als er, damals ein Kind noch, sie nach dem Grund dieser sonderbaren Abwehrmaßnahmen gefragt hatte. – Oder hatte es ihm nur geträumt? – Die vielen, vielen Male, die er schon hier gewesen, konnte er sich nicht entsinnen, auch nur eine einzige Fliege bemerkt zu haben.

Oft hatte er sich den Kopf zerbrochen, was wohl hinter den trüben Fensterscheiben, vor denen die alte Dame saß, liegen mochte – – ob sie auf einen Hof hinausgingen, auf einen Garten oder auf eine Straße, aber nie hatte er den Versuch gewagt, sich zu überzeugen. – Er hätte zu diesem Behufe an der Gräfin vorbeigehen müssen, und schon der Gedanke daran war ihm unfaßbar.

Der ewig gleiche Eindruck des Zimmers ließ nie einen neuen Entschluß in ihm aufwachen; in demselben Augenblick, wo er den Raum betrat, war er stets wie zurückgeschraubt in die Stunde, als er hier das erstemal seinen Besuch machen mußte, und kam sich vor, als sei sein ganzes Wesen ebenfalls in Rupfen und Leinwand eingenäht – "zum Schutz gegen Fliegen", die es gar nicht gab.

Der einzige Gegenstand, der unverhüllt war oder wenigstens nur teilweise, war ein lebensgroßes Porträt mitten unter den Miniaturen; – in den grauen Kaliko, der es samt dem Rahmen umgab, war ein viereckiges Loch geschnitten, und heraus schaute mit kahlem, birnenförmigen Schädel und den Blick der wasserblauen, gefühllosen Fischaugen ins Leere gerichtet, das hängebackige Gesicht des toten Gatten der alten Dame, des ehemaligen Obersthofmarschalls Zahradka.

Wer es ihm erzählt, hatte Ottokar Vondrejc längst vergessen, aber er wußte irgendwoher, der Graf wäre ein Mensch voll Grausamkeit und erbarmungsloser Härte gewesen, voll Rücksichtslosigkeit nicht nur gegen die Leiden anderer – auch gegen die eigenen; so hätte er als Knabe, zum bloßen Zeitvertreib, sich durch den nackten Fuß einen Eisennagel in die Diele gehämmert.

Katzen gab es eine Unzahl im Hause, lauter alte, langsam schleichende Geschöpfe.

Oft sah der Student ihrer wohl ein Dutzend auf dem Gang auf und nieder wandeln, grau und leise, als warteten sie wie zu Gericht geladene Zeugen, bis man sie einvernähme – aber nie betraten sie das Zimmer, und wenn eine einmal den Kopf irrtümlich zur Tür hereinstreckte, zog sie ihn sofort wieder zurück, gewissermaßen mit einer Entschuldigung, daß sie einsehe, es sei noch nicht an der Zeit, ihre Aussage vorzubringen. – – – – – –

Die Gräfin Zahradka hatte eine eigentümliche Art, den Studenten zu behandeln.

Zuweilen ging von ihr etwas auf ihn über, was ihn berührte wie die zärtliche Liebe einer Mutter, aber es dauerte immer nur wenige Sekunden – im nächsten Augenblick fühlte er eine Welle eiskalter Verachtung, fast wie Haß.

Woher es kam, war ihm nie klargeworden. Es schien mit ihrem ganzen Wesen verwachsen – war vielleicht eine Erbschaft uralter böhmischer Adelsgeschlechter, die seit Jahrhunderten gewohnt gewesen, von demütigen Domestiken umgeben zu sein.

In Worten kam ihre Liebe – wenn es überhaupt eine solche war – nie zum Ausdruck, aber ihr fast grausiger Hochmut trat oft beredt genug hervor, wenn auch mehr in dem schroffen Ton, in dem sie etwas sagte, als in der Bedeutung der Rede selbst. – – –

Am Tage seiner Firmung hatte er ihr auf einer Kinderfidel etwas vortragen müssen – das böhmische Volkslied: "Andulko, mé ditĕ, já vás mám rád", dann später edlere Melodien – als sein Spiel immer besser und vollkommener geworden –, Kirchen- und Liebeslieder bis zu Beethovenschen Sonate, aber nie, gleichgültig, ob es ihm gut oder schlecht gelang, hatte er Anzeichen des Beifalls oder der Mißbilligung an ihrem Gesicht wahrnehmen können. Bis heute wußte er nicht, ob sie seine Kunst zu würdigen verstand.

Zuweilen hatte er versucht, in eigenen Improvisationen zu ihrem Herzen zu sprechen, und aus dem rasch wechselnden Strom, der von ihr auf ihn überging, zu erfühlen getrachtet, ob seine Töne den wahren Eingang zu ihrer Seele gefunden hätten, aber oft konnte er bei leisen Mißklängen seiner Geige Liebe auf sich zuströmen fühlen – dagegen Haß, wenn ihm die höchste Meisterschaft den Bogen führte.

