Gustav Meyrink
Der Engel vom westlichen Fenster
Gustav Meyrink

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Als wir uns zum Abstieg von der Ruine anschickten, blickte ich noch einmal zurück; durch eins der Basteitore wie in einen Bildrahmen gefaßt, eröffnete sich mir ein Schauspiel, das ich nie vergessen werde: wie in loderndes Feuer getaucht brannten da im Rot des Sonnenabends mitten unter Mauerschutt der Ruine Elsbethstein Blumenbeete von unsagbar wilder Pracht. Der Wassernebel der heißen Springbrunnen zog plötzlich, von einem Windstoß getrieben, über den verwahrlosten Park, und mich ergriffs, als bilde sich daraus phantastisch die Gestalt, in fließend silbriges Gewand gehüllt, einer majestätisch einherschreitenden Frau. Die Herrin der Burg? Die sagenhaft an meinen innern Sinnen vorübergleitende Königin Elsbeth des irrsinnigen Turmwärters und "Gärtners"?

Dann saßen wir wieder im Automobil, und ich durchlebte die halsbrecherische Fahrt zu Tal wie in einem Zustand der Benommenheit. Alle schwiegen.

Plötzlich hörte ich die Fürstin sagen:

"Was halten Sie davon, liebste Frau Fromm, wenn wir recht bald den Besuch dieses märchenhaft schönen Ausflugsziels wiederholten?"

Jane lächelte zustimmend und erwiderte:

"Ich wüßte nicht, Fürstin, was mir lieber wäre, als einer solchen Einladung folgen zu dürfen!"

Im stillen freute ich mich, daß die beiden Frauen sich so gut vertrugen, zumal ich sah, daß die Fürstin Janes Hand ergriff und herzlich drückte. Mir war, als nehme dieser Akt beiderseitiger Freundschaft eine böse, unbestimmte Ahnung von mir; ich hätte nicht sagen können, warum. Beruhigt schaute ich aus dem geräuschlos fliegenden Lincoln zum leuchtenden Abendhimmel empor.

Hoch oben in dem türkisblauen Dom glänzte die feine scharfe Sichel des abnehmenden Mondes.

Die zweite Schau

Kaum war ich mit Jane in meiner Wohnung angelangt, da bat ich sie um die Erlaubnis, mir die sonderbare Gabe des irrsinnigen Gärtners genauer betrachten zu dürfen.

Ich untersuchte die dolchartige Waffe auf das sorgfältigste. Schon der erste Blick belehrte mich, daß Klinge und Heft nicht ursprünglich zusammengehört hatten. Die Klinge war offenbar schon in sehr alter Zeit am Senkzapfen abgebrochen und die Spitze einer Lanze gewesen. Etwas Fremdartiges charakterisierte das mir unbekannte Metall; es sah fettig aus – gar nicht wie Stahl –, glänzte matt, fast wie Flintstein oder graubläulicher andalusischer Feuerstein. – Und dann das edelsteinbesetzte Heft! Es konnte kein Zweifel herrschen: dieses leicht mit Zinn legierte Kupfer zeigte alle Merkmale südwestkarolingischer oder frühmaurischer Metallurgie. Karneole, Kalaite, und da: in verschlungenem, schwer zu deutendem Ornament drachenähnliche Wesen. Drei Fassungsringe. Zwei davon leer, die Steine ausgebrochen. Im dritten Ring ein Saphir ... Über den Häuptern der Drachen ein krönender Stein. Unwillkürlich mußte ich an einen karfunkelhellen Kristall denken ...

Ich sagte mir: dieser Dolch paßt zu der Beschreibung in der Vitrine der Fürstin wie nur irgendeiner. Kein Wunder, daß sie so aufgeregt war, als sie ihn erblickte.

Die ganze Zeit über stand Jane hinter mir und schaute mir über die Schulter.

"Was interessiert dich so sehr, Liebster, an diesem alten Brieföffner?"

"Brieföffner?" – Zuerst verstand ich nicht; dann mußte ich laut auflachen über die weibliche Ahnungslosigkeit, eine vielleicht tausendjährige Stoßwaffe kurzweg ein Falzbein zu nennen.

">Du lachst mich aus, Liebster? Warum?"

"Mein Liebling, du irrst ein wenig: das ist kein Brieföffner, sondern ein maurischer Dolch."

"Du glaubst mir nicht, Jane?"

"Warum soll ich nicht? – Nur ist mir eingefallen, es müsse ein Brieföffner sein."

"Wie kommst du bloß auf diesen sonderbaren Einfall?"

"Ja, du hast recht, es ist – es ist ein Einfall. Es ist mir eingefallen."

"Was ist dir eingefallen?"

"Daß es ein Brieföffner ist! Ich habs doch gleich gewußt."

Ich sah Jane an; sie starrte auf den Dolch. Mich durchzuckte es plötzlich:

"Kennst du den Dolch ... den ... Brieföffner?"

"Wie sollte ich kennen, was man mir erst heute nachmittag ... aber, laß nur, du hast ganz recht; wenn ich das Ding anschaue ... und je länger ich es anschaue ... je länger ich es anschaue .. desto deutlicher ... meine ich ... daß ich es kenne." Mehr war aus Jane nicht herauszubringen.

Die Aufregung, die mich überfiel, war zu stark, als daß ich wagen durfte, mit Jane zu experimentieren. Ich hätte auch kaum gewußt, wie es anfangen. So viele Gedanken und Ahnungen bestürmten mich, daß ich Jane, um allein zu sein, bat, nach ihren Hausfrauenpflichten zu sehen, da ich eine dringende Schreibarbeit hätte, und sie unter Küssen entließ.

Kaum war sie draußen, stürzte ich wie wild über meinen Schreibtisch her und kramte und wühlte in den Papieren John Dees und in dem Stoß meiner Dokumente umher, um zu finden, wo mein Ahnherr etwa den Erbdolch seines Geschlechtes erwähnt haben möchte. Ich fand nichts dergleichen. Endlich fiel mir das grüne Hadernheft in die Hand; ich schlug es aufs Geratewohl auf und las:

Und in jener Nacht der schwarzen Versuchung habe ich verloren, was mein köstlichstes Erbteil war: meinen Talisman, den Dolch, – die Speerspitze des Ahnen Hoël Dhat. Ich habe es verloren auf der Wiese des Parkes bei der Beschwörung; und mir ist, als hätte ich es noch in der Hand gehalten nach Weisung des Bartlett Green, als das Gespenst auf mich zukam und ich ihm die Hand reichte. – Nach dem aber nicht mehr! – Also habe ich der schwarzen Isaïs bezahlt, was immer ich hernach von der schwarzen Isaïs empfing. – – – Es dünkt mich fast ein zu hoher Kaufpreis ihrer Betrügerei.

Ich grübelte vor mich hin: was bedeutet diese Wendung von "dem zu hohen Kaufpreis"? – Keine Möglichkeit, aus den Urkunden einen Fingerzeig zu gewinnen! Plötzlich kam mir ein Einfall: ich griff mit rascher Hand nach dem magischen Kohlenspiegel.

Aber es ging mir wie damals, als ich zum erstenmal versucht hatte, in seinen schwarzglänzenden Flächen zu lesen. Die Kohle in meiner Hand blieb tote Kohle.

Lipotin! – fiel mir da ein und sein Räucherpulver. Hastig sprang ich auf, fand auch bald nach kurzem Suchen die rote Kugel wieder, aber sie war leer, völlig leer und daher wertlos für mich.

Im selben Augenblick jedoch stieß ich auf die Onyxschale, in der ich damals das Räucherpulver verbrannt hatte. Ob Jane sie mit dem Ordnungssinn der Hausfrau hatte reinigen lassen? – Nein! In der Schale klebte noch mit harter Kruste der dunkelbraune Rückstand des magischen Präparates. Von dieser Minute an handelte ich fast wie unter Zwang; es war kein vernünftiges Überlegen, das mich nach dem Siegellämpchen greifen ließ. Hastig goß ich ein wenig daraus in die Schale. Der Spiritus flammte auf. Flüchtig kam mir der Gedanke: vielleicht ist der Unsinn, den ich da anstelle, nicht einmal so groß, vielleicht glimmt nochmals ein Rest nach ...

Die Flamme erlosch schnell. Ein feines Glühen strahlte unter dem Aschenrest hervor. Dünner Rauchfaden stieg auf. –

Rasch neigte ich den Kopf über die Schale und atmete tief ein. Noch beißender als damals drang der Geruch in meine Brust. Widerwärtig! Kaum zu ertragen. Wie wird es mir möglich sein, freiwillig, ohne Hilfe, hinüber zu gelangen über die Schwelle des Erstickungstodes?! – Soll ich Jane rufen? Damit sie mir den Kopf, erbarmungslos wie damals der rotmützige "Lipotin", über die Schale hält, mich mit eisernem Griff, wenn ich ersticke, festhält? Ich biß die Zähne zusammen vor würgendem Ekel und mit Aufgebot aller Energie. ... "Ich zwings!": der Wahlspruch meiner Ahnen fiel mir plötzlich ein! Die Devise der Dees!

Dann das furchtbare Rütteln der Todesschauer. Halbe Gedanken kreisen in meinem Blut: es ist ein Ertrinken wie in ganz flachem Wasser! – Ich zwings! – Selbstmord in einer Waschschüssel ... nur hysterische Weiber bringen so was fertig, habe ich einmal – irgendwann – sagen hören oder gelesen ... alle Achtung vor den hysterischen Weibern! Ich bin ein Mann, und mir will das verflucht schwer vorkommen? Verflucht schwer ... ah! Rettung! Hilfe! ... Da ... ganz fern ...: Der Rotkappenmönch ... riesengroß ... der Meister der Einweihung ... gar nicht wie Lipotin sieht er aus ... er habt die Hand ... die linke Hand ... er tritt hinter mich ... blitzartig schnell tauche ich hinab in den Abgrund des Totenreiches. –

Als ich emportaumelte, schwere Schmerzen im Hinterhaupt, durch und durch vergiftet, wie ich fühlte, war die stinkende Schale nur mehr mit lockerer Asche gefüllt. Ich war kaum imstande, meine entflohenen Gedanken wieder einzufangen, dann aber trat immer deutlicher vor mein inneres Gesicht, was ich bezweckt hatte: rasch ergriff ich den Kohlespiegel und starrte hinein. Ich fühlte beruhigt: zum andern Male, aber aus eigener Kraft, hatte ich den Tod durchschritten! – – – –

Dann sah ich mich selbst sitzen in einem rückwärts fahrenden Automobil, das, die Karosserie voraus und Kühler und Motorhaube hinterdrein, mit gespenstischer Geschwindigkeit an unserm Strom dahinraste. Links und rechts neben mir saßen Jane und die Fürstin Chotokalungin. Beide schauten geradeaus; keine Wimper, kein Muskel in ihren Gesichtern bewegte sich.

Ruine Elsbeth flog vorüber. – Die Quellen des Lebens rauschten, sagte ich zu mir. Wolken feinen weißen Wasserdampfes stiegen aus dem Schloßhof da droben auf. Hoch auf dem Turm stand der alte verrückte Gärtner und winkte uns zu. Er deutete heftig in nordwestlicher Richtung und winkte dann wieder zu sich herauf, als wollte er sagen: Zuerst dorthin! Dann ... zu mir!

"Zu dumm!" raunte eine Stimme in mir: "der Alte weiß nicht, daß ich mich zu meinem wahren Selbst – dem Sir John Dee – zurückgefunden habe!" Aber, wenn dem so ist, fiel mir plötzlich ein, wie ist es dann möglich, daß die Fürstin Assja Chotokalungin neben mir sitzt? Ich warf einen Blick auf sie: neben mir saß ... die dunkelbronzene Göttin der pontischen Isaïsanbeter, lächelnd mir zugeneigt mit Spiegel und Lanze, nackt, nackt und sinnverwirrend in Haltung und Ausdruck, daß mir ein heißer Schauer überlief. – Wieder bohrte der hartnäckige Gedanke in mir: abermals greift die Lüsternheit der Teufelin nach mir! Muß ich denn, ums Himmels willen, muß ich denn, ob ich will oder nicht?! Bin ich nicht mehr Herr meiner Sinne?! Was zwingt mich, die Fürstin immer wieder und wieder in Gedanken so zu sehen, wie sie sich mir doch niemals darbot? Ich will nicht. Ich will nicht! Ich will das Schicksal meines toten Vetters John Roger nicht teilen. – –

Die straffe, jugendlich schimmernde Göttin warf mir einen unbeschreiblichen Blick zu. Unnahbare Hoheit der Göttin und lockende anbietende Verheißung des Weibes in einem Streifblick; leises wollüstiges Spannen der Brüste, lustverhaltenes Dehnen der Glieder, abgründiger Hohn in den rätseltiefen Mienen, verderbenglimmende Augenschlitze, Panthergeruch ...

