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Sechstes Kapitel.

Boot in Sicht! – Alte Bekannte und Leidensgefährten. – Eine schlimme Kunde. – Übersiedelung nach der Feeninsel. – Das Fort. – Keppen Lüdemann fährt auf den Fischfang. – Ha, was ist das? – Elmsfeuer. – »Schiff ahoi!« – Die Brigg. – Der »Seeadler« im Orkan.

 

Unsre Verbannten konnten wohl zufrieden sein, wenn sie auf die Arbeit zurückblickten, die sie bisher vollbracht hatten. Sie brauchten nicht mehr das schlechte Wetter und die Stürme der Regenzeit zu fürchten, denn alles, was das Wrack ihnen geliefert hatte, war teils unter Dach und Fach, teils im Freien sicher untergebracht.

Freilich, der größte Teil ihrer Aufgaben war noch zu bewältigen, allein sie brauchten sich damit nicht mehr so zu beeilen. Es handelte sich jetzt darum, die geborgene Ladung und alles andre nach dem kleinen Eiland zu schaffen, das ihre dauernde Wohnstätte werden sollte.

Von den Beschreibungen, die ihnen Herr Eisenlohr und neuerdings auch Niklas davon gemacht hatten, waren die Damen so entzückt, daß sie beschlossen, es fortan »Feeninsel« zu nennen, ein Name, der in der Tat nicht besser gewählt sein konnte.

Es war kein Wunder, daß sich nach der unablässigen Tätigkeit der letzten Wochen bei dem Ingenieur und auch bei dem Doktor eine Übermüdung bemerkbar machte, da diese Herren an eine so anstrengende körperliche Arbeit nie zuvor gewöhnt gewesen waren; sie meinten daher, daß sie sich eine Ruhezeit von zwei Tagen wohl einmal gönnen dürften.

Und das taten sie denn auch. In der Frühe des dritten Tages aber ging es wieder mit frischen Kräften ans Werk. Das Floß, für das die drei Männer während ihrer Mußezeit den hochtrabenden Namen »Seeadler« ausgeklügelt hatten, wurde mit Ladung vollgestaut und auch mit Deckslast bepackt, und jetzt erst erkannte man den wahren Wert dieses Fahrzeugs und die Klugheit dessen, der es konstruiert hatte.

Es machte zwei, oft auch drei Fahrten täglich zwischen der Wrackbucht und der Feeninsel, und jedesmal mit einem Kargo, dessen Gewicht sich auf zehn Tonnen, also auf zweihundert Zentner belief.

Endlich kam der Tag heran, wo auch diese Arbeit ihr Ende erlangte; am Nachmittag belud man den »Seeadler« zum letzten Mal.

Eisenlohr und Niklas, die Seefahrer der Gesellschaft, hatten sich fröhlich auf die Fahrt gemacht. Das mächtige dreieckige Segel stand voll und straff, und der »Seeadler« rauschte mit einer Geschwindigkeit von sieben Knoten der Mündung des Seestromes zu.

Plötzlich entdeckte Niklas' umherspähendes Auge in nördlicher Richtung draußen auf hoher See einen Gegenstand, in dem er ein kleines Segel zu erkennen glaubte.

Er machte den Ingenieur darauf aufmerksam; der richtete sein Teleskop, das er stets bei sich führte, auf den fernen Gegenstand, und es stellte sich heraus, daß Niklas recht hatte – es war wirklich ein kleines Segel, das dort in Sicht kam.

Dasselbe befand sich vier Meilen in Lee, und trotz des Zeitverlustes, der dadurch entstehen mußte, hielt der Ingenieur sogleich darauf ab, um zu erkunden, was für ein Fahrzeug sich dort zeigte.

Es währte nicht lange, da war der »Seeadler« dem fremden Segler so nahe gekommen, daß man in ihm ein Kanu erkennen konnte, das zwei Männer an Bord hatte und direkt auf die Insel zusteuerte. Es war ein äußerst primitives Fahrzeug, so daß Eisenlohr zu der Annahme gelangte, die beiden Leute darin wären Eingeborene eines andern Südseeeilandes, die, von ihrer Heimat abgetrieben, den Rückweg dorthin nicht wiederfinden könnten und nun Zuflucht auf seiner Insel suchen wollten.