Vielleicht war es der grenzenlose Hochmut ihres Blutes, der die Vollendung in seinem Spiel wie Eingriff in die eigenen Privilegien der Rasse empfand und als Haß aufloderte; vielleicht die Instinkte der Slawin, nur das zu lieben, was schwach und armselig ist; vielleicht war es nur Zufall – aber eine unübersteigliche Schranke blieb es zwischen ihm und ihr, die er sehr bald aufgegeben hatte, wegschieben zu wollen, so, wie er nicht auf den Gedanken kam, zu den Fenstern zu gehen, um hindurchzuspähen. – –

"Alsdann, Pane Vondrejc, spielen S'!" sagte sie in demselben alltäglichen nüchternen Ton, wie stets in solchen Fällen, als er nach einer stummen, ehrerbietigen Verbeugung seinen Instrumentenkasten geöffnet und den Bogen eben angesetzt hatte.

Mehr als je zuvor – und vielleicht durch den Kontrast zwischen den Eindrücken vor dem Waldsteinpalais und der grauen Stube der Gegenwart, die für ihn eine unbewegliche Vergangenheit bedeutete, zurückgeschleudert, wählte er, ohne zu wissen, was er tat, das Lied seiner Firmungszeit, das alberne, sentimentale Lied: Andulko,...; er erschrak, als er über die ersten Takte hinaus war, aber die Gräfin schien weder erstaunt noch ärgerlich – sie hatte ins Leere geblickt wie das Bild ihres Gatten.

Allmählich variierte er die Melodie in Weisen, wie sie ihm der Augenblick eingab.

Es war seine Art, sich von dem eigenen Spiel mit fortreißen zu lassen, dem er dann wie ein staunender Zuhörer lauschen konnte, als sei ein anderer der Geiger und nicht er selber – einer, der in ihm stak und doch nicht er selbst war und von dem er nichts wußte – weder Gestalt noch Wesen –, als daß er den Bogen strich.

Im Geiste wanderte er dabei umher in fremden geträumten Orten, tauchte in Zeiten hinab, die nie eines Menschen Auge gesehen, holte klingende Schätze aus fernen Tiefen – bis er selbst so entrückt war, daß die Wände ringsum für ihn verschwunden und eine neue, ewig wechselnde Welt voll Farben und Klängen ihn umgab.

Dann mochte es zuweilen geschehen, daß die trüben Fenster glashell für ihn wurden und er mit einemmal wußte, daß hinter ihnen ein Feenreich lag in wundersamer Pracht, die Luft voll weißschimmernd im Sommer – und daß er sich durch unendliche laubumwölbte Jasmingänge schreiten sah, liebestrunken die heiße Schulter des jungen, hochzeitlich geschmückten Weibes, das seine ganze Seele mit dem Duft ihrer Haut durchtränkte, innig an die seine gepreßt.

Dann wurde, wie oft, die graue Leinwandhülle um das Bildnis des toten Hofmarschalls zu einer Flut aschblonden Frauenhaares, ein lenzlicher heller Strohhut darüber mit blaßblauem Band, und ein Mädchenantlitz mit dunklen Augen und halboffenen Lippen blickte auf ihn nieder.

Und jedesmal, wenn er die Züge lebendig werden sah, die er unablässig im Schlafen, im Wachen und im Traum, als seien sie sein wahres Herz, in sich fühlte, da schien "der andere" in ihm wie unter einem geheimnisvollen Befehl, der von "ihr" ausging, zu stehen, und sein Spiel bekam die düstere Farbe einer wilden, wesensfremden Grausamkeit. – – –

Die Türe, die ins Nebenzimmer führte, ging plötzlich auf, und das junge Mädchen, an das er dachte, kam leise herein. –

Ihr Gesicht glich dem Bilde der Rokokodame im Elsenwangerschen Palais, ebenso jung und schön wie jenes. –

Eine Schar Katzen spähte hinter ihr drein.

Der Student sah sie an, so ruhig und selbstverständlich, als sei sie immer hier gewesen – warum sollte er sich wundern? –, war sie doch nur aus ihm herausgetreten und vor ihn hin!

Er spielte und spielte. Traumverloren, geistesabwesend. Er sah sich mit ihr in der Krypte der Georgskirche in tiefem Dunkel stehen, das Licht einer Kerze, die ein Mönch trug, flackerte auf ein kaum menschengroßes Steinbild hin, aus schwarzem Marmor gehauen: die Gestalt einer Toten, halb verwest, Fetzen um die Brust, die Augen verdorrt und unter den Rippen in dem grausig aufgerissenen Leib statt eines Kindes eine zusammengeringelte Schlange mit scheußlichem, flachem, dreieckigem Kopf.

