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Die Florentiner Bürger aus dem alten Geschlechte der Almieri gehörten seit undenklichen Zeiten zwei edlen Zünften an; die einen verehrten den heiligen Antonius, den Schutzpatron der Fleischer, die andern hatten auf ihrer Fahne das Bild eines Lammes und beschäftigten sich mit der Wollindustrie. Gleich ihren Vorfahren betrieben auch die Brüder Giovanni und Matteo Almieri dieselben Gewerbe. Giovanni hatte einen Fleischerladen auf dem alten Markte, dem »Mercato Vecchio«; Matteo besaß eine Wollschlägereiwerkstatt am untern Laufe des Arno. Die Käufer sprachen gern im Fleischerladen des Giovanni vor, nicht nur, weil sie dort frische Schinken, zartes, junges Kalbfleisch und fette Gänse bekamen, sondern weil sie auch den Besitzer wegen seines heiteren Gemüts und seiner spitzen Zunge gern hatten. Niemand verstand es, einem Vorübergehenden, einem Nachbar oder Käufer mit so schlagfertigen Witzen aufzuwarten, wie der Fleischer Almieri; niemand sprach sich so offen wie er über die Ereignisse des alltäglichen Lebens aus, über die diplomatischen Fehler der Florentiner Republik, über die Pläne des türkischen Sultans, über die Ränke des französischen Königs, über die anscheinend unerklärliche Schwangerschaft der Nachbarswitwe, die in letzter Zeit nur allzu häufig sich veranlaßt gesehen hatte, das Kloster der ehrwürdigen Kartäusermönche zu besuchen. Übrigens fühlte sich nur selten jemand durch die Scherze des Fleischers gekränkt; er berief sich auf das alte Sprichwort: einen guten Scherz nimmt der Nachbar nicht übel, und an Scherzen läßt sich die Zunge wie ein Rasiermesser schleifen.
Anders war der Bruder Matteo, der Wollschläger, geartet: ein Eigenbrödler, zuvorkommend, aber immer etwas zurückhaltend und schweigsam. Er war ein besserer Geschäftsmann als der sorglose und gutmütige Giovanni. Alljährlich gingen zwei, mit Wollwaren befrachtete Schiffe Matteos aus dem Hafen von Livorno nach Konstantinopel. Er hatte hohe und ehrgeizige Pläne, betrachtete den Handel als Weg zur Erlangung von Staatswürden; sein lebelang hielt er zu den Aristokraten, dem »fetten Volke«, wie man sie in Florenz bezeichnete, und nährte die Hoffnung, das Geschlecht der Almieri zu erhöhen, ihm vielleicht sogar unsterblichen Ruhm zu verleihen. Oftmals versuchte Matteo den jüngeren Bruder zu überreden, seine Fleischerei, als etwas ihnen nicht Geziemendes, aufzugeben und sein Geld mit dem Matteos zu gemeinsamen Geschäften zu vereinen. Aber Giovanni ging darauf nicht ein; obwohl er das »Insichgekehrtsein« des Bruders hochachtete und es als Weisheit schätzte, machte er sich doch ungeheuer lustig über ihn und dachte, wenn er es auch nicht aussprach: weich gebettet, hart geschlafen.
An einem schwülen Abend, als Giovanni seiner Gewohnheit nach gut gegessen, dazu kalten griechischen Wein getrunken hatte und ermüdet heimgekehrt war, fühlte er sich unwohl; er legte sich nieder und bekam einen Schlaganfall, der um so gefährlicher war, als er einen gedrungenen Körperbau und einen kurzen Hals hatte. In derselben Nacht starb er, ohne das heilige Sakrament und ohne Zeit zur Abfassung seines Testaments gefunden zu haben. Die Witwe Monna Ursula, ein bescheidenes, tugendhaftes, aber mäßig begabtes Weib, vertraute die geschäftlichen Angelegenheiten ihres Mannes dem Schwager Matteo an, der sie mit einschmeichelnden und stillen Reden für sich einzunehmen wußte. Er redete der gutmütigen Frau ein, daß der Verstorbene dank seines Leichtsinns die Bücher nicht in Ordnung hinterlassen hätte, daß er kurz vor dem Bankerott gestorben sei und daß sie, wenn sie den Rest des Vermögens noch retten wolle, den Handel einschränken und den Fleischerladen auf dem Mercato Vecchio schließen müsse. Böse Zungen behaupteten, dieser »insichgekehrte Schlaukopf« Matteo habe auf ganz gottlose Art und Weise die Witwe betrogen, weil er, einem lang gehegten Wunsche nach, den ganzen Handelsumsatz Giovannis in seine Wollschlägerei stecken wollte: das wäre so Wasser auf seine Mühle! Wie es auch sein mochte; die Angelegenheiten Matteos nahmen in diesen Tagen einen ungeahnten Aufschwung; er schickte nunmehr alljährlich nicht zwei Schiffe aus Livorno nach Konstantinopel, sondern fünf bis sechs, mit den feinsten toskanischen Wollwaren befrachtet. Nach wenigen Jahren wurde er zum vorteilhaften und ehrenvollen Amt eines Bannerträgers der Leinweberzunft, der berühmten Florentiner » Arte di Lana« erwählt. Der Witwe seines Bruders hatte er großmütigst eine kleine monatliche Rente ausgesetzt, so daß Monna Ursula in vielen Dingen Entsagung üben und oft Leiden erdulden mußte, um so mehr, als sie für ihr einziges, heißgeliebtes Kind, eine heiratsfähige Tochter Namens Ginevra, sorgen mußte, und es damals in Florenz, grade wie jetzt, an Freiern fehlte, die auf eine Mitgift verzichtet hätten. Aber die ehrsame Monna Ursula ließ den Mut nicht sinken; sie betete eifrig zu allen Heiligen, besonders zum heiligen Antonius, dem unermüdlichen und eifrigen Anwalt der Fleischer in dieser und jener Welt; sie hegte die Hoffnung, der liebe Gott, der Beschützer der Witwen und Waisen, werde ihrer mitgiftlosen Tochter einen guten und würdigen Mann zuwenden; sie hatte um so mehr Berechtigung, das zu erwarten, als Ginevra sich durch außergewöhnliche Schönheit auszeichnete.