Sein Erstaunen war daher groß, als er sah, wie einer der Fremden aufstand, einen Gegenstand emporhob, und wie gleich darauf ein weißes Rauchwölkchen und ein Blitz sichtbar wurden, gefolgt von dem schwachen Knall eines Schusses.

Er ließ das Kanu nicht aus dem Focus seines Fernrohres und gewahrte nun, daß der Mann, der das Gewehr abgefeuert hatte, dem »Seeadler« mit lebhaften Gebärden zuwinkte, nicht etwa, als wolle er einfach Aufmerksamkeit erregen, sondern als gäbe er einer überaus großen Freude Ausdruck.

Einige Minuten später hatten sich die Fahrzeuge einander so weit genähert, daß Eisenlohr die Insassen des Kanus deutlich erkennen konnte.

Er meinte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen.

»Niklas!« rief er, das Teleskop zusammenstoßend. »Niklas! Mensch! Das ist ja Keppen Lüdemann mit dem zweiten Steuermann des »Paladin«, dem jungen Gehrke!«

»Junge, Junge! Wo kann dat möglich sin!« erwiderte der Matrose. »Aber wahrhaftig, Se hewwen recht! Dat is de ohl Kaptein! Wo kann dat man angahn!«

Er geite das Segel auf und fierte die Raa an Deck. Gleich darauf war das Kanu langseit des »Seeadler«, Gehrke schwang sich mit der Fangleine an Bord des Pontonfloßes, auf dem Fuße gefolgt von dem Kapitän Lüdemann, der mit herzlichem Druck des Ingenieurs Hand ergriff.

»Mein bester Herr Eisenlohr!« rief er, »so sehen wir uns wieder! Und du, Niklas, mein Junge! Dich hätte ich hier nicht vermutet! Das ist der erste glückliche Tag, Herr Eisenlohr, den ich nach dem Ausbruch der Meuterei erlebe! Ich bin von Herzen froh, Sie gefunden zu haben – und Sie sehen so wohl aus, wie die Gesundheit selber! Da kann es Ihnen nicht so schlecht ergangen sein, wie ich immer fürchtete. Und die andern Passagiere – die Damen und die lieben Kinder?«

»Denen geht es so gut, als die Umstände dies zulassen,« antwortete der Ingenieur. »Aber sagen Sie mir doch, Kaptein, wo in aller Welt kommen Sie her? wie haben Sie es angefangen, vom »Paladin« zu entfliehen?«

»Wir kommen von einem kleinen Eiland, hundert Meilen von hier und direkt östlich gelegen, Aber entflohen sind wir nicht vom »Paladin«, mein lieber Herr, August Lüdemann ist nicht der Mann, der freiwillig sein Schiff in Stich läßt, solange es noch über Wasser ist! Die Schufte von Meuterern haben uns mit Gewalt an Land gesetzt und wer weiß, was aus uns geworden wäre, wenn Heinz Rohrpenn, der liebe, liebe Junge, nicht für uns gesorgt und uns alles nötige mitgegeben hätte, auch die Nägel, mit denen wir dies Kanu hier zusammengeschlagen haben. Er bezeichnte uns auch Ihre Insel ganz genau. Und so bauten wir das Kanu, und hier sind wir.«

»Und wo ist das Fräulein Merk?« fragte der Ingenieur.

Kapitän Lüdemann sagte ihm, was er wußte, und dann berichtete ihm Eisenlohr, während der »Seeadler« mit dem Kanu im Schlepptau seine Fahrt fortsetzte, was er und seine Gefährten bisher aus der Insel geschafft hatten und noch zu schaffen beabsichtigten.

Der alte Schiffer lauschte mit größter Aufmerksamkeit und öfterem beifälligen Kopfnicken. Als er von allem unterrichtet war, schaute er eine Weile verloren über die See hinaus und dann fragte er, ob er in letzter Zeit fremde Fahrzeuge in der Nähe der Insel habe herumstreichen sehen.