Das Automobil ist längst mit schneidenden Flugbootkiel in grüne Wellen hinabgezischt. Wir sausen durch grünes Wasser, nicht zu erkennen wie tief, nicht zu ermessen wie hoch über uns, nicht zu erschauen wo oben, wo unten.

Von den grünen Wassern ist nichts übriggeblieben als ein kleiner kreisrunder See, auf dem mein Blick jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit ruht. Immer kleiner und kleiner schrumpft er zusammen, wie der fokusartig sich zusammenziehende Ring bei der Einfahrt in einen Tunnel. Ringsum tiefste Dunkelheit.

Dann habe ich das Gefühl, ich bin emporgetaucht.

Senkrecht emporgetaucht aus einem Brunnenschacht, der, umgeben von einer Brustwehr weißer Steinplatten, vor mir hinuntergähnt in unermeßlicher Tiefe. Über dem Brunnenrand verweht wie Hauch das schwarze Bronzebild der nackten pontischen Isaïs. Böse lächelnd deutet sie mit der abgebrochenen Lanzenspitze hinab. Den Spiegel hält sie erhoben, indessen sie zu sinken scheint; und es ist, als sei er der kreisrunde, grün blinkende See tief drunten im Brunnenschaft.

Is sie, die Göttin selbst, es gewesen, die mich hierher geleitet hat? Hierher? – Wo bin ich?

Die Frage ist noch nicht zu Ende gedacht, da zerschneidet mich ein wahnwitziger Schreck. Da: geradeaus vor mir in dem Halbdunkel – – – mein Weib Jane! Ich sehe ihren flackernden Blick. Sie trägt nach englischer Tracht ein Kleid aus der Zeit der Königin Elisabeth, und ich weiß, daß sie das Weib John Dees ist, – John Dees, der ich doch selber bin. Es ist der fürchterliche Kellerbrunnen im Hause meines Gastgebers, des Doktors Hajek in Prag, und sie – will sich hinabstürzen. Es ist die Nacht des Befehls des Grünen Engels, und Jane, mein einziges liebendes Weib Jane, habe ich, meinem Schwur getreu, mit brechendem Herzen dem Edward Kelley als Blutsbruder – o welch folternder Hohn! – zu gleichen ehelichen Rechten überlassen müssen. Sie hat es nicht überwunden.

Aber keine Zeit nachzudenken. Ich springe aus zusammenbrechenden Knien auf, will die verzweifelte Jane zurückreißen, gleite aus, schreie auf, sehe den stummen, den entschlossenen, den schon gestorbenen Wahnsinnsblick der geliebten, der geschändeten Frau – – und werde zum erstarrten Zeugen des gräßlichen Sturzes: des nimmermehr aus meiner Seele fortzubrennenden Abschieds meiner Jane von dieser Welt.

In zweiundsiebzig Teile zerschnitten ist mein Herz, geht es mir durch den Sinn. Meine Gedanken sind stumpf, wie bei einem geistig Gestorbenen. Der Schacht, der furchtbare Brunnenschacht! Ich ahne, gelähmt, da unten das kreisrunde grünliche Blinken des Spiegels der Isaïs ...

Mit fühllosen Knien klimme ich das Eisengitter empor aus dem Keller. Jede Sprosse knirscht: "allein ... allein ... allein ... allein ..." Jemand streckt mir den Kopf durch die Mündung der Kelleröffnung entgegen: ein verzerrtes Gesicht, das Gesicht eines Verbrechers, der unter dem Galgen steht. Das Gesicht Kelleys, des Mannes mit den abgeschnittenen Ohren.

Flüchtig denke ich: er wird sich auf mich stürzen; er wird mich hinabstoßen; er wird mich in den Schacht werfen hinab zu Jane.

Es ist mir gleichgültig, ja ich sehne mich danach. – – –

Er rührt sich nicht. Läßt mich meinen halsbrecherischen Weg vollenden, läßt mich aus dem Abgrund herauskriechen und festen Boden gewinnen. Schritt vor Schritt weicht er vor mir zurück wie vor einem Gespenst. In mir ist jeder Trieb nach Rache erstorben, vor der er sich so fürchtet, der erbärmliche Feigling.

Er stammelt etwas von Rettenwollen ... von unsinniger Aufgeregtheit der Weiber ...

Tonlos sage ich: "Sie ist tot. Sie ist hinuntergegangen in den Abgrund, mir den Weg zu bereiten. Sie wird am dritten Tage wieder auferstehen, aufzufahren gen Himmel und sitzen zur Rechten Gottes, von wannen sie kommen wird, zu richten die Mörder im Diesseits und Jenseits ..." – da höre ich meine Lippen die irrsinnigen Blasphemien stammeln und verstumme.

Gott, so denke ich mit lahmem Einfall, wird die Lästerungen einer zerstörten Seele nicht zurechnen. Ruhte ich doch schon im Frieden bei ...

Kelley atmet befreit auf. Wird dreister. Er naht sich mit vorsichtiger, mit schmieriger Vertraulichkeit:

"Bruder, ihr Opfer – und das deinige – – es ist nicht umsonst gewesen. Der heilige Grüne Engel ..."

Ich schaute mit brennenden Augen zu Kelley hinüber; das erste, das wieder weh tut an meinem erstorbenen Körper, sind die Augen. – "Der Engel!" will ich aufschreien, und eine wilde, wahnsinnige Hoffnung gleißt in mir auf: hat er den Stein gegeben? Dann ... vielleicht ... bei Gott sind alle Dinge möglich ... Wunder sind einstens geschehen ... warum sollten nicht abermals Wunder geschehen ... Jairi Töchterlein ist vom Tode auferstanden! ... Der Stein der Verwandlung kann Wunder wirken in der Hand eines, der den lebendigen Glauben bekommt durch ihn! ... Jane! Ist sie weniger als Jairi Töchterlein? ... Laut schreie ich: "Hat der Engel den Stein gegeben?"

Kelley wird eifrig:

"Nein, noch nicht den Stein ..."

"Den Schlüssel des Buches?"

"N–nein; auch das noch nicht, aber: Rotes Pulver. Gold. Neues Gold. Und versprochen hat er noch mehr ..."

Ein Schrei würgt sich mir aus gefoltertem Herzen:

"Hab ich um Gold mein Weib verkauft, du Hund?! – Bettelkrämer! Schleimiges Tier!"

Kelley springt zurück. Ich sehe meine geballten Fäuste kraftlos niederfallen. Nichts gehorcht mir mehr. Meine Hände wollen morden, aber sie sind gelähmt ... Ich finde den Befehl nicht, der sie zum Gehorsam zwingt. Ein gallenbitteres Lachen schüttelt mich:

"Keine Sorge, Mann mit den abgeschnittenen Ohren, keine Furcht! Ich töte nicht das Werkzeug ... den Grünen Engel will ich fragen von Angesicht zu Angesicht ..."

Kelley mit Hast:

"Der Grüne Engel, Bruder, der Hochheilige kann alles. – Er kann, wenn er will, mir ... nein, nein: dir, Bruder, dir, wenn du es so lieber hörst, die ... verschwundene Jane wiederbringen."

Aus tierhaft starken Gelenken heraus springe ich, blindlings, ohne zu denken, vor. Meine Hände umklammern Kelley Hals:

"Stelle den Grünen Engel vor mich, Verbrecher! Stell ihn vor mein Angesicht, so will ich dich am Leben lassen!"

Kelley knickt in die Knie.

Verwischte, jagende Bilder, deren Zug kein Ende nehmen will. Sie rasen vorbei; kaum, daß ich sie fassen will, sind sie verweht und vergangen,. Klar dann wieder:

Kelly, in köstliche Gewänder gehüllt, die mit edelstem Rauchwerk besetzt sind, stolziert durch Prunkräume im Palais Rosenberg. Er nennt sich den Abgesandten Gottes, der berufen ist, das Geheimnis der dreifachen Verwandlung der Menschheit zu bringen: nicht den Unberufenen, sondern der kleinen Schar der Berufenen. Doch solle von nun an das göttliche Geheimnis einen unzerstörbaren Tempel auf Erden haben, und Rudolf, der Römische Kaiser, und einige wenige seiner Paladine sollen Tempelritter des neuen Grals sein.

Rosenberg führt Kelley an der Hand dem gefährlich erregten Kaiser zu, der in streng geheimgehaltener, abgelegener Kammer des Palais Rosenberg den Propheten erwartet.

Ich bin genötigt, mich der feierlichen Prozession anzuschließen; Kaiser Rudolf läßt nur uns beide und Rosenberg vor sich. Rosenberg, der als erster im Kniefall vor dem Kaiser niedergestürtzt, netzt ihm die Hände mit dem Strom seiner Freudentränen:

"Majestät, der Engel hat sich geoffenbart; er hat sich wahrhaftig geoffenbart", schluchzt er.

Der Kaiser vermag seine hohe Erregung kaum zu verbergen. Er hüstelt:

"Wenn dem so ist, Rosenberg, so wollen wir alle anbeten, denn wir haben ein Leben lang auf den Herrn gewartet." – Dann, finster und drohend zu uns gewendet:

"Ihr seid euer drei, als wie dereinst die Weisen, die Kunde und Gaben brachten dem neugeborenen Heil. Der da kniet, bringt mir die Kunde. Er sei dafür gesegnet. – Ihr zwei Weisen, wo habet ihr die Gaben?"

Kelley tut einen raschen Schritt vor und beugt nur das Knie:

"Hier, diese Gabe sendet der Engel der Majestät Kaiser Rudolfs!"

Er reicht in goldener Büchse ein mehr als doppelt so reichliches Quantum des roten Pulvers, als wir selbst besaßen, da wir einst in Prag einzogen, Rudolf hin.

Der Kaiser nimmt zögernd das kostbare Geschenk. Enttäuschung entspannt sein Gesicht:

"Aber das ist eine große Gabe. Aber es ist nicht das Geschenk der ersehnten Wahrheit. Jeder Knecht kann damit Gold machen." – Er wendet den glühenden Blick auf mich. Von mir erwartet er nur die wahre, die erlösende Gabe der Weisen aus dem Morgenlande. Mich überläuft ein kalter Schauder, indem ich niederknie, denn meine Hände und mein Herz sind leer. – Da hebt neben mir Kelley wiederum die Stimme, und seine freche Sanftmut ist bewunderungswürdig:

"Es ist uns befohlen, der Majestät des Kaisers das ' glass' des hohen Engels zu zeigen und zur Prüfung zu übergeben, das der Hochheilige seinem Diener John Dee, Esquire, aus dem Schatz seiner Gnaden dargereicht hat in der Nacht der ersten Berufung. Denn alle Einweihung hat ihre Schritte und ihre Grade."

Ich weiß nicht, woher: plötzlich fühle ich das ' glass' – den goldgefaßten Kohlekristall des Bartlett Green – in meiner Hand. Ich reiche ihn stumm dem Kaiser hin. Er ergreift ihn hastig, beschaut ihn, läßt die Unterlippe fallen:

"Was solls damit?"

Der kniende Kelley starrt unverwandten Blickes auf die Stirnwurzel des Kaisers.

Rudolf, da er keine Antwort erhält, heftet widerwillig nochmals das Gesicht auf die schwarzspiegelnde Fläche des Kristalls. Kelley bohrt seinen Blick immer fester in des Kaisers Stirn. Die hellen Perlen der Anstrengung tropfen ihm unbeachtet von den Schläfen.