Und das Spiel der Geige wurde zu Worten, die der Mönch in der Georgskirche täglich wie eine Litanei, eintönig und geisterhaft, jedem erzählt, der die Krypte besucht:

"Da hat es vor vielen Jahren einen Bildhauer in Prag gegeben, der lebte mit seiner Geliebten in sträflichem Wandel. Und als er sah, daß sie schwanger geworden war, da traute er ihr nicht mehr, im Glauben, sie habe ihn mit einem anderen betrogen, und hat sie erwürgt und hinab in den Hirschgraben geworfen. Dort haben sie die Würmer gefressen, und als man sie fand, da kam man auch dem Mörder auf die Spur und hat ihn mit der Leiche zusammen in die Krypte gesperrt und ihn gezwungen, ihr Bildnis in den Stein zu meißeln zur Sühne für seine Schuld, ehe er aufs Rad geflochten wurde." –

Mit einemmal fuhr Ottokar zusammen, und seine Finger blieben auf dem Griffbrett stehen; er war zu sich gekommen und hatte mit den Augen des Wachseins plötzlich das junge Mädchen erblickt, das hinter den Sessel der alten Gräfin getreten war und ihn lächelnd ansah.

Wie erstarrt, unfähig, sich zu bewegen, hielt er den Bogen auf die Saiten gelegt. – – – –

Die Gräfin Zahradka nahm ihre Lorgnette und drehte langsam den Kopf:

"Spiel' Er weiter, Ottokar; es ist nur meine Nichte. – – Stör Sie ihn nicht, Polyxena."

Der Student rührte sich nicht, nur der Arm sank ihm schlaff herab wie unter einem Herzkrampf.

Wohl eine Minute herrschte lautlose Stille im Zimmer. – – –

"Warum spielt Er nicht mehr?" fuhr die Gräfin zornig auf.

Ottokar riß sich auf, wußte kaum, wie er das Zittern seiner Hände vor ihr verbergen solle – dann winselte die Geige leise und schüchtern:

"Andulko,
Du, du, du – bist so kalt
und machst allen so heiß,
zauberst Flammen hervor aus dem Eis."

"mé ditĕ,
já vás mám rád."

Ein girrendes Lachen der jungen Dame ließ die Melodie rasch verstummen. "Sagen Sie uns lieber, Herr Ottokar, was war das für ein herrliches Lied, das Sie vorhin gespielt haben? War das Phantasie? – Ich – habe – dabei", Polyxena machte nach jedem Wort eine bedeutsame Pause und zupfte dabei mit gesenkten Augen scheinbar nachdenklich an den Fransen des Lehnstuhls, "lebhaft – an die – Krypte – in – der Georgskirche – denken müssen, – Herr – Herr – Ottokar."

Die alte Gräfin zuckte kaum merklich zusammen; es lag etwas in dem Ton, mit dem ihre Nichte den Namen Ottokar ausgesprochen hatte, was sie stutzig machte.

Der Student stotterte verwirrt einige konfuse Worte; er sah zwei Augenpaare unverwandt auf sich gerichtet, das eine so voll verzehrender Leidenschaft, daß es ihm fast das Hirn versengte – das andere durchbohrend, messerscharf, Mißtrauen ausstrahlend und tödlichen Haß zugleich; er wußte nicht, in welches der beiden er blicken solle, ohne nicht das eine aufs tiefste zu verletzen oder vor dem anderen alles, was er fühlte, zu verraten.

"Spielen! Nur spielen! Rasch, rasch!" schrie es in ihm. Er setzte hastig den Bogen an – – –

Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. "Um Gottes willen, nur jetzt nicht abermals das verfluchte 'Andulko, mé ditĕ'!" Er fühlte zu seinem Entsetzen beim ersten Strich, daß es unabwendbar wieder dazu führen mußte – es wurde ihm schwarz vor den Augen –, da kamen ihm die Töne eines Leierkastens draußen auf der Gasse zu Hilfe, und mit wahnwitziger, besinnungsloser Hast fetzte er den abgehackten Gassenhauer mit:

"Mäd–chen mit bla–ssem Gesicht,
die sollen heiraten nicht;
nur die rott – wie die Rosen,
sollen mitt – Männern kosen.
de–nen – schadett es nicht;"

er kam nicht weiter; der Haß, der von der Gräfin Zahradka ausging, schlug ihm fast die Geige aus der Hand. –

Er sah wie durch einen Nebelschleier hindurch, daß Polyxena zu der Standuhr neben der Tür huschte, die Leinwandhülle beiseite zog und die stillstehenden Zeiger auf die Ziffer VIII schob. Er verstand, daß dies die Stunde eines Stelldicheins sein sollte, aber der Jubel erfror unter der Qual seiner würgenden Angst, die Gräfin habe alles durchschaut.

Er sah ihre dürren langen Greisenfinger nervös in dem Strickbeutel an der Stuhllehne wühlen – ahnte: jetzt, jetzt wird sie etwas tun, – etwas unsagbar Demütigendes für ihn – etwas so Schreckliches, das er sich nicht auszudenken getraute. –

"Sie – haben – heute – famos – gespielt, Vondrejc", sagte die Gräfin, Wort für Wort hervorstoßend, zog aus der Tasche zwei zerknüllte Scheine und reichte sie ihm. "Da haben Sie – ein Trinkgeld. Und kaufen Sie sich auf meine Rechnung – ein – Paar – bessere –- Hosen fürs nächstemal; die Ihrigen sind schon ganz speckig."