Eisenlohr verneinte; das Schiff, das er zuletzt gesehen, wäre der »Paladin« gewesen, ehe derselbe am östlichen Horizont verschwand.

»Das höre ich gern,« sagte Keppen Lüdemann. »Schiffe zivilisierter Nationen suchen nur sehr selten diese Gewässer auf, aber Gehrke und ich haben von unserm Eiland aus verschiedentlich malayische Prahus in Sicht gehabt. Die Malayen dieser Gegenden sind Halbwilde und sämtlich Seeräuber, ein sehr gefährliches und blutdürstiges Gesindel, vor dem wir auf der Hut sein müssen. Offen gestanden, ich möchte lieber in der Gewalt von Meuterern, als in den Klauen dieser braunen Teufel sein. Wenn es ihnen einmal einfiele hier zu landen, dann könnte es uns allen übel ergehen. Wir müssen daher den Bau des festen Hauses mit größter Eile in Angriff nehmen.«

Das war eine schlimme Kunde für Eisenlohr; er hatte genug von dem Treiben und der wilden Verwegenheit dieser Seeräuber gehört und gelesen, und ein Schauder packte ihn, wenn er sich vorstellte, was den Frauen und Kindern bevorstünde, wenn sie in die Hände solcher Unmenschen fielen.

Während der Ingenieur über die Gefahr nachgrübelte, die vor seinem inneren Blicke bereits drohend am Horizont aufzusteigen begann, langte das Floß bei der Feeninsel an; die Ladung wurde schnell gelöscht, und dann segelte man zurück nach der Wrackbucht. Hier wurde das unerwartete Erscheinen des Kapitän Lüdemann und Robert Gehrkes mit frohem Erstaunen begrüßt. Die erste Frage der Damen galt dem Fräulein Merk, und wenn der alte Schiffer auch selber nicht ohne Besorgnis an das Geschick dieser jungen Dame denken konnte, so gelang es ihm dennoch, die Angst der Damen durch den Hinweis auf Heinz Rohrpenn, der die Meuterer sozusagen in der Hand habe und der eher den letzten Blutstropfen hergeben, als Valeska ein Leid zufügen lassen würde, zu zerstreuen.

Von der Gefahr eines Besuches malayischer Seeräuber wurde den Damen nichts gesagt, wohl aber dem Doktor Cellarius, und dann entfernten sich die fünf Männer unter einem Vorwände von dem Zeltlager und hielten eine Beratung über den Bau des festen Hauses ab.

An Holz fehlte es nicht; auf der Feeninsel allein gab es geeignete Stämme genug. Aber das Fällen, Zersägen und Zuhauen derselben erforderte eine lange Zeit, und jetzt galt es Eile. Und war das Gebäude fertig, dann konnten es etwaige Feinde durch Feuer leicht wieder zerstören.

Eisenlohr war daher für einen Steinbau, und es wurde ihm nicht schwer, die andern für seine Ansicht zu gewinnen. Gleich am nächsten Tage wollten er und der Doktor sich auf die Suche nach einem Steinbruch begeben, der dem Bauplatz so nahe als möglich gelegen wäre; der Schiffer, Robert Gehrke und Niklas sollten inzwischen aus der Feeninsel Quartiere herrichten, in der die Gesellschaft bis zur Vollendung des Forts, wie man jetzt bereits das neue Haus bezeichnete, wohnen konnte und die wettersicherer wären, als die Zelte.

Am nächsten Morgen wurden daher diese letzteren abgebrochen und an Bord des Pontonfloßes gebracht, dann schifften sich auch die Damen und die Kinder ein und segelten unter der Obhut von Kapitän Lüdemann, Gehrke und Niklas nach der Feeninsel.