Der Kaiser sitzt wie gebannt, den Kristall in beiden Händen. Seine Pupillen erweitern sich. Sein Ausdruck ist der eines Schauenden. – Plötzlich: Staunen, aufzuckende Anteilnahme, Zorn, heftiges Erschrecken, zitternde Erwartung, banges Aufatmen, Triumph, stolze Freude, müdes Nicken des Geierkopfes und dann – – eine Träne!

Eine Träne im Auge Rudolfs!!

Das alles, in rascher Folge nacheinander, spielt sich auf dem Gesicht des Kaisers ab. – Eine kaum erträgliche Spannung über uns allen. Endlich sagt Rudolf:

"Ich danke euch, ihr Boten der Überwelt. Die Gabe ist in der Tat kostbar, und sie muß dem Geweihten genügen. Denn nicht ein jeder ist dort Kaiser, der hier die Krone trägt. Wir wöllen Uns bestreben." – Des Kaisers stolzes Haupt neigt sich. Mir können die Tränen nicht mehr im Halse gehorchen, wie ich die Majestät sich so in Demut neigen sehe vor dem Verführer mit den abgeschnittenen Ohren.

Volksgedränge auf dem engen Platz in Prag, genannt "Zum Großprior", vor der Malteserkirche. Die ganze Kleinseite scheint auf den Beinen zu sein. blitzende Waffen, gleißender Schmuck auf den Gewändern des hohen Adels, der aus offenen Fenstern der Paläste auf das herannahende Schauspiel niederschaut.

Aus der Malteserkirche hervor tritt ein Zug, der sich stattlich formiert:

Kelley, Freiherr von Böhmen, des heiligen Römischen Reiches erwählter neuer Paladin, hat soeben Schwertschlag und Stirnölung vor dem Altar der uralten Ritterkirche auf Befehl des Kaisers erhalten.

Jetzt setzt sich der Zug in Bewegung, voran drei schwarzgelbe Herolde, zwei von ihnen mit langgezogenen Trompeten vor dem Mund, einer mit dem Pergament des Kaisers. An jeder Straßenecke Fanfarenstöße und Verlesung des kaiserlichen Gnadenbriefes für den neuen Freiherrn des Reiches: "Sir" Edward Kelley aus Engelland.

Von den Altanen und aus den hohen, kühn gekragten Fenstern der Adelsburgen herab: neugierige Gesichter, undurchdringlich verschlossen von bleichem Hochmut, oder durchzuckt von höhnischem Spott, leise vorsichtig bewegt von unhörbaren Bemerkungen mokanter Bosheit.

Ich sehe dem Trubel aus einem Fenster des Nostizschen Palais zu. Trübe Gedanken hängen wie schwerfeuchte Nebel undurchdringlich über meiner Seele. Umsonst, daß mein edler Wirt, zu dem ich mit Doktor Hajek geladen bin, mir Schmeicheleien sagt über den echten Stolz meines alten Adels, der es verschmähte, theatralische Titel aus noch so hohen Händen entgegenzunehmen. Mir ist alles einerlei. Mein Weib Jane ist untergegangen und verloren im grünen Abgrund ...

Ein neues seltsames Bild: der hohe Rabbi Löw steht, wie er gern tut, mit seinem langen Leib an die Wand gelehnt, die Hände flach im Rücken gegen die Mauer gespreizt, in dem kleinen Stübchen in der Alchimistengasse vor Kaiser Rudolf, der im Sessel versunken liegt. Zu Füßen des Rabbis liegt schläfrig und katzenfromm des Kaisers Berberlöwe: der Rabbi und der Katzenkönig sind gute Freunde. Ich sitze an dem kleinen Fenster, vor dem die Bäume kahl zu werden beginnen. Mein streifender Blick sieht drunten durch das entlaubte Gebüsch zwei riesenhafte schwarze Bären, die zottigen Köpfe schnuppernd erhoben, mit rotgesperrten Rachen heraufblinzeln. – –

Rabbi Löw hat ruckartig die eine Hand von der Wand weg und hinter seinem auf und ab schwankenden Rücken hervorgezogen. Er hat das " glass" ergriffen, das ihm der Kaiser hingehalten hat, und schaut lange auf die kristallflächige Kohle. Dann geht sein Kopf in die Höhe, daß unter dem weißen Bart der knöchrige Adamsapfel hervortritt, und sein Mund scheint rund und lautlos zu lachen:

"In einen Spiegel sieht man nichts anderes als sich selbst! Wer sehen will, der sieht, was er will sehen in der Kohle, denn das eigene Leben in ihr ist längst verbrannt."

Der Kaiser fährt auf:

"Wollet Ihr sagen, Freund, das ' glass' sei ein Betrug? Ich selber habe ..."

Der alte Jude rührt sich nicht von seiner Wand. Er schaut zur nahen Zimmerdecke hinauf und schüttelt den Kopf:

"Ist Rudolf ein Betrug? Rudolf ist geschliffen zur Majestät wie ein ' glass'; ringsum hart geschliffen, also kann er spiegeln die ganze Vergangenheit des Heiligen Römischen Reiches. Er hat aber kein Herz: nicht die Majestät und nicht die Kohle."

Mir geht ein Schnitt durch die Seele. Ich schaue den hohen Rabbi an und fühle das Opfermesser an meiner Kehle ...

Keine Not herrscht mehr im gastlichen Hause Doktor Hajeks. Gold strömt von allen Seiten zu. Rosenberg sendet für die Gnade, einer Sitzung Kelleys beiwohnen zu dürfen, in der der Grüne Engel erscheinen soll, Geschenke über Geschenke von verschwenderischer Pracht, von unschätzbarem Wert. Der alte Fürst ist bereit, nicht nur seine Güter, sondern sein ganzes armes altes Leben den Offenbarungen des neuen Tempels, der "Loge vom Westlichen Fenster", zum Opfer darzubringen.

Also darf er mit uns hinab in den Keller des Doktors Hajek steigen. –

Die düstere Sitzung beginnt. Alles ist wie einst. Nur Jane fehlt. Ich ersticke schier vor würgender Erwartung. Nun ist der Augenblick gekommen; nun soll mir der Engel Rede stehen für das Menschenopfer, das ich ihm dargebracht habe!

Rosenberg bebt an allen Gliedern; er betet ununterbrochen leise vor sich hin.

Kelley ist auf seinem Sitz. Er fällt in Verzückung.

Jetzt ist er fort. an seiner Stelle glüht grün der Engel auf. Die Erhabenheit der Erscheinung wirft Rosenberg zu Boden. Sein Schluchzen wird hörbar:

"Ich bin gewürdigt worden ... ich bin ge ... würdigt wo ... worden ..."

Das Schluchzen geht in Wimmern über. Der alte Fürst liegt im Staub und babbelt wie ein kindisch gewordener Greis.

Der Engel wendet sein eisiges Auge auf mich. Ich will zu ihm reden, aber die Zunge klebt mir am Gaumen. Ich kann den Anblick nicht ertragen. Ich nehme alle Kraft zusammen; ich raffe mich auf – einmal – zweimal – – umsonst! Der steinerne Blick lähmt mich ... lähmt ... mich ... vollends.

Der Engel redet aus der Ferne zu mir:

"Deine Nähe ist mir nicht lieb, John Dee! Deine Unbotmäßigkeit ist nicht weise, dein Löken gegen die Prüfung ist nicht fromm! Wie soll das Werk aller Werke gelingen, wie soll das Heil sich erfüllen, solang der Lehrling Unheilsames im Herzen trägt? Schlüssel und Stein dem Gehorsam! Warten und Verbannung dem Ungehorsam! Harre in Mortlake meiner, John Dee!"

Tierkreiszeichen am Himmel? Was deuten Sie mir? Ein drehendes Rad? – Ja, ich begreife: Jahre, Jahre, Jahre sinds, die da vorübergleiten: Zeit, Zeit! Dann: öde Brandruinen ringsum.

Geschwärtzte Mauern durchschreite ich, von denen faule Tapeten herabklatschen. Über ehemalige Turmschwellen stolpert mein Fuß, von denen nicht mehr zu sagen ist, aus welchem Raum in welchen Raum sie mich, den einst fröhlichen Herrn des Schlosses, geleitet haben. Nein: nicht sagen kann ich, daß ich gehe; ich schleiche nur, schlurfe so müde, so müde, so müde.

Ich klettere eine halbverbrannte Holzstiege empor. Splitter und rostige Nägel reißen mir am zerschlissenen alten Rock. Ich betrete eine muffige Küche, – die Küche, in der ich einst Gold gemacht habe! Senkrecht gestellte ausgetretene Backsteine bilden den Fußboden. In der Ecke ein Herd, darauf eine Schüssel, aus der einst meine Hunde getrunken haben, eine trübe Milch darin und daneben ein vertrocknetes Stück Brot. – – Abgedeckt ist der Raum gegen den freien Himmel mit einer schrägen Bretterlage, durch deren Ritzen der kalte Herbstwind hereinwinselt. Das ist Schloß Mortlake, das sie hinter mir verbrannt haben, als ich vor fünf Jahren nach Prag zog zu Kaiser Rudolf.

Die Küche ist der besterhaltene Raum in dem Gemäuer. Ich habe ihn mit eigener Hand notdürftig hergerichtet, daß er mit Eulen und Fledermäusen zur Wohnung dient.

Ich sehe mich selbst: verwahrlost bis zum Äußersten. Wirre schneeweiße Haarsträhne über der Stirn, wirrer silberfarbener Bart, der ungepflegt aus Nase und Ohren hervorwächst. Zerfallen ... zerfallen das Haus, das steinerne wie das aus Fleisch und Knochen. – – Und keine Krone von Engelland und kein Thron von Grönland – und keine Königin zur Seite auf dem Stuhl und kein Karfunkel über dem Haupte! Froh muß ich sein, meinen Sohn Arthur geborgen zu wissen fern oben in Schottland bei den Verwandten meiner toten Jane. – – Gehorsam war ich dem Engel vom Westlichen Fenster. Gehorsam dem Ruf und gehorsam dem Urteil ... der Verwerfung?

Mich friert, obschon mein alter Freund Price mich in mitgebrachte Decken hüllt. Tief von innen heraus friert mich vor Alter. Immer wühlt ein Schmerz tief drinnen in meinem morschen Leib: ein nagendes Etwas, das sich abmüht, die Kanäle des Lebens zu verschütten.

Price beugt sich über mich, horcht mit ärztlich sachtem Andruck seines Ohres an meinem gebeugten Rücken und murmelt:

"Gesund. Reiner Atem. Wohlgemischte Säfte, – – ein ehernes Herz."

Mich schüttelt ein kicherndes Lachen:

"Ja, ein ehernes Herz!"

Und Königin Elisabeth ist lange, lange tot! Die Liebliche, die Mutige, die Schneidende, die Lockende, die Königliche, die Zerstörende, die Gnädige und die Ungnädige, sie ist tot ... tot ... lange tot. Keine Kunde hat sie mir hinterlassen, keine Kunde geschickt, wo ich sie suchen soll. Kein Zeichen, daß sie mich sieht! An meinem Platz am Backsteinherd sitze ich unter dem Bretterdach, von dem polternd von Zeit zu Zeit der Schnee abrutscht, und wühle in Vergangenheit.

Price erscheint auf der Hühnertreppe, der alte Price, mein Arzt und mein letzter Freund. Ich spreche mit ihm von Königin Elisabeth. Immer nur von Königin Elisabeth ...