Es war schwer, daran zu glauben, daß dieser dicke und plumpe Spaßmacher Giovanni eine Tochter von so zarter Schönheit hätte haben können.
Ginevra kleidete sich immer in einfache und dunkle Stoffe; aber durch den Ausschnitt an der Brust schimmerte das in kleine Falten zusammengeraffte Hemd aus feinster holländischer Leinwand; um ihren herrlichen, etwas mageren und langen Hals – wie er allen Mädchen in Florenz eigen ist – schlang sich ein Perlenband, an dem eine alte Kamee aus Chrisolyt, mit der Abbildung eines Kentauren hing. Die goldblonden Locken waren mit einem Schleier bedeckt, der bis in die Mitte der Stirn fiel; er war so durchsichtig, daß man die hübsche Haarfrisur, die er verhüllte, deutlich sehen konnte. Diese bestand aus einer Menge sorgsam gewundener Flechten, welche kreisförmig und bald weinbeer-, bald farnkrautblätterähnlich den Kopf umgaben. Das blasse und sanfte Gesicht Ginevras glich dem Antlitze der Madonna, die Filippo Lippi für die Florentiner Badia gemalt hatte: die unbefleckte Jungfrau, die in der Wüste dem heiligen Bernhard erscheint und mit zarten, an das Wachs der Kirchenlichter erinnernden, bleichen, langen Fingern die Blätter seines Buches umwendet. Um die kindlichen Lippen, in ihrem ruhigen, traurigen Blick, in den hoch aufgezogenen, kaum angedeuteten Brauen Ginevras lag der Ausdruck jener grenzenlosen Unschuld, der das Böse nichts anhaben kann.
Obgleich von ihr die Kälte des Morgens und der frische Duft der klösterlichen Lilien ausging, so erschien sie selbst so fein, zart und zerbrechlich, als ob sie für diese rauhe Welt garnicht bestimmt gewesen wäre. Wenn die Tochter des Fleischers Almieri bescheiden, still, mit niedergeschlagenen Augen, das Gebetbuch in der Hand, durch die Straßen von Florenz schritt, hielten die zu einem Fest oder zur Jagd eilenden lebenslustigen Jünglinge ihre Pferde an, das Gelächter verstummte und mit gespanntem Ausdruck und ehrfurchtsvollem Blicke verfolgten sie lange die herrliche Ginevra.
Der Onkel Matteo, dem das Tugendlob seiner Nichte zu Ohren kam, plante, sie mit einem nicht mehr ganz jungen, aber von allen hochgeachteten Manne zu verheiraten, der mit dem damaligen Regenten der Stadt Albizzi verwandt war – einem der Sekretäre der Florentiner Republik, einem Messer Francesco degli Agolanti. Er war ein großer Kenner des Lateinischen, der alle Berichte und Kanzleiakten in der gewählten Sprache des Titus Livius und des Sallust verfaßte; von Charakter war er etwas rauh und unumgänglich, aber untadelhaft ehrlich und erinnerte in seinem Wesen an einen alten Römer; auch sein Gesicht glich dem eines Senators aus den Zeiten der Republik; er verstand es auch, sich in das lange, faltenreiche Kleid der Florentiner Staatsbeamten, wie in eine römische Toga zu hüllen. Er liebte die alten Sprachen so leidenschaftlich, daß er, als die griechische Sprache in Toskana Mode zu werden begann und an der damaligen Universität ein gelehrter Byzantiner, namens Manuel Chrysoloras, aus Konstantinopel die griechische Grammatik erklärte, trotz seines vorgerückten Alters und seiner Stellung als Sekretär der Florentiner Republik, ohne Scheu sich neben die Knaben auf die Schulbank setzte, um diese Sprache in ihren Anfangsgründen zu erlernen. Er brachte es darin zu einer solchen Fertigkeit, daß er das Organon des Aristoteles und die Dialoge des Plato im Original zu lesen vermochte. Mit einem Worte: einen besseren und vorteilhafteren Verwandten konnte sich der schlaue Wollschläger mit seinen ehrgeizigen Plänen nicht wünschen. Matteo versprach, seiner Nichte eine reiche Aussteuer mitzugeben unter der Bedingung, daß Messer Agolanti seinen Namen und sein Wappen mit dem der Almieris vereinigte.
Trotz aller dieser augenscheinlichen Vorzüge ihres Bräutigams setzte indessen Ginevra den Absichten ihres Onkels lange Zeit heftigen Widerstand entgegen, und die Hochzeit wurde von Jahr zu Jahr verschoben. Als aber Matteo eine rasche und endgültige Entscheidung forderte, erklärte sie, daß sie einen ihrem Herzen näherstehenden Freier besäße, und nannte zum großen Schrecken der ehrsamen Monna Ursula den Messer Antonio di Rondinelli. Er war ein junger und ziemlich unbemittelter Bildhauer, dessen »Bottega« oder Werkstätte mit nur wenigen Lehrlingen in einer der engen Quergassen nicht weit vom Ponte Vecchio lag. Antonio hatte Ginevra im Haus ihrer Mutter kennengelernt; vor einigen Monaten hatte er um Erlaubnis gebeten, den unter allen Florentiner Bildhauern und Malern wegen seiner Schönheit berühmten Kopf Ginevras in Wachs modellieren zu dürfen, in der Absicht, ihn für die von einem reichen Kloster der Umgebung in Auftrag gegebene Statue der heiligen Barbara zu verwenden. Monna Ursula konnte dem Bildhauer eine so wohlgemeinte Bitte nicht abschlagen; während der Arbeit verliebte sich der Künstler in sein herrliches Modell, wie einst Pygmalion in Galatea. Später trafen sie sich bei städtischen Festen und winterlichen Abendgesellschaften, zu denen die Gastgeber immer mit Freuden Ginevra einluden, da sie jedem Feste zur Zierde gereichte.