Der Student fühlte, wie ihm das Herz stillstand vor namenloser Scham.

Sein letzter klarer Gedanke war, daß er das Geld nehmen müsse, wollte er nicht alles verraten; das ganze Zimmer verschwamm vor ihm in eine einzige graue Masse: Polyxena, die Uhr, das Gesicht des toten Hofmarschalls, die Rüstung, der Lehnstuhl – nur die trüben Fenster stachen hervor als weißlich auflachende Vierecke. – Er begriff: Die Gräfin hatte eine graue Leinwandhülle um ihn gezogen – "zum Schutz gegen Fliegen" –, die er bis zum Tode nie mehr würde loswerden können. – – – –

Als er an der Straße stand, war jede Erinnerung, auf welche Weise er die Treppe heruntergekommen war, wie ausgelöscht in ihm. – War er überhaupt jemals oben im Zimmer gewesen? – Das Brennen einer Wunde tief im Innern sagte ihm, daß es wohl so sein müsse. – Auch hielt er das Geld noch in der Hand.

Er steckte es gedankenlos in die Tasche.

Dann fiel ihm ein, daß Polyxena um acht Uhr zu ihm kommen werde; er hörte die Türme ein Viertel schlagen, ein Hund kläffte ihn an, es traf ihn wie ein Peitschenhieb ins Gesicht: Also sah er wirklich so schäbig aus, daß ihn bereits die Hunde der Reichen anbellten?

Er biß die Zähne zusammen, als könne er dadurch seine Gedanken stumm machen, und raste mit zitternden Knien seiner Wohnung zu. –

An der nächsten Ecke blieb er taumelnd stehen: "Nein, nicht nach Hause, nur fort, weit fort von Prag", das Gefühl der Scham verbrannte ihn fast, "am besten ins Wasser!" – Mit dem schnellen Entschluß der Jugend wollte er hinunter zur Moldau laufen – der "andere" in ihm lähmte seine Füße, log ihm vor, er würde Polyxena unfehlbar verraten, wenn er sich ertränkte, verschwieg ihm hinterlistig, daß es nur der Lebenstrieb war, mittels dessen er ihn vom Selbstmord zurückhielt.

"Gott, o Gott, wie soll ich ihr ins Gesicht sehen, wenn sie kommt!" heulte es in ihm auf. – "Nein, nein, sie kommt nicht", suchte er sich zu beruhigen, "sie kann ja nicht kommen, es ist doch alles aus!" – Aber da biß der Schmerz in seiner Brust noch viel wütender um sich: Wenn sie nicht kam, nie mehr kam, wie sollte er dann weiterleben!

Er trat durch die schwarz-gelbe Pforte in den Vorhof der "Daliborka" – wußte, daß die nächste Stunde ein furchtbares, endloses Minutenzählen sein würde: Kam Polyxena, dann mußte er versinken vor Scham – kam sie nicht, dann – – dann wurde die Nacht eine Stunde des Wahnsinns für ihn.

Voll Grauen blickte er zu dem Hungerturm hin, der mit seinem runden weißen Hut hinter der zerbröckelnden Mauer aus dem Hirschgraben ragte. – Immer noch lebte der Turm, fühlte er dumpf – wie viele Opfer waren in seinem steinernen Bauch schon wahnsinnig geworden, aber immer noch hatte der Moloch nicht genug –, jetzt, nach einem Jahrhundert des Todesschlafs, wachte er wieder auf.

Das erstemal seit seiner Kinderzeit sah er ihn nicht als ein Werk von Menschenhand vor sich – nein, es war ein granitenes Ungeheuer mit schauerlichen Eingeweiden, die Fleisch und Blut verdauen konnten gleich denen eines reißenden nächtlichen Tieres. Drei Stockwerke darin, durch waagrechte Schichten voneinander getrennt, und ein rundes Loch mitten hindurch wie eine Speiseröhre, vom Schlund bis hinab in den Magen. – Im obersten hatte in alter Zeit Kerkerjahr um Kerkerjahr in lichtloser schrecklicher Finsternis die Verurteilten langsam zerkaut, bis sie an Stricken hinuntergelassen wurden in den mittelsten Raum zum letzten Krug Wasser und Brot, um dort zu verschmachten, wenn sie nicht vorher wahnsinnig wurden von dem aus der Tiefe hauchenden Fäulnisgeruch und sich selbst hinabstürzten zu den verwesenden Leichen ihrer Vorgänger.

In dem Lindenhof atmete die taukühle Feuchte der Abenddämmerung, aber immer noch stand das Fenster des Wärterhäuschens offen.

