Johann Meyer
Märchen
Johann Meyer

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Vom Blitz getroffen.

Ein Bild nach der Wirklichkeit.

(Erschien 1869 in einer Jugendschrift.)

Wenn euch der »Jugendbote« diese Zeilen ins Haus bringt, meine lieben kleinen Leser und Leserinnen, ist über die Geschichte, von welcher sie handeln, schon der eilende Schritt der Zeit hinweggegangen; aber mir, der ich sie vor einigen Stunden mit erlebt habe, wird sie auch dann noch in frischer Erinnerung sein. Wir schreiben heute den 8. Juni; gestern war den ganzen Tag über die Atmosphäre warm und schwül, und am Nachmittag, und je näher dem Abend, desto mehr gewann es den Anschein, daß uns die Nacht ein Gewitter bringen werde. Bereits zur Zeit der Dämmerung zeigten sich am Himmel große schwarze Wolken, aus denen es, je dunkler es wurde, um so häufiger wetterleuchtete, und gegen 12 Uhr ließ sich in weiter Ferne das wiederholte Rollen des Donners deutlich vernehmen. Da es aber, anstatt stärker zu werden, bald wieder abnahm, trug ich kein Bedenken, zu Bett zu gehen. Indessen um 2 Uhr wurde ich wieder vom Rollen des Donners geweckt, das nun in kürzeren Zeiträumen zu hören war, und indem es allmählich an Stärke gewann, zur Genüge zeigte, daß sich das Gewitter nähere. Es ist nicht meine Art, unter solchem Umstande lange im Bett zu bleiben, zumal ich in einem Hause wohne, das sein schirmend Dach über 50 Menschen breitet, darunter 40 schwache und hilfsbedürftige Kinder, für deren leibliches und geistiges Wohl ich die schwere Verantwortung trage. Ich stand daher rasch auf, kleidete mich an und ging ans Fenster, um nach einem Blick ins Freie meine Vorkehrungen zu treffen. Es begann bereits zu tagen. Die kleinen Sänger aber, welche um diese Zeit der Morgenfrühe sonst immer in meinem Garten zu konzertieren pflegten, verharrten in tiefstem Schweigen. Nur ab und zu flog eine schreiende Möve über den Garten vom Hafen her, auf die noch schlummernden Äcker. Den südlichen Himmel bedeckte ein dunkler Wolkenschleier, – dort stand das Gewitter. Es stieg allmählich höher, zog aber rasch in westlicher und nordwestlicher Richtung weiter, und da ich nach einiger Zeit deutlich sehen konnte, daß es Kiel nicht mehr berühren werde, unterließ ich es, mein Dienstpersonal zu wecken, und blieb wohl eine halbe Stunde lang am Fenster stehen, die Blitze beobachtend, die unausgesetzt aus den Wolken zur Erde züngelten, sowie die Regenflagen, die wie geschwellte Segel, vom Winde gejagt, in noch ziemlicher Entfernung um die Stadt herum über dem Horizont entlang zogen. Als nach meinem Dafürhalten jegliche Gefahr vorüber war, legte ich mich wieder schlafen, wurde jedoch morgens gegen 5 Uhr abermals vom Rollen des Donners wach, das nun aber plötzlich schon so laut war und mit solcher Schnelligkeit an Stärke zunahm, daß mir diesmal eine Berührung der Stadt vom Gewitter nicht mehr zweifelhaft schien. Ich warf mich rasch in die Kleider, mich freuend, daß es schon heller Tag war, und eilte die Treppe hinunter in die verschiedenen Schlafzimmer des ersten Stockes, wo ich bereits die Wärterinnen aufgestanden vorfand und damit beschäftigt, den Pfleglingen beim Ankleiden hilfreiche Hand zu leisten. Das mit seltener Schnelligkeit heraufsteigende Gewitter hatte uns fast überrascht, und nur mit verdoppelter Anstrengung gelang es uns noch eben zur rechten Zeit, sämtliche Kinder in Zeug zu bringen und diejenigen Maßregeln zu treffen, welche bei einem jeden unmittelbar Gefahr drohenden Gewitter hier getroffen werden müssen. Alle Kinder wurden in die geräumigen Stuben des Kellergeschosses hinuntergeführt und dort in drei Stuben gleichmäßig verteilt und einer jeden Schar zwei Wärterinnen zur Aufsicht gegeben. Die Riegel der beiden zu jeder Seite des Hauses nach dem Garten hinausführenden Kellertüren wurden zurückgeschoben ebenfalls der im ersten Stock vor der Haustür befindliche Riegel, und das noch übrige diensttuende Personal der Anstalt wurde beordert, sich im Kellergeschosse in der Nähe der Kinder aufzuhalten. Kaum war alles unten und in Ordnung, als auch schon auf den Flügeln des Sturmes das tobende Unwetter über uns hinfuhr. Die Kronen der Bäume zischten und sausten und neigten sich tief herunter vor der Wucht des Windes. Ein wolkenbruchartiger Platzregen rauschte in Strömen vom Himmel, alle dem Auge nur wenige Schritte entfernten Gegenstände da draußen in einen grauen Schleier hüllend und den ebenen Boden mit schäumigen Wasserpfützen im Nu überschwemmend. Dann und wann prasselte ein blendender Blitzstrahl dazwischen, und unmittelbar hinterher krachte der betäubende Knall des Donners mit solcher Gewalt, daß die Scheiben klirrten und der feste Grund erzitterte. Ja einigemal hatte es den Anschein, als ob der Blitz in die auf dem Hause befindliche Gewitterstange gefahren sei, was sich freilich bei nachheriger Untersuchung als eine Täuschung erwies, aber als Beleg dafür dienen kann, wie nahe wir der Gefahr waren, Gottes Hand beschützte uns und führte sie gnädig an uns vorüber. Schnell, wie das Unwetter gekommen, brauste es auch von dannen und nach Verlauf einiger Minuten war jegliche Gefahr verschwunden. Der Sturm hatte plötzlich nachgelassen, der schon weiter entfernt rollende Donner verlor mit jedem Schlage an Stärke. Der Regen hörte auf zu strömen, und durch die langsamer fallenden Tropfen lichtete sich allmählich der graue Schleier der Atmosphäre, hinter dem das Auge bereits zwischen den zerrissenen Wolkenmassen helle Stücke des lachenden Himmels erblickte. Als ich hinausging, um nach dem Schaden zu sehen, welchen die Überschwemmung in meinem abschüssig belegenen Garten verursacht haben mußte, gingen schon Leute des Weges, und der ersten einer, welcher, von der Hamburger Chaussee kommend, soeben das vor meinem Hause befindliche große Rondeel betrat, wo sich die Hamburger und die Lübecker Chaussee vereinigen, erzählte mir, daß das Gewitter an zwei Stellen in der Nähe eingeschlagen habe, nämlich in einen nur 8 Minuten entfernt liegenden, an der Hamburger Chaussee aufgeführten Neubau und in die Pappelbäume vor einer weiter seitwärts an der Rendsburger Landstraße belegenen