Als Monna Ursula höflich und schüchtern dem Onkel Matteo mitteilte, daß Ginevra einen andern Freier besäße, den sie liebe, und Messer Antonio di Rondinelli nannte, wandte der Wollschläger sich mit friedlicher und freundlicher Miene, obgleich er innerlich vor Wut kochte, an Monna Ursula und sagte ihr in ruhigem Tone:
»Madonna, wenn ich nicht mit eigenen Ohren Eure Rede vernommen hätte, würde ich es nicht für möglich gehalten haben, daß eine so tugendhafte und vernünftige Frau wie Ihr, die leichtsinnige Laune eines unerfahrenen Kindes auch nur beachtet hättet. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist, aber zu meiner Zeit durften junge Mädchen bei der Wahl eines Bräutigams keinerlei Meinung zu äußern wagen; sie mußten sich unbedingt dem Willen ihres Vaters oder Vormundes fügen. Erwägt doch einmal, wer dieser Messer Antonio eigentlich ist, auf den die Wahl meiner Nichte fällt? Sollte es Euch wirklich ganz unbekannt geblieben sein, daß nur Menschen, denen nichts andres mehr übrig bleibt und die keinen ehrenhafteren und einträglicheren Beruf ergreifen können, Bildhauer, Maler, Dichter, Schauspieler oder Bänkelsänger werden? Das sind die leichtfertigsten und unzuverlässigsten Gesellen, die man auf Gottes Erdboden antreffen kann: Trunkenbolde, liederliche, faule, gottlose Menschen, Verschwender ihres eigenen und fremden Gutes. Und was Messer Antonio anbelangt, so werdet Ihr sicher bereits vernommen haben, was über ihn in Florenz die Spatzen von den Dächern pfeifen und was mir, ebenso wie jedem andern kund geworden ist; ich erinnere Euch bloß an eine Gewohnheit dieses Jünglings – an den runden Korb, der an einem, durch eine Rolle gehenden Strick an der Decke hängt, dessen Ende mit einem Nagel an der Wand befestigt wird. In diesen Korb wirft Antonio alles Geld, was er verdient, ungezählt hinein. Jeder, den es gelüstet, mag er nun ein Lehrling oder ein Fremder sein, kann, ohne den Eigentümer auch nur zu fragen, den Korb herablassen und sich so viel kupferne, silberne oder goldene Münzen herausnehmen wie er will. Ihr glaubt doch wohl nicht, Madonna, daß ich einem so Unverständigen mein Geld, die Eurer Tochter versprochene Mitgift anvertrauen werde? Aber das ist noch nicht alles; ist es Euch bekannt, daß Messer Antonio eine abscheuliche, vom Teufel in ihm erweckte Gottlosigkeit der epikuräischen Philosophie nährt, keine Kirche besucht, die heiligen Sakramente verspottet und nicht an Gott glaubt? Die guten Leute erzählen sich, daß er die marmornen Bruchstücke der alten, aus der Erde gegrabenen Götzen mehr verehrt als die segenspendenden Reliquien und wundertätigen Bilder der Heiligen. Ebenso hörte ich von vertrauenswürdigen Menschen, daß er nachts mit seinen Schülern menschliche Leichen zerschneidet, die er für schweres Geld von den Krankenhauswärtern ersteht, um, wie er sagt, an ihnen die Anatomie, den Bau des menschlichen Körpers, die Nerven und Muskeln zu studieren, um sich so in seiner Kunst zu vervollkommnen. Ich glaube aber, er tut es nur, um seinem Gehilfen und Ratgeber, dem geschworenen Feinde unseres Seelenheils, dem Teufel, sich gefällig zu erweisen, der ihn in der schwarzen Kunst, der Magie, unterweist. Daher ist es klar, daß mit keinen andern Mitteln als durch Zauberei, Hexenkünste und andern Eingebungen des Teufels, dieser Ketzer sich des Herzens Eurer unschuldigen Tochter bemächtigt hat.«
Durch solche und ähnliche Reden schüchterte Onkel Matteo Monna Ursula ein und machte sie seinen Plänen gefügig. Als nun die Mutter Ginevra mitteilte, daß der Onkel im Falle ihrer Weigerung, Messer Francesco degli Agolanti zu heiraten, ihr die monatliche Unterstützung entziehen würde, und sie, ihre Mutter, auf ihre alten Tage darben müßte, ergab sich das junge Mädchen, mit unaussprechlichem Kummer im Herzen, in ihr Schicksal und erklärte, sich dem Willen des Onkels zu fügen.
