Moses Mendelssohn
Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele
Moses Mendelssohn

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Zweytes Gespräch

Unser Lehrer hatte ausgeredet, und gieng, wie in Gedanken vertieft, im Zimmer auf und nieder; wir saßen alle und schwiegen, und dachten der Sache nach. Nur Cebes und Simmias sprachen leise mit einander. Sokrates sahe sich um, und fragte: Warum so leise? meine Freunde! Sollen wir nicht erfahren, was an den vorgebrachten Vernunftgründen zu verbessern sey? Ich weiß wohl, daß ihnen zur völligen Deutlichkeit noch verschiedenes fehlet. Wenn ihr euch also jetzo von andern Dingen unterhaltet, so mag es gut seyn; redet ihr aber von der Materie, die wir vorhaben, so entdecket uns immer eure Einwürfe und Zweifel, damit wir sie gemeinschaftlich untersuchen, und entweder heben, oder selbst mit zweifeln mögen. Simmias sprach: Ich muß dir gestehen, Sokrates! daß wir beide Einwürfe zu machen haben, und uns schon lange einer den andern antreiben, sie vorzubringen, weil beide gerne deine Wiederlegung hören möchten, ein jeder aber sich scheuet, dir bey jetziger Widerwärtigkeit beschwerlich zu fallen. Als Sokrates dieses hörete, lächelte er, und sprach: Ey! wie schwer, o  Simmias! werde ich andere Menschen bereden können, daß ich meine Umstände für so mißlich nicht halte, da ihr mir es noch immer nicht glauben könnet, und besorget, ich möchte jetzt unmuthiger und verdrießlicher seyn, als ich vormals gewesen bin. Man saget von den Schwänen, daß sie, nahe an ihrem Ende, lieblicher singen, als in ihrem ganzen Leben. Wenn diese Vögel, wie es heißt, dem Apoll geheiliget sind, so würde ich sagen, daß ihr Gott sie in der Todesstunde einen Vorschmack von der Seligkeit jenes Lebens empfinden läßt, und daß sie sich an diesem Gefühl ergetzen, und singen. Mit mir verhält es sich eben so. Ich bin ein Priester dieses Gottes: und in Wahrheit! er hat meiner Seele ein ahnendes Gefühl von der Seligkeit nach dem Tode eingeprägt, das allen Unmuth vertreibt, und mich, nahe an meinem Tode, weit heiterer seyn läßt, als in meinem ganzen Leben. Eröffnet mir also ohne Bedenken eure Zweifel und Einwürfe. Fraget, was ihr zu fragen habt, so lange es die eilf Männer noch erlauben. – Gut! erwiederte Simmias, ich werde also den Anfang machen, und Cebes mag folgen. Ich habe nur noch eine einzige Erinnerung voraus zu schicken: Wenn ich Zweifel wider die Unsterblichkeit der Seele errege, so geschieht es nicht wider die Wahrheit dieser göttlichen Lehre, sondern wider ihre vernunftmäßige Erweislichkeit, oder vielmehr wider den Weg, welchen du, o  Sokrates! gewählt hast, uns durch die Vernunft davon zu überzeugen. Im übrigen nehme ich diese trostvolle Lehre von ganzem Herzen nicht nur so an, wie du sie uns vorgetragen, sondern so, wie sie uns von den ältesten Weisen ist überliefert worden, einige Verfälschungen ausgenommen, die von den Dichtern und Fabelerfindern hinzugethan worden sind. Wo unsere Seele keinen Grund der Gewißheit findet, da trauet sie sich den beruhigenden Meynungen, wie Fahrzeugen auf dem bodenlosen Meere an, die sie bey heiterm Himmel sicher durch die Wellen dieses Lebens hindurch führen. Ich fühle es, daß ich der Lehre von der Unsterblichkeit, so wie von dem Gerichte Gottes nach diesem Tode, nicht widersprechen kann, ohne unendliche Schwierigkeiten sich erheben zu sehen, ohne alles, was ich je für wahr und gut gehalten, erschüttert zu sehen. Ist unsere Seele sterblich, so ist unsere Vernunft ein Traum, den uns Jupiter geschickt hat, uns Elende zu hintergehen; so fehlet der Tugend aller Glanz, der sie in unsern Augen göttlich macht; so ist das Schöne und Erhabene, das sittliche so wohl als das physische, kein Abdruck göttlicher Vollkommenheiten; (denn nichts vergängliches kann den schwächsten Stral göttlicher Vollkommenheit fassen;) so sind wir, wie das