Nach langem Zögern sagt er mir Seltsames: Er war an ihrem Krankenbett, als sie im Sterben lag. Sie wollte ihn nicht missen, den Landarzt von Windsor, der ihr in vergangenen Tagen so manchen guten Doktorsrat gegeben hatte. – Sie lag in Fieberphantasien. Er wachte allein bei ihr in der Nacht. Sie sprach von ihrem Aufbruch in ein anderes Land. In ein Land jenseits des Meeres, dort, woher sie den Bräutigam ihr Leben lang erwartet habe, – dort, wo die Burg rage mit den Brunnen und dem Wasser des ewigen Lebens! Dorthin wolle sie nun übersiedeln und dort wolle sie wohnen in der Stille eines süß duftenden Gartens und dort erwarten sie den Bräutigam. Dort werde kein Warten sie grämen und keine Zeit ihr zu lang dünken. Dort werde kein Alter und kein Tod sie berühren. Dort sei doch der Brunnen mit dem Lebenswasser; davon werde sie trinken; das Wasser werde sie jung erhalten – jung, so jung, wie sie nie gewesen sei seit König Edwards Tagen. Und dort werde sie Königin sein in den Gärten der Seligkeit, bis der Gärtner dem Bräutigam winkte, daß er sie herabhole aus der verwunschenen Burg der geduldig wartenden Liebe ... – – so erzählte mir Price.

Wieder das öde Gemach. Ich bin allein. Price ist nicht mehr bei mir; ich weiß nicht: sinds Tage her oder Wochen, daß er fortgegangen ist?

Ich sitze mit dem Gesicht zum Herd und stochere mit zittrigen Händen in der erloschenen Glut. Schräge Sonnenblitze flimmern durch die Lattenritze im Dach über meinem Haupt. Ist also der Schnee verschwunden? Es ist mit einerlei.

An Kelley muß ich plötzlich denken. Das einzige, was ich von ihm weiß, ist: er habe ein schreckliches Ende genommen in Prag; vielleicht war es nur ein Gerücht? Es ist mir einerlei.

Da: ein Geräusch auf der morschen Treppe? Ich wende mich langsam: aus der Tiefe herauf hakt sich mühsam, Schritt vor Schritt, ein keuchender Mensch! ... Warum muß ich an den Höhlenkeller mit der eisernen Leiter in Doktor Hajeks Haus in Prag so deutlich denken? So, ganz so bin ich selbst einmal aus der Tiefe emporgeklommen, die Sprossen der Leiter ertastend, mit zitternden Knien, weil Jane ...! Und oben, am Ende des Abgrunds, hatte Kelley mich erwartet.

Da! Da: hebt Kelley, wirklich und wahrhaftig Kelley, den Kopf über die Treppenluke zu mir in die Küche. Er taucht empor, schiebt Kopf, Brust, Beine herauf, wankt ... steht, an den Türpfosten gelehnt, vor mir ... Nein: er steht nicht; ich sehe genauer: er schwebt ein wenig, vielleicht handbreit über dem Boden. – – Er könnte auch gar nicht stehen, denn seine beiden Beine sind gebrochen, mehrfach am Oberschenkel gebrochen und an den Waden. Die Knochen dringen da und dort wie Spieße blutig durch die erdbeklebte Hose aus Brabanter Tuch.

Reich gekleidet immer noch ist der Mann mit den abgeschnittenen Ohren! Aber seine Gesichtszüge sind verwüstet, sein Edelmannskind hängt ihm in Fetzen vom Leib. – Der Mann ist tot. Erloschene Augen stieren mich an. Blaue Lippen bewegen sich lautlos. Ruhig klopft mein Herz. Nichts reißt mich aus der tiefen Ruhe meiner Sinne; ich sehe Kelley an ... Dann:

Bilder, windgewirbelte, wie farbiger Nebel. Wälder gerinnen daraus. Die Wälder Böhmens. Über Wipfeln ein Turmdach mit der schwarzen Wetterfahne, dem Habsburger Doppeladler: Karls Teyn. Hoch im Wehrturm, der nach Nordwesten auf glattriffigem Braunerzfelsen aufgemauert ist, ein aufgebrochenes Kerkerfenster. Und an der schwindeltief abstürzenden Kalkwand kratzt und fingert sich ein Menschenleib zu Tal wie eine kleine schwarze Spinne; ... unsäglich dünn ist der Faden, an dem sie hängt, ... mühsam wickelt sich das schwache Seil übers Fensterkreuz ab, ... weh dem Krabbelwesen, das dort hinab will! – Bald baumelt es frei in der Luft, denn die Mauer ist mit sanfter Schweifung nach einwärts errichtet; sorgfältig hat der Baumeister dieses ewigen Kerkers an jede Möglichkeit des Entfliehens gedacht! Da ist kein Entkommen, arme Menschenspinne, an deinem dünnen Faden! – Rückwärts nun klimmt der dort hängende, in freier Luft langsam sich drehende Mensch. Da: ein leises Sichneigen des Fensterstocks droben, ein wirbelnder Ablauf des Seiles, ein kaum sichtbarer Ruck. Der bleiche Gast an meiner Türschwelle stöhnt geisterhaft auf, als müsse er wieder, immer wieder und wieder den Augenblick seines einstigen Sturzes von neuem durchleben, des Sturzes in die grüne Tiefe unten bei Karls Teyn, der Feste eines unberechenbar launischen Kaisers.

Ich sehe, wie Kelley, das Gespenst an der Türschwelle, vergeblich sich abmüht, zu mir zu sprechen. Er hat keine Zunge mehr; sie ist ihm in der Erde verfault. Beschwörend hebt er die Hände gegen mich. Ich fühle, er will mich warnen. Wovor? Was hätte ich noch zu fürchten! – Kelleys Mühe ist umsonst. Er kann nicht. Die Augenlider zittern ihm; sie fallen zu. Das Scheinleben der Larve erlischt. Langsam verblaßt das Phantom.

Es ist Sommer in der alten Küche zu Mortlake. Nicht zu sagen, der wievielte seit meiner Heimkehr aus der Verbannung ... Ja, aus der Verbannung! Denn die Verbannung hierher, die der Engel mir auferlegt hat – oh, ich fange an, heimlich zu lachen über die finsteren Befehle des Grünen – die Verbannung hierher, das ist meine Heimkehr gewesen! Hier ist der Boden ... oh, hätte ich ihn doch nie verlassen! ... der Boden, der aus seiner mütterlichen Tiefe Heilkräfte aufsteigen läßt in meinen verbrauchten Leib. Heilkräfte, die vielleicht mir den Weg noch weisen können zu mir selbst. Hier wandelt mein Fuß die Spuren meiner Königin; hier meint meine Seele den verwehten Atem einstiger Hoffnung auf höchstes Glück in dem sanften Hauchen des Abendwindes über Mortlakecastle wieder zu spüren. Hier ist das Grab meines zerstörten Lebens, aber auch der Ort meiner Auferstehung, mag sie so spät kommen wie sie will. So sitze ich Tag für Tag am kalten Herd und warte. Nichts ist ja mehr zu versäumen, denn Elisabeth hat "Grönland" erreicht, und keine lärmenden Staatsgeschäfte, keine dummen Schnitzeljagden nach den lächerlichen Phantomen der Eitelkeit entführen sie mir mehr.

Wieder Geräusch auf der Treppe! Dann steht ein königlicher Kurier vor mir. Seine Verbeugung ist steif, nachdem er sich befremdet umgesehen hat:

"Ist dies Mortlakecastle?"

"Ja, mein Freund."

"Und ich stehe vor Sir John Dee, Baronet of Gladhill?"

"So ist es, mein Freund."

Lächerlich: dies Grausen im Gesicht des Kuriers. Der Tropf kann sich einen englischen Baron nur in Samt und Seide vorstellen. Der Rock macht doch den Adel nicht aus und Lumpen nicht den Proleten.

Hastig übergibt der Kurier ein versiegeltes Paket, verneigt sich nochmals mit der Grazie einer Holzpuppe, der die Gelenke fehlen, und turnt die wacklige Holzstiege, die zu meinem "Empfangssalon" führt, wieder hinab.

In Händen halte ich das Paket, gesiegelt mit dem Wappen des Fürsten Rosenberg, des Burggrafen zu Prag: der Nachlaß des unseligen Kelley rollt mir daraus entgegen und ein kleineres, sorgfältig verschnürtes Gebinde, mit dem Petschaft des Kaisers gesiegelt.

Die zähe schwarzgelbe Schnur widersteht meinem Zerren.

Kein Messer zur Hand? – Unwillkürlich greife ich an meine linke Seite: wo ist mein Brieföffner? durchzuckt es mich; die Stelle, an der ich vor Zeiten den Dolch, das Erbstück der Dees, getragen habe, ist leer. – – Jetzt weiß ich wieder, daß ihn mir das gespenstische Phantom der Elisabeth aus der Hand genommen hat, damals, als sie, von mir beschworen nach der Anweisung Bartlett Greens, zu mir nachts in den Park von Mortlake gekommen war! Und daß ich seitdem, gleichsam zum Trotz, eine damals genau nachgebildete Kopie des Kleinods stets bei mir zu tragen pflegte, um das Ding als Brieföffner zu benützen. – – Damals", so fährt es mir durch den Sinn, "damals trug ich ihn beständig bei mir, den Brieföffner, statt des verlorenen Dolches. Es muß mir das Falzmesser verlorengegangen sein. Auch die Kopie also! Es ist nicht schade darum."

Endlich lockert sich die Schnur mit Zuhilfenahme eines alten Nagels, der schließlich noch denselben Dienst tut wie eine Lanzenspitze des Hoël Dhat, und vor mir liegt: der Kohlekristall, den Kaiser Rudolf mir wortlos zurückschickt.

Erinnerungen schleichen trüb vorbei: die letzten Quadratfuß Landes um die Ruine von Mortlakecastle her hat der Amman versteigert. Schnee weht wieder zu den Ritzen und Löchern meiner Küche herein. Braunes erfrorenes Farnkraut, Bocksklee, Winde und Ackerdistel rings zwischen den Steinfliesen meines Eulenpalastes.

Immer seltener kommt Price, der letzte Freund, von Windsor herüber. Selbst ein zerfahrener, mürrischer Greis, hockt er bei mir am Herd, stundenlang stumm und mit wackelig auf den derben Landarztstock gestütztem Schädel. Immer, wenn er kommt, muß ich die umständlichen Vorbereitungen zu einer Geistersitzung treffen: lange Gebete, auf die der fromm und schon kindisch gewordene Price den allergrößten Wert legt, – verwickelte und sinnlose Zeremonien. Und inzwischen schläft Price ein, und auch ich dämmere in Vergessenheit hinüber ..., und wenn wir erwachen, ist alles vergessen, was wir wollten, oder der Abend schwebt kalt herein. Dann erhebt sich Price zitternd und murmelt:

"Das nächste Mal also, John; das nächste Mal!"

Price, den ich erwartet habe, ist ausgeblieben; dafür ist ein furchtbares Wetter am Himmel aufgezogen. Trotz der frühen Abendstunde herrscht fast Dunkelheit im Raum: das Gewitter verfinstert den Himmel. Jetzt ein flackernder Blitz. In seinem gelben Schein lebt mein Herdkamin mit phantastischen Schatten auf. knatternde Donnerschläge, erneute, nicht enden wollende Blitzesfahnen über Mortlake. – – Wohlige Erbitterung ergreift mein Herz: so soll es mich treffen und erschlagen! Was könnt ich mir Besseres wünschen?! Ich bete um einen Blitz.

Ich bete – – kommt es mir nicht plötzlich zu Sinn: ich bete zu "Il", dem Grünen Engel vom westlichen Fenster?!

Und wie mir das zu Bewußtsein kommt, flammt plötzlich greller als ein Blitz die Wucht eines maßlosen Zornes in mir auf. Auf einmal wird mir klar: seit jener grauenvollen Sitzung im Höhlenkeller des Doktors Hajek in Prag hat sich der Grüne nicht mehr vor mir blicken lassen, und nichts von allem hat sich erfüllt als das Wunder meiner unbegreiflichen übermenschlichen Geduld! – Jetzt, im Sprühen eines Blitzstrahls, ist mirs, als grinse aus der rußigen Nacht des alten Kamins das steinerne Angesicht des Engels!

Ich bin aufgesprungen. Verworren fallen mir alte, lang vergessene Beschwörungsformeln ein, die mir der Bartlett Green hinterließ, als er zum Scheiterhaufen des Bischofs Bonner hinwegschritt, Formeln, zu gebrauchen in der dringendsten Gefahr, wenn man die Hilfe der andern Welt verlangt, der man Opfer dargebracht hat, Formeln, die aber auch den Tod bringen können!