Eine schreckliche Landplage hatte in diesem Jahre Florenz betroffen; sie war von vielen Astrologen geweissagt worden, und zwar auf Grund der allzu großen Annäherung des Saturns an den Mars im Sternbilde des Skorpions. Einige Kaufleute, die aus dem Osten kamen, hatten in den Ballen kostbarer indischer Teppiche die ansteckende Pest mitgebracht. Eine feierliche Prozession wurde unter dem Absingen des klagevollen Miserere durch die Straßen veranstaltet; der Klerus trug ein wundertätiges Muttergottesbild vor dem Erzbischof her. Es wurden Gesetze erlassen, die jede Anhäufung von Unrat im Weichbilde der Stadt, die Verunreinigung des Arno durch faulende Abfälle der Gerbereien und Schlachthäuser untersagten, und Maßregeln zur Trennung der Kranken von den Gesunden angeordnet. Unter Androhung von Geld- und Gefängnisstrafen, ja in manchen Fällen selbst der Todesstrafe, wurde es verboten, die im Laufe des Tages verstorbenen bis zum Sonnenuntergang, die in der Nacht verstorbenen bis zum Morgen im Hause zu behalten, selbst wenn die Angehörigen behaupteten, daß der Tod nicht infolge der Pest, sondern infolge einer andern Krankheit eingetreten wäre. Eigens dazu angestellte Beamte, die das Recht hatten, bei Tag und Nacht an die Haustüren zu pochen, sich nach Kranken oder Verstorbenen zu erkundigen, Nachsuchungen zu veranstalten, durchwanderten die Stadt. Überall erschienen im Rauche der Fackeln schrecklich aussehende, geteerte Karren, begleitet von Männern in Gesichtsmasken und langen, mit Teer durchtränkten Gewändern, die mit großen Haken, um nicht angesteckt zu werden, die Pestleichen aus der Entfernung heranzogen, aufhoben und auf die Karren warfen. Das Gerücht war verbreitet, daß diese Männer, die das Volk die »schwarzen Teufel« nannte, nicht allein Leichen, sondern auch Sterbende auflasen, um nicht unnötigerweise an dieselbe Stelle zurückkehren zu müssen. Die Krankheit, die am Ende des Sommers aufgetaucht war, dauerte bis in den Spätherbst hinein, und selbst die winterlichen Fröste, die in jenem Jahre früher als sonst eintraten, taten ihr keinen Einhalt. Aus diesem Grunde verließen auch die wohlhabenderen Leute, die nicht durch wichtige Geschäfte zurückgehalten wurden, Florenz, und bezogen die außerhalb der Stadt liegenden Landhäuser, wo die Luft reiner und gesünder war.
Onkel Matteo, der alle möglichen Zufälle befürchtete und auf einen dauernden Gehorsam seiner Nichte nicht sonderlich baute, trieb zur Vermählung; als Vorwand gab er an, Monna Ursula müsse mit ihrer Tochter sobald als möglich die Stadt verlassen. Messer Francesco degli Agolanti beabsichtigte aber gleich nach der Hochzeit Urlaub zu nehmen und Ginevra mit ihrer Mutter auf seinen herrlichen Landsitz am Fuße des Monte-Albano zu bringen.
Wie es der Onkel Matteo gewünscht hatte, geschah es auch. Die Hochzeit wurde auf einen der nächsten Tage festgesetzt; einfach, ohne jeden Prunk, wie es sich in diesen traurigen Tagen geziemte, fand die Feier statt. Unter der bräutlichen Krone stand Ginevra bleich wie Leinwand; ihr Gesicht drückte beängstigende Ruhe aus. Der Onkel hoffte, diese mädchenhaften Launen würden sofort nach der Hochzeit schwinden, und Messer Francesco würde es verstehen, sich die Liebe der jungen Frau zu erwerben. Seine Hoffnungen sollten nicht in Erfüllung gehen; als die Neuvermählte das Haus ihres Gatten betrat, wurde ihr unwohl und sie fiel wie tot hin. Man dachte anfänglich, Ginevra läge in tiefer Ohnmacht und versuchte sie ins Bewußtsein zurückzubringen, aber sie schlug die Augen nicht auf; ihr Atem ging schwächer, die Haut ihres Gesichts und ihres Körpers bedeckte sich mit Todesblässe, die Glieder wurden steif; als man nach einigen Stunden die Ärzte herbeirief (man tat es in jener Zeit nicht gleich, weil man die Verbreitung des Gerüchts fürchtete, im Hause sei die Seuche ausgebrochen), hielten diese einen Spiegel vor die hauchlosen Lippen Ginevras und konnten auf ihm keinerlei feuchte Trübung durch den Atem wahrnehmen. Alle überzeugten sich mit unaussprechlichem Kummer und Mitleid, daß Ginevra nicht scheintot, sondern wirklich gestorben sei. Die Nachbarn behaupteten, Gott habe damit die Almieris strafen wollen, weil sich Francesco zu einer so unpassenden Zeit hätte trauen lassen und sagten, daß seine junge Frau sofort nach der Heimkehr aus der Kirche an der Pest erkrankt und gestorben sei. Das Gerücht konnte sich um so leichter verbreiten, da die Verwandten des Mädchens, aus Furcht vor der Heimsuchung der »schwarzen Teufel«, die Ohnmacht und den Tod Ginevras bis zum letzten Augenblick verheimlichten. Gegen Abend erschienen aber die Aufseher, denen die Nachbarn alles, was im Hause degli Agolantis vorgegangen war, hinterbracht hatten und forderten die Auslieferung der Leiche oder ihre sofortige Beisetzung; nach langen Unterhandlungen, wobei sie ein beträchtliches Geldgeschenk erhielten, willigten sie endlich ein, daß die Leiche bis zum nächsten Abend im Hause Francescos verbleiben durfte.
Übrigens waren alle Angehörigen Ginevras von ihrem Tod überzeugt, bis auf ihre alte Wärterin, auf die man aber nicht hörte, da man sie für geistesschwach hielt. Unter kläglichem Weinen beschwor die Alte, die Verstorbene nicht beerdigen zu lassen; sie behauptete, die Ärzte irrten sich, Ginevra sei nicht tot, sondern schliefe nur; sie versicherte, ein schwaches Herzklopfen, »so leise wie der Flügelschlag eines Nachtfalters«, zu verspüren, wenn sie ihre Hand auf die Brust ihres Lieblings lege.
Der nächste Tag verging; da die junge Frau keinerlei Lebenszeichen von sich gab, kleidete man sie in ein Leichengewand, sargte sie ein und trug sie in die Kathedrale Santa Reparata. Die trockene, geräumige, mit weißen toskanischen Ziegelsteinen ausgemauerte Gruft befand sich in einer Nische, zwischen zwei Kirchentüren, auf einer der Abteilungen des alten Kirchhofs im Schatten zweier hoher Zypressen, mitten unter den Grabstätten der vornehmsten Familien von Florenz. Für diese, nach der Meinung vieler für die Tochter eines Fleischers viel zu üppige Gruft mußte Matteo eine Menge Geld bezahlen, das er übrigens der Mitgift Ginevras entnahm. Die Totenfeier verlief mit großem Pomp. Wachslichter wurden nicht geschont; jedem Armen wurde für das Gebet um die Verstorbene ein Maß Gerstengraupen und für einen halben Soldo Olivenöl gespendet. Trotz der Kälte und der Furcht vor der Pest hatte sich viel Volk zur Beerdigung eingefunden, sogar einige Fremde konnten sich bei der traurigen Erzählung von dem Tode der Neuvermählten der Tränen nicht enthalten und wiederholten den innigen Vers Petrarcas:
Morte Bella parea nel suo bei viso.