Eisenlohr und Cellarius aber marschierten über Land nach dem unteren Ende des Seestromes, um, jeder auf einem Ufer, nach Gestein zu suchen, das sich für den Bau eignen und leicht an Bord des »Seeadler« nach dem Bauplatz zu transportieren sein würde.«

Sie entdeckten nicht nur ein Geschicht von vorzüglichem Sandstein, sondern auch ein Lager von Steinkohlen, und als sie, hoch zufrieden mit diesem Erfolg, kurz vor Sonnenuntergang auf dem Eiland wieder eintrafen, da kamen sie gerade noch zur rechten Zeit, um bei Keppen Lüdemanns Barackenbau die letzte Hand mit anlegen zu helfen. Das Gebäude war ein Mittelding zwischen Schuppen und Blockhaus, mit einem festen Dach aus mehreren Lagen trockener Kokospalmblätter eingedeckt und überall so dicht und gut gefugt, das seine Bewohner der Regenzeit nun mit Ruhe entgegensehen konnten.

Am Tage darauf wurde von den fünf Männern der Steinbruch in Angriff genommen; es fehlte ihnen nicht an Werkzeugen dazu, auch nicht an Pulver zum Sprengen des Gesteins, da die »Undine« einige Fässer davon an Bord gehabt hatte. Nach Verlauf eines Monats hatte man eine genügende Menge von Steinen zum Bauplatz geschafft. Auch ein großer Vorrat von Kohlen lag zum Transport nach dem Eiland bereit. Ein Ofen zum Kalkbrennen wurde erbaut – das Material zur Kalkbereitung sollten die am Strande liegenden unzähligen Muscheln liefern. Niklas richtete sich auf dem Platze, wo die Schiffswerft angelegt werden sollte, eine Schmiede her, und Gehrke machte sich an die Erdarbeiten für das Fundament des festen Hauses.

Aber noch ehe die Bauarbeiten im Ernst begonnen werden konnten, schlug die Witterung um und die lange schon erwartete Regenzeit setzte mit Sturm und Unwetter ein. Der Wind, der seit der Landung der Gesellschaft auf der Insel stetig aus Südwest geweht hatte, sprang um und blies jetzt mit großer Stärke beharrlich aus Nordost.

Dieses schlechte Wetter hielt einen ganzen Monat an, und während der Zeit konnte niemand im Freien arbeiten; dann wurde es milder, und wenn es auch noch jeden Tag regnete, so hielt der Tätigkeitsdrang die Männer doch nicht länger unter Dach und Fach. Eine innere Unruhe peinigte sie, und sie wußten, daß sie dieselbe erst los werden würden, wenn das Fort fertig dastünde, und sie imstande wären, sich gegen jeden Feind zu verteidigen.

Sie warfen sich daher trotz des Regens mit aller Macht und Energie wieder auf die Arbeit, und schon nach zwei Monaten war der Bau bewohnbar; allerdings mußte noch viel daran getan werden, ehe er ganz fertig genannt werden konnte.

Das Fort – so mag das feste Haus von nun an genannt werden – bildete ein Viereck und hatte in der Mitte einen kleinen Hofraum, in welchem eine Quelle rieselte. Die eine Langseite des Gebäudes enthielt den gemeinschaftlichen Wohnraum, in den Querseiten lagen die Schlafzimmer für den Doktor und den Ingenieur, eine Küche und ein Vorratsraum, und die andre Langseite bot Schlafgelasse für die übrigen Mitglieder der Gesellschaft. Die Fenster gingen alle nach außen; sie waren nur klein und mit starken Eisengittern und schweren, von Schießscharten durchbohrten, Holzladen versehen. Die Türen öffneten sich nach dem Hofe.

Wer das Fort verlassen wollte, mußte vom Hofe aus auf einer Treppe das flache Dach ersteigen und von dort aus brachte ihn eine leichte Bambusleiter ins Freie, und so umgekehrt. Die Leiter wurde jedesmal wieder auf das Dach gezogen. Letzteres war mit einer hohen Brustwehr umgeben, in der Schießscharten angebracht waren.

Nach einem weiteren Monat war das Fort so weit vollendet, daß Eisenlohr an den Bau der Schneidemühle gehen konnte, der dann auch in kurzer Zeit hergestellt war. Darauf wurden im Walde Stämme ausgesucht und gefällt, um Holz für den Schiffsbau zu gewinnen, da die Planken, die man vom Wrack geborgen hatte, zum großen Teil wegen der Bolzenlöcher darin nur schwer zu verwenden waren.