Vieh, hieher gesetzt worden, Futter zu suchen und zu sterben; so wird es in wenigen Tagen gleich viel seyn, ob ich eine Zierde, oder Schande der Schöpfung gewesen, ob ich mich bemühet, die Anzahl der Glückseligen, oder der Elenden zu vermehren; so hat der verworrenste Sterbliche so gar die Macht sich der Herrschaft Gottes zu entziehen, und ein Dolch kann das Band auflösen, welches den Menschen mit Gott verbindet. Ist unser Geist vergänglich, so haben die weisesten Gesetzgeber und Stifter der menschlichen Gesellschaften uns, oder sich selbst betrogen; so hat das gesamte menschliche Geschlecht sich gleichsam verabredet, eine Unwahrheit zu hegen, und die Betrieger zu verehren, die solche erdacht haben; so ist ein Staat freyer, denkender Wesen nicht mehr, als eine Heerde vernunftloses Viehes, und der Mensch – ich entsetze mich, ihn in dieser Niedrigkeit zu betrachten! und der Mensch, der Hoffnung zur Unsterblichkeit beraubt, ist das elendeste Thier auf Erden, das zu seinem Unglücke über seinen Zustand nachdenken, den Tod fürchten, und verzweifeln muß. Nicht der allgütige Gott, der sich an der Glückseligkeit seiner Geschöpfe ergetzt, ein schadenfrohes Wesen müßte ihn mit Vorzögen begabt haben, die ihn nur bejammernswerther machen. Ich weiß nicht, welche beklemmende Angst sich meiner Seele bemeistert, wenn ich mich an die Stelle der Elenden setze, die eine Vernichtung fürchten. Die bittere Erinnerung des Todes muß alle ihre Freuden vergällen. Wenn sie der Freundschaft genießen, wenn sie die Wahrheit erkennen, wenn sie die Tugend ausüben, wenn sie den Schöpfer verehren, wenn sie über Schönheit und Vollkommenheit in Entzückung gerathen wollen: so steiget der schreckliche Gedanke der Zernichtung, wie ein Gespenst, in ihrer Seele empor, und stürzt sie in Verzweiflung. Ein Hauch der ausbleibt, ein Pulsschlag, der still stehet, beraubt sie aller dieser Herrlichkeiten: das Gott verehrende Wesen wird Staub. Ich danke den Göttern, daß sie mich von dieser Furcht befreyet, die alle Wollüste meines Lebens mit Skorpionenstichen unterbrechen würde. Meine Begriffe von der Gottheit, von der Tugend, von der Würde des Menschen, und von dem Verhältnisse, in welchem er mit Gott stehet, lassen mir keinen Zweifel mehr über seine Bestimmung. Die Hoffnung eines zukünftigen Lebens löset alle diese Schwierigkeiten auf, und bringet die Wahrheiten, von welchen wir auf so mancherley Weise überzeuget sind, wieder in Harmonie. Sie rechtfertiget die Gottheit, setzet die Tugend in ihren Adel ein, giebt der Schönheit ihren Glanz, der Wollust ihre Reizung, versüßet das Elend, und macht selbst die Plagen dieses Lebens in unsern Augen verehrenswerth: indem wir alle Begebenheiten hienieden mit den unendlichen Reihen von Folgen vergleichen, die durch dieselben veranlasset werden. Eine Lehre, die mit so vielen bekannten und ausgemachten Wahrheiten in Harmonie stehet, und durch welche wir so ungezwungen eine Menge von Schwierigkeiten gehoben sehen, findet uns sehr geneigt, sie anzunehmen; bedarf beynahe keines fernern Beweises. Denn wenn gleich von diesen Gründen, einzeln genommen, vielleicht keiner den höchsten Grad der Gewißheit mit sich führet: so überzeugen sie uns doch, zusammengenommen, mit einer so siegenden Gewalt, daß sie uns völlig beruhigen, und alle unsere Zweifel aus dem Felde schlagen. Allein, mein lieber Sokrates! die Schwierigkeit ist, alle diese Gründe, so oft wir es wünschen, mit der gehörigen Lebhaftigkeit gegenwärtig zu haben, um ihre Harmonie mit Einleuchtung zu überschauen. Wir sind zu allen Zeiten, und in allen Umständen dieses Lebens ihres Beystandes benöthiget; aber nicht alle Zeiten, nicht alle Umstände dieses Lebens vergönnen uns die Ruhe und Besonnenheit der Seele, uns aller dieser Gründe lebhaft zu erinnern, und die Kraft der Wahrheit zu fühlen, die ihrem Zusammenhange eingeflochten ist. So