Schön erschien der Tod auf ihrem schönen Antlitz.
Messer Francesco hielt am Sarg eine Rede, die er nicht allein mit lateinischen, sondern auch mit griechischen Zitaten aus Plato und Homer durchflocht. Es war das etwas ganz Neues, so daß es allen, selbst denen, die das Griechische nicht verstanden, sehr gefiel.
Nur am Schlusse der Feier, als der Sarg aus der Kirche in die Gruft zum letzten Abschiednehmen getragen worden war, entstand ein kleiner Auftritt. Ein schlanker junger Mann mit blassem Gesicht, in seidenem Trauermantel trat an die Verstorbene heran, hob den dünnen Schleier von ihrem Gesicht und sah sie mit unverwandt auf sie gerichteten Augen an. Man bat ihn, zurückzutreten, da es nicht gut angängig sei, daß er als »Fremder« sich der Toten eher nähere, als bis die Verwandten sich von ihr verabschiedet hätten. Als der junge Mann hörte, daß man ihn als »Fremden«, den Onkel Matteo und Messer Francesco aber als »Verwandte« bezeichnete, lachte er bitter auf, küßte die Tote auf den Mund, bedeckte das Gesicht wieder mit dem Schleier und entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen. Unter der Menschenmenge entstand ein Geflüster, man wies mit den Fingern auf ihn und nannte den »Fremden« Messer Antonio di Rondinelli, den Geliebten Ginevras, um dessentwillen sie gestorben wäre.
Die Dämmerung brach herein, und die Menge ging auseinander, da die Begräbnisfeier zu Ende war. Monna Ursula wollte die Nacht über am Sarge verweilen, aber dem widersetzte sich der Onkel Matteo; der Kummer hatte sie so mitgenommen, daß man für ihr Leben fürchtete.
In der Gruft verblieb nur der Dominikaner Frater Mariano, der die Totengebete am Sarge verrichten sollte.
Es vergingen einige Stunden; durch die Stille der Nacht klang nur die gemessene Stimme des Mönchs und ab und zu der langsame, metallene Schlag der Uhr vom Campanile des Giotto. Nach Mitternacht verspürte Frater Mariano Durst, er entnahm seiner Tasche eine Flasche Trebbiawein; als er seinen Kopf zurücklehnte, um einen Schluck zu nehmen, vernahm er plötzlich einen leisen Seufzer. Aufmerksam horchte er hin; der Seufzer wiederholte sich, und diesmal schien es ihm, als ob der leichte Schleier auf dem Gesichte der Verstorbenen sich bewege. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken; da er aber kein Neuling in solchen Sachen war und wohl wußte, daß selbst kaltblütigen Menschen oft nachts, wenn sie mit einer Leiche allein sind, alles mögliche im Traum erscheint, so entschloß er sich, nicht darauf zu achten, bekreuzte sich und fuhr mit laut schallender Stimme fort, seine Gebete zu lesen. Es verging noch einige Zeit. Plötzlich verstummte der Mönch, sein Gesicht zog sich in die Länge; wie versteinert starrte er offenen Auges in das Gesicht der Verstorbenen; jetzt war es nicht ein bloßes Seufzen, sondern ein leises Stöhnen, das von ihren Lippen kam. Frater Mariano konnte sich nicht länger im Zweifel befinden; er sah, wie die Brust der Verstorbenen sich langsam hob und senkte, und wie der Schleier sich bewegte – sie atmete. Sich bekreuzend und an allen Gliedern zitternd, stürzte er auf die Tür zu und verließ die Gruft. Nachdem er sich in der frischen Luft wieder etwas erholt hatte, kam ihm alles wie eine Vision vor; er betete einige Ave-Maria, kehrte zur Tür zurück und sah in die Gruft hinein; im selben Augenblick entfuhr ihm ein Schreckensschrei. Die Verstorbene saß aufrecht im Sarge mit weit geöffneten Augen. Frater Mariano stürzte, ohne sich umzusehen, fort; er lief vom Friedhof über den Platz des Baptisteriums San-Giovanni, auf die Straße Ricasoli – die Holzsandalen des Mönchs klapperten laut auf dem Glatteis des Steinpflasters.
Als Ginevra Almieri aus der todesähnlichen Ohnmacht erwacht wahr, sah sie sich verständnislos in der Gruft um. Beim Gedanken, lebendig begraben worden zu sein, erfaßte sie Schrecken; sie nahm alle ihre Kräfte zusammen, kletterte aus dem Sarge, hüllte sich in ihr Totengewand, ging durch die vom Mönch offen gelassene Tür und betrat den Friedhof, dann den Platz vor der Kathedrale. Durch die vom Winde zerrissenen, rasch dahineilenden Wolken strahlte der Mond und beleuchtete den marmornen Glockenturm des Giotto. Die Gedanken Ginevras verwirrten sich, in ihrem Kopfe drehte sich alles: es erschien ihr, als ob der Glockenturm sich mit ihr in die vom Monde beleuchteten Wolken erhöbe; sie konnte es nicht fassen, sie wußte nicht, ob sie lebe oder tot sei, ob sie dies alles für Traum oder Wirklichkeit halten sollte.