Ob ich nun etwas geopfert habe im Leben? Ich dächte: genug! Und von meinen Lippen fallen die lang vergessenen Worte auswendig, automatisch wie Hammerschläge. Meine Seele versteht auch jetzt den Sinn nicht, aber "drüben" werden sie aufgefangen, die Silben, die Worte, von unsichtbar lauschenden Ohren, und ich fühle es deutlich: die da drüben gehorchen den toten Worten, denn mit Totem zwingt man die Toten! Aus den rohen Verkröpfungen und Simsen des Kamins hervor dämmert da das fahle Gesicht, die Gestalt Edward Kelleys.

Wilder Triumph packt mein Herz an: hab ich dich also gezwungen, alter Kamerad? Mußt du um meinetwillen den fühllos unruhigen Schattenschlaf der Gespenster ein wenig unterbrechen, Teuerster?! Es tut mir leid, aber ich bin genötigt, mich deiner zu bedienen, Herzensbruder! ... Wie lange ich wohl diese grimmigen, halb blöden Ansprachen an den toten Scharlatan fortgesetzt haben mag? – Endlos schleppende Zeiten zogen vorbei.

Endlich erraffe ich mich wieder, und ich befehle dem Kelley im Namen des getauschten Blutes. Da, zum erstenmal, sehe ich das Phantom sich bewegen: es ist, als durchliefe seine Gestalt ein kalter, lang anhaltender Schauer ... im Namen des getauschten Blutes verlange ich von ihm die unverzügliche Beschwörung des Grünen Engels.

Vergeblich Kelleys erschrockene Abwehr, vergebens die Versuche, meinem Bann zu entkommen, vergebens die stummen Ausflüchte, die darauf hinauslaufen, mich auf gelegenere Zeiten zu vertrösten! ... Ich beginne, die Formeln des Bartlett Green mit der ingrimmigen Energie eines Henkers, der vom Drang nach Geständnis des Opfers wie von Blutrausch betrunken ist, dem Kelley gleichsam wie Stricke um den Phantomleib zu drehen, daß ihm der Gespensteratem ausgeht. Dabei schwindet, mit dem Ausdruck grausamster Qual, sein Gesicht, und langsam ergreift die steinerne Gestalt des großen Grünen von ihm Besitz.

Es ist, als fresse der Engel den wehrlosen Kelley auf bei lebendiger Gestalt.

Dann steht der Grüne allein im Halbdunkel des Kaminfangs.

Wieder fühle ich den Blick, der erstarren macht. Wieder beginne ich mit jener Abwehr, die das Herzblut als Schutzwall vortreiben möchte, um der Kälte zu begegnen, die den Leib von außen nach innen gefrieren läßt, aber ich fühle mit Staunen, daß diese vom Engel ausstrahlende Kälte auf die Lederhaut meines Greisenkörpers keinen Eindruck mehr zu machen scheint. – Jetzt erst weiß ich, wie kalt ich selber schon geworden bin.

Und eine wohlklingende Stimme vernehme ich, mir lange vertraut, eine Stimme, wie die eines frohen fühllosen Kindes:

"Was willst du?"

"Ich will, daß du Wort hältst!"

"Glaubst du, mich kümmert ein Wort?"

"Was hier auf Erden nach Gottes Satzungen gilt: Treue gegen Treue, Wort gegen Wort, das muß auch drüben gelten, oder die Hand stürzt mit der Hölle in ein Chaos zusammen!"

"So nimmst du mich also beim Wort!"

"Ich nehme dich beim Wort!"

Draußen tobt das Gewitter mit unverminderter Heftigkeit fort, aber das betäubende Prasseln der Blitze, wie sie einschlagen rings ums Schloß, das ununterbrochene Knallen und Fortpoltern der Donnerwellen dringt zu meinen Ohren nur wie gedämpfte Begleitmusik zu den schneidend scharfen und klaren Sätzen, die der Engel spricht:

"Ich habe dir immer wohlgewollt, mein Sohn."

"So gib mir den Schlüssel und den Stein!"

"Das Buch Sankt Dunstans ist verloren. Was nützt dir der Schlüssel dazu?!"

"Ja: Kelley, dein Werkzeug, hat es verloren! Ist der Schlüssel ein unnütz Ding geworden, so wirst du wissen, was mir not tut!"

"Das weiß ich, mein Sohn. Wie aber soll wiedergefunden werden, was für immer verloren ist?"

"Durch den Griff dessen, der weiß!"

"Das steht nicht in meiner Macht. Auch wir gehorchen der Schrift des Schicksals."

"Und was steht in der Schrift des Schicksals geschrieben?"

"Das weiß ich nicht: der Brief des Schicksals ist versiegelt."

"So öffne den Brief!"

"Gern, mein Sohn! Wo hast du den Brieföffner?"

Blitze der Vernichtung, Donnerschläge der Erkenntnis und der Verzweiflung hauen auf mich ein. Ich breche vor dem Herd in die Knie, als sei er der Altar mit dem Allerheiligsten darüber. Ich flehe den Steinernen an. Unsinniges Beginnen! – Und doch?! Er lächelt. Dann belebt, beseelt ein mildes, gütiges Lächeln sein blaßgrünes Neprithgesicht: "Wo hast du den Speerdolch des Hoël Dhat?"

"Verloren ..."

"Und dennoch nimmst du mich beim Wort?"

Aufs neue flackert die Flamme unsinniger Empörung in mir hoch; in knirschender Wut schreie ich:

"Ja, ich nehme dich beim Wort!"

"Mit welchem Mut? Mit welchem Recht?"

"Mit dem Mut des Gemarterten. Mit dem Recht des Geopferten!"

"Und was willst du von mir?"

"Die Erfüllung jahrzehntelanger Verheißung!"

"Du verlangst den Stein?"

"Ich verlange den – Stein!"

"In drei Tagen sollst du ihn haben. Bis dahin: Rüste dich zum Aufbruch und zur neuen Reise. Die Zeit deiner Prüfungen ist um. Du bist gerufen!"

Ich bin allein in der Dunkelheit. Der Schein der hereinzuckenden Blitze zeigt mir das schwarz und leer gähnende Loch des Kamins.

Tag bricht an. Mühsam, unsagbar mühsam schleppe ich mich durch die verkohlten Ruinenräume, in denen untergebracht ist, was vom Wohlstand der Dees hier und da noch umherliegt. Mein Rücken, meine Glieder schmerzen, so oft ich mich bücke, als schnitten mir glühende Messer in die Lenden. – Ich packe meine Lumpen in ein Bündel zur befohlenen Reise ...

Price ist auf einmal wieder da. Stumm schaut er meinem Treiben zu:

"Wohin?"

"Weiß nicht. Vielleicht nach Prag."

"War Er da? Bei dir? Hat er befohlen?"

"Ja. Er war da. Er h ... hat befohlen!" – Ich fühle, wie mir die Sinne schwinden.

Rossewiehern. Das Rollen und Rattern einer Reisekutsche. Ein seltsamer Fuhrmann tritt über meine Küchenschwelle und schaut mich fragend an. – Das ist nicht der Nachbar, der sich zur Fahrt nach Gravesend erboten hat! Gegen ein volles Drittel meines Reisevermögens. Den Mann kenn ich nicht.

Einerlei! Ich versuche mich zu erheben. Es geht nicht. Schwer wirds sein – zu Fuß – nach Prag zu wandern! Ich winke dem Mann zu, suche mich verständlich zu machen:

"Morgen ... morgen vielleicht, mein Freund ..."

Ich kann doch gar nicht reisen. Ich kann mich kaum von dem Strohlager erheben, auf das sie mich gebettet haben. Dazu sind die Schmerzen in meinen Lenden ... viel ... viel zu ... groß.

Gut, daß Price, der Arzt, bei mir ist. Er beugt sich über mich und flüstert:

"Nur Mut, Johnny, das geht vorüber. Es ist nur die Hinfälligkeit der Kreatur, old boy, nicht wahr? Kranke Galle, kranke Nieren! Es ist der verdammte Stein. Der Stein, guter Freund. Der Stein in dir, der dir solche Schmerzen bereitet!"

"Der Stein –?!" stöhne ich auf und falle zurück.

"Ja, Johnny, der Stein! Mancher muß sehr leiden am Stein, Johnny, und wir Ärzte haben kein Mittel, wenn wir nicht schneiden dürfen."

Mit den rasenden Schmerzen zucken Garben von Licht vor meinen inneren Augen auf:

"O weiser Jude von Prag! Hoher Rabbi Löw!!" – der Aufschrei preßt sich mir zusammen mit dem Angstschweiß aus der kalten Brust. Das ist der Stein? Verächtlichster Spott! Mir ist, als höhne mir die Hölle ins Gesicht: "Den Stein des Todes und nicht den Stein des Lebens hat dir der Engel gegeben. Lange schon. Du hast es nicht gewußt?"

Mir wird, als rufe mir der Rabbi aus ferner Zeit herüber zu:

"Gib acht auf den Stein, um den du bittest! Gib acht, daß der Pfeil deines Gebetes nicht abgefangen wird!"

"Wünschest du sonst noch etwas?" höre ich Price fragen.

Allein, in Lumpen und räudiges Pelzwerk verpackt, in meinem alten Lehnstuhl sitze ich. Am Herd. Ich erinnere mich: ich habe Price gebeten, mir den Stuhl so zu rücken, daß ich mit dem Gesicht nach Osten sitze, – daß ich den nächsten Gast, er sei, wer er sei, empfange in der Haltung, die der meines ganzen verflossenen Lebens entgegengesetzt ist: mit dem Rücken gegen den grünen Westen.

So warte ich auf den Tod ...

Price hat mir versprochen, am Abend nach mir zu sehen, um mir das Sterben leicht zu machen.

Ich warte.

Price kommt nicht.

So warte ich seit Stunden zwischen Ohnmachten der Qual und Hoffnung auf Erlösung mit dem Erscheinen des Price. Die Nacht vergeht; ... auch Price, der letzte Mensch, versagt.

An allen Zusagen der Sterblichen wie der Unsterblichen habe ich Schiffbruch erlitten bis zuletzt.

Nirgends ist Hilfe, das hab ich gelernt. Nirgends Erbarmen. Der liebe Gott schläft, gut und bequem, wie Price, der Arzt! Sie haben alle zusammen nicht den siebenmalsiebenzigfach messerscharf gekanteten und geschliffenen Stein in den Weichen! – Wo bleibt die Hölle, mich in meinen Qualen zu genießen? Verraten! Verloren! Verlassen!

Aus halber Ohnmacht tastet meine Hand im Umkreis des Greifbaren auf den Herdsteinen herum. Sie findet ein Skalpell, das der Arzt zurückgelassen hat, um mir damit die Ader zu schlagen. Gebenedeiter Zufall! Gesegnet seist du, Freund Price! Das kleine Messer ist mir jetzt mehr wert als der stumpfe Speer des Hoël Dhat; es macht mich frei ... endlich frei!

Ich beuge den Kopf zurück und straffe die Kehle. Heb die Klinge zum Hals ... Ein erster Morgenstrahl läßt die Schneide purpurrot aufblinken, als überlaufe sie schon der stockende Saft meines greisen Lebens, da grinst hervor aus der leeren Luft des in dämmrigem Licht getauchten Raumes und über die Rasiermesserklinge: das breite Gesicht des Bartlett Green mit dem Birkauge. Er lauert, er nickt, er winkt: "Zieh durch. Zieh durch, durch die Kehle! Das hilft! Das vereinigt dich mit Jane, deinem Weib, der Selbstmörderin; das zieht zu uns hinab; das ist gut!"

Recht hat der Bartlett Green: zu Jane will ich! – –

Wie friedlich das Messer lockt und der Sonnenschein funkelt zwischen Klinge und Hals!

Da! Ein Druck hinter mir auf meine Schulter! – Nein, ich drehe mich nicht um: kein Blick mehr nach Westen! Der Druck ist warm wie von Menschenhand und durchläuft mich mit heißem Wohlgefühl.