Käthnerwohnung, wo leider zwei junge Leute, die Söhne des alten Käthners, vom Blitze getötet seien. Ich beschloß sofort, mich persönlich von der Wahrheit dieser Hiobspost zu überzeugen, und machte mich auf den Weg, zunächst nach dem erwähnten Neubau. Ehe ich ihn noch erreichte, konnte ich die vom Blitz herrührende Beschädigung schon deutlich erkennen. Oben, von dem Firste des Daches ausgehend, befand sich in der Mitte der massiven Brandmauer des Giebels ein etwa 8 Fuß langer Spalt, welcher an dem oberen Ende eine Breite von einem Fuß hatte und im Zickzack spitz zulief. Ein sogenannter kalter Schlag, ein Blitz, der nicht gezündet, hatte den Spalt gerissen und die hinausgeworfenen Mauersteine weit umhergeschleudert. Außerdem waren zwei Scheiben zertrümmert in den in der Nähe des Spaltes befindlichen beiden Fenstern. Weitere Spuren der Verwüstung waren an der Außenseite des Gebäudes nicht zu sehen. Als ich aber das Innere betrat und in den zweiten Stock hinaufstieg, fand ich an sämtlichen Gypsdecken der noch nicht vollendeten Stuben die Spuren des Blitzes. Hier waren große Stücke Gips heruntergerissen und die an die Verschalung genagelten Rethhalme hingen zerknittert herunter, dort lief in dem Winkel über dem Deckengesimse ein feiner Riß fast rund um die Stube, hier befanden sich wieder Gruppen kleiner Löcher, wie mit Büchsenkugeln geschossen, und wieder dort war es deutlich zu erkennen, wie der Blitz längs dem Metalldraht der Verschalung gegangen und zu beiden Seiten desselben das dahinter befindliche Ried durchschnitten und versengt hatte. Kurz, in allen Stuben war es erkennbar, mit welcher Vorliebe er sich gerade das zwischen den Gipsdecken und der Verschalung befindliche Drahtgeflecht ausgesucht und dort zerstörend gehaust hatte. Der Tischlermeister, der schon wieder oben mit seinem Burschen arbeitete, erzählte mir, die übrigen Arbeiter hätten sich bereits vor dem starken Regen aus dem Freien, wo sie gerade beschäftigt gewesen, in das Parterre des Baues geflüchtet, als er mit seinem Lehrlinge noch oben gewesen sei. Da seien sie plötzlich von einem heftigen Blitzschlag erschreckt worden, und er habe zu seinem Burschen gesagt: Laßt uns aufhalten und hinuntersteigen, es ist besser, daß wir bei den andern bleiben, bis die Gefahr vorüber ist. Sie seien auch nur eben unten gewesen, da sei schon ein zweiter noch weit heftigerer Schlag erfolgt, der fast alle bis zur Besinnungslosigkeit erschreckt und das ganze Haus erschüttert und mit Schwefeldunst erfüllt habe. Entsetzt seien sie hinausgeflogen und hätten nun zunächst am Giebel die Spuren des kalten Schlages wahrgenommen. Welch ein Glück, fügte er hinzu, daß ich mit meinem Burschen hinuntergestiegen; denn wäre es nicht geschehen, so würden wohl auch in diesem Hause, wie drüben in dem andern, zur Stunde zwei Leichen gelegen haben. Gepriesen sei Gott, daß er uns so wunderbar erhalten, ich werde es nimmer vergessen und ihm mein Lebenlang dafür danken. Ich beglückwünsche die beiden dazu, daß sie der nahen Todesgefahr so wunderbar entronnen waren, und begab mich voll banger Erwartung zu jener Unglücksstätte, wo, wie nun auch der Tischler wiederholt hatte, zwei Menschen vom Blitz erschlagen sein sollten. Sie befand sich ungefähr eine Viertelstunde seitwärts, dicht hinter dem kleinen Dorfe Winterbeck und hart an der Rendsburger Landstraße. Es lagen dort rechts am Wege, etwa je 50 Schritte voneinander entfernt, drei kleine Katen, die gemeinschaftlich den Namen Hassee-Sand führen. Vor der Fronte der mittleren von ihnen standen, 10 bis 12 Fuß von der Haustür entfernt und je 8 Fuß voneinander und der Mauer des Hauses parallel, vier ziemlich hohe Bäume, drei Pappeln und eine Esche. Hier hatte sich vor einer Stunde der unerbittliche Tod seine Opfer geholt und zwei kräftige Männer aus dem vollen Leben gerissen. Welch ein Anblick des Schmerzes und des Grausens in dem engen Raum dieses kleinen Hauses, darin noch soeben der Friede und das Glück geweilt hatten! Da lagen sie auf Stroh gebettet in der niedrigen Kammer bleich und still, noch warm vom frischen Leben und doch schon der Verwesung sichere Beute! Zwei Brüder, von einem und demselben Schlage jäh zu Boden gestreckt, der eine im gereiften Mannesalter, der andere noch ein blühender Jüngling, beide von stattlichen Körperformen und männlich-schönen Gesichtszügen. In der rechten Schläfe des älteren klaffte eine Wunde von Zollgröße, offenbar die Stelle, wo der tödliche Schlag erfolgt war. Unter dem rechten Kinnbacken zeigte sich den Hals hinunter ein zwei Finger breiter und etwa vier Zoll langer blauer Streifen; weitere Zeichen der Verletzung waren nicht bemerkbar. Einen ganz ähnlichen Streifen hatte an derselben Seite des Halses auch der jüngere Bruder und außerdem auf der Brust vier oder fünf runde Stellen von der Größe eines Talers, wo die Haut bis aufs Fleisch herausgerissen war. Die Hosen beider waren mehrfach kreuz- und quer durchrissen, ebenfalls die Fußbekleidung und die Mützen. Ein merkwürdiges Gefühl unheimlichen Grauens überfiel mich bei dem Anblick dieser beiden Leichen. Obwohl ich zur Zeit des Krieges ganze Haufen von Toten gesehen und lange Reihen Verwundeter, die soeben vom Schlachtfeld gebracht, noch des ersten Verbandes harrten: ein solches Gefühl des Grausens war mir noch nie gekommen. Hatten doch diese erst dem Feinde die Stirn geboten und waren dann im off'nen Kampfe gefällt worden, während jene beiden einer gigantischen Naturkraft erlagen, die in ihrer furchtbaren Äußerung um so unheimlicher erscheinen muß, als sie in ihrem innersten Wesen dem forschenden Menschengeiste noch ein Geheimnis geblieben. Unwillkürlich dachte ich an Zeus, wie sich ihn die alten Griechen vorstellten, in den Wolken thronend und seine Blitze schleudernd, alles sicher vernichtend, was er dem Untergange bestimmt hatte, und wie nächst dem erhabenen Schauspiel eines majestätischen Gewitters auch wohl ein Ereignis wie das vorliegende die alten Griechen und Germanen auf die göttliche Verehrung dieser Naturkraft geführt haben müsse, aus der sie sich nach und nach ihren höchsten Gott gestalteten, den blitzenden Zeus und den Thor mit dem Donnerhammer.