Nachdem sie ohne zu wissen, wohin sie ging, mehrere einsame Straßen durchschritten hatte, erblickte sie ein ihr bekanntes Haus, blieb stehen, näherte sich der Haustür und klopfte an. Es war das Haus ihres Onkels Matteo.
Trotz der späten Stunde hatte sich der Wollschläger noch nicht zur Ruhe begeben, er erwartete einen Eilboten, der ihm Nachricht über zwei aus Konstantinopel heimkehrende Handelsschiffe bringen sollte. Es war das Gerücht verbreitet, daß unweit der Küste von Livorno bei einem Sturm eine Menge Feluken und größere Florentiner Galeeren untergegangen wären; Onkel Matteo befürchtete, daß mit ihnen auch seine Fahrzeuge Schiffbruch erlitten hätten. Vom Nachtwachen war er hungrig geworden und hatte bei seiner Magd Nencia, einem rothaarigen, hübschen Mädchen mit Sommersprossen und weißen Zähnen, einem am Spieß gebratenen Kapaun bestellt. Onkel Matteo war ein alter Junggeselle, hatte aber immer junge Dienstmädchen im Hause. In dieser Nacht saß er in der Küche am Herde, weil es in den andern Zimmern kalt war. Mit glühenden Backen, aufgestreiften Ärmeln, drehte Nencia über dem lebhaften Feuer den Spieß, die helle Flamme spiegelte sich im glänzenden Scheine der sauber geputzten Töpfe und Schüsseln, die auf den Wandbrettern standen.
»Nencia, hörst du?« sagte Matteo aufhorchend.
»Es ist der Wind. Ich gehe nicht. Ihr habt mich schon dreimal vergeblich hinausgeschickt.«
»Was für ein Wind? Man pocht. Es ist der Bote. Geh, öffne rasch.«
Die dicke Nencia stieg langsam die steile, hölzerne Treppe hinab, während Onkel Matteo ihr von oben mit der Laterne leuchtete.
»Wer ist da?« fragte Nencia.
»Ich bin es, Ginevra Almieri,« antwortete eine leise Stimme von der Tür.
»Jesus! Jesus! Der Herr sei mit uns!« rief Nencia, während ihre Füße schwankten; um nicht zu Boden zu stürzen, mußte sie sich am Treppengeländer festhalten. Messer Matteo erbleichte und ließ die Laterne beinahe fallen.
»Nencia, Nencia, öffne geschwind!« bat Ginevra. »Laß mich ein, ich will mich erwärmen, ich friere … Sage dem Onkel, daß ich es bin …«
Trotz ihres Körperumfangs flog Nencia die Treppe hinauf, so daß die Stufen unter ihren Füßen knarrten.
»Da habt Ihr Euren Boten! Habt ihn abgewartet, das muß man sagen. Ich sagte Euch, Messer Matteo legt Euch zu Bett, wie es allen guten Christen geziemt … Ach! es klopft wieder, hört Ihr es wohl? und die arme Seele stöhnt so kläglich! Herr, errette uns und sei uns armen Sündern gnädig! Heiliger Laurentius, bete für uns!«
»Höre, Nencia,« sagte der Onkel unentschlossen, »ich werde selbst hinuntergehen und nachsehen, was los ist. Man kann nicht wissen, vielleicht …«
»Das fehlte noch,« rief Nencia und schlug die Hände über dem Kopf zusammen: »seht mal an, wie mutig Ihr geworden seid. Ich sollte Euch wohl hinlassen. Ihr wollt wohl selbst ins Jenseits? Es gibt nichts herumzulaufen, bleibt sitzen, bis Euch nichts Schlimmeres widerfährt.«
Nencia nahm vom Wandbrett ein Fläschchen Weihwasser und besprengte die Innenseite der Haustür, die Treppe und den Messer Matteo selbst. Er widersetzte sich nicht mehr und unterwarf sich der klugen Dienstmagd; er glaubte, sie verstände es besser mit Gespenstern umzugehen. Mit lauter Stimme rief Nencia die Beschwörung:
»Fromme Seele, gehe mit Gott, Tote gehe zu den Toten zurück! Gott schenke dir Frieden in den Gefilden der Seligen!«
Als Ginevra hörte, daß man sie für eine Tote hielt, sah sie ein, daß sie hier nichts mehr zu erwarten habe; sie erhob sich von der Schwelle, auf die sie erschöpft niedergesunken war, und ging weiter, um sich eine Zufluchtsstätte zu suchen.
Nur mit Mühe vermochte sie die vor Kälte erstarrten Füße fortzubewegen und erreichte so die Nebengasse, in der sich das Haus ihres Gatten, des Messers Francescos degli Agolanti, befand.
Der Sekretär der Florentiner Republik schrieb grade an einer langen, philosophischen Abhandlung in lateinischer Sprache, die er seinem Freunde Mucio degli Uberti schicken wollte, einem ebensolchen Verehrer der alten Musen wie er selbst. Es war ein wirkliches theologisches Traktat unter dem Titel: »Betrachtung über die Unsterblichkeit der Seele, aus Veranlassung des Todes meiner vielgeliebten Gattin, Ginevra Almieri.« Messer Francesco verglich die Lehre des Aristoteles mit der des Plato, indem er die Ansichten des Aquino verwarf, der behauptet hatte, daß man die Philosophie des Stagiriten mit den Dogmen der katholischen Kirche über das Paradies, die Hölle und das Fegefeuer vereinigen könne; durch viele klare und geistreiche Syllogismen suchte Messer Francesco den Beweis zu führen, daß keineswegs die Lehre des Aristoteles, der ein verkappter Skeptiker und Atheist gewesen sei, sondern die Lehre Platos mit dem Christentum übereinstimme.