Ich brauche mich nicht mehr umzuwenden: vor mir steht Gardener, mein alter vergessener Laborant Gardener, der sich einst im Streit von mir trennte. – Wie kommt der mit einemmal hierher ins Schloß ... und in diesem Augenblick, wo ich Mortlakecastle und der ganzen betrügerischen und betrogenen Welt den Rücken kehren will?

Sonderbar angetan ist Gardener, mein guter Laborant! Er trägt einen weißen Mantel aus Leinwand, darein in der Höhe der linken Brust eine rotgoldene Rose eingestickt ist. Sie flimmert im Licht des sonnigen Morgens. – Und jung, sehr jung ist das Gesicht Gardeners geblieben! Als seien nicht fünfundzwanzig Jahre vergangen, seit wir uns zum letztenmal gesehen haben.

Lächelnd, mit der Miene des Freundes, des niemals alternden Mannes, tritt er auf mich zu:

"Du bist allein, John Dee? Wo sind deine Freunde?"

Alle Klage quillt in meiner Brust zu einem Strom von Tränen. Aber ich kann nur flüstern, trockenen Tones und matt von Schmerz und Zermürbtheit:

"Sie haben mich verlassen."

"Recht hast du, John Dee, daß du an den Sterblichen verzagst. Alles Sterbliche ist zweizüngig und der Zweifelnde muß daran verzweifeln."

"Auch die Unsterblichen haben mich verraten!"

"Recht hast du, John Dee; auch an den Unsterblichen soll der Mensch zweifeln; sie nähren sich von den Opfern und Gebeten der Irdischen und gieren danach wie die Wölfe."

"So weiß ich nicht mehr, wo Gott ist?!"

"Das geht allen so, die ihn suchen."

"Und die den Weg verloren haben?"

"Der Weg findet dich, nicht du findest den Weg! Den Weg verloren haben wir alle einmal, denn nicht wandern sollen wir, sondern das Kleinod finden, John Dee!"

"Verirrt und allein, wie du mich hier siehst, wie soll ich da nicht verschmachten auf dem verlorenen Weg?"

"Bist du allein?"

"Nein, du bist ja bei mir!" ...

"Ich bin ..." – schattenhaft schwindet die Gestalt Gardeners.

"So bist auch du nur Betrug?!" röchelt es aus mir.

Kaum vernehmbar mehr meinem Ohr aus weiter Ferne ein Ruf:

"Wer nennt mich Betrüger?"

"Ich!"

"Wer ist Ich?"

"Ich!"

"Wer ists, der mich mit Gewalt zurückzwingt?"

"Ich!"

Wieder steht deutlich Gardener vor mir. Lächelt mir ins Gesicht:

"Jetzt hast du den gerufen, der dich nie allein läßt, wenn du dich verirrt hast: den unergründlichen Ich. Besinne dich auf den Gestaltlosen vor deinem Blick; auf den Urgestalteten vor deinem Gewissen!"

"Wer bin ich?" stöhnt es aus mir.

"Dein Name ist aufgezeichnet, Ungenannter. – Dein Zeichen, Roderichenkel, hast du verloren. Darum bist du jetzt allein!"

"Mein Zeichen ...?"

"Dieses!" – Gardener zieht aus seinem Mantel den Brieföffner, den verlorenen Dolch, das Kleinod der Dees, Hoël Dhats Lanze!

"So ist es", höhnt der Laborant, und sein kaltes Lachen schneidet mir ins Herz.

"So ist es, John Dee! – Einst die edelste Männerwaffe des Urahns, dann ein gehegtes, abergläubisch verehrtes Erbkleinod deines Geschlechtes, dann ein schnöder Brieföffner dem herabgekommenen Enkel, und zuletzt ein leichtsinnig mißbrauchtes, leichtsinnig aus der frevelnden Hand verlorenes Werkzeug armseliger Künste der Finsternis! – Götzendienst! Verstehst du, was ich meine? Tief ist der Talisman einer edlen Zeit durch dich herabgekommen; tief, tief bist du gesunken, John Dee!"

Haß birst in mir auf; glühender Haß wie Lavaglut schießt mir zum Halse hinaus: "Her mit dem Dolch, Betrüger!"

Kaum um Haaresbreite weicht der Laborant vor meinem ungestümen Griff zurück.

"Den Dolch gib her, Dieb! Dieb! Du letzter Betrüger, letzter Feind auf Erden! Tod ... feind!"

Das Wort erstickt; mein Atem bricht. Deutlich spüre ich in mir die Nerven wie abgenutzte Stricke aufschwirren, rucken, reißen. Ich fühle mit unheimlicher Hellsicht: es geht mit mir zu Ende.

Ein sanftes Lachen weckt mich aus den Nebeln der Ohnmacht, die dem Zusammenbruch des bebenden Körpers nachfolgt:

"Gott sei Dank, John Dee, daß du nun allen deinen Freunden mißtraust; auch mir! – Endlich hast du zu dir selber zurückgefunden. Endlich, John Dee, sehe ich, daß du zu dir allein Vertrauen hast! Daß du endlich mit Wucht das Deine willst!"

Ich sinke zurück. Wunderlich fühle ich mich besiegt. Ich atme leise und leicht und stammle:

"Gib mir, Freund, mein Eigentum wieder."

"Nimm!" sagt Gardener und streckt mir den Dolch hin. Hastig greife ich danach, wie – nun, wie ein Sterbender nach dem Sakrament. Greife ins Leere. Gardener steht vor mir. Der Dolch in seiner Hand funkelt in dem klaren Morgenlicht so wirklich, wie meine eigene blutleere zitternde Hand totenbleich aufschimmert in dem Sonnenband vor mir, ... aber ich kann den Dolch nicht fassen. Leise sagt Gardener:

"Du siehst: dein Dolch ist nicht von dieser Welt!"

"Wann ... wo ... kann ich ihn ... greifen?"

"Drüben, wenn du ihn dort suchst. Drüben, wenn du ihn dann nicht vergessen haben wirst!"

"So hilf, Freund, daß ich ... nicht ... ver ... gesse!"

Ich will nicht sterben mit meinem Urahn John Dee, schreit etwas in mir auf, und mit einem heftigen Ruck reiße ich mich empor und sehe im nächsten Augenblick mein Schreibzimmer wieder um mich her; bin wieder der, der ich war, als ich begonnen hatte, den Kohlenspiegel zu befragen. Aber noch will ich in nicht aus der Hand legen. Will weiter erfahren, was mit John Dee geschah.

Und sofort bin ich abermals in die zerfallene Küche in Mortlakecastle entrückt. Doch diesmal bin ich nur ein unsichtbarer Zeuge dort und nicht mehr selber John Dee.

Ich sehe meinen Ahnherrn, oder die Larve, der man vierundachtzig Jahre vor seiner Geburt den Namen gab: John Dee, Baronet of Gladhill, auf seinem Lehnstuhl aufrecht gebettet am Backsteinkamin, mit erloschenem Blick nach Osten gewandt wie einen, der jahrhundertelang Zeit hat, zu warten. Ich sehe, wie wieder die Morgenröte aufsteigt über dem vermorschten und gänzlich in sich zusammengebrochenen Notdach über der Ruine jenes einst stattlichen Edelsitzes; sehe, wie die ersten Strahlen der Frühsonne über das heimlich lauschende, kaum tot zu nennende Gesicht huschen, und den Morgenwind mit den silberklaren Haarsträhnen des zurückgelehnten Hauptes spielen. Ich meine, ich spüre ein Aufhorchen; ich meine, ich sehe ein erwartungsvolles Leben in den gebrochenen Augen des Greises, und deutlich scheint mir mit einemmal die gesunkene Brust sich zu einem erlösten Seufzer zu heben. – Wer möchte da sagen: "Ich täusche mich"?

Da stehen urplötzlich in der elenden Küchenhöhle vier Gestalten. Ich glaube gesehen zu haben: sie sind aus den vier Himmelsrichtungen her zugleich aus der Wand getreten. Hochgewachsen, fast über Menschenmaß, kaum irdischen Wesen vergleichbar. Mag sein: die Gewandung macht den Anblick so gespenstig; sie tragen blauschwarze Mäntel, breite Umhänge verbergen Hals und Schultern. Maskenartige Kapuzen bedecken Gesicht und Haupt. Mittelalterliche Totengräber; verlarvt, wie die beginnende Verwesung.

Sie tragen einen seltsam geformten Sarg. Kreuzesform hat er. Aus blind welkendem Metall ist er. Zinn oder Blei, so muß ich denken.

Sie heben den Toten aus dem Sessel und legen ihn auf die Erde. Strecken ihn aus. Breiten seine Arme zur Kreuzform.

Dann steht Gardener zu Häupten des Toten.

Er trägt den weißen Mantel. Die goldene Rose auf seiner Brust leuchtet. In seiner ausgestreckten Hand liegt der Dolch der Dees mit der Speerspitze des Hoël Dhat. Die seltsame Waffe glänzt im Sonnenlicht; langsam neigt sich Gardener über den Toten und legt sie in die ausgebreitete Hand John Dees. Einen Augenblick scheint es mir, als zuckten die gelben Totenfinger und krümmten sich um den Dolchgriff.

Da – nicht zu sagen, wie jäh – schießt aus dem Boden auf die riesige Gestalt des Bartlett Green; sein breites Gebiß lacht aus dem rotflammenden Bart.

Mit feistem Behagen beschaut sich der spukhafte Häuptling der Ravenheads seinen toten ehemaligen Kerkergenossen.

Ein abschätzender Metzgerblick, mit dem er sein Schlachtopfer gleichsam auf den Fleischwert prüft.

So oft das weißblinde Birkauge des Bartlett zum Haupte des Toten vorwärts schweift, zwinkert er, als blende ihn unangenehmes Licht. Die Gestalt des weißgewandeten Adepten nimmt er nicht wahr. Lautlos, wie die Gespräche in Träumen sind, sagt der Bartlett Green zum toten John Dee – und ich selber fühle mich dabei angeredet:

"Ist es nun endlich vorbei mit dem Warten, alter Gesell? Hast dir die Seele aus dem Leib geharrt und gehofft, du Narr? Bist du jetzt fertig zur Fahrt nach – Grönland? So komm!"

Der Tote rührt sich nicht. Der Bartlett Green stößt mit seinem silbernen Schuh – der schiefrige Aussatz scheint noch dichter geworden zu seine – roh gegen die geschlossen ausgestreckten Beine des vor ihm Liegenden, und ein unsicherer Ausdruck überläuft sein Gesicht.

"Verkriech dich nicht in der baufälligen Hütte deines Kadavers, werter Baron! Gib Laut! Wo bist du?"

"Hier bin ich!" antwortet die Stimme Gardeners.

Der Bartlett Green führt zusammen. Seine zuvor noch geduckte Gestalt richtet sich ruckhaft auf zu ihrer ganzen wuchtigen Größe. Es ist, wie wenn eine mißtrauische Bulldogge, die einen verdächtigen Laut gehört hat, sich mit bösem Blick aufrichtet; knurrend ist die Stimme:

"Wer spricht da?"

"Ich", antwortets von jenseits des Leichnams.

"Das bist nicht du, Bruder Dee!" murrt der Bartlett. "Jag den Türhüter von deiner Schwelle, den du dir nicht bestellt hast; du nicht, Bruder Dee, das weiß ich."

"Was willst du von einem, den du nicht siehst?"

"Ich will nichts zu schaffen haben mit Unsichtbaren! Geh du deiner Wege und laß uns die unsrigen gehen!"

"Gut. So geh!"

"Auf da!" schreit der Bartlett und rüttelt den Toten, "auf, im Namen der Herrin, der wir verpflichtet sind, Kamerad! – Auf doch, verdammter Feigling! Es nützt nichts, sich tot zu stellen, wenn man tot ist, mein Liebling. Die Nacht ist vorbei. Der Traum ist ausgeträumt. Die Reise ist befohlen, marsch!" – Mit Gorillaarmen beugt sich der riesige Bartlett Green über den Toten und will ihn vom Estrich aufheben. Es gelingt ihm nicht. Keuchend bellt er ins Leere:

"Albgespenst, laß los! Das ist falsches Spiel!"