Der Ingenieur hatte sich für den Bau eines Kutters entschlossen, der zwölf Fuß breit, vierzig Fuß lang und so tief werden sollte, daß das Fahrzeug sich möglichst steif im Wasser halten Konnte.

So kam unter allgemeiner emsiger Arbeit schließlich der große Tag heran, wo der Kiel des Kutters gestreckt werden konnte – eine Aufgabe, die die fünf Männer vom Morgen bis zum Spätnachmittag angestrengt beschäftigte.

Aber noch aus einem andern Grunde sollte dieser Tag der kleinen Kolonie der Verbannten im Gedächtnis bleiben, denn er brachte ihnen einen Verlust, dessen Schmerz wie eine düstre Wolke noch länger über ihnen hing, als ihr Aufenthalt aus der Insel währte. – –

Bei den häufigen Fahrten zwischen der Wrackbucht und der Feeninsel hatte man bei einer sechs Meilen nördlich von der Insel gelegenen Gruppe niedriger Klippen eine Fischart entdeckt, die außerordentlich wohlschmeckend, aber nur in der Zeit zwischen Untergang und Aufgang der Sonne zu fangen war. Es war daher Gebrauch geworden, daß nach des Tages Arbeit fast täglich einer oder mehrere der Männer zu jenen Klippen hinaussegelten, um für alle Mann ein Gericht dieser leckeren Fische zu holen.

Am Tage der Kielstreckung segelte Keppen Lüdemann mit dem »Seeadler« allein auf den Fang; die andern blieben daheim, weil sie zu sehr ermüdet waren.

Der Doktor begleitete ihn bis zum Strande.

»Schlafen Sie beim Angeln nicht ein, Freund,« sagte er zu dem alten Schiffer, »damit Sie nicht über Bord fallen. Und achten Sie auf das Wetter; mir scheint der Wind abflauen zu wollen, und dann springt er um. Sie haben doch die schwere Wolkenbank bemerkt, die dort im Westen heraufkommt?«

»Die habe ich schon lange gesehen,« antwortete der Kapitän. »Das wird wieder ein Gewitter geben – die ziehen immer gegen den Wind. Ehe das aber da ist, bin ich längst wieder zurück und in meiner Koje.«

Damit stieg er in den kleinen Prahm, der zum Überfahren diente, und paddelte zum Pontonfloß, das etwa fünfzig Meter vom Ufer an seiner dort verankerten Boje lag. An dieser machte er die Fangleine des Prahms fest, schwang sich an Bord des »Seeadler«, machte das große dreieckige Segel los, heißte die Raa mit Hilfe einer kleinen Winde, die Niklas zu diesem Zweck angebracht hatte, glitt den Seestrom hinunter und hinaus in die offene See.

Hier bemerkte er mit Befriedigung, daß die Wolkenbank, auf die Cellarius ihn aufmerksam gemacht hatte, bereits gänzlich über die Kimmung emporgestiegen war und sich unter dem Einfluß des Mondes langsam aufzulösen und zu verfliegen begann.

Bei den Klippen angelangt, warf er den kleinen Anker über Bord, ließ das Segel nieder und legte die Fischleinen aus. Die Fische bissen schlecht; eine volle halbe Stunde verstrich, ehe der erste an der Angel saß.

Nach und nach schlief der alte Schiffer ein. Er war im Grunde ebenso ermüdet, wie seine Gefährten. Im Traum sah er sich im Handgemenge mit den Malaien – ein wilder Geselle zückte den geflammten Kris gegen seine Brust – da fuhr er jäh und mit einem Schrei aus dem Schlaf.

Die Leinen hingen leer; nicht nur die Köder, auch die Haken waren abgerissen. Er holte sie ein und schickte sich zur Heimfahrt an, denn der Mond war bis zum westlichen Horizont niedergesunken; Mitternacht mußte daher schon vorüber sein.