oft wir uns einen Theil derselben entweder gar nicht, oder nicht mit der erforderlichen Lebhaftigkeit vorstellen, so verlieret die Wahrheit von ihrer Stärke, und unsere Seelenruhe ist in Gefahr. Wenn aber jener Weg, den du, o  Sokrates! einschläget, uns durch eine einfache Reihe von unumstößlichen Gründen zur Wahrheit führet: so können wir hoffen, uns des Beweisthums zu versichern und zu allen Zeiten zu erinnern. Eine Kette deutlicher Schlüsse läßt sich leichter in die Gedanken zurück bringen, als jene Uebereinstimmung der Wahrheiten, die gewissermaßen ihre eigene Gemüthsbeschaffenheit erfodert. Aus dieser Ursache trage ich kein Bedenken, dir alle die Zweifel entgegen zu setzen, die der entschlossenste Leugner der Unsterblichkeit vorbringen könnte. Wo ich dich recht verstanden habe, so war dein Beweis etwa folgender: Seele und Körper stehen in der genauesten Verbindung; dieser wird allmählig in seine Theile aufgelöset, jene muß entweder vernichtet werden, oder Vorstellungen haben. Durch natürliche Kräfte kann nichts zernichtet werden: daher kann unsere Seele, natürlicher Weise, niemals aufhören Begriffe zu haben. Wie aber, mein lieber Sokrates! Wenn ich durch ähnliche Gründe bewiese, daß die Harmonie fortdauren müsse, wenn man auch die Leyer zerbräche, oder daß die Symmetrie eines Gebäudes noch vorhanden seyn müsse, wenn auch alle Steine von einander gerissen, und zu Staub zermalmet werden sollten? Die Harmonie so wohl, als die Symmetrie, würde ich sagen, ist etwas: nicht? Man würde mir dieses nicht leugnen; jene stehet mit der Leyer und diese mit dem Gebäude in genauer Verbindung: auch dieses müßte man zugeben. Vergleichet die Leyer oder das Gebäude mit dem Körper, und die Harmonie oder Symmetrie mit der Seele: so haben wir erwiesen, daß das Saitenspiel länger dauren müsse, als die Saiten, das Ebenmaß länger, als das Gebäude. Nun ist dieses in Absicht auf die Harmonie und Symmetrie höchst ungereimt; denn da sie die Art und Weise der Zusammensetzung andeuten: so können sie nicht länger dauren, als die Zusammensetzung selbst.

Ein Gleiches läßt sich von der Gesundheit behaupten: Sie ist eine Eigenschaft des gegliederten Körpers, und nirgends anders anzutreffen, als wo die Verrichtungen dieser Glieder zur Erhaltung des Ganzen abzielen; sie ist eine Eigenschaft des Zusammengesetzten, und verschwindet, wenn das Zusammengesetzte in seine Theile aufgelöset wird. Mit dem Leben hat es wahrscheinlicher Weise eine ähnliche Bewandniß. Das Leben einer Pflanze höret auf, so bald die Bewegungen in den Theilen derselben zur Auflösung des Ganzen abzielen. Das Thier hat vor der Pflanze die Gliedmaßen der Sinne und die Empfindung, und endlich der Mensch die Vernunft voraus. Vielleicht ist diese Empfindung in den Thieren, und selbst die Vernunft des Menschen, nichts als Eigenschaften des Zusammengesetzten, so wie Leben, Gesundheit, Harmonie, u. s. w. die ihrer Natur und Beschaffenheit nach nicht länger dauren können, als die Zusammensetzungen, von denen sie unzertrennlich sind. Reichet die Kunst des Baues hin, Pflanzen und Thieren Leben und Gesundheit zu geben, so kann eine höhere Kunst vielleicht dem Thiere Empfindung, und dem Menschen Vernunft verleihen. Wir blödsinnigen begreifen jenes so wenig, als dieses. Des geringsten Blättchens kunstreiche Bildung übersteigt alle menschliche Vernunft, enthält Geheimnisse, die des Fleißes und der Scharfsinnigkeit unserer spätesten Nachkommen noch spotten werden: und wir wollen vorschreiben, was durch die Organisation erhalten werden kann, und was nicht? Wollen wir der Allmacht oder der Weisheit des Schöpfers Grenzen setzen? Eines von beiden, dächte ich, müssen wir nothwendig, wenn unsere Nichtigkeit entscheiden soll, daß die Kunst des Allmächtigen selbst kein Vermögen zu empfinden und zu denken durch die Bildung der feinsten Materie hervor bringen könne.