Gardener steht regungslos zu Häupten des Leichnams und rührt keinen Finger:

"Nimm ihn. Ich hindere dich nicht."

Wie ein apokalyptisches Tier stürzt sich der Bartlett über den Toten: er kann ihn nicht heben.

"Teufel, Bursche, was bist du schwer; schwerer als befluchtes Blei! Hast dir größere Mühe gegeben, Sündenlast zu häufen, als ich dir zugetraut hätte. – Also: auf damit!"

Aber es ist, als sei der Leichnam mit dem Erdboden verwachsen.

"Schwer von Verbrechen bist du, John Dee!" stöhnt der Rote.

"Schwer von Verdiensten des Leidens ist er!" kommt ein Echo von der andern Seite des Toten herüber.

Graugrüne Wut verzerrt das Gesicht des Bartlett Green:

"Unsichtbarer Betrüger! Albtrud, steig ab, so heb ich ihn leicht."

"Nicht ich," klingts zurück – "nicht ich; ihr habt ihn so schwer gemacht, und jetzt wunderst du dich?"

Giftiger Triumph sprüht plötzlich aus dem fahlen Birkauge des Bartlett:

"So bleib liegen, bis du verfault bist, feige Kanaille! – Kommst schon von selber dann zum angebrannten Speck, kleine Maus. Haben den Speck, wie du weißt, in gutem Verwahr, mein mutiges Mäuschen. Komm, hol dir die Lanze des Hoël Dhat, hol dir den Dolch, hol dir den Brieföffner, dein Spielzeug, kleiner John Dee!"

"Er hat die Lanze!"

"Wo?" – – Es ist nicht, als werde erst jetzt der Dolch in der Rechten des Toten dem Metzger sichtbar. Er stürzt sich darauf wie ein Habicht.

Deutlich bewegt sich die Hand des Toten. Sie krallt sich um die Waffe und hält sie fest.

Tierische Laute der rasend in ihr Opfer verbissenen Bulldoggenwut ...

Der weiße Adept dreht mit halber Wendung die Brust der steigenden Sonne entgegen; ein Strahl spiegelt und bricht sich in der goldenen Stickerei der Rose; Helle funkelt hinüber auf den gespenstischen Bartlett Green. Lichtwellen spülen ihn fort.

Wieder sind die verstummten Männer da. Sie heben den Toten auf und legen ihn sanft in den Kreuzsarg. Der Adept winkt mit der Hand, geht voraus, dem Glanz der warm hereindringenden Sonne zu. Seine Gestalt gerinnt zu kristallenem Licht, er winkt den Trägern des Sarges; so schreiten sie – ein schwebender stummer Zug – hinaus durch die östliche Wand der elenden Küche.

Ein Garten ist da. Gemäuer schimmert durch hohe Zypressen und breitschattende Eichen. Ist das der Park von Mortlake? – Fast möchte ich es glauben, denn Brandruinen trauern zwischen den leuchtenden Beeten und Rabatten, bepflanzt mit allerlei blühendem Gesträuch und flammenden Sommerblumen; aber in Mortlake sind nie solch trotzige Türme und Wehrmauern gewesen, wie sie hier überall durch das Baumwerk lugen ... Und durch zerbröckelte Mauerzinnen öffnet sich ein Blick in blaue Taltiefe, gezeichnet vom Band eines Flusses. Ein Beet in Ruinen. Ein Grab ist aufgeworfen. Der Kreuzsarg senkt sich hinab.

Indessen die dunklen Träger die Gruft mit Erde zuschaufeln, beugt sich der Adept im weißen Mantel hierhin und dorthin zu seltsamem Tun. Er scheint an den Blattsträuchern und Blumen wie ein Gärtner pflegerische Verrichtungen vorzunehmen: er schneidet, er bindet auf, gräbt und begießt, ruhig, stet, als habe er die Zeremonie der Bestattung hinter sich lang schon vergessen.

Das Grab ist gewölbt. Die blauschwarzen Larven sind fort. Gardener, der seltsame Laborant, hat einen starken, jungen Rosenstamm an neuem, zierlich geschnittenem Pfahl aufgerichtet. Blutrot leuchten die Rosen aus den üppigen Zweigen ...

Mir schwebt eine Frage mit quälendem Verlangen immer deutlicher, immer drängender auf den Lippen. Ehe mein Mund sich zu Worten bequemt, wendet sich der Adept mit halber Drehung des Kopfes mir zu: es ist Theodor Gärtner, mein im pazifischen Ozean ertrunkener Freund.

Ich ließ den Kohlekristall aus der Hand fallen; wütender Kopfschmerz quälte mich. Klar bewußt kam die Überzeugung über mich, daß ich nie mehr etwas in dem schwarzen Spiegel würde sehen können. Eine Wandlung war in mir vorgegangen, daran kann ich nicht zweifeln, und doch wärs mir unmöglich gewesen, genau zu sagen, worin sie bestand. "Ich habe John Dee geerbt mit seinem ganzen Wesen", so wärs noch am treffendsten ausgedrückt. Ich bin mit ihm verschmolzen; er ist verlöscht nunmehr, und ich bin da statt seiner. Er ist ich und ich bin er für immer.

Ich riß ein Fenster auf; der kalte Gestank, der aus der Onyxschale drang, war unerträglich. Es roch nach Verwesung ...

Ich hatte kaum meine Sinne ein wenig an der Luft erfrischt und den widerwärtigen Geruch aus meinem Zimmer samt der Räucherschale entfernt, da kam Lipotin.

Als er eintrat, schnüffelte seine Nase so verstohlen wie möglich ein paarmal ins Ungewisse hinein. Doch sagte er nichts.

Dann wurde seine Begrüßung auf einmal sehr laut und beflissen, und sein sonst so langsames und bedachtes Wesen veränderte sich ins Nervöse, Flackrige. Er lachte hier und da grundlos auf, sagte "ja, ja" und setzte sich umständlich. Mit viel zuviel Aufwand an Bewegung setzte er ein Bein übers andere, zündete hastig eine Zigarette an und fuhr los:

"Ich komme natürlich im Auftrag."

"In wessen Auftrag?" fragte ich mit überflüssiger Höflichkeit.

Er verbeugte sich:

"Natürlich im Auftrag der Fürstin, Verehrtester."

Ohne es selbst zu wollen, verharrte ich in der komischen Grandezza, mit der dieses Gespräch begonnen hatte, und das sich anließ wie die Verwandlung zweier Theaterdiplomaten.

"Ja, im Auftrag meiner ... meiner Gönnerin."

"Nun?"

"Ich bin beauftragt, wenn möglich, diesen ... sagen wir: diese stilettartige Waffe Ihnen abzukaufen. Sie gestatten doch?" – Er griff mit spitzen Fingern nach dem Dolch, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und betrachtete ihn scheinbar eingehend mit den gekniffenen Mienen des Kritikers:

"Es ist eigentlich nicht schwer, die Ware ein wenig schlecht zu machen. Sehen Sie doch, welche Stümperarbeit! Stückelei!"

"Ich habe gleichfalls den Eindruck, daß das Stück keinen allzu großen Altertumswert darstellt", gab ich zu.

Fast ängstlich unterbrach mich Lipotin. Er fürchtete ein voreilig entscheidendes Wort. Er rekelte sich in seinem Stuhl und fand mühsam in seinen alten Ton zurück:

"Wie gesagt, ich möchte Ihnen das Ding abschmusen. Warum soll ich nicht offen sein? Sie sind ja kein Sammler von dergleichen Dingen. Wohl aber die Fürstin. Und denken Sie bloß: sie ist der Ansicht ... natürlich teile ich diese Ansicht durchaus nicht ... sie ist der Ansicht ..."

"... es sei das fehlende Stück aus der Sammlung ihres Vaters", ergänzte ich kühl.

"Erraten! ... Erraten!" – Lipotin fuhr aus seinem Stuhl auf und tat, als freue er sich riesig über meinen Scharfsinn.

"Ich bin derselben Ansicht wie die Fürstin!" bemerkte ich.

Lipotin lehnte sich befriedigt zurück:

"Ja? – Nun, dann ist alles gut." – Er machte ein Gesicht, als sei der Handel bereits abgeschlossen.

Ruhig wie zuvor sagte ich:

"Eben darum ist mir der Dolch sehr wertvoll."

"Ich verstehe", unterbrach Lipotin, eifrig zustimmend. "Man muß seine Chancen stets wahrnehmen; ganz meine Ansicht in solchen Dingen!"

Ich überhörte die vielleicht beleidigende Unterstellung:

"Ich wünsche keine Geschäfte zu machen."

Lipotin rückte unruhig auf seinem Sessel:

"Sehr gut. – Ich soll auch gar keine Angebote machen. Hm. Es wäre nur sehr taktlos von mir, Ihre Gedanken erraten zu wollen. Natürlich, die Fürstin ist nun mal kapriziert. Kapricen einer schönen Frau sind immer aussichtsreich. Ich dächte, das Opfer wäre zu bringen. – Ich dächte ... kurz: ich bin beauftragt, ein sehr weitgehendes ... ich bitte, mich nicht mißzuverstehen: die Fürstin bietet selbstverständlich kein Geld. Sie überläßt es Ihnen, selbst zu bestimmen. Sie wissen, Verehrtester, wie ungewöhnlich hoch Sie in der Wertschätzung der Fürstin stehen, dieser wahrhaft großgesinnten, wirklich entzückenden Frau! – Ich glaube, sie bietet Ihnen unendlich mehr für das Geschenk dieser Kuriosität ... für das großmütige Erfüllen einer Laune."

Noch nie hatte ich Lipotin so geschwätzig gefunden. Unruhig suchten seine Augen beständig in meinem Gesicht zu lesen, jeden Moment bereit, vorsichtig sich neuer Situation anzupassen. Ich konnte angesichts dieses Spiels ein flüchtiges Lächeln nicht unterdrücken:

"Leider sind die so verlockenden Angebote der auch von mir überaus verehrten Fürstin verschwendet, denn der Dolch gehört nicht mir."

"Ge ... hört nicht ...?" – Lipotins Verblüffung war zu komisch.

"Er ist doch meiner Braut geschenkt worden."

"Ach sooo ..." machte Lipotin.

"So ist es."

Mit neuer Vorsicht begann der Moskowiter:

"Geschenke tragen die Neigung in sich, Geschenke zu bleiben. Mir scheint es fast so, als sei das Geschenk schon ... oder, als könne es jeden Augenblick, wenn gewünscht, in Ihre umworbene Hand ..."

Nun hatte ichs satt; ich sagte kühl:

"Ganz recht. Die Waffe ist mein. Und sie bleibt mein, denn sie ist sehr wertvoll."

"Wahrhaftig? Warum?" – ein leiser Spott meldete sich in Lipotins Stimme.

">Vieles an dem Dolch ist mir ungemein wertvoll."

"Aber Verehrtester, was wissen denn Sie von dem Dolch!"

"Von außen ist ihm freilich wenig von seinem Wert anzusehen, aber wenn man den Kohlekristall darüber befragt – – –"

Lipotin erschrak so sehr, und Blässe überzog so fahl sein Gesicht, daß es zwecklos gewesen wäre, hätte er noch einen Versuch machen wollen, seine Betroffenheit zu verbergen. Er fühlte das offenbar selber, denn er änderte urplötzlich Haltung und Stimme:

"Wieso? Sie können den Kristall doch gar nicht befragen! Dazu gehört das rote Pulver. – Leider kann ich Ihnen nicht nochmals damit dienen."

"Unnötig, mein Freund", unterbrach ich. "Ich hatte zum Glück noch einen kleinen Rest davon." – Ich deutete auf die Aschenschale.

"Und Sie haben ... ohne Hilfe ...? Das ist unmöglich!" Lipotin war vom Sessel aufgesprungen und starrte mich entgeistert an. Angst und Staunen malten sich in seinem Gesicht so offen, daß es auch mich hinriß, alle Maske fallen zu lassen:

"Nun ja; ich habe geräuchert! Ohne die Hilfe des Rotkappenmönchs und ohne die Ihrige."

"Wer das gewagt hat und getan hat" – staunte Lipotin, "und lebt noch, der ... hat den Tod überwunden."