Die Brise ist frischer als vorher, die Kimmungslinie ist klar, aber die obere Atmosphäre zeigt sich diesig; das bedeutet eine Linderung des Wetters. Er wirft einen Kennerblick in die Runde und murmelt vor sich hin, daß es morgen auf der Werft nicht viel zu tun geben werde.

Der Anker ist an Bord, der Schiffer beginnt das Segel zu heißen. Dabei trifft sein Auge den Mond, der langsam unter den Horizont sinkt.

Ha! Was ist das?

Die Winde steht still, er nimmt hastig einen Törn mit dem Fall. Dann schattet er die Augen mit beiden Händen, um das schwarze Ding besser sehen zu können, das sachte quer über des Mondes bleiches Antlitz zieht.

Träumt er denn wieder? Nein, das ist kein Traum – was da vor der Scheibe des sinkenden Planeten entlang gleitet, sind die oberen Segel eines großen Schiffes. Es steuert südlich, ob aber südwestlich oder südöstlich, das vermag er nicht festzustellen.

Er heißt die Raa vollständig auf, setzt das Segel, holt die Schot an, bringt das Fahrzeug dicht an den Wind und fragt sich, was nun zu tun sei.

Nach der Insel zurückkehren, dort auf der westlichen Seite des Mittelgebirges – der einzig geeigneten Stelle, ein großes Feuer anzünden, das würde, mit dem Holzsuchen, drei Stunden kosten. Und ob dann die Besatzung des Schiffes das Signal, wenn sie es überhaupt sieht, auch versteht? Ob sie es nicht für ein Feuer wilder Eingeborener halten wird? Nein – die Wahrscheinlichkeit eines Fehlschlages wäre zu groß.

Keppen Lüdemann machte sich daher kurz entschlossen auf die Verfolgung des fremden Seglers. Derselbe konnte, nach des alten Seemannes Ansicht, gegenwärtig nicht mehr als fünf Knoten laufen, der »Seeadler« aber machte bei dieser Brise gegen sieben; bei Sonnenaufgang mußte er daher dem Fremden so nahe sein, daß er sich ihm bemerkbar machen konnte. Er mußte ihn einholen – um jeden Preis! Er fierte die Schot auf und machte sich auf die Jagd.

Der Mond war bald verschwunden, trotzdem glaubte der Schiffer, die Segel des Fremden noch einige Minuten wie schwarze Schatten über der Kimmung zu gewahren. Als er sie verloren, steuerte er nach einem Stern; da aber das Firmament sich immer mehr bezog, mußte er den Stern öfters wechseln. Die Brise wurde unstetig, in der Richtung wie in der Stärke.

Die Nacht wurde immer unsichtiger. Die Insel war noch zu erkennen; sie lag etwa vier Meilen hinter ihm, ein unbestimmter schwarzer Schatten in der Finsternis.

Plötzlich gewahrte er unter dem Unterliek des Segels ein Licht – mehrere Lichter – schwach glimmende Pünktchen. Sie blieben in derselben Entfernung voneinander, er konnte sie zählen – eins, zwei, drei – wenigstens ein halbes Dutzend, wenn nicht mehr; er war nicht gewiß, sie schimmerten so schwach.

Was konnte das sein? War da über dem Leebuge eine ganze Flotte von Fahrzeugen? Etwas war da, das war ganz gewiß. Sollte er nun noch einem unsichtbaren Schiffe nachjagen? Das wäre Narrheit. Er hielt ab und auf die Lichter zu.

Auf einmal ergoß sich eine grünliche, geisterhafte Helligkeit von oben herab über ihn; erschrocken erhob er die Blicke und gewahrte mit Schaudern auf der Nock der langen Raa einen Ball züngelnden, zitternden Lichtes, der mit dem Rollen des Fahrzeugs hin und her schwankte, wie die Flamme einer Kerze getan haben würde. Das Licht zog sich bald in die Länge, bald wurde es flach; bald huschte es ein Stück die Raa abwärts, bald wieder hinauf.