Die Flamme einer kupfernen Lampe, die über dem schrägen Brett eines geschnitzten, mit vielen Fächern und Abteilungen für Papier, Federn und Tinte versehenen Schreibtisches hing, verbreitete ein gleichmäßiges Licht. Die Lampe stellte einen Tritonen, der eine Okeanide umschlang, dar. Messer Francesco liebte es, selbst bei allen Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens die prächtigen Muster des Altertums nachzuahmen. Auf einer wie Seide zarten und doch wie Elfenbein harten, alten Pergamenthandschrift des Timäos, schillerten goldene Verzierungen, die den Tanz nackter Amoretten und Engel, Gewinde aus Paradiesesblumen in den Händen haltend, darstellten. Messer Francesco war grade dabei, die Lehre der Metapsychose oder Seelenwanderung vom theologischen Standpunkt zu zergliedern, wobei er scharfsinnige, spöttische Bemerkungen über die Pythagoräer machte, die bekanntlich keine Bohnen aßen, weil sie in ihnen die Seelen der Verstorbenen eingeschlossen wähnten, als ein schwaches Klopfen an der Haustür erschallte. Er zog die Brauen zusammen, weil er während der Arbeit keinerlei Lärm vertrug und deswegen die stillsten Stunden der Nacht dazu wählte, damit ihn niemand störe.
Trotzdem ging er ans Fenster, öffnete es und erblickte im bleichen Mondschein auf der Straße die in das Leichengewand gehüllte, tote Ginevra.
Im selben Augenblick vergaß er Plato und Aristoteles; Messer Francesco schlug das Fenster zu, ohne Ginevra Zeit zu lassen, auch nur ein Wort zu sagen, betete sein Ave-Maria und bekreuzte sich aus abergläubischer Furcht, wie Nencia.
Er kam übrigens bald wieder zu sich und schämte sich seines Kleinmuts. Er erinnerte sich dessen, was die Neuplatoniker Proklos und Porphyrios über die Erscheinungen der Toten sagten – nämlich, daß die untergeordneten Dämonen, zweifelhaften Ursprungs, die zwischen Himmel und Erde hausen, zuweilen in guter Absicht, um zu weissagen, zuweilen in böser, um die Menschen zu schrecken, die durchsichtigen Gestalten bekannter Verstorbener annehmen. Teils bestehen diese Körper nach Ansicht einzelner aus den feuchten Elementen der Luft, teils aus jenem feurigen, farblosen Stoff, aus dem die niedern vegetabilischen Seelen der vernünftigen und unvernünftigen Geschöpfe, die die Erde bewohnen, zusammengesetzt sind.
Nachdem er dies alles erwogen hatte und sich das, was ihm anfangs solchen Schrecken eingejagt, durch logische und natürliche Schlußfolgerungen erklärt hatte, öffnete er aufs neue das Fenster und rief mit lauter Stimme:
»Wer du auch sein magst, irdischer oder himmlischer Geist, verzieh dich, entferne dich dahin, woher du gekommen bist; denn vergeblich wirst du einen philosophisch gebildeten Verstand erschrecken. Du kannst meine körperlichen, aber nicht meine geistigen Augen täuschen. So kehre in Frieden heim, kehre Tote zu den Toten in den Hades zurück.«
Er schloß das Fenster, um es nicht wieder zu öffnen, wenn auch Legionen klagender Gespenster an die Tür pochen würden.
Ginevra ging weiter, und da sie nicht weit vom alten Markte war, erblickte sie bald das Haus ihrer Mutter.
Monna Ursula kniete vor einem Kruzifix, neben ihr ein strenger, blasser, durch Fasten abgemagerter Mönch, Fra Giacomo. Mit schreckerfüllten Augen blickte sie zu ihm empor.
»Was soll ich anfangen, mein Vater? Helft mir. Meiner Seele fehlt alle Demut, ich kann nicht beten. Es scheint, Gott hat sich von mir losgesagt und ich bin dem Verderben geweiht …«
»Ergib dich, ergib dich ganz in den Willen Gottes,« redete ihr der Mönch zu, »murre nicht, bezähme die Stimme deines aufrührerischen Fleisches; denn deine übermäßige Liebe zu deiner Tochter entstammt dem Fleische, nicht dem Geiste. Traure nicht um ihren leiblichen Tod, sondern nur darüber, daß sie, ohne Buße getan zu haben, als Sünderin vor Gottes Thron getreten ist.«
In diesem Augenblick klopfte es an die Haustür.
»Mutter, Mutter, ich bin es … Laß mich rasch hinein!«
»Ginevra!« rief die Mutter und wollte zur Tür stürzen, aber der Mönch hielt sie zurück.
»Wohin, Unsinnige? Deine Tochter liegt im Grabe und wird vor dem jüngsten Tage nicht auferstehen. Der böse Geist versucht dich durch die Stimme deiner Tochter, deines Fleisches und Blutes. Tue Buße, bete, – bete, ehe es zu spät ist, deinetwegen und um der sündigen Seele Ginevras willen, damit euch nicht beide das ewige Verderben ereile!«
»Mutter, hörst du denn nicht, erkennst du meine Stimme nicht? Ich lebe, ich bin nicht tot …«
»Laßt, laßt mich, mein Vater …«
Fra Giacomo erhob seine Rechte und sprach: »So gehe denn, denke aber daran, daß du jetzt nicht bloß dich, sondern auch die Seele Ginevras dem Untergange weihst! Gott wird dich nicht bloß in diesem, sondern auch im zukünftigen Leben verdammen!«
Das Gesicht des Mönchs prägte einen solchen Haß aus, seine Augen glühten so voll Feuer, daß Monna Ursula vor Schreck stehen blieb; sie faltete ihre Hände und fiel entkräftet zu seinen Füßen.
Fra Giacomo wandte sich nach der Tür, machte das Zeichen des Kreuzes gegen sie und sagte:
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes! Ich beschwöre dich beim Blute des Gekreuzigten, weiche – verschwinde, du Verdammte. Unser Ort ist hier heilig! Herr, führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel!«
»Mutter, Mutter, habe Mitleid mit mir, ich sterbe! …«
Die Mutter fuhr nochmals vor Schreck auf, streckte ihre Arme der Tochter entgegen, aber der dem Tode gleich unerbittliche Mönch trat trennend dazwischen.