Ottokar setzte sich leise auf die Bank, um die alte, gichtbrüchige Frau nicht zu stören, die dahinter schlief, wie er glaubte. Einen kurzen Augenblick nur wollte er sich aus dem Kopfe reißen, was geschehen war, ehe die marternde Qual des Wartens begänne – –; der kindische Versuch eines Jünglings, der wähnt, er könne sein Herz überlisten. – – –

Eine plötzliche Schwäche befiel ihn; mit aller Kraft mußte er sich gegen den Schluchzkrampf wehren, der ihm die Kehle zusammenschnürte und ihn zu ersticken drohte. –

Eine klanglose Stimme aus dem Innern des Zimmers, wie in Kissen hineingesprochen, drang an sein Ohr:

"Ottokar?"

"Ja, Mutter?"

"Ottokar, willst du nicht hereinkommen, essen?"

"Nein, Mutter, ich hab' keinen Hunger, ich – ich hab' schon gegessen."

Die Stimme schwieg eine Weile.

Im Zimmer schlug eine Uhr leise und metallisch halb acht. Der Student preßte die Lippen aufeinander und verkrampfte die Hände: – – – "Was soll ich nur tun – was soll ich nur tun!"

Wieder erwachte die Stimme: "Ottokar?"

Er gab keine Antwort.

"Ottokar?"

"Ja, Mutter?"

"Warum – warum weinst du, Ottokar?"

Er zwang sich zu einem Lachen:

"Ich? Was fällt dir ein, Mutter! – Ich wein' doch nicht. – – Warum sollt' ich denn weinen?"

Die Stimme schwieg ungläubig.

Der Student hob den Blick von der schattengereiften Erde – – "Wenn nur die Glocken endlich schlagen wollten und die Totenstille unterbrechen."

– Er sah in den scharlachfarbenen Riß am Himmel hinein – fühlte, daß er irgend etwas sagen müsse:

"Ist der Vater drinnen?"

"Er ist im Wirtshaus", kam's nach einer Weile zurück. Er stand rasch auf:

"Dann gehe ich auch auf eine Stunde hin. – Gute Nacht, Mutter!" – Er griff nach seinem Geigenkasten und blickte zum Turm.

"Ottokar?"

"Ja? Soll ich das Fenster schließen?"

"Ottokar! – – Ottokar, ich weiß doch, daß du nicht ins Wirtshaus gehst. – Du gehst in den Turm?"

"Ja – – dann – später. – Es – es übt sich dort am besten; gute N – – –."

"Kommt sie heute wieder in den Turm?"

"Die Božena? – Ach Gott – nun ja, vielleicht. Wenn sie Zeit hat, kommt sie manchmal. Wir plaudern dann ein bissel zusammen. – – Soll ich – soll ich dem Vater etwas ausrichten?"

Die Stimme wurde noch trauriger:

"Glaubst du, ich weiß nicht, daß es eine andere ist? – Ich hör's am Schritt. – So leicht und schnell geht niemand, der am Tag schwer gearbeitet hat." –

"Aber was du wieder denkst, Mutter" – er versuchte zu lachen.

"Ja, du hast recht, Ottokar – schließ die Fenster – ich schweig' ja schon. – Und's is auch besser so – dann hör' ich doch die furchtbaren Lieder nicht, die du immer spielst, wenn sie bei dir ist. – – Ich – ich wollt', ich könnt dir helfen, Ottokar!"

Der Student hielt sich die Ohren zu, dann riß er die Geige von der Bank, eilte zu dem Durchlaß in der Mauer und lief die steinernen zerfallenen Stufen hinunter über eine kleine Holzbrücke in das oberste Stockwerk des Turmes. – – –

Aus dem halbrunden Raum, in dem er stehenblieb, ging eine schmale Fensternische, eine Art erweiterte Schießscharte, durch die meterdicken Mauern hinaus nach Süden, und die Silhouette des Domes über der Burg schwebte darin.

Für die Besucher, die tagsüber die "Daliborka" besichtigen kamen, waren ein paar rohe Holzstühle in den Raum gestellt, ein Tisch mit einer Wasserflasche darauf und ein alter verblichener Diwan. In dem herrschenden Halbdunkel sahen sie aus wie mit Mauern und Boden verwachsen. Eine kleine eiserne Tür mit einem Kruzifix führte in das Gelaß nebenan, in dem vor zweihundert Jahren eine Gräfin Lambua, die Ururgroßmutter der Komtesse Polyxena, eingekerkert gewesen war. – Sie hatte ihren Gatten vergiftet und, ehe sie im Wahnsinn starb, sich die Adern des Handgelenkes aufgebissen und mit ihrem Blut sein Bild an die Wand gemalt.

Dahinter lag eine lichtlose Kammer, kaum sechs Fuß im Geviert, in deren Mauerquadern ein Gefangener mit einem Eisenstück eine Höhlung gekratzt hatte, so tief, daß sich ein Mensch darin zusammenkauern konnte. Dreißig Jahre hatte er daran gegraben – noch eine Handbreit weiter, und er wäre ins Freie gelangt, um sich – hinab in den Hirschgraben stürzten zu können.