Nach einigen Momenten erschien plötzlich auf der Mastspitze ein ganz ähnlicher Ball. Es waren Elmsfeuer!

Sie verkündeten dem Schiffer nicht nur den bevorstehenden Ausbruch eines Orkans, sie erklärten ihm auch die geheimnisvollen Lichter über dem Leebuge, auf die er zusteuerte. Auch sie waren Elmsfeuer, die unzweifelhaft auf den Toppen und Raanocken des Seglers brannten, den er verfolgt hatte, der also jetzt nicht weit ab von ihm sein konnte, höchstens etwa eine Meile.

Der Wind war ganz abgeflaut, der »Seeadler« kam nicht von der Stelle. Wie sollte er den Fremden von seiner Nähe in Kenntnis setzen? Etwas mußte geschehen, und zwar gleich; denn rings um ihn hauchte, seufzte und rauschte es seltsam in der stillen Finsternis, unsichtbare Schwingen schienen sich zu bewegen, als wollten sie verkünden, daß der Dämon des Sturms seine Streitkräfte zum Angriff formiere.

Was sollte er tun?

Die Steuerreemen waren zu schwer, um sie zum Rojen gebrauchen zu können. Er mußte das Schiff anpreien, vielleicht reichte seine Stimme so weit.

Er legte die zum Sprachrohr geformten Hände an den Mund, holte tief Atem und schrie dann mit aller Kraft seiner Lungen:

»Schiff ahoi!«

Dann lauschte er.

Keine Antwort; er vernahm nichts als das schwache Raunen und Rauschen des nahenden Orkans.

»Schiff aho – i!«

Horch, was war das? War das nicht ein schwacher Antwortruf von fernher, aus der Richtung der gespenstischen Lichter?

»Schiff aho – – i!«

Ganz schwach rief's zurück:

»Hallo!«

Plötzlich erscheint unterhalb der schwächlich glimmenden Elmsfeuer ein heller Stern – eine Schiffslaterne, die über die Reling gehalten wird. Eine Minute darauf zeigt sich neben der Laterne ein kleines Fünkchen, das sich schnell in ein großes grelles Blaufeuer verwandelt, von dem eine Wolke weißen Rauches aufsteigt und weiße Flammen herniedertropfen.

In seiner blendenden Helligkeit sieht der Schiffer kaum eine halbe Meile entfernt eine Brigg, die nur das dichtgereefte Großmarssegel und das Vorstengestagsegel stehen hat, also auf den Sturm vorbereitet ist. Er sieht auch eine kleine Gruppe um das Magnesiumlicht versammelter Männer, die zu ihm herüberschauen.

Einer der Männer erhebt die Arme, und dann kommt über die tintenschwarze See der Ruf:

»Hallo! Wer ruft da?«

Wieder hebt der Schiffer die Hände zum Munde.

»Ein schiffbrüchiger Mann!« antwortet er. »Backbord dwars ab von euch!«

Der an Bord winkt mit der Hand, zum Zeichen, daß er verstanden hat, und in demselben Moment erlischt das Blaufeuer. Ein andres wird schnell angezündet, und als der grelle Schein abermals die Brigg beleuchtet, gewahrt der Schiffer, daß nur noch ein Mann auf der Back steht – der, welcher das Magnesiumlicht emporhält – und daß die übrigen achteraus gelaufen sind und sich mit den Davitstaljen zu schaffen machen, an denen ein Boot hängt.

Auf einmal zerreißt jäh das ganze Firmament vom Zenith bis zum Horizont – das ganze Weltall scheint in Brand gesetzt zu sein durch die wilde Flamme der Blitze, die aus dem Riß hervorbrechen, während ein ungeheurer Donnerschlag den Schiffer betäubt, der, wenngleich in allen Wettern erprobt, darunter beinahe zusammenbricht.

Einen Augenblick lang ist die See und alles, was darauf ist, von Horizont zu Horizont von einem Licht beschienen, das heller ist als der Tag; und in diesem einzigen Augenblick sieht er nicht nur die Brigg in einem vollständigen Netzwerk von Feuer, sondern auch die riesigen Wolkenballen über sich in hundert phantastische Formen gedreht und gewirbelt von den Gewalten, die in ihnen tätig sind, und das schwarze blanke, mit Furchen und Höhlungen bedeckte Wasser, anscheinend so unbeweglich wie erstarrte Lava.