Dies Gefühl des Grauens wich aber bald dem Mitleid, das mich erfüllt, als ich die armen alten Eltern und ihre weinende Tochter sah. Jene beiden Toten waren die einzigen Söhne und zugleich die einzigen Stützen der armen Alten. Allezeit brav in ihrem Wandel, hatten sie mit rastlosem Fleiße gestrebt und gearbeitet, um der kleinen Familie das Auskommen zu schaffen und den ergrauten Eltern die letzten Jahre des Lebens leicht und heiter zu machen. In der Ausführung dieses Berufes waren sie auch vom Tode ereilt worden. Noch eben saßen die Eltern und Kinder gemeinschaftlich um den Tisch. Trotz des aufsteigenden Gewitters hatten die Söhne darauf ihre Jacken genommen, um ins nahe Kartoffelfeld zu gehen, und die sorgende Schwester war ihnen nachgeeilt bis unter jene Bäume, sie bittend, mit der Arbeit zu warten und heimzubleiben, bis das Gewitter vorübergegangen. Aber ihr Fleiß duldete einen Aufschub nur im äußersten Notfalle. Ihre braven Herzen kannten keine Furcht, und was machten sie sich aus einem Regenschauer? Da – mit einem Male erfolgte ein heftiger Schlag. – Das geängstigte Mädchen in dem Glauben, daß ihr die Brüder folgten, eilt zurück in die Haustür; aber kaum ist sie über die Schwelle, als auch schon ein zweiter noch stärkerer Schlag kommt und die Brüder, die noch unschlüssig unter den Bäumen stehen, zu Boden wirft. Eltern und Tochter, von demselben Schlage wie betäubt, stürzen hinaus, und – zu ihren Füßen liegen die getroffenen Brüder entseelt am Boden.