"Mag sein. Jedenfalls kenne ich jetzt den Wert und das Wesen und die Herkunft und die Zukunft des Dolches. Glaube sie wenigstens zu ahnen. – Sagen wir mal: ich wäre ebenso abergläubisch wie die Fürstin oder wie ... Sie."

Lipotin setzte sich langsam wieder neben mich. Er war vollkommen ruhig, aber in seinem Wesen wie von Grund aus verändert. Er nahm die erst halb ausgerauchte Zigarette aus dem Mund, drückte sie in den Aschenbecher, als der die Onyxschale nun wieder zur Verfügung stand, und zündete sich umständlich eine neue an, als wolle er damit gleichsam andeuten, das Vergangene sei beiseite gelegt und ein anderes Spiel habe begonnen. Lange sog er stumm an dem scharf duftenden russischen Kraut. Ich störte ihn nicht in dem Genuß und war entschlossen abzuwarten. Als er es bemerkte, senkte er die Augenlider und hub an:

"Stimmt. Na also: schön. Die Sachlage ist von Grund aus verändert. Sie kennen den Dolch. Sie behalten den Dolch. Sie haben die erste Chance gewonnen."

"Damit sagen Sie mir nichts Neues", erwiderte ich mit Seelenruhe. "Wer, wie ich, gelernt hat, den Sinn der Zeit zu erkennen und die Dinge in ihr nicht von außen, sondern von innen zu betrachten, wer von Träumen zu Schicksalen und von Schicksalen zur Allgegenwart der bildgewordenen Wirklichkeit vorgedrungen ist, der weiß auch die Namen im richtigen Augenblick der Beschwörung zu nennen, und die gerufenen Dämonen gehorchen ihm."

"Ge ... hor ... chen?" – dehnte Lipotin das Wort. "Darf ich mir einen Rat erlauben? Gerufene Dämonen sind die gefährlichsten. Glauben Sie das einem alten, ach ja, schon sehr alten und gewitzten Kenner der Zwischenwelten, die sich so gern an die ... Altertümer heften! Kurz und aufrichtig: Sie sind, wertgeschätzter Gönner, berufen, denn Sie haben sich zum Herrn über den Tod gemacht; so viel kann ich sehen und ich erkenne in Ihnen mit Staunen einen Sieger über mancherlei Anfechtung; aber auserwählt sind Sie darum noch lange nicht. Der ärgste Feind des Siegers ist der Hochmut."

"Ich danke Ihnen, Lipotin, für dies anständige Wort. Offen gesagt, ich habe Sie bei der Gegenpartei vermutet."

Lipotin hob die schweren Augenlider mit gewohnter Trägheit:

"Ich, werter Gönner, bin auf gar keiner Seite, denn ich ... mein Gott ... ich bin nur ein ... Mascee: Ich gehe mit dem Stärkeren."

Unbeschreiblich war der Ausdruck von verzerrter Ironie, Skepsis und unausschöpflicher Trauer, ja von Ekel, in den ausgedörrten Zügen des alten Antiquars.

"Und für den Stärkeren halten Sie ...?" – triumphierte ich.

"... Augenblicklich halte ich für den Stärkeren Sie. Und darum bin ich bereit, Ihnen zu dienen."

Ich starrte vor mich hin und rührte mich nicht.

Jäh neigte er sich auf:

"Sie wollen also der Fürstin Chotokalungin den Garaus machen! Sie verstehen, wie ich es meine. – Aber das geht nicht, Verehrtester! Zugegeben: sie ist eine Besessene; aber sind Sie vielleicht kein ... Besessener? Wenn Sie's selber nicht wissen, um so schlimmer für Sie. Aus Kolchis stammt sie ohnehin, und ihre Ahnfrau mag Medea geheißen haben."

"Oder: Isaïs", unterbrach ich mit Sachlichkeit.

"Isaïs ist ihre geistige Mutter", antwortete Lipotin ebenso rasch und ebenso unpathetisch. "Sie müssen das gut unterscheiden, wenn Sie hoffen wollen, Herr zu werden."

"Verlassen Sie sich darauf: ich werde Herr werden!"

"Überschätzen Sie sich nicht, Verehrtester! Seit die Welt steht, hat das Weib noch immer gewonnen."

"Wo ist das geschrieben?"

"Wärs nicht so, die Welt stünde nicht."

"Was kümmert mich die Welt? Ich bin der Herr der Lanze?"

"Wer die Lanze verweigert, der verschmäht erst die Hälfte der Welt; und das Fatalste dabei, werter Gönner, ist: die Hälfte der Welt ist immer die ganze Welt, mit halbem Willen ergriffen."

"Was wissen Sie von meinem Willen!"

"Sehr, sehr viel, mein Verehrter. – Haben Sie denn die pontische Isaïs nicht gesehen?"

Es überlief mich heiß unter dem spöttisch lauernden Blick des Russen. Ich vermochte nicht, diesen beißenden Hohn abzuwehren; ich wußte auf einmal mit unentrinnlicher Gewißheit: Lipotin las in meinen Gedanken. Hatte er doch auch in meinem Gehirn gelesen damals im Hause der Fürstin und auf der Fahrt nach Elsbethstein. Ich errötete wie ein ertappter Schuljunge.

"Nicht wahr?" sagte Lipotin mit ärztlichem Wohlwollen. Ich wandte den Kopf ab und schämte mich.

"Dem ist noch keiner entgangen, mein Freund", fuhr Lipotin halblaut fort, "und so leicht wird ihm auch keiner entgehen. Nur Geheimnisse pflegt man zu verhüllen. Das Weib, die allgegenwärtige Wirklichkeit, brennt sich uns nackt ins Blut, und wo wir mit ihr kämpfen müssen, da ziehen wir sie am besten erst recht nackt aus, in der Tat oder Vorstellung, so gut wir eben können. Anders hat noch kein Held die Welt besiegt."

Ich suchte auszuweichen: "Sie wissen viel, Lipotin!"

"Sehr viel. Freilich! Sehr viel", antwortete er, wie vorhin fast automatenhaft, fast im Schlaf.

Das Bedürfnis überkam mich, in der aufsteigenden Beklemmung, die mich zu würgen begann, meine eigene Stimme zu hören:

"Sie glauben, Lipotin, ich verschmähte die Fürstin. Das ist unrichtig. Ich verschmähe sie nicht. Ich will sie erkennen, verstehen Sie? Erkennen! Wenn es sein muß: in dem nüchternen und unbarmherzigen Sinn des Bibelwortes, denn ich will fertig mit ihr werden!"

"Verehrter Gönner", krächzte Lipotin und zerbiß seine Zigarette mit dem Augenklappen eines alten Papageis, "Sie unterschätzen das Weib. Gar, wenn es in der Hülle einer Zierkassierin verlarvt ist! Ich ... ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken." – Er wischte sich ein paar Tabaksfäden vom Mund mit der Miene Chidhers, des ewig Wandernden, der sich den Abschaum des Lebens von den Lippen streicht. Jählings fuhr er los: "Und selbst, wenn Sie sie töten könnten, so schöben Sie damit den Kampf nur auf ein anderes Feld, das noch weit gefährlicher für Sie wäre, weil Sie es noch weniger als das irdische überblicken könnten und noch leichter als hier auf dem schlüpfrigen Boden ausrutschen möchten. Weh Ihnen dann, wenn Sie 'drüben' ausrutschen!"

"Lipotin!" – rief ich, außer mir vor Ungeduld, da ich spürte, wie mir die Nerven zu versagen begannen, "Lipotin, bei Ihrer Bereitschaft, mir zu dienen: was ist der wahre Weg zum Sieg?"

"Es gibt nur einen Weg."

Plötzlich kam mir zu Bewußtsein, daß Lipotins Stimme wieder den eintönigen Klang angenommen hatte, der mir mehrmals schon aufgefallen war. Beherrschte ich ihn wirklich? Unterlag er willenlos meinen Befehlen? War er zum Medium geworden, das mir gehorchen mußte, wie ... wie ...? So hatte einst auch Jane vor mir die Augen geschlossen und geantwortet, wenn ich mit der unverständlichen Kraft in mir zu fragen begann! – Ich raffte mich auf und blickte fest zwischen die Augenbrauen des alten Russen:

"Wie finde ich den Weg? Ich ..."

Zurückgelehnt, bleich, antwortete Lipotin:

"Den Weg ... bereitet ... ein Weib. Nur ein Weib überwindet ... unsere Herrin Isaïs ... in denen, die ... ihre ... Geliebtesten ... sind."

Die Enttäuschung schlug mich zurück:

"Ein Weib??"

"Ein Weib, das die Verdienste des ... Dolches hat."

Due Dunkelheit seines Ausspruchs betäubte mich fast. Verstört, unsichern Blickes, etwas Unverständliches greisenhaft stotternd und mit verfallener Miene begann Lipotin sein Bewußtsein zurück zu erkämpfen.

Rasch hatte er sich gefaßt, da schrillte draußen die Flurglocke, und gleich darauf stand Jane in der Tür, und hinter ihr tauchte die riesige Gestalt meines Vetters Roger auf ... ich meine natürlich: des Chauffeurs der Fürstin. Es befremdete mich, daß Jane völlig fertig zu einem Ausgang gekleidet war. Sie trat herein und machte dem langen Chauffeur Platz. Er überbrachte Gruß und Auftrag seiner Herrin, uns alle zu der vereinbarten zweiten Fahrt nach Elsbethstein abholen zu dürfen. Der Wagen stehe vor der Tür. Die Fürstin sitze unten und warte.

Jane erklärte sofort eifrigst, sie sei dankbar und bereit; man müsse die Liebenswürdigkeit der Fürstin annehmen und den schönen Tag genießen. Was hätte ich einwenden wollen!?

Mir war der Eintritt des unheimlichen Chauffeurs wie kalter Schreck in die Glieder gefahren; trübe Gedanken, gestaltlos flattrige Ahnungen legten sich mir mit Gewichten auf die Brust. Ich hätte nicht zu sagen gewußt, warum ich Jane bei der Hand nahm und nur langsam und schwer die Worte hervorbrachte:

"Falls es nicht dein aufrichtiger Wille sein sollte, Jane ..."

Sie unterbrach mich mit festem Händedruck und merkwürdig durchstrahltem Gesicht:

"Es ist mein aufrichtiger Wille!"

Das klang wie eine Abrede; denn Sinn verstand ich nicht.

Rasch trat Jane an den Schreibtisch und ergriff den fremdartigen Dolch. Steckte ihn, ohne ein Wort zu sprechen, in ihre Handtasche. Stumm schaute ich ihr zu. Endlich riß ich mir gewaltsam die Frage von den Lippen:

"Wozu das, Jane? Was willst du mit der Waffe?"

"Der Fürstin schenken! Ich hab mirs so überlegt."

"Der ... der Fürstin?"

Jane lächelte kindlich:

"Wollen wir doch die liebenswürdige Herrin des Wagens nicht länger warten lassen!"

Lipotin stand stumm hinter seinem Stuhl und ließ mit auffallend müdem Blick sein Auge unschlüssig von einem zum andern gleiten. Von Zeit zu Zeit schüttelte er still und wie in eine Ast stumpfen Staunens versunken den Kopf.

Es wurde nicht mehr viel gesprochen. Wir nahmen unsere Mäntel und Hüte und machten uns fertig zur Ausfahrt mit einer die Seele wie die körperlichen Gebärden lähmenden Betroffenheit.

So begaben wir uns hinab; vor uns her huschte geschmeidig und lautlos der baumlange Chauffeur.

Wir sahen die Fürstin aus dem Fond des Wagens winken. Es war eine merkwürdig hölzerne Begrüßung.

Wir stiegen ein.

Mir sträubte sich jedes Härchen auf der Haut, und jede Zelle meines Leibes schien mir zuzuflüstern: Nicht fahren! Nicht fahren!

Dann rückten wir uns alle, willenlos geworden wie gelenkte Puppen, im Wagen zurecht, erstorbenen Herzens und gelähmten Mundes, zu unserer Vergnügungsfahrt nach Elsbethstein.


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