Aber noch rechtzeitig hatte man ihn entdeckt und im Innern des Turmes dem Hungertod überliefert. – – –

Ruhelos ging Ottokar auf und nieder, setzte sich in die Fensternische, sprang wieder auf; einen Augenblick lang wußte er bestimmt, Polyxena werde kommen – im nächsten war er überzeugt, er würde sie nie wiedersehen; von beiden Aussichten erschien ihm eine schrecklicher als die andere.

Sie waren Hoffnung und Furcht zugleich für ihn.

Jede Nacht nahm er Polyxenas Bild mit in den Traum hinein, es erfüllte im Schlafen und im Wachen sein ganzes Leben; wenn er spielte, dachte er an sie – war er allein, so sprach er innerlich mit ihr; die phantastischsten Luftschlösser hatte er ihretwegen und für sie gebaut – und wie würde es in Hinkunft sein? – "Das Leben ein Kerker ohne Licht und Luft", stellte er sich vor in der ganzen uferlosen kindischen Verzweiflung, deren nur ein Herz von neunzehn Jahren fähig ist. –

Der Gedanke, er könne jemals wieder auf seiner Geige spielen, erschien ihm als die unmöglichste aller Unmöglichkeiten. – – Eine feine unhörbare Stimme in seiner Brust sagte ihm, daß alles ganz, ganz anders kommen werde, als er sich denke, aber er schenkte ihr kein Gehör – wollte nicht hören, was sie ihm zu sagen habe.

Oft ist ein Schmerz so übermächtig, daß er nicht geheilt werden will und ein Trost, selbst wenn er aus dem eigenen Innern kommt, ihn nur noch heißer brennen macht. – – Die zunehmende Dunkelheit in dem öden Raum steigerte die Erregung des jungen Mannes von Minute zu Minute bis zur Unerträglichkeit.

Jeden Augenblick glaubte er ein leises Geräusch von draußen zu hören, und das Herz blieb ihm stehen bei dem Gedanken, "sie" müsse es sein. Dann zählte er die Sekunden, bis sie seiner Berechnung nach sich hereintasten müßte, aber jedesmal hatte er sich getäuscht, und das Gefühl, sie könne vielleicht auf der Schwelle umgekehrt sein, stürzte ihn in eine neue Art von Verzweiflung.

Vor wenigen Monaten erst hatte er sie kennengelernt – wie ein zu Wirklichkeit gewordenes Märchen kam es ihm vor, wenn er daran zurückdachte. – Zwei Jahre früher schon hatte er sie gesehen als Bild – als das Bildnis einer Dame aus der Rokokozeit mit aschblondem Haar, schmalen, fast durchsichtigen Wangen und einem eigentümlichen, grausam-wollüstigen Zug um die halboffenen Lippen, hinter denen winzig kleine, blutdürstige Zähne weiß hervorschimmerten. – Es war im Palais Elsenwanger gewesen, in dessen Ahnensaal das Bildnis hing, und als er eines Abends dort vor den Gästen spielen mußte, hatte es ihn von der Wand herab angeblickt und sich seitdem in sein Bewußtsein eingebrannt, daß er es immer wieder, sooft er in der Erinnerung daran die Augen schloß, deutlich vor sich sah. Und allmählich hatte es sich seiner sehnsüchtigen jungen Seele bemächtigt und sein ganzes Sinnen und Trachten derart gefangengenommen, daß es für ihn Leben gewann und er es oft wie ein Geschöpf von Fleisch und Blut an seine Brust geschmiegt fühlte, wenn er abends auf der Bank unter den Lindenbäumen saß und von ihm träumte.

Es sei das Bildnis einer Gräfin Lambua, hatte er erfahren, und ihr Vorname wäre Polyxena gewesen.

Alles, was er an Schönheit, Wonne, Herrlichkeit, Glück und Sinnenrausch sich in knabenhafter Überschwenglichkeit auszudenken vermochte, legte er von da an in diesen Namen hinein, bis er für ihn ein Zauberwort wurde, das er nur zu flüstern brauchte, um sofort die Nähe der Trägerin wie eine markversengende Liebkosung zu empfinden. Trotz seiner Jugend und bis dahin unerschüttert gewesenen Gesundheit fühlte er doch genau, daß das plötzlich bei ihm auftretende Herzleiden unheilbar sei und er wohl in der Blüte der Jahre sterben werde, aber er empfand es stets wie einen Vorgeschmack von der Süßigkeit des Todes und nie mit Trauer.

Die seltsame weltfremde Umgebung des Hungerturmes mit den düsteren Historien und Sagen hatte von Kindheit an einen Hang zum Luftschlösserbauen in ihm erweckt, dem das äußere Leben mit seiner Ärmlichkeit und bedrückenden Enge wie etwas Feindliches, Kerkerhaftes gegenüberstand.

Niemals war ihm eingefallen, das, was er erträumte und voll Sehnsucht empfand, in die Gegenwart der irdischen Wirklichkeit hineinzuziehen zu wollen. Die Zeit war für ihn leer an Plänen für die Zukunft.