Dann kommt die absolute Finsternis und verschlingt alles. Sie ist so dick und undurchdringlich, daß der halb betäubte Schiffer, der sich kaum bewußt ist, wo er sich befindet, sich nicht zu regen wagt, um nicht über Bord zu stürzen.

Und nun gießt der Regen herab; nicht in Tropfen, nicht in Strömen, sondern als eine überwältigende Flut von solcher Dichtigkeit und Wucht, daß der Schiffer auf seine Kniee niedergedrückt wird, den Atem verliert und ringt und schnappt wie ein Ertrinkender.

Aber schnell gewinnt er wieder die Herrschaft über seine Sinne, die er alle bald sehr nötig haben wird. Er rafft sich auf und tappt nach dem Mast, der sich jetzt mitsamt dem triefenden Segel deutlich abhebt von dem weißlichen Hintergrunde der See – weißlich durch den Phosphorschimmer -es von dem Regen zu Schaum gepeitschten Wassers.

Mit bebenden Fingern löst er das Fall der Raa von dem Koffeenagel, um den es belegt ist.

»Jetzt sei Gott mir Sünder gnädig!« murmelt er dabei; menschliche Hilfe gibt's nicht mehr für mich!«

In größter Hast, und trotzdem mit der ruhigen und geschickten Sicherheit des vollendeten Seemanns, fiert er das Segel an Deck nieder und befestigt es so gut er kann, denn er weiß, was der nächste Akt des Dramas bringen wird; er weiß auch, daß die Leute an Bord der jetzt wieder unsichtbaren Brigg ebenso Bescheid wissen wie er und in der Erwartung des Losbruchs des Orkans keinen Gedanken mehr für ihn übrig haben können.

Der Regen hört auf, so plötzlich wie er begann; eine grauenhafte Stille folgt ihm, kaum unterbrochen durch ein Geplätscher des Wassers langseit des Floßes; denn der Regen hat die Schwell niedergeschlagen und der »Seeadler« liegt, eine sanfte Hebung ab und zu ausgenommen, regungslos.

Nun aber sei bereit, alter Schiffer! Ruf deine ganze Geistesgegenwart und all deinen Mut zu Hilfe, denn nie hast du ihrer so bedurft wie jetzt.

Horch! Was bedeutet das dumpfe Grollen in der Luft? Es wird schnell lauter und lauter; es schwillt an zu einem tiefen, heiseren, furchtbaren Gebrüll. Das Getöse naht sich von Steuerbord her.

Fasse den Reemen, Schiffer! Wirf dein Fahrzeug herum, daß der Orkan es nicht von der Seite faßt, daß es vor ihm herlaufen kann! Herum mit ihm! Noch einmal! Gut so!

Jetzt gilt's! Da kommt er! Fasse die Leine dort und halte dich fest um Leib und Leben! –

Ein langer Streif milchweißen Schaumes wird am Horizont sichtbar; er rollt heran und breitet sich aus mit furchtbarer Schnelligkeit. Das brüllende Tosen schwillt an zu betäubender Stärke. Die Atmosphäre wird dick von Dampf. Ein plötzlicher Windwirbel rast vorüber und peitscht des Schiffers Antlitz mit Regentropfen – mit Regentropfen? Sie sind salzig, so salzig wie das Wasser langseit. –

Nun ein heulendes Gekrach, ein wildes Durcheinander entsetzlicher kreischender Töne, ein Schlag, der das Pontonfloß erschüttert, als sei es gegen einen harten Gegenstand angerannt – der Orkan ist da!

Ein brausender, kochender Schaumberg wälzt sich über das Achterteil des »Seeadlers« herauf – der Schiffer wird nach vorn geschleudert – er stürzt und bleibt betäubt, das Gesicht nach unten, auf dem überfluteten Deck liegen ...


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