Wer vermag den Schmerz der Unglücklichen zu fassen bei solchem Anblick jähesten Todes ihrer Lieben?! Nur der mag es können, dem schon dasselbe Maß von gleichem Weh beschieden war. – Zwischen dem Ereignis und meinem Kommen liegt bereits eine lange und bange Stunde entsetzlicher Angst und zagender Hoffnung. Der schleunigst herbeigerufene Arzt hat sein Mögliches getan, aber umsonst alle Mittel seiner Kunst! umsonst das laute Schluchzen der zitternden Schwester! umsonst die schweren Seufzer des so furchtbar heimgesuchten Vaters! und umsonst der namenlose Schmerz eines zerrissenen Mutterherzens! Den Alten jagt die Verzweiflung ins Freie; Luft! Luft! die Qual will ihn ersticken! Das halbohnmächtige Mädchen liegt am Boden und ringt die Hände! – und sie, – welche die geliebten Toten einst an ihrem Herzen getragen, – sie stöhnt leise und schleppt sich mühsam zu den Leichen, bei ihnen knieend, ihre bleichen Wangen streichelnd und mit dem Ausdruck eines unendlichen Jammers die heißen Tränen auf sie niederweinend!

Was vermag Menschentrost in dem Augenblicke solcher Leiden! Ich versuchte, ihn zu spenden; aber die Stimme versagte mir den Dienst. Ich drückte den Unglücklichen still die Hand, und aufs tiefste erschüttert verließ ich die Hütte.

Da draußen fegte der kühle Morgenwind durch die vom Blitz getroffenen Pappeln, und es war, als rauschten sie ihren stillen Leidensgefährten drinnen ein sanftes Schlummerlied.

Vier Tage später kam der schwarze Trauerzug an meiner Wohnung vorbei, und als die Särge der Erde übergeben waren, verließen die gebeugten Eltern und das Mädchen den Gottesacker, gerührt durch die innige Teilnahme des zahlreichen Gefolges und getröstet durch die Worte, welche einst Hiob sprach: »Der Herr hat sie gegeben, der Herr hat sie genommen, der Name des Herrn sei gelobet.«

Wir aber, meine lieben Kinder, wollen im Augenblick eines über uns ausbrechenden Gewitters nicht ängstlich zagen und bangen, keine Vorsichtsmaßregeln, wie sie uns die Naturgeschichte lehrt, versäumen und für das übrige getrost den sorgen lassen, in dessen Hand wir alle stehen. Auch im Gewitter ist er die Liebe; denn in Millionen Tropfen regnet sein Segen auf die Erde, und die Majestät einer solchen Naturerscheinung verwandelt unseren Stolz in Demut und lehrt uns die Kniee beugen vor der Allmacht und Größe dessen, den wir nur zu ahnen, aber nicht zu begreifen vermögen!


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