Verkehr mit gleichaltrigen Genossen hatte er so gut wie nie gehabt – die "Daliborka" mit dem einsamen Vorhof, seine beiden wortkargen Pflegeeltern und der alte Lehrer, der ihn bis über die Kinderjahre hinaus unterrichtet hat, da seine Gönnerin, die Gräfin Zahradka, nicht wünschte, daß er die Schule besuchte, waren für ihn die ersten und lange die einzigen Eindrücke gewesen.

Die äußere Freudlosigkeit und Absonderung von der Welt des Ehrgeizes und der Jagd nach Erfolg und Gelingen hätte ihn wohl frühzeitig zu einem jener auf dem Hradschin so zahlreichen Sonderlinge gemacht, die, unberührbar von der hämmernden Zeit, ein tatenloses, eingesponnenes Eigenbrötlerdasein führen, wäre nicht eines Tages ein Ereignis in sein Leben getreten, das seine Seele bis auf den Grund aufwühlte – ein Ereignis, so spukhaft und wirklich zugleich, daß es mit einem Schlag die trennende Mauer zwischen Innen und Außen zerbrach und aus ihm einen Menschen machte, dem in Momenten der Ekstase das wahnwitzigste Hirngespinst fast mühelos erfüllbar scheinen konnte:

Er hatte im Dom zwischen rosenkranzbetenden Frauen gesessen, die kamen und gingen, ohne daß er, in langes geistesabwesendes Starren auf das Tabernakel versunken, es bemerkte, bis er plötzlich wahrnahm, daß die Kirche leer geworden und neben ihm – das Bild Polyxenas saß.

Zug für Zug dasselbe, von dem er die ganze Zeit über geträumt hatte.

In jenem Moment war die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit für ihn überbrückt; es war nur eine Sekunde gewesen, denn in der nächsten wußte er, daß er ein lebendes junges Mädchen vor sich sah, aber der kurze Augenblick hatte genügt, den geheimnisvollen Hebeln des Schicksals den Angriffspunkt zu schaffen, den er braucht, um das Leben eines Menschen für immer aus der vorgezeichneten Bahn wägender Verstandsschlüsse in die grenzenlosen Welten zu schleudern, in denen der Glaube Berge zu versetzen vermag.

In der sinnverwirrten Begeisterung eines Verzückten, der den Gott seiner Sehnsucht plötzlich von Angesicht zu Angesicht schaut, hatte er sich damals mit ausgebreiteten Armen von dem fleischgewordenen Bild seiner Träume niedergeworfen, hatte ihren Namen gerufen, ihre Knie umfaßt, ihre Hände mit Küssen bedeckt – hatte ihr, bebend vor Erregung, in einer Flut sich überstürzender Worte erzählt, was sie ihm sei und daß er sie seit langem kenne, ohne sie jemals lebendig gesehen zu haben.

Und eine wilde, unnatürliche Liebe hatte sie beide noch in der Kirche, in der Gegenwart der goldenen Statuen der Heiligen ringsum, erfaßt wie ein teuflischer Wirbelwind, erschaffen aus den plötzlich erwachten gespenstischen Schwaden der jahrhundertelang zu Bildern erstarrten Vorfahren einer leidenschaftsverzehrten Ahnenreihe.

Als habe sich ein Satanswunder begeben, war das junge Mädchen, das kurz vorher noch unberührt und unbefangen den Dom betreten hatte, beim Verlassen der Kirche auch in das seelische Ebenbild ihrer Stammesmutter verwandelt worden, die denselben Namen "Polyxena" getragen hatte und jetzt als Porträt im Schloß des Barons Elsenwanger hing.

Seitdem waren sie zusammengekommen, wann immer sich die Gelegenheit bot, ohne sich zu verabreden und ohne sich je zu verfehlen. Es war, als fänden sie zueinander, nur von dem magischen Zug ihrer Leidenschaft gelenkt – instinktiv wie stumme brünftige Tiere, die keine Verständigung brauchen, weil sie die Stimme ihres Blutes verstehen.

Keinem von beiden erschien es jemals erstaunlich, wenn der Zufall ihre Wege sich kreuzen ließ genau in der Stunde, wo sie am heftigsten nacheinander begehrten, und ihm bedeutete es nur eine stete, fast gesetzmäßig gewordene Erneuerung des Wunders, wenn er statt ihres Bildes an seiner Brust sie plötzlich selbst erblickte, so wie es eben erst vor einer Stunde der Fall gewesen war. – – – –

Als er ihre Schritte – diesmal wirklich – dem Turme näher kommen hörte, war seine Qual auch schon verflogen – verblaßt wie die Erinnerung eines längst überstandenen Leides. –

Nie wußte er, wenn sie sich in den Armen hielten: War sie durch die Mauern gekommen wie eine Erscheinung oder durch die Tür getreten?

Sie war bei ihm, das war alles, was er in solchen Fällen begriff; was vorher lag, verschlang der Abgrund der Vergangenheit mit rasender Eile, kaum daß es sich vollzogen hatte. –

So war es auch jetzt wieder.