Du siehst, mein lieber Sokrates! was deinen Schülern zur völligen unwankenden Ueberzeugung noch fehlet. Ist die Seele beym Leben etwas, das der Allmächtige außer dem Körper und seiner Bildung geschaffen und mit ihm verbunden hat: so hat es seine Richtigkeit, daß die Seele auch nach dem Tode fortdauren und Vorstellungen haben müsse; allein wer leistet für jenes die Gewehr? die Erfahrung scheinet vielmehr das Gegentheil auszusagen. Das Vermögen zu denken wird gebildet mit dem Körper, wächst mit demselben, und leidet mit demselben ähnliche Veränderungen. Jede Krankheit in dem Körper wird von Schwäche, Zerrüttung oder Unvermögen in der Seele begleitet. Vornehmlich stehen die Verrichtungen des Gehirns und der Eingeweide in so genauer Verbindung mit der Wirksamkeit des Denkungsvermögens, daß man sehr geneigt ist, beide aus Einer Quelle herzuleiten, und also das Unsichtbare durch das Sichtbare zu erklären; so wie man Licht und Wärme einer einzigen Ursache zuschreibt, weil sie in ihren Veränderungen so sehr übereinstimmen.

Simmias schwieg, und Cebes ergriff das Wort. Unser Freund Simmias, sprach er, scheinet nur das sicher besitzen zu wollen, was ihm versprochen worden, ich aber, mein lieber Sokrates! möchte gern mehr haben, als du uns zugesagt. Wenn deine Beweise auch wider alle Einwürfe geschützet werden, so folget doch nichts mehr aus denselben, als daß unsere Seele nach dem Hintritt unsers Körpers fortdauret und Vorstellungen hat; aber wie fortdauret? vielleicht so, wie sie im Schwindel, in einer Ohnmacht, oder im Schlafe fortdauret. Die Seele des Schlafenden muß nicht ganz ohne Begriffe seyn; die Gegenstände umher müssen durch schwächere Eindrücke auf seine Sinne wirken, und in seiner Seele wenigstens schwache Empfindungen erregen, sonst werden stärkere und stärkere Eindrücke ihn nicht aufwecken können. Aber was sind dieses für Begriffe? Ein dunkles Gefühl ohne Bewußtseyn, ohne Erinnerung, ein vernunftloser Zustand, in welchem wir uns des Vergangenen nicht erinnern, und dessen wir uns auch in Zukunft nie wieder besinnen. Sollte nun unsere Seele mit der Trennung von dem Leibe in eine Art von Schlaf oder Hinbrüten versinken, und nie wieder aufwachen, was hätten wir durch ihre Fortdauer gewonnen? Ein vernunftloses Daseyn ist von der Unsterblichkeit, die du hoffest, noch weiter entfernt, als die Glückseligkeit der Thiere von der Glückseligkeit eines Gott erkennenden Geistes. Wenn das, was ihm nach dem Tode wiederfähret, uns angehen, und schon hienieden Furcht oder Hoffnung in uns erregen soll: so müssen wir selbst, die wir uns allhier unser bewußt sind, noch in jenem Leben dieses Selbstgefühl behalten, und uns des Gegenwärtigen erinnern können. Wir müssen das, was wir seyn werden, mit dem, was wir jetzt sind, vergleichen, und darüber urtheilen können. Ja, wo ich dich recht verstanden, mein lieber Sokrates! so erwartest du nach dem Tode ein besseres Leben, eine größere Erleuchtung des Verstandes, edlere und erhabnere Bewegungen des Herzens, als dem beglücktesten Sterblichen auf Erden zu Theile worden: worauf gründet sich diese schmeichelnde Hoffnung? Der Mangel alles Bewustseyns ist für unsere Seele ein nicht unmöglicher Zustand: hievon überzeugt uns die tägliche Erfahrung. Wie, wenn ein solcher nach dem Tode in Ewigkeit fortdauren sollte?


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