Ginevra fiel zu Boden; im Gefühl, daß sie erfrieren müsse, zog sie die Knie zusammen, umfaßte sie mit den Armen, neigte ihren Kopf und entschloß sich, nicht mehr aufzustehen, sich nicht mehr zu rühren, bis sie gestorben sei. »Die Toten sollen zu den Lebenden nicht wieder zurückkehren,« dachte sie sich; im selben Augenblick fiel ihr Antonio ein: »Sollte auch er mich zurückweisen?« Sie hatte bereits früher an ihn gedacht, aber die Scham, als Frau eines andern, nachts allein zu ihm zu gehen, hielt sie davon zurück. War es ihr jetzt, wo sie für die Lebenden eine Tote war, nicht gleichgültig?
Der Mond ging unter, die mit Schnee bedeckten Berge erglänzten im Morgenrot. Ginevra erhob sich von der Schwelle des Hauses ihrer Mutter. Nachdem sie bei ihren Angehörigen keine Zuflucht gefunden hatte, lenkte sie ihre Schritte zu einem Fremden.
In seiner Werkstätte, unweit des Ponte Vecchio arbeitete Messer Antonio die ganze Nacht über beim Lampenschein an dem Wachsmodell Ginevras. Er merkte es nicht, wie die Stunden verflogen, wie durch die runden Butzenscheiben der blaue Lichtschein des Wintermorgens hindurchschimmerte. Sein Lieblingsschüler Bartolino, ein blondlockiger, siebzehnjähriger Jüngling, hübsch wie ein Mädchen, half dem Meister.
Das Antlitz Antonios drückte Ruhe aus; ihm schien es, als rufe er die Verstorbene wieder ins Leben zurück und gäbe ihr eine neue Unsterblichkeit. Die niedergeschlagenen Lider waren bereit, sich zu öffnen; ihre Brust atmete, in den feinen Äderchen pulsierte das warme Blut. Er beendigte seine Arbeit und suchte nur noch den Lippen Ginevras ein unschuldiges Lächeln zu geben, als ein schwaches Klopfen an der Haustür hörbar wurde.
»Bartolino, öffne,« sagte Antonio, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
Der Schüler ging zur Tür und fragte, wer da sei.
»Ich, Ginevra Almieri,« antwortete eine leise, kaum vernehmbare Stimme, die dem Flüstern des Nachtwindes glich.
Bleich und zitternd verkroch sich Bartolino in den entferntesten Winkel des Zimmers.
»Eine Tote,« flüsterte er, sich bekreuzend.
Antonio erkannte die Stimme seiner Geliebten, er sprang auf, stürzte auf Bartolino zu und riß ihm den Schlüssel aus den Händen.
»Messer Antonio, besinnt Euch, was Ihr tut!« lallte der Schüler, während seine Zähne vor Schreck klapperten. Antonio öffnete eilig die Tür und erblickte Ginevra, die bewußtlos an der Schwelle hingesunken war: in der Morgendämmerung schimmerte das Leichengewand, ihre aufgelösten Locken waren bereift.
Er schreckte aber nicht davor zurück, sein Herz war von Mitleid erfüllt. Mit Liebkosungen bog er sich zu ihr herab, hob sie auf und trug sie in sein Haus.
Er legte sie aufs Bett, hüllte sie ein in die beste Decke, die er besaß, schickte Bartolino nach der alten Wirtin, von der er die Werkstätte gemietet hatte, fachte das Feuer auf dem Herd an, wärmte Wein und gab Ginevra davon zu trinken. Sie atmete und schlug die Augen auf; obgleich sie noch kein Wort reden konnte, wurde doch das Herz Antonios von Freude erfüllt.
»Gleich, gleich,« wiederholte er, im Zimmer hin und her laufend, »wenn die Wirtin kommt, wird sie alles einrichten … Werft mir, Madonna Ginevra, nur die große Unordnung in meinem Zimmer nicht vor …«
Verlegen und über seine Wirtschaft errötend, ließ Messer Antonio von der Decke den Korb herab, der zu seiner Beschämung laut quietschte, entnahm demselben Geld, gab es Bartolino und befahl ihm, schleunigst Fleisch, Brot und Obst zum Frühstück zu holen. Als seine Wirtin kam, bestellte er bei ihr vorsorglich und mit wichtiger Miene, als ob es sich um Errettung seines eigenen Lebens handelte, eine Hühnersuppe.
Der Schüler beeilte sich, den Auftrag auszuführen, die Wirtin das Huhn zu schlachten. Antonio blieb mit Ginevra allein zurück. Sie rief ihn zu sich heran und erzählte ihm, während er am Bette kniete, alles, was sich ereignet hatte.
»Mein Lieber,« flüsterte Ginevra ihm zu, »du allein entsetztest dich nicht, als ich, die Tote, zu dir kam, du allein liebst mich.«
»Wünschest du, daß ich deine Verwandten, deinen Onkel, deine Mutter oder deinen Gatten rufen lasse?« fragte Antonio.
»Ich habe keinen Verwandten mehr, weder Gatten, Onkel, noch Mutter. Alle, außer dir, sind mir fremd, für sie bin ich tot, für dich eine Lebende; nur dir allein gehöre ich rechtmäßig an.«
Die ersten Strahlen der Sonne fielen durchs Fenster, Ginevra freute sich darüber; je heller die Sonne erglänzte, desto mehr färbte das frische Rot des Lebens ihre Wangen und das Blut schlug lebhafter in ihren feinen Adern und Schläfen. Als Antonio sich über sie neigte und ihre Lippen küßte, schien es ihr, als ob die Sonne sie wieder erwecke und ihr ein neues, unsterbliches Leben verleihe.
»Antonio,« flüsterte Ginevra, »gesegnet sei der Tod, der uns die Liebe gelehrt hat, gesegnet sei die Liebe, die stärker ist als der Tod.«