Er sah ihren Strohhut mit dem blaßblauen Band aus dem Dunkel des Raumes schimmern, achtlos auf den Boden geworfen – gleich darauf war alles verschwunden: Ihre weißen Kleider bedeckten in Nebelballen den Tisch, dann wieder lagen sie auf den Stühlen verstreut; er fühlte ihr heißes Fleisch, den Biß ihrer Zähne an seinem Hals, er hörte ihr wollüstiges Stöhnen – – alles, was geschah, war schneller, als er es erfassen konnte – reihte sich zusammen aus Bildern, die sich blitzschnell verdrängten: eines immer betäubender als das andere. Ein Sinnenrausch, an dem jeder Zeitbegriff zerschellte. – – – Hatte sie von ihm verlangt, er solle ihr auf der Geige vorspielen?

Er wußte es nicht – konnte sich nicht entsinnen, daß sie es gesagt hätte.

Er wußte nur, daß er aufrecht vor ihr stand, seine Lenden von ihren Armen umschlungen – er fühlte, daß der Tod ihm das Blut aus den Adern sog – daß sich ihm das Haar sträubte, die Haut kalt gerann und seine Knie zitterten. Er konnte nicht mehr denken – glaubte zuweilen, er falle nach rückwärts; dann wieder erwachte er im selben Moment, wie gehalten von ihr, und hörte ein Lied aus den Saiten klingen, das wohl sein Bogen strich und seine Hand, das aber auch von ihr kam – aus ihrer Seele und nicht aus der seinen –, ein Lied, gemischt mit Wollust, Grauen und Entsetzen.

Halb in Ohnmacht, wehrlos, lauschte er, was die Töne erzählten – in Bildern sah er vorüberziehen, was sich Polyxena ausmalte, um die Raserei ihrer Brunst noch zu steigern – –, er fühlte, wie sich ihre Gedanken auf sein Hirn übertrugen, sah sie als Geschehnisse lebendig werden und dann wieder in verschnörkelten Buchstaben auf einer steinernen Tafel stehen: Es war die alte Chronik von der Entstehung des Gemäldes "Das Bild des Gespießten", wie sie aufgeschrieben ist in der "kleinen Kapelle" auf dem Hradschin zum Gedächtnis an das schreckliche Ende eines, der sich vermessen, nach der Krone Böhmens zu greifen:

"Nun war dem einen Ritter von denen, die man auf Pfähle gesteckt, namens Borivoj Chlavec, der Pfahl neben der Achsel hinausgegangen und der Kopf unverletzt blieben; dieser betete mit großer Andacht bis an den Abend, und des Nachts brach ihm der Pfahl entzwei, zunächst am Hintern, so ging er mit dem anderen Teil, so in ihm steckte, bis auf den Hradschin und legte sich auf einen Misthaufen. Des Morgens stand er auf und ging in das Haus neben der Kirchen St. Benedicti, ließ ihm einen Priester aus der Priesterschaft der Prager Schloßkirchen holen und beichtete unserem Herrn Gott in seiner Gegenwart seine Sünde mit großer Andacht, und meldete darneben, daß er ohne Beicht und Empfangnuß des hochwürdigen Sakraments, wie es von der christlichen Kirchen unter einerlei Gestalt geordnet, keineswegs sterben könnte, darum er aus dem Glauben diesen Gebrauch gehalten, daß er alle Tage Gott dem Allmächtigen zu Ehren ein Ave Maria, und der heiligen Jungfrau zu Ehren hätt ein kurzes Gebetlein täglich versprochen und sey also bis auf die Zeit des Vertrauens gewesen, daß er durch dieses Gebetlein und der heiligen Jungfrau Vorbitt, ohne Empfahung des hochwürdigen Abendmahles nicht sterben werde.

Der Priester sprach: Lieber Sohn, sage mir dasselbe Gebet, er fing an und sprach: Allmächtiger Herr Gott, ich bitte, du wolltest mich der St. Barbara, deiner Märtyrerin, Vorbitt genießen lassen, auf daß ich dem schnellen Tode entgehe, und vor meinem Ende mit dem hochwürdigen Sakrament versehen, auch von allen meinen Feinden, sichtbaren und auch unsichtbaren, beschützt, vor den bösen Geistern bewahret, und endlich zu dem ewigen Leben gebracht werden möchte, durch Christus unseren Heiland und Seligmacher, Amen.

Nach diesem ward ihme vom Priester das hochwürdige Sakrament gereicht, und ist desselben Tages gestorben und bei der Kirchen St. Benedicti mit viel Volks Beweinen begraben worden." – – – – – – – – – –

Polyxena war gegangen, der Turm lag leblos grau unter den funkelnden Sternen der tiefen Nacht; aber in seiner steinernen Brust klopfte ein winziges Menschenherz, bis zum Zerspringen gefüllt mit dem Gelöbnis, nicht zu ruhen noch zu rasten und lieber die Qualen des grausam Gepfählten tausendfach zu erdulden, als zu sterben, bevor er der Geliebten das Höchste gebracht, was menschlicher Wille zu erringen